Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

23.11.2022

Geschäftszahl

W265 2256100-1

Spruch


W265 2256100-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 auch römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Somalia, vertreten durch die Rechtsanwälte Mag. Lukas AMSÜSS und Mag.a Carolin SEIFRIEDSBERGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.04.2022, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

römisch eins. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

römisch II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und der Beschwerdeführerin gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia zuerkannt.

römisch III. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 wird der Beschwerdeführerin eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres erteilt.

römisch IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte römisch III., römisch IV., römisch fünf. und römisch VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 29.09.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag fand vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführerin statt. Dabei gab sie unter anderem an, somalische Staatsangehörige, Angehörige der Volksgruppe der Murusade und Muslimin zu sein. Sie stamme aus „ römisch 40 Mogadischu“ in Somalia und habe keine Schulbildung. Ihr Vater sei bereits verstorben, in Somalia befänden sich noch ihre Mutter, zwei Söhne, ein Bruder und Schwester.

Zu ihrem Fluchtgrund führte sie aus, ein Al-Shabaab habe sie zwangsweise heiraten wollen. Sie habe Angst, dass er sie umbringe. Sie sei dort ohne männlichen Schutz. Dieser Mann werde sie nicht in Ruhe lassen und sie umbringen.

3. Am 26.01.2022 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie zu ihren persönlichen Umständen im Wesentlichen an, dass sie gesund und nicht in ärztlicher Behandlung sei. Sie gehöre dem Clan der Hawiye, dem Subclan der Murusade sowie dem Sub-Subclan der römisch 40 an und sei sunnitische Muslimin. Sie sei in Mogadischu geboren und 2006 mit ihrer Familie nach römisch 40 römisch 40 gezogen. Sie habe keine Schule besucht und ihrer Mutter in deren Teehaus geholfen. Sie habe zwei 2012 und 2014 geborene Söhne von zwei verschiedenen Männern. Von ihrem ersten Mann sei sie geschieden, ihr zweiter Mann, mit dem sie noch verheiratet sei, sei seit 2018 verschollen. Ihr Vater sei 2021 getötet worden. Ihre Mutter, ihre zwei Söhne, ein Bruder und eine Schwester würden seither zusammen in Mogadischu leben, auch eine Tante mütterlicherseits lebe in Mogadischu.

Zu ihren Fluchtgründen führte die Beschwerdeführerin zusammengefasst aus, dass sie und ihre Familie in römisch 40 gelebt und dort ein Teehaus betrieben hätten. Unter ihren Kunden seien auch Männer von Al-Shabaab gewesen. Einer von ihnen habe sie heiraten wollen. Sie habe ihm gesagt, dass sie bereits verheiratet sei. Ihr Mann sei vermisst und man wisse noch nicht, ob er wieder zurückkomme. Dann sei der Mann zu ihrem Vater gegangen und habe diesem gesagt, dass er sie heirate. Auch ihr Vater habe gesagt, dass das nicht gehe, weil sie bereits verheiratet sei. Die vierjährige Frist sei noch nicht aus, man müsse abwarten, ob sich ihr Mann melde. Erst nach den vier Jahren könne sie jemand anderen heiraten. Diese Antwort habe den Mann sauer und wütend gemacht. Er sei ein Anführer von Al-Shabaab, ein sogenannter Amir, gewesen. Er habe zu ihrem Vater gesagt: „Entweder werde ich deine Tochter heiraten oder euch bestrafen.“ Dann hätten die Beschwerdeführerin und ihre Familie beschlossen, dass sie von dort weg und zu ihrer Tante gehe. Der Mann sei ständig bei ihren Eltern im Geschäft gewesen und habe nach ihr gefragt. Ihr Vater habe ihm dann gesagt, dass sie vermisst sei und er nicht wisse, wo sie sich befinde. Der Anführer von Al-Shabaab habe ihn bedroht. Er habe immer gesagt, dass er ihn verurteilen und töten lassen werde. Spätabends hätten Männer von Al-Shabaab ihren Vater mitgenommen und am nächsten Morgen habe man seine Leiche gefunden. Dann sei ihre Mutter mit den Geschwistern nach Mogadischu geflohen. Einige Tage später habe der Mann ihr eine SMS geschickt, in der gestanden sei, dass er sie in Mogadischu finden und Al-Shabaab auch sie töten werde. Daraufhin habe ihre Familie entschieden, dass sie das Land verlasse, ihre Tante habe ihre Ausreise finanziert.

4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 15.04.2022 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II.) ab. Es wurde der Beschwerdeführerin kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt römisch VI.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, es stehe fest, dass die Beschwerdeführerin keiner konkreten Gefährdung oder Bedrohung in Somalia ausgesetzt sei und keine solche im Falle ihrer Rückkehr zu befürchten habe. Sie laufe in Somalia nicht ernsthaft Gefahr, wegen ihrer Zugehörigkeit zum Clan Hawiye, Subclan Murusade intensiven Übergriffen anderer Bevölkerungsteile ausgesetzt zu sein. Sie sei zu ihrem Fluchtvorbringen nicht glaubhaft. Ihre habe keine Zwangsheirat mit einem Mitglied der Al-Shabaab gedroht. Sie sei nie von Al-Shabaab verfolgt worden, ihr Vater sei nicht aus den von ihr genannten Gründen von Al-Shabaab umgebracht worden. Sie sei nicht aus konventionsrelevanten Gründen in Somalia verfolgt worden. Sie sei weder einer Verfolgung durch staatliche Einrichtungen noch durch Privatpersonen ausgesetzt (gewesen). Sie laufe in Somalia nicht ernstlich Gefahr, von der Al-Shabaab misshandelt oder mit Zwang verheiratet zu werden. In Mogadischu bestehe diesbezüglich kein erhebliches Risiko. Vor der Ausreise aus Somalia habe sie sich etwa einen Monat unbehelligt in Mogadischu aufgehalten. Es deute auch nichts darauf hin, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat einer realen Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, oder 3 EMRK ausgesetzt wäre. Es bestehe keine solch extreme Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der nach Somalia zurückkehre, einer Gefährdung ausgesetzt wäre. Die Lage in Mogadischu sei ausreichend sicher, die Reise nach Mogadischu sei ihr zuzumuten. Die Beschwerdeführerin sei volljährig und gesund, spreche die Landessprache und die Kultur Somalias sei ihr vertraut. Sie habe keine Schule besucht und verfüge über Berufserfahrung als Restaurantmitarbeiterin. Sie sei in der Stadt Mogadischu geboren und 2006 nach römisch 40 gezogen, 15 km von Mogadischu entfernt. Ihre Mutter, Geschwister und Kinder würden seit Mai 2021 in Mogadischu leben, auch ihre Tante mütterlicherseits lebe in Mogadischu. Es sei anzunehmen, dass auch ihr Vater in Mogadischu lebe. Ihre Mutter und ihre Geschwister würden dort ein Teehaus betreiben. Die Beschwerdeführerin könne sich bei der Rückkehr nach Somalia in Mogadischu niederlassen. Sie könne sich dort selbst versorgen und ihr Familienverband sei in der Lage, sie finanziell zu unterstützen. Für ihre zwei in Somalia aufhältigen minderjährigen Kinder sorge ihre Mutter. Sie habe bereits in Somalia gelebt, ohne in eine aussichtslose Lage geraten zu sein. Sie sei wirtschaftlich genügend abgesichert und gerate bei einer Rückkehr nicht in eine aussichtslose Lage. Es würden daher keine Gründe vorliegen, welche zur Gewährung von subsidiärem Schutz führen würden.

5. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 19.05.2022 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Darin wurde nach neuerlicher Darstellung des Fluchtvorbringens zunächst ergänzend vorgebracht, dass es bei ihr im Kindesalter zu einer Genitalverstümmelung gekommen sei, an deren Folgen sie noch heute leide. Sie befürchte bei einer Rückkehr nach Somalia im Falle der Geburt eines Kindes eine Defibulation und anschließende Reinfibulation. Sie stehe dieser somalischen Praxis ablehnend gegenüber und würde sich auch weigern, dass ihre Kinder genitalverstümmelt werden, doch könnte sie sich als Frau nicht, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen, durchsetzen. Die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, indem sie mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe. Es werde daher auf Länderberichte zu sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt in Somalia verwiesen, vor deren Hintergrund sich das Vorbringen der Beschwerdeführerin als lebensnah und glaubhaft erweise. Berichte zur Lage von IDPs würden die gefährliche Situation von de-facto alleinstehenden Frauen verdeutlichen. Da auch ihre Familienangehörigen Somalia verlassen hätten, bestehe für sie als alleinstehende Frau das ernstzunehmende Risiko, sich im Falle der Rückkehr in einem IDP-Lager wiederzufinden, wo ihr geschlechtsspezifische Gewalt drohe. Aus Berichten zur Lage in Mogadischu und zur Vorgehensweise von Al-Shabaab gehe hervor, dass die Stadt ein Hotspot für terroristische Gewalt bleibe, an dem die Beschwerdeführerin vor Al-Shabaab nicht sicher wäre. Zur Versorgungslage in Somalia wurde unter anderem ausgeführt, dass sich die Ernährungsunsicherheit infolge einer Dürre ernsthaft verschlechtern werde. Eine Rückkehr sei ihr nicht zumutbar, da sich die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage im gesamten somalischen Staatsgebiet als derart prekär darstelle, dass ihr im Falle einer Rückkehr eine Verletzung in ihren von Artikel 2 und 3 EMRK geschützten Rechten drohe. Auch die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides zum Fluchtvorbringen sei aus näher dargestellten Gründen mangelhaft und unschlüssig. Der Beschwerdeführerin drohe aufgrund der Verweigerung ihrer Zwangsverheiratung mit einem Al-Shabaab-Mitglied Verfolgung durch die Al-Shabaab, von der ihr deshalb eine oppositionelle politische Gesinnung zumindest unterstellt werde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht. Somit wäre ihr internationaler Schutz gemäß Paragraph 3, AsylG, zumindest aber subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen.

6. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 14.06.2022 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 20.06.2022 in der Gerichtsabteilung W169 einlangten.

7. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.06.2022 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W169 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W265 zugewiesen, wo dieses am 27.06.2022 einlangte.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.11.2022 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der die Beschwerdeführerin im Beisein ihrer Rechtsvertretung insbesondere zu ihren Fluchtgründen und ihren persönlichen Umständen in Somalia befragt wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsniederschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

Die Beschwerdeführerin legte Integrationsunterlagen und Medienberichte vor. Das Bundesverwaltungsgericht brachte aktuelle Länderberichte in das Verfahren ein und räumte den Verfahrensparteien die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Die Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin gab in der Verhandlung eine mündliche Stellungnahme ab.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme der Beschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, des genannten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin und zu ihren persönlichen Umständen:

Die Beschwerdeführerin führt den Namen römisch 40 und ist am römisch 40 geboren. Sie ist Staatsangehörige Somalias, Angehörige des Clans der Hawiye, des Subclans der Murusade sowie des Sub-Subclans der römisch 40 und sunnitische Muslimin. Ihre Muttersprache ist Somalisch.

Die Beschwerdeführerin wurde in der Stadt Mogadischu geboren. 2006 zog sie mit ihrer Familie nach römisch 40 in der Region Lower Shabelle, wo sie bis zu ihrer Ausreise aus Somalia gelebt hat. Ihre Eltern, ein Bruder (ca. 18 Jahre) und eine Schwester (ca. 16 Jahre) leben nach wie vor in römisch 40 . Ihre Mutter betreibt dort ein kleines Teehaus, in dem auch die übrigen Familienmitglieder arbeiten. Sie hat manchmal Kontakt zu ihrer Familie.

Die Beschwerdeführerin hat keine Schule besucht und keine Berufsausbildung absolviert. Sie hat ab einem Alter von ca. zwölf Jahren ebenfalls im Teehaus ihrer Mutter gearbeitet.

Die Beschwerdeführerin hat 2011 erstmals geheiratet, sich aber nach etwas mehr als einem Jahr wieder scheiden lassen. Aus dieser Ehe stammt ihr Sohn römisch 40 , geboren am römisch 40 . 2013 hat sie ein zweites Mal geheiratet. Aus dieser Ehe stammt ihr Sohn römisch 40 , geboren am römisch 40 . Ihr zweiter Ehemann ist 2018 verschollen. Ihre beiden Söhne leben bei ihren Eltern in römisch 40 .

Neben ihrer Kernfamilie lebt auch eine Tante mütterlicherseits mit ihrem Mann und ihren Kindern in Somalia, die Beschwerdeführerin weiß allerdings nicht, wo sich diese derzeit aufhält.

Die Beschwerdeführerin reiste im Juni 2021 aus Somalia aus. Sie hielt sich unter anderem ca. ein Monat in der Türkei und ca. ein Monat in Serbien auf und stellte am 29.09.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Die Beschwerdeführerin ist gesund.

Sie ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

1.2.1. Die Beschwerdeführerin wurde in Somalia nicht von einem Al-Shabaab-Mitglied zur Heirat aufgefordert und nicht mit dem Tod bedroht, weil sie dies abgelehnt hat. Ihr Vater wurde nicht aus diesem Grund ermordet und der Rest ihrer Familie war nicht aus diesem Grund gezwungen, Somalia zu verlassen.

Der Beschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Somalia daher nicht aus diesem Grund konkret und individuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt durch Al-Shabaab oder andere Personen.

1.2.2. Die Beschwerdeführerin verfügt nach wie vor über Familienangehörige, nämlich ihre Eltern, einen Bruder, eine Schwester und ihre beiden Söhne, an ihrem Heimatort römisch 40 . Sie ist daher keine alleinstehende Frau ohne soziales und familiäres Netzwerk, die im Falle einer Rückkehr Gefahr laufen würde, in einem IDP-Lager unterkommen zu müssen und dort geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein.

1.2.3. Die Beschwerdeführerin wurde im Kindesalter Opfer einer Genitalverstümmelung. Bei einer Rückkehr nach Somalia droht ihr jedoch nicht konkret und individuell die Gefahr einer Deinfibulation und zwangsweisen Reinfibulation im Fall der Geburt eines weiteren Kindes.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Zur Lage in Somalia werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 4 vom 27.07.2022, (LIB) und den EUAA-Leitlinien zu Somalia vom Juni 2022 (EUAA) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.3.1. COVID-19 – Letzte Änderung: 29.06.2022

Die Covid-19-Pandemie wirkt sich auch weiterhin auf die humanitäre Lage aus. Mit Stand 30.4.2022 waren seit Beginn der Pandemie insgesamt 26.581 Infektionen und 1.350 damit in Zusammenhang stehende Todesfälle registriert worden. Mit Stand 20.6.2022 waren in Somalia 12.205 aktive Fälle registriert (LIB).

Es gibt nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Impfungen. Ende April 2022 waren 1,4 Millionen Menschen voll immunisiert, insgesamt waren 2,6 Millionen Dosen verabreicht worden. Allerdings zögern viele Menschen, sich impfen zu lassen. U. a. lässt das durch fehlende öffentliche Informationen befeuerte, mangelnde Bewusstsein der Öffentlichkeit hinsichtlich Covid-19 viele Menschen zögern, sich impfen zu lassen; dies gilt sogar für medizinisches Personal. Andere Gründe für die geringe Durchimpfung sind: eine niedrige Zahl an Neuinfektionen; die nicht vorhersagbare Verfügbarkeit von Impfstoffen; die geringe Haltbarkeit der Impfstoffe; und der mangelnde Zugang zu Impfzentren aufgrund von Unsicherheit oder geografischer Entfernung (LIB).

Der Umgang der somalischen Regierung mit der Covid-19-Pandemie war und ist völlig inadäquat. Die tatsächliche Zahl an Covid-19-Fällen und -Toten ist vermutlich höher als die offiziellen Zahlen darstellen. So liegt die Zahl an Covid-19-Toten im Zeitraum März bis September 2020 gemäß einer Studie mindestens 32-mal höher als offiziell angegeben. Während die von der Regierung angegebene Zahl bei 99 liegt, schätzen Experten die Zahl an Toten auf 3.200-11.800. Die Regierung zählt üblicherweise nur jene Toten, die an Covid-19 in medizinischen Einrichtungen verstorben sind. Außerhalb davon gab und gibt es in Somalia kein System für eine Registrierung von Todesfällen. Auch insgesamt sind bei den Infektionen nur jene Fälle registriert worden, wo es Erkrankte überhaupt bis zu einer Gesundheitseinrichtung geschafft haben und dort dann auch tatsächlich getestet wurden. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs – viele mehr sind zu Hause gestorben (LIB).

Problematisch sind die - auch weiterhin - extrem geringen Testkapazitäten, das mit Covid-19 verbundene Stigma, das geringe Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen sowie teils auch die Leugnung von Covid-19. Covid-19 wurde (und wird) von Falschinformationen und einem Stigma begleitet. So wurden z. B. Menschen, die Maske tragen, als infiziert oder sogar als gottlos erachtet, Abstandsregeln als kulturell inakzeptabel und unhöflich empfunden. Es wurde versucht, diesen Stigmata mit Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken (LIB).

Trotzdem sind seit Beginn der Pandemie bis Ende Mai 2022 nur rund 494.000 Tests durchgeführt worden. Testungen sind v.a. auf Städte beschränkt. Viele Infektionen werden wegen der geringen Testkapazitäten nicht erkannt (LIB).

Humanitäre Partner hatten schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von Covid-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt. Anfangs gab es nur ein speziell für Covid-19-Patienten zugewiesenes Spital, das Martino Hospital in Mogadischu. Dieses ist allerdings unterbesetzt und schlecht ausgerüstet; von 150 Betten verfügten im Feber 2021 nur 11 über ein Beatmungsgerät und Sauerstoffversorgung. Viele Covid-19-Patienten sind in Spitälern aus Mangel an Sauerstoffversorgung oder wegen eines Stromausfalls gestorben. Es gibt so gut wie keine präventiven Maßnahmen und Einrichtungen. Menschen, die an Covid-19 erkranken, bleibt der Ausweg in ein Privatspital – wenn sie sich das leisten können. Die Situation war derart ernst, dass sich Akteure aus dem privaten Sektor engagiert und zusätzliche Covid-19-Kapazitäten geschaffen haben. Ab August 2021 gab es in Mogadischu schon drei Krankenhäuser, wo Covid-19-Patienten versorgt werden konnten. Der türkische Rote Halbmond hat Somalia im Feber 2021 weitere zehn Beatmungsgeräte zukommen lassen. Im März 2021 spendete die Dahabshil Group dem Staat Sauerstoffverdichter, mit denen insgesamt 250 Patienten versorgt werden können. Die Firma übernimmt auch die technische Instandhaltung. Ende September 2021 wurde in Mogadischu die erste öffentliche Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff eröffnet. Diese wurde von der Hormuud Salaam Stiftung angekauft und gespendet. Der Sauerstoff wird an öffentlichen Spitälern in Mogadischu kostenlos zur Verfügung gestellt. Außerdem hat die EU gemeinsam mit der WHO dem Martino Hospital in Mogadischu eine eigene Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff geschenkt. Die Anlage wurde im März 2022 übergeben. Der Sauerstoff wird zur Behandlung von Covid-19 aber auch für andere Patienten verwendet. Zwei weitere solche Anlagen werden in Garoowe und Hargeysa installiert. Taiwan unterstützt Somaliland bei Testungen, Masken, Sauerstoffanlagen sowie mit Impfstoff (LIB).

Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10 %. Nach anderen Angaben erwies sich der Remissenfluss als resilient. Demnach haben sich die Überweisungen von 2,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 auf 2,8 Milliarden im Jahr 2020 erhöht. Die Überweisungen an Privathaushalte erhöhten sich von 1,3 auf 1,6 Milliarden (WB 6.2021, Sitzung 11f). In Somaliland sind die Remissen im Jahr 2020 jedenfalls gegenüber jenen im Jahr 2019 gestiegen (LIB).

Der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen. 45 % der Kleinstunternehmen mussten schließen. Die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - haben sich verstärkt. Schätzungen zufolge mussten beim Ausbruch von Covid-19 21 % der Somali ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnimmt. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens. Familien - und hier v. a. von Frauen geführte - spüren auch im Jahr 2022 die Auswirkungen der Pandemie - sei es durch Jobverlust oder den Verlust von Kaufkraft. Manche Unternehmen müssen Mitarbeiter entlassen, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen; andere haben mit einem Minimum an Personal wieder den Betrieb aufgenommen (LIB).

Ungeimpfte Reisende müssen ein negatives PCR-Testergebnis mitführen, das nicht mehr als 72 (Mogadischu) bzw. 96 (Hargeysa) Stunden alt ist. Geimpfte müssen keinen Testnachweis erbringen. Am Flughafen in Mogadischu und jenem in Hargeysa werden Screenings durchgeführt. Personen mit Symptomen müssen sich einem Antigentest unterziehen und werden - auf eigene Kosten - in einem Hotel unter Quarantäne gesetzt. Somalische Staatsangehörige, die ohne negatives Covid-19-Testergebnis ankommen, müssen sich für 14 Tage in Selbstquarantäne begeben. Ausländern ohne Testergebnis wird in Mogadischu die Einreise verweigert, in Hargeysa gelten die gleichen Regeln wie für Staatsbürger (LIB).

Die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 wurden weitgehend gelockert bzw. aufgehoben. Alle Menschen sind dazu aufgerufen, Menschenansammlungen zu meiden, Masken zu tragen und Abstandsregeln einzuhalten. Größere Veranstaltungen (Sport, Hochzeiten, Proteste) sind verboten. Nach anderen Angaben wurde das Verbot größerer Veranstaltungen am 19.4.2022 aufgehoben (LIB).

Es gibt keine Einschränkungen im Inlandsverkehr. Der zivile Luftverkehr und öffentliche Verkehrsmittel sind in Betrieb. Die Landverbindungen zwischen Dschibuti und Somaliland wurden wieder geöffnet, der Hafen in Berbera ist in Betrieb (LIB).

1.3.2. Politische Lage

1.3.2.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 22.07.2022

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird. Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (LIB).

Staatlichkeit: Trotz massiver militärischer, diplomatischer und finanzieller Unterstützung hat die Regierung in Mogadischu kaum Fortschritte gemacht. Nach anderen Angaben hat Somalia in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert. Jedenfalls zeigt das Land trotz erzielter Fortschritte auch weiterhin alle Merkmale eines failed state . Laut einer anderen Quelle ist Somalia zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen, da sie nur wenige Gebiete kontrolliert. Zudem hängt die Existenz des somalischen Staates zum größten Teil von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ab. Dies gilt natürlich auch für die Umsetzung von Aktivitäten seitens der Regierung (LIB).

Wie auch in Afghanistan wurde in Somalia durch eine fremde Kraft ein bestehendes islamistisches Regime vertrieben – namentlich die Union Islamischer Gerichte durch Äthiopien im Jahr 2006; wie auch in Afghanistan begann danach ein von Außen betriebener Prozess zur Staatsbildung unter dem Schutz ausländischer Soldaten; und wie auch in Afghanistan ist es der Regierung nicht gelungen, ein ausreichendes Maß an Legitimität aufzubauen. Die Öffentlichkeit fühlt sich ignoriert, weil die Regierung nicht daran arbeitet, das Leben der Bürger zu verbessern. Dementsprechend erachten viele Bürger die Regierung als nutzlos. Selbst in Gebieten, die von der Regierung gehalten werden, tun sich die Verwaltungen schwer, auch nur grundlegende Dienste anzubieten. Gleichzeitig kämpfen die staatlichen Institutionen mit dem Erbe von jahrzehntelanger Korruption und von Missmanagement. Somalia schneidet bei den wichtigsten Benchmarks für gute Regierungsführung - Rechtsstaatlichkeit, Effektivität der Regierung, politische Stabilität, Beteiligung der Öffentlichkeit, Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruptionsbekämpfung - erschreckend schlecht ab. Die Ausübung von Macht durch die Politik erfolgt willkürlich. Und tatsächlich ist keine der Regierungen auf Bundes- oder Bundesstaatsebene nach irgendeinem Gesetz rechenschaftspflichtig. Selbst das somalische Parlament erwägt kaum jemals die Rechtmäßigkeit einer Angelegenheit, sondern fokussiert unmittelbar auf individuelle materielle Gewinne. Die Unvorhersagbarkeit und die chaotische Praxis der Politik haben die Entwicklung staatlicher Institutionen gehemmt und die Effektivität der Regierung sowie die Reichweite des Staates eingeschränkt. Die Unfähigkeit, gegen die endemische Korruption vorzugehen, behindert den Staatsbildungsprozess und den Aufbau von Institutionen; der politische Machtkampf hat das Vertrauen der Bevölkerung in bestehende staatliche Institutionen weiter geschwächt, die politischen Konflikte haben die Kluft zwischen den Fraktionen vergrößert. All dies zehrt einerseits an der Ausdauer der Geberländer und wird andererseits von al Shabaab ausgenutzt (LIB).

Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Seit 2016 und 2017 die fünf Bundesstaaten gegründet wurden, stockt der Verfassungsprozess. Grundlegende Fragen des Staatsaufbaus sind nicht geklärt. Dies lähmt staatliches Handeln und fördert politische Spannungen zwischen Mogadischu und den föderalen Gliedstaaten, weil eben die Verfassungsgebung und Kompetenzverteilung noch immer nicht abgeschlossen sind (LIB).

Regierung: Unter der bestehenden Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 wird der Präsident für eine Amtszeit von vier Jahren von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments gewählt. Der Präsident teilt sich seine exekutive Macht mit dem Premierminister, der wiederum nur mit Unterstützung des Parlaments arbeiten kann (LIB).

2017 wurde Farmaajo als Präsident gewählt, sein Mandat endete eigentlich am 8.2.2021, er regierte aber bis Mai 2022 weiter. Somalia stürzte in eine schwere Verfassungs- und politische Krise, in deren Folge es in Mogadischu zwischen Kräften der Regierung und Kräften der Opposition auch zu Kampfhandlungen kam. Nach dieser Eskalation im April 2021 konnte im Mai 2021 eine Einigung der Umsetzungsmodalitäten der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erzielt werden. Trotz aller Bekundungen konnten die eigentlich Ende 2020 geplanten Parlamentswahlen nicht demokratisch gestaltet werden. Stattdessen wurde wieder auf einen Selektionsprozess ähnlich wie bei den Wahlen 2016 zurückgegriffen. Zudem wurde der Wahlprozess zu einem Zweikammerparlament durch innenpolitische Streitigkeiten für mehr als ein Jahr verzögert. Mit der erneuten Wahl des ehemaligen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamud (2012-2017) am 15.5.2022 ist der Wahlprozess mit großer Verzögerung abgeschlossen. Nach mehr als 15 Monaten Streitigkeiten sind die Wahlen ruhig verlaufen. Es gab 36 Kandidaten. Im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2017 hat diesmal Geld bzw. Stimmenkauf keine entscheidende Rolle gespielt. In der letzten Wahlrunde erhielt Farmaajo 110 Stimmen, Hassan Sheikh Mohamud 214 Stimmen. Der Wahlsieg wurde allgemein akzeptiert. Am 9.6.2022 wurde der neue Präsident angelobt. Dieser ernannte am 15.6.2022 Hamza Abdi Barre, einen ehemaligen Vorsitzenden der staatlichen Wahlkommission von Jubaland, zum Premierminister (LIB).

Parlament: Die provisorische Verfassung sieht ein Zweikammernparlament mit einem 275-köpfigen Unterhaus und einem 54 Senatoren umfassenden Oberhaus vor. Die Mitglieder zum Oberhaus werden von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt. Die Wahlen zum Oberhaus begannen im Juli 2021 und konnten nach Monaten der Streitigkeiten im November 2021 abgeschlossen werden. Sie wurden auf voller Breite manipuliert, nur um 15 der 54 Sitze gab es tatsächlich einen Wettstreit. Die meisten Senatoren sind nunmehr de facto von den Präsidenten der Bundesstaaten nominierte Alliierte, Freunde und manchmal auch Familienangehörige. Insgesamt hat es sich nicht um einen glaubwürdigen Wahlbewerb gehandelt, der Vorgang kann kaum als „Wahl“ bezeichnet werden (LIB).

Am 28.4.2022 wurde der Wahlprozess der am 29.7.2021 begonnenen Parlamentswahlen abgeschlossen. Alle 275 Abgeordneten zum Unterhaus waren gewählt, 20% davon sind Frauen. Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (LIB).

Demokratie: Seit Jahrzehnten hat es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene mehr gegeben. In Süd-/Zentralsomalia gibt es keine demokratischen Institutionen. Somalia ist keine Wahldemokratie und hat auch keine strikte Gewaltenteilung, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung demokratisch nicht legitimierter traditioneller Strukturen (v. a. Clanstrukturen) vergeben. Eine andere Quelle gibt zu bedenken: Auch, wenn sie nicht wirklich frei und fair waren, so haben die in den letzten zwei Jahrzehnten in Somalia durchgeführten indirekten Wahlen zu Ergebnissen geführt, die im Allgemeinen von den politischen Akteuren und der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wurden. So wurden durch einen – gewaltfreien – Wahlprozess jeweils schwache, aber akzeptierte Institutionen geschaffen (LIB).

Aktuelle Politische Lage: Der neue Präsident hat von seinem Vorgänger eine politisierte, parteiische und unfähige Bürokratie geerbt. Die Nabad iyo Nolol (N&N, Friede und Leben), die Partei von Ex-Präsident Farmaajo, hat die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Verwaltung ohne Skrupel zu zentralisieren. Die Regierung unter Farmaajo und dem NISA-Chef Fahad Yasin wollte gemäß einer Quelle in Richtung von Verhandlungen mit al Shabaab und einer Talibanisierung Somalias. Dutzende ehemalige Dschihadisten wurden von ihnen in Schlüsselpositionen der Bundesverwaltung und der Sicherheitskräfte gehievt, politische Führungskräfte und Minister wurden auf Basis von Loyalität und nicht von Kompetenz ausgewählt. Jeder, der als Bedrohung wahrgenommen wurde, wurde angegriffen. Die Bundesregierung und regionale Führer haben alles getan, um zeitgerechte und glaubwürdige Wahlen zu verhindern. Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahlen zu manipulieren, führte das Land in politisches Chaos. Die Verzögerungen, Zusammenstöße und Ungewissheiten rund um die Wahlen haben außerdem zu einem fast vollständigen Zusammenbruch hinsichtlich der Erfüllung von Regierungsfunktionen geführt. Dies hat wiederum zur Spaltung aller Sektoren - auch des Sicherheitsapparats - beigetragen. Der mehr als ein Jahr andauernde Streit um die Wahlen hat nicht nur die Regierungsarbeit gelähmt, er hat es ermöglicht, dass al Shabaab den angeschlagenen Staat weiter ausgehöhlt hat (LIB).

Dahingegen ist Präsident Hassan Sheikh gemäß Angaben einer Quelle ein Demokrat. Er will die Staatsbildung im Konsens fortführen. Um aber den Einfluss von N&N zu tilgen und eine inklusive Politik umzusetzen, wird es Zeit brauchen. Gleichzeitig wird N&N alles daran setzen, von Hassan Sheikh vorangetriebene Reformen zu sabotieren - und zwar von innerhalb der Regierung. Folglich ist das Machtzentrum Somalias nach der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten paralysiert. Eine Elite im Wettstreit stehender islamistischer Fraktionen, die allesamt dem Föderalismus abgeneigt sind, versucht, Reformen zu hintertreiben oder rückgängig zu machen. Die N&N ist im Begriff, sich neu zu gruppieren. Der neue Präsident möchte dem mit einer Stärkung von Dam ul-Jadiid ["Partei" bzw. politisch-islamische Strömung des Präsidenten] entgegenwirken. Der Präsident ist moderat islamisch und keine Bedrohung für demokratische Werte. Insgesamt ist die Politik in Somalia zunehmend in der Hand von Eliten und fraktioniert. Clans üben weniger Macht aus, islamistische Fraktionen gewinnen an Macht und Einfluss (LIB).

Föderalisierung: Die Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 sieht föderale Strukturen vor. Seit damals sind sechs Entitäten durch die Bundesregierung als Bundesstaaten anerkannt worden: Puntland, Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Jeder dieser Bundesstaaten hat eine eigene Verfassung. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet. Die Hauptstadtregion Benadir (Mogadischu) verbleibt als Banadir Regional Administration/BRA unter direkter Kontrolle der Bundesregierung . Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB).

Unter der Regierung von Präsident Farmaajo waren die Beziehungen zwischen Bundesregierung und einigen Bundesstaaten angespannt. Dabei ging es um Fragen der Machtteilung, um Ressourcen, Territorien und die Kontrolle bewaffneter Kräfte. Grundsätzlich gibt es politische Uneinigkeit über die Frage, ob Bundesstaaten semi-autonom sein sollen oder ob mehr Macht bei der Bundesregierung zentralisiert sein soll. Zahlreiche Befugnisse wurden nicht geklärt. Das betrifft die Verteidigung, welche militärischen Truppen und Polizeieinheiten vor Ort eingesetzt werden können, die Frage der Ressourcenverteilung, die Verteilung von internationalen Hilfsgeldern. Auch Entwicklungszusammenarbeitsprojekte werden über die Zentralregierung in Mogadischu abgewickelt, und die Verteilung auf die Regionen ist strittig, ebenso die Fragen, wer welche Hoheiten über welche Verträge hat. Präsident Farmaajo hatte versucht, die Macht wieder zu zentralisieren. Zudem ist es den neuen Präsidenten der Bundesstaaten aufgrund ihrer Schwäche nicht gelungen, ihre Macht zu konsolidieren und staatliche Autorität auszuüben. Immer mehr Gebiete gingen an al Shabaab verloren (LIB).

1.3.2.1.1. South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle) – Letzte Änderung: 25.07.2022

Der SWS wurde in den Jahren 2014/2015 etabliert. Im Jänner 2019 ist mit Abdulaziz Hassan Mohamed 'Laftagareen' ein neuer Präsident angelobt worden. Der Bundesregierung wird vorgeworfen, sich in den Wahlkampf eingemischt zu haben. Ein Kandidat – der ehemalige stellvertretende Kommandant von al Shabaab, Mukhtar Robow – war verhaftet worden, was zu gewaltsamen Demonstrationen geführt hat. Die Amtszeit von Präsident Laftagareen läuft im Dezember 2022 aus. Mit der Einschüchterung von Gegnern wurde bereits begonnen (LIB).

Im März 2020 haben Clanälteste ein neues Regionalparlament ausgewählt. Im Jahr 2021 konzentrierte sich die Regierung auf den Aufbau von Lokalräten in ausgewählten Bezirken. Dieser Prozess konnte in der offiziellen Hauptstadt des SWS, Baraawe (Lower Shabelle), in Waajid und Ceel Barde (Bakool) auch abgeschlossen werden. In den Gebieten, die in Bay von der Regionalregierung kontrolliert werden, funktioniert die Verwaltung einigermaßen. Beim Aufbau der Verwaltung konnten seit 2021 keine weiteren Fortschritte erzielt werden (LIB).

1.3.3. Sicherheitslage

1.3.3.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 25.07.2022

Die Sicherheitslage bleibt instabil bzw. volatil, mit durchschnittlich 236 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto von al Shabaab. Die Angriffe der Gruppe richten sich in erster Linie gegen somalische Sicherheitskräfte und AMISOM. Dabei werden Angriffe vorwiegend mit improvisierten Sprengsätzen und sogenannten hit-and-run-Angriffen durchgeführt. Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt, während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (LIB).

AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Allerdings konnten trotz internationaler Unterstützung kaum weitere territoriale Gewinne verzeichnet werden. Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren. Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS - aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen. Wenn ATMIS abzieht, würde Mogadischu rasch fallen. An dieser Situation wird sich in den nächsten Jahren nichts ändern. Zudem ist die Regierung zum eigenen Überleben schon alleine deswegen auf ausländische Truppen und Hilfe angewiesen, weil sie nicht in der Lage ist, aus eigenen Mitteln Polizisten und Soldaten zu bezahlen (LIB).

Trend: Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten. Der Kampf gegen al Shabaab stagniert seit mehreren Jahren. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hat die vergangenen vier Jahre damit zugebracht, einen Krieg gegen den Föderalismus, politischen Pluralismus und demokratische Normen zu führen – aber nicht gegen al Shabaab. Die Gruppe ist heute stärker denn je und hat 2021 aggressiv expandiert. Dabei sah sich al Shabaab schon zuvor durch den Abzug der USA und einen Teilabzug äthiopischer Kräfte gestärkt. Danach hat sie die große politische Unsicherheit und die damit verbundenen Spannungen genutzt, um das Tempo ihrer Aktivitäten in Mogadischu und in den Bundesstaaten auch mittel- und langfristig aufrechterhalten zu können. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hatte den Kampf gegen al Shabaab aufgeben, und immer mehr Gebiete gingen an die Gruppe verloren. Al Shabaab gewinnt an Boden und konnte im Jahr 2021 in Gebiete vordringen, die bis dahin als geschützt gegolten hatten - etwa in den Nordwesten von Galmudug und in die zuvor friedliche Küstenzone nordwestlich von Mogadischu in Middle Shabelle. Insgesamt konnte al Shabaab unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS-Geländegewinne erzielen (LIB).

Auch der Konflikt zwischen der Bundesregierung und einzelnen Bundesstaaten wurde immer wieder gewaltsam ausgetragen. Im April 2021 ist es in Mogadischu zu Kampfhandlungen gekommen. Auch im September 2021 war die Situation in Mogadischu höchst angespannt. Der Zusammenhalt von Bundesregierung und Bundesstaaten wäre notwendig, weil al Shabaab die Fähigkeit besitzt, Brüche zwischen Bundes- und Regionalregierungen auszunutzen (LIB).

Die Operation Badbaado – 2019 zur Sicherung der westlichen Zugänge zu Mogadischu begonnen - hat sich totgelaufen und wurde nach der Einnahme von Janaale im März 2020 nicht weiterverfolgt. Sie hat lediglich einige unzusammenhängende Vorposten zwischen Mogadischu und Janaale hinterlassen, deren Zwischengebiete von al Shabaab kontrolliert werden. Die als Folgeoperation geplante Operation Badbaado römisch II in Middle Shabelle ist de facto nie angelaufe). Seit Badbaado ist es zu keinem geplanten offensiven Vorgehen gegen al Shabaab mehr gekommen. Ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch ATMIS kann ohne Beteiligung der Truppen der Bundesregierung nicht erwartet werde). Die Fähigkeit, mittlerweile auch die am sichersten eingestuften Ziele angreifen zu können, verdeutlicht dies umso mehr. Die Bundesarmee ist teils nicht in der Lage, FOBs (Forward Operating Base) zu halten. Mehrfach hat al Shabaab erfolgreich FOBs der Bundesarmee angegriffen und überwältigt. Derartige Operationen sind mittlerweile für al Shabaab die wichtigste Quelle an militärischem Nachschub (LIB).

Noch im Mai und Juni 2021 hatte die Bundesarmee bei einer Offensive in Middle Shabelle bewiesen, dass sie zu einer ausschließlich auf eigenen Kräften beruhenden Initiative kaum in der Lage war. Die Operation endete unter großen Verlusten im Fiasko. Mit Antritt von Präsident Hassan Sheikh Mohamud im Mai 2022 haben somalische Kräfte plötzlich mehrere größere Erfolge gegen al Shabaab einfahren können. Einerseits konnte die Spezialeinheit Danab Ende Juni al Shabaab in HirShabelle mit einer Offensive überraschen und mehrere Stützpunkte der Gruppe zwischen Matabaan und Jowhar einnehmen. Andererseits wurden bei einem Zusammenspiel von Macawiisley und Ahlu Sunna Wal Jama'a in Galmudug dutzende Kämpfer der al Shabaab getötet. Dies waren die größten Verluste der Islamisten in den vergangenen fünf Jahren (LIB).

Al Shabaab führt nach wie vor einen Guerillakrieg mit gewalttätigen, extremistischen Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Die Gruppe ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte hit-and-run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Insgesamt verfolgt al Shabaab eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus. Die Präsenz von al Shabaab im ländlichen Raum hat 2021 zugenommen (LIB).

Im Zuge der Wahlen hat al Shabaab ihre Anschläge verstärkt. In Bevölkerungszentren - etwa Mogadischu, Kismayo und Baidoa - greift al Shabaab vorwiegend sogenannte "weiche" Ziele an. Damit sollen psychologische und hinsichtlich medialer Reichweite "sensationelle" Effekte erzielt werden, womit die Gruppe ihre Fähigkeiten zeigt und die Menschen einschüchtern möchte. Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (LIB).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab. Die Kriegsführung von al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn. Am meisten betroffen waren davon zuletzt Mogadischu, Lower Shabelle und Bay. Generell sind insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle betroffen. Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (LIB).

Innerhalb der von al Shabaab gehaltenen Gebiete führen Bundesarmee und AMISOM kaum Operationen durch. Es kommt dort lediglich zu sporadischen Luftschlägen der USA. Die größte Einzeloffensive der Bundesregierung der vergangenen Jahre richtete sich im Oktober 2021 gegen ASWJ in Guri Ceel. Dabei wurden 120 Menschen getötet und hunderte verwundet. Dies war die blutigste Schlacht in Somalia seit dem Angriff der al Shabaab auf den kenianischen Stützpunkt in Ceel Cadde (Gedo) Anfang 2016 (LIB).

Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt. Während AMISOM (bzw. als deren Nachfolgerin die ATMIS) und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen. Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen und hat Gebiete gefestigt, wo die Gruppe zuvor unter Druck von Regierungskräften gestanden ist. Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen. Nach anderen Angaben besitzt die Bundesregierung kaum Legitimität und kontrolliert lediglich Mogadischu - und das nicht zur Gänze. In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen. Gleichzeitig erhöht al Shabaab mit der Einnahme von Wegzöllen das eigene Budget. Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (LIB).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind

1.           das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2.           Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3.           größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4.           Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5.           der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor; sowie Rab Dhuure;

6.           weites Gebiet recht und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7.           sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (LIB).

Die Regierung kontrolliert Städte und Orte nur punktuell als Inseln inmitten umstrittener und umkämpfter Gebiete. Selbst in diesen Städten und Orten wird die Regierung von Rebellen unterwandert. In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden – insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (BMLV 19.7.2022). Immer wieder gelingt es al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Matabaan - einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (LIB).

Andere Akteure: Über drei Jahrzehnte gewaltsamer Konflikte haben die sozialen Brüche größer werden lassen. Kämpfe zwischen Clanmilizen und gewaltsame Auseinandersetzungen in Bundesstaaten und zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung kennzeichnen den anhaltenden Konflikt um Macht und Ressourcen. Diese Konflikte um z.B. Land und Wasser führen regelmäßig zu Gewalt. Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie ASWJ. Solche Kämpfe zwischen (Sub-)Clans - vorrangig um Land und Wasser, aber auch um Macht - haben im Jahr 2021 zugenommen. Bei Zusammenstößen in Galmudug, Jubaland und dem SWS kam es dabei zu Toten und massiven Vertreibungen. Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten. Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer – generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter – Gewalt verbunden sein. Das Expertenpanel der UN hat im Zeitraum Jänner bis August 2021 118 Vorfälle von Clankonflikten registriert. Dabei handelte es sich v.a. um Rachemorde und Entführungen. Insgesamt starben dabei 80 Menschen, 170 wurden verletzt; 22 Personen wurden entführt, um Blutgeld für vorhergehende Morde zu erpressen (LIB).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (LIB).

Im Zeitraum Feber-Mai 2022 verübte der sogenannte Islamische Staat zwei Sprengstoffanschläge auf einen Polizisten und einen Beamten sowie einen Handgranatenanschlag auf einen Checkpoint der Polizei. Alle diese Vorfälle, bei denen zwei Zivilisten und drei Angehörige der Sicherheitskräfte verletzt wurden, ereigneten sich in Mogadischu (LIB).

Zivile Opfer: Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten. Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an. Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu ATMIS und somalischen Sicherheitskräften. Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIB).

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von AMISOM bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28% der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20% (LIB).

Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:9367 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen] (LIB).

Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA. Im Jahr 2017 führten die USA 35 Luftschläge in Somalia durch, 2018 waren es 47 und 2019 63. Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 51 gesunken. Im Jahr 2021 bestätigten die USA lediglich 11 Luftangriffe, insgesamt sollen es aber 16 gewesen sein. Die Luftangriffe auf al Shabaab und den IS, bei denen seit 2017 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden sind konzentrierten sich vor allem auf die Regionen Lower Shabelle, Lower Juba, Middle Juba, Gedo und Bari. Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z.B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (LIB).

1.3.3.2. South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle) – Letzte Änderung: 25.07.2022

In den größeren von der Regierung kontrollierten Städten besteht eine grundlegende Verwaltung. Es gibt Bürgermeister, eine lokale Rechtsprechung und Ordnungskräfte. Die Regierung konnte mit internationaler Unterstützung ihre eigene, lokal rekrutierte Armee, die South West State Special Police Force (SWSSPF), weiter ausbauen. Sie wird von Äthiopien versorgt und ist in Bay der Hauptträger des Kampfes gegen al Shabaab. Al Shabaab kontrolliert viele ländliche Gebiete und nahezu alle wichtigen Hauptversorgungsrouten. Sicheres Reisen erfolgt über den Luftweg. Da der SWS maßgeblich von den Häfen Kismayo und Mogadischu abhängig ist, müssen Güter durch von al Shabaab kontrolliertes Gebiet transportiert werden. Generell haben sich zwischen al Shabaab und Sicherheitskräften das ganze Jahr 2021 über dutzende Angriffe und Gegenangriffe ereignet - auf den ganzen SWS verteilt. Al Shabaab bleibt in der Lage, die somalische Armee und AMISOM im Gebiet anzugreifen. Vor allem die Regionen Bay und Lower Shabelle sind von Angriffen und Anschlägen betroffen (LIB).

Stößt al Shabaab auf den Widerstand lokaler Clanmilizen, so wie dies bei den Leysan (Rahanweyn) in Bay und Bakool oder den Galja'el (Hawiye) in Lower Shabelle geschehen ist, und wo es kaum Schutz durch Sicherheitskräfte gibt, dann entführt die Gruppe mitunter Älteste, und es kommt zur Zwangsvertreibung ganzer Dörfer (LIB).

Lower Shabelle: Wanla Weyne, Afgooye, Qoryooley, Merka und Baraawe befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM, Kurtunwaarey und Sablaale werden von al Shabaab kontrolliert. Dies gilt auch für große Teile des Hinterlandes nördlich des Shabelle. Lower Shabelle ist nach wie vor von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen den Städten liegt im Fokus der al Shabaab (LIB).

Generell wurde der Großteil der militärischen Anstrengungen der Bundesarmee gegen al Shabaab 2020 in die Operation Badbaado investiert. Bundesarmee und AMISOM hatten damals neben Janaale auch noch Sabiid, Bariire und Aw Dheegle einnehmen können. Diese Orte sind insofern strategisch relevant, als dort Brücken über den Shabelle führen und diese für al Shabaab wichtige Nachschubwege in Richtung Mogadischu dargestellt haben. In jedem der genannten Orte wurde eine FOB (Forward Operating Base) der Bundesarmee eingerichtet. Manche Orte, die später von AMISOM an somalische Kräfte übergeben worden sind, wurden von al Shabaab wieder eingenommen. Während die Operation Badbaado 1 einige Erfolge erzielen konnte, kam die Phase 2 zu einem Stillstand. Mit dieser sollten eigentlich Hauptversorgungsrouten freigekämpft und -gehalten werden. Die Operation wurde nie umgesetzt (LIB).

Das Jahr 2021 hat zudem gezeigt, dass die militärischen Operationen gegen al Shabaab immer mehr taktischen als strategischen Charakter haben; und dass es den Regierungskräften an Kapazitäten mangelt, erobertes Gebiet auch zu halten. Insgesamt wird immer noch auf die Stationierung einer ausreichenden Zahl an Polizisten gewartet, der Übergang zur Zivilverwaltung ist nicht erfolgt. Bislang wurden nur einige Darawish, sowie Polizeirekruten des SWS ausgebildet, ausgerüstet und im Gebiet stationiert. Anfang Juli 2021 hat die Bundespolizei 150 Darawish in Janaale und Aw Dheegle stationiert, um diese Gebiete abzusichern. Immer wieder kann al Shabaab aber in Orte vordringen - z.B. am 7.4.2022 nach Buulo Mareer. Der Ort, in dem es Stützpunkte von AMISOM und Bundesarmee gibt, wurde vorab mit Mörsern beschossen und danach kurzzeitig von al Shabaab besetzt (LIB).

Anfang 2021 eskalierte der Konflikt zwischen al Shabaab und dem Clan der Galje’el (Hawiye). Al Shabaab vertrieb in Lower Shabelle dabei ca. 1.500 Haushalte aus 11 Dörfern. Im Zuge dieser Strafaktion ermordete die Gruppe zwei Menschen, setzte mehrere Dutzend Wohnstätten in Brand und stahl ca. 100 Kamele. Auch gegen Angehörige der Shanta Alemod (Rahanweyn) ging al Shabaab vor, dabei wurden im Feber 2021 rund 500 Haushalte aus vier Gemeinden vertrieben. Nach anderen Angaben kam es Mitte März 2021 im Bereich Wanla Weyne zu schweren Auseinandersetzungen zwischen zwei rivalisierenden Clans und al Shabaab. Zahlreicher Häuser wurden niedergebrannt, Vieh geplündert; 500 Familien sind alleine in Mogadischu als Flüchtlinge angekommen. Im Mai 2021 sind weitere Flüchtlinge aus diesem Gebiet in Mogadischu angekommen. Auch Mitte 2021 kam es im Gebiet zwischen al Shabaab, Galja'el, Shanta Alemod und Digil/Mirifle zu Auseinandersetzungen. Milizen der Galja'el griffen dabei Konvois an und beteiligten sich an Vergewaltigungen, Brandschatzungen, Plünderungen und Landraub (LIB).

Vorfälle: In den Regionen Bakool, Bay und Lower Shabelle lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 2,36 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 60 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie violence against civilians). Bei 48 dieser 60 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es 55 derartige Vorfälle (davon 44 mit je einem Toten) (LIB).

1.3.3.3. Banadir Regional Administration (BRA; Mogadischu) – Letzte Änderung: 25.07.2022

Noch vor zehn Jahren kontrollierte al Shabaab die Hälfte der Stadt, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Grabenkämpfe war. Seit 2014 ist das Leben nach Mogadischu zurückgekehrt und die Stadt befindet sich unter Kontrolle von Regierung und AMISOM. AMISOM markiert permanent ihre Präsenz in der Hauptstadt. Generell haben sich seit 2014 die Lage für die Zivilbevölkerung sowie die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden in Mogadischu verbessert. Letztere können nunmehr großteils jene Gebiete kontrollieren, in welchen al Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte. Allerdings verfügt die Bundesregierung nicht flächendeckend über ausreichend staatliche Institutionen hinsichtlich der Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums (LIB).

Insgesamt ist die Sicherheitslage in Mogadischu ständigen Änderungen unterworfen. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen der somalischen Sicherheitskräfte untereinander, bei denen nicht selten auch Unbeteiligte zu Schaden kommen. So kam es etwa im Zuge der politischen Krise im Feber und dann wieder im April 2021 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung loyalen Kräften einerseits und oppositionellen Kräften andererseits. Im Zuge dieser Krise haben sich unterschiedliche Fraktionen unterschiedliche Teile von Mogadischu "gesichert". Hawiye-Milizen der Opposition - zum Teil Soldaten der somalischen Armee - hatten große Teile der Stadt unter Kontrolle genommen, rund 200.000 Menschen haben die Stadt verlassen. Anfang Mai 2021 wurden rund drei Viertel der Stadt von der Opposition kontrolliert, während sich die in der Stadt befindlichen Farmaajo-loyalen Kräfte maßgeblich aus - irregulären - Einheiten der NISA zusammensetzten. Nach der Wahl von Hassan Sheikh Mohamed hat sich die Atmosphäre in Mogadischu dramatisch verändert, die Stadt ist ruhiger geworden - zumindest hinsichtlich der politischen Auseinandersetzungen (LIB).

Einerseits reicht die in Mogadischu gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte weiterhin nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen. Andererseits bietet die Stadt für al Shabaab alleine aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele. Innerhalb der Stadt hat sich die Sicherheit zwar verbessert, al Shabaab kann aber nach wie vor Anschläge durchführen. Andererseits gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. In Mogadischu besteht kein Risiko, von al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen. Bei einem Abzug von AMISOM aus Mogadischu droht hingegen die Rückkehr von al Shabaab (LIB).

Geographische Situation: Al Shabaab ist im gesamten Stadtgebiet präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich. Dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische. Relevante Verwaltungsstrukturen gelten als von al Shabaab unterwandert. Der Gruppe gelingt es nach wie vor, selbst die am besten abgesicherten Ziele in der Stadt zu penetrieren. So drang ein Kommando am 23.3.2022 auf das Flughafengelände vor und tötete dort fünf Personen (darunter drei Ausländer). In Mogadischu betreibt al Shabaab nahezu eine Schattenregierung: Betriebe werden eingeschüchtert und "besteuert" und eigene Gerichte sprechen Recht. Al Shabaab ist in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. Stadtbewohner geben an, dass sie aus Angst vor einem Übergriff mit einer Hausrenovierung erst dann beginnen würden, wenn sie an al Shabaab Schutzgeld bezahlt hätten. In den Außenbezirken hat al Shabaab größeren Einfluss, auch die Unterstützung durch die Bevölkerung ist dort größer (LIB).

Anschläge und Attentate: Mogadischu bleibt ein Hotspot terroristischer Gewalt. Al Shabaab verübt gezielte Tötungen und Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen, einige wenige Mörserangriffe und kleinere sogenannte hit-and-run-Angriffe auf Positionen von Regierungskräften am Stadtrand sowie Attentate mit Handgranaten. Die Gruppe ist zudem weiterhin in der Lage, in Mogadischu auch größere Sprengstoffanschläge durchzuführen. Üblicherweise zielt al Shabaab mit Angriffen auf Sicherheitskräfte und Vertreter des Staates ["officials"]. Es werden auch jene Örtlichkeiten angegriffen, die von Regierungsvertretern und Wirtschaftstreibenden sowie Sicherheitskräften frequentiert werden, z.B. Restaurants, Hotels oder Einkaufszentren (LIB).

Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al Shabaab gleich unsicher. Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al Shabaab. Die Hauptziele von al Shabaab befinden sich in den inneren Bezirken: militärische Ziele, Regierungseinrichtungen und das Flughafenareal. Die Außenbezirke hingegen werden von manchen als die sichersten Teile der Stadt erachtet, da es dort so gut wie nie zu größeren Anschlägen kommt. Allerdings kommt es dort öfter zu gezielten Tötungen. Das Expertenpanel der UN verzeichnete im Zeitraum Dezember 2020 bis September 2021 in Mogadischu 270 Vorfälle. Demnach sind die kleinen Altstadtbezirke wenig betroffen, die großen Flächenbezirke im Norden und Nordosten am meisten: Cabdulcasiis, Boondheere, Xamar Weyne und Waaberi je 1; Xamar Jabjab und Shangaani je 2; Kaxda (ein neuer peripherer Bezirk) 3; Shibis 4; Waardhiigley 11; Dharkenley 19; Hawl Wadaag und Wadajir/Medina je 21; Heliwaa und Karaan je 29; Yashiid 30; Hodan 32; Dayniile 63 (LIB).

Zivilisten: Generell unterstützt die Zivilbevölkerung von Mogadischu nicht die Ideologie von al Shabaab. Am Stadtrand ist die Unterstützung größer, die meisten Bewohner haben al Shabaab gegenüber aber eine negative Einstellung. Sie befolgen die Anweisungen der Gruppe nur deshalb, weil sie Repressalien fürchten. Al Shabaab agiert wie eine Mafia: Sie droht jenen mit ernsten Konsequenzen, welche sich Wünschen der Gruppe entgegensetzen. Zivilisten leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al Shabaab: Jene, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Und natürlich besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, und damit zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (LIB).

Bewegungsfreiheit: Da al Shabaab indirekt Kontrolle ausübt, wird dadurch die Mobilität der Stadtbewohner im Alltag eingeschränkt. Die Menschen wissen um die Gefahr bestimmter Örtlichkeiten und versuchen daher, diese zu meiden. Sie bewegen sich in der Stadt, vermeiden aber unnötige Wege. Für viele Bewohner der Stadt ist die Instabilität Teil ihres Lebens geworden. Sie versuchen, Gefahren auszuweichen, indem sie Nachrichten mitverfolgen und sich gegenseitig warnen. An neuralgischen Punkten der Stadt befinden sich Checkpoints, allerdings weniger als früher. An den Einfahrtsstraßen wird jedes Fahrzeug kontrolliert. Insgesamt wird an diesen Straßensperren professioneller vorgegangen als noch vor einigen Jahren (LIB).

Die Gewaltkriminalität in der Stadt ist hoch. Monatlich sterben mehrere Menschen bei Raubüberfällen oder aus anderen Gründen verübten Morden. Zuletzt ist die Gewaltkriminalität weiter angestiegen – v.a. durch Jugendbanden. In rezenter Zeit gab es einen Mangel an Patrouillen, Gangs brechen in Häuser und Geschäfte ein, und begehen Raubüberfälle. Bei manchen Vorfällen ist unklar, von wem oder welcher Gruppe die Gewalt ausgegangen ist; Täter und Motiv bleiben unbekannt. Es kommt zu Rachemorden zwischen Clans, zu Gewalt aufgrund wirtschaftlicher Interessen oder aus politischer Motivation. Lokale Wirtschaftstreibende haben in der Vergangenheit auch schon al Shabaab engagiert, um Auftragsmorde durchzuführen. Mit Stand 2020 berichtet die finnische COI-Einheit: Die Bewohner haben eine hohe Hemmschwelle, um sich an die Polizei zu wenden. Das Vertrauen ist gering. Die Fähigkeit der Behörden, bei kleineren Delikten wie etwa Diebstahl zu intervenieren, ist derart gering, dass Menschen keinen Nutzen darin sehen, Anzeige zu erstatten. Hat eine Person Angst vor al Shabaab, dann kann ein Hilfesuchen bei der Polizei – aufgrund der Unterwanderung selbiger – die Gefahr noch verstärken. Die Polizei ist auch nicht in der Lage, Menschen bei gegebenen Schutzgeldforderungen seitens al Shabaab zu unterstützen (LIB).

Die Kapazitäten des sogenannten Islamischen Staates sind in Mogadischu sehr beschränkt. Im Zeitraum November 2021 - Dezember 2022 verübte die Terrorgruppe in Mogadischu zwei Sprengstoffanschläge auf Sicherheitskräfte (LIB).

Vorfälle: 2021 waren die Bezirke Dayniile (57 Vorfälle), Hodan (35), Karaan (31), Wadajir/Medina (30), Dharkenley (24), Yaqshiid (21) und Hawl Wadaag (21), in geringerem Ausmaß die Bezirke Wardhiigleey (17) und Heliwaa (12) von tödlicher Gewalt betroffen. Zivilisten waren 2021 v.a. in den Bezirken Dayniile (16 Vorfälle) und in geringerem Ausmaß in Hodan (10) und Karaan (11) von gegen sie gerichteter, tödlicher Gewalt betroffen (LIB).

In Benadir/Mogadischu lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 1,65 Millionen Menschen. Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 96 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 86 dieser 96 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es 85 derartige Vorfälle (davon 79 mit je einem Toten). In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2021 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "violence against civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind (LIB).

1.3.4. Al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022

Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz. Zuletzt hat al Shabaab an Macht gewonnen. Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen. Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia. Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah. Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (LIB).

Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit. römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben. Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (LIB).

Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen. Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten. Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung. Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei. Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (LIB).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität. Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (LIB).

Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung. Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (LIB).

Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiterbestehen. Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen. Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattet letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (LIB).

Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft. Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel. Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (LIB).

Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk. Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer, jedenfalls mindestens 10.000 Mann an permanent verfügbarer Kampftruppe; mit einer Hinzunahme diverser Dorfmilizen ist diese Zahl vervielfachbar. Eine Quelle vom Mai 2021 spricht von 5.000-10.000 (bewaffneten) Angehörigen der al Shabaab. Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln. Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk. Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann. Der Amniyad ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyad ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig. Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen. Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (LIB).

Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen. Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (LIB).

Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern. Gemäß einer Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus. Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen. In den meisten Städten verfügt die Gruppe zudem über Schattenverwaltungen. "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt"; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (LIB).

Kapazitäten: Al Shabaab hat insgesamt an Stärke gewonnen - auch hinsichtlich personeller und materieller Kapazitäten. Die Gruppe weitet ihren Einfluss ständig aus – nicht nur in den eigenen Gebieten, sondern auch in den nominell unter Kontrolle der Regierung befindlichen Landesteilen. Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z.B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (LIB).

Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Kapitel "Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen"]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem, dort wird alles und jeder besteuert. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022, Sitzung 10). Mit Steuereinnahmen kann al Shabaab genug Geld generieren, um die Rebellion auch hinkünftig aufrechterhalten zu können (LIB).

Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen. Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen. In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (LIB).

Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat. Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel. So wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (LIB).

Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen US-Dollar generieren. Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh; sowie auf manche Dienstleistungen. Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird. Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (LIB).

1.3.5. Rechtsschutz, Justizwesen – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022

Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden. Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (LIB).

Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtsprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen. Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (LIB).

Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere, und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene. Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit. Diese wird von al Shabaab etwa durch die Einhebung von Steuern und die Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte untergraben. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen. Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (LIB).

Formelle Justiz - Kapazität: De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem. Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten. In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet. Generell sind Gerichte aber nur in größeren Städten verfügbar. Der Verfassungsgerichtshof ist immer noch nicht eingerichtet worden. An allen Gerichten mangelt es dem Personal an Ausbildung. Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt. Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes. Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt. Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt, v. a. außerhalb urbaner Zentren nicht vorhanden. Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig. Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (LIB).

Formelle Justiz - Qualität und Unabhängigkeit: Eine landesweite Implementierung und einheitliche Anwendung der von der somalischen Bundesregierung vorgegebenen Bestimmungen ist nicht gesichert. In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt, und nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz. Außerdem werden Urteile durch Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst. Die meisten der in der Verfassung vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nicht angewendet. Nationales oder internationales Recht werden bei Fest- oder Ingewahrsamnahme sowie beim Vorgerichtstellen von Tatverdächtigen nur selten eingehalten. Verfahren dauern sehr lang (LIB).

Die somalische Justiz ist zudem von Korruption geprägt. Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren. Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder. In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten. Zusätzlich halten sich Behörden oft selbst nicht an gerichtliche Anordnungen). In anderen Worten ist [Zitat] 'die soalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden'. Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen. Insgesamt stehen Zivilisten also ernsten Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (LIB).

Formelle Justiz – Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig. Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen, bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren. Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (LIB).

Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller. Auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist Xeer von Bedeutung. Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung eine Policy zu traditioneller Konfliktlösung verabschiedet. Damit sollte die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert (LIB).

Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert. Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen. Jedenfalls dient diese Art der Justiz im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten. Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet. Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität. Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück, in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer. Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIB).

Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen. Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan. Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (LIB).

Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei. Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen. Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt. Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (LIB).

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle, denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden. Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (LIB).

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler. Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen. Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren. Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv usammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z. B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (LIB).

In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält. Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (LIB).

Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten. Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen. Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (LIB).

Recht bei al Shabaab: In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten wird das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt. Dort ersetzt islamisches Recht auch Xeer; nach anderen Angaben kommt Xeer fallweise zum Einsatz. Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem. Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (, es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LIB).

Al Shabaab unterhält in den von ihr kontrollierten Gebieten ständige, von Geistlichen geführte Gerichte, welche ein breites Spektrum an straf- und zivilrechtlichen Fällen abhandeln. Zusätzlich gibt es auch mobile Gerichte. Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch. Al Shabaab wendet eine zum Teil extreme Sichtweise und Auslegung der Scharia an. In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch. Al Shabaab inhaftiert Personen für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören, den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes, unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs. Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LIB).

Die Gerichte der al Shabaab werden als gut funktionierend, effektiv, weniger korrupt, schnell und im Vergleich fairer beschrieben – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung. Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden. Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt, bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – selbst Personen aus von der Regierung kontrollierten. So begeben sich z. B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen. Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz. Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren. So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen. Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt. Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch, mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (LIB).

Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage. Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIB).

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen. Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (LIB).

1.3.6. Sicherheitsbehörden – Süd-/Zentralsomalia, Puntland

1.3.6.1. Ausländische Kräfte – Letzte Änderung: 26.07.2022

Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde. AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv. Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024. Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident. Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (LIB).

Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten. ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab. Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung, die in großem Maße von den Kräften der AMISOM abhängig ist (LIB).

AMISOM hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann. Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert. Bis Ende 2022 ist ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (LIB).

AMISOM wird maßgeblich von der EU finanziert. Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren während die UN für logistische Unterstützung sorgt. Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (LIB).

Im Land befindet sich auch eine auf 1.040 Polizisten mandatierte ATMIS-Polizeikomponente unterschiedlicher afrikanischer Teilnehmerstaaten (Uganda, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, Kenia und Sambia). Die Hauptaufgabe von ATMIS ist hier u. a. die Unterstützung der somalischen Polizei bei der Polizeiarbeit und die Ausbildung somalischer Polizisten (LIB).

Neben den fünf Armeen der AMISOM-Truppenstellerstaaten sind in Somalia noch Militärberater aus zahlreichen anderen Staaten aktiv. Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von AMISOM ausgestattet. Eine Quelle berichtet von vermutlich drei (teils verstärkten) Bataillonen und insgesamt geschätzten 2.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug. Bereits abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (LIB).

Die USA haben die Eliteeinheit Danaab ausgebildet. Allerdings wurden die US-Truppen abgezogen, dieser Abzug war mit Mitte Jänner 2021 offiziell abgeschlossen. 2022 wurde die Entscheidung zum Abzug revidiert. Nun sollen wieder bis zu 500 Soldaten in Somalia stationiert werden, um somalische Truppen auszubilden, zu beraten und auszurüsten. Sie werden in Bali Doogle stationiert – samt Drohnen und Hubschraubern. Zusätzlich befinden sich im Land 50 Soldaten aus Großbritannien. Diese führen ein Trainingsprogramm für somalische Kräfte in Baidoa durch (LIB).

1.3.7. Religionsfreiheit – Letzte Änderung: 26.07.2022

Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam. Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an. Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche. Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (LIB).

1.3.7.1. Gebiete unter Regierungskontrolle – Letzte Änderung: 26.07.2022

Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist. Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt, alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (LIB).

Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände. Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen. Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten. Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit. Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (LIB).

Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet. Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (LIB).

1.3.7.2. Gebiete von al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022

In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt. Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch. Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten. Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren. Auf Apostasie steht die Todesstrafe. Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (LIB).

In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt. Al Shabaab verbietet dort generell „un-islamisches Verhalten“ - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung. Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (LIB).

1.3.8. Minderheiten und Clans – Letzte Änderung: 26.07.2022

[Zu Clanschutz siehe auch Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen]

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen. Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben. Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt. In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz und für ökonomische sowie politische Partizipation. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten. Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (LIB).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor. Weder das traditionelle Recht (Xeer) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren. Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen. Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile. Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet. Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei. Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIB).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (LIB).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel. Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten. Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert. Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen. So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (LIB).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion. Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Zudem mangelt es ihnen an Remissen. Haushalte, die einer Minderheit angehören, stehen einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u. a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (LIB).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden. In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (LIB).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt. Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten. Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet. Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab. Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (LIB).

1.3.8.1. Bevölkerungsstruktur – Letzte Änderung: 26.07.2022

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen. Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar. Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft. Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist. Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden. Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren. Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern. Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB).

Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden:

●             Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

●             Hawiye leben v. a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

●             Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

●             Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

●             Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie. Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (LIB).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern. In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (LIB).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind. Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine „falsche“ Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (LIB).

1.3.9. Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 25.07.2022

Die somalische Regierung arbeitet mit dem UNHCR und IOM zusammen, um Flüchtlinge, zurückkehrende Flüchtlinge, Asylwerber, Staatenlose und andere relevante Personengruppen zu unterstützen. Der UNHCR setzt sich für den Schutz von IDPs ein und gewährt etwas an finanzieller Unterstützung (LIB).

IDP-Zahlen: Rund 2,9 Millionen Menschen gelten als intern Vertriebene, davon sind ca. 1,9 Millionen Kinder. Im ersten Halbjahr 2021 wurden 359.000 Menschen durch Unsicherheit neu vertrieben (Vergleichszeitraum 2020: 134.000); 68.000 durch Dürre (45.000); 56.500 durch Überflutungen (453.200). Von Überflutungen waren v. a. Jowhar und Belet Weyne betroffen. 207.000 der im Jahr 2021 durch Unsicherheit Vertriebenen flohen temporär aus und innerhalb von Mogadischu, als es dort im April 2021 zu Zusammenstößen in Zusammenhang mit den Wahlen gekommen war. Im Zeitraum November 2021 bis April 2022 wurden insgesamt ca. 650.000 Menschen durch die Dürre neu vertrieben (LIB).

Es gibt mehr als 2.400 IDP-Lager in Somalia. Die Migration vom Land in die Stadt hat zu einem enormen und unregulierten Städtewachstum geführt. Hinsichtlich der IDP-Zahlen müssen zwei Faktoren berücksichtigt werden: Einerseits gibt es für Somalia keine Zahlen zur "normalen" Urbanisierung. Andererseits werden in der Regel nur jene IDPs gezählt, die in Lagern wohnen. Mitglieder großer Clans kommen aber üblicherweise bei Verwandten unter und leben daher nicht in Lagern. In Städten wurde die Urbanisierung durch den Zuzug vieler IDPs verstärkt. Dies hat zu einer hohen Nachfrage nach Land aber auch zu nochmaligen Zwangsräumungen geführt (LIB).

Allerdings ist die Zahl dieser Zwangsräumungen seit 2019 rückläufig. Im ersten Quartal 2022 wurden ca. 31.000 IDPs zwangsweise vertrieben. Zehntausende IDPs wurden auch 2021 vertrieben - v. a. in Mogadischu. Im Jahr 2020 waren es insgesamt 143.000 gewesen - zwei Drittel davon im Großraum Mogadischu, außerdem auch in Baidoa und Kismayo. Insgesamt bleiben Zwangsräumungen von IDPs und armer Stadtbevölkerung ein Problem. Bewohner von Lagern leben daher in ständiger Ungewissheit, da sie immer eine Zwangsräumung befürchten müssen. Die Mehrheit der betroffenen Menschen zog in der Folge in entlegene und unsichere Außenbezirke der Städte, wo es lediglich eine rudimentäre bzw. gar keine soziale Grundversorgung gibt (LIB).

Organisationen wie IOM versuchen, durch eine Umsiedlung von IDPs auf vorbereitete Grundstücke einer Zwangsräumung zuvorzukommen. So wurden z. B. in Baidoa 2019 1.000 IDP-Haushalte aus 15 Lagern auf mit der Stadtverwaltung abgestimmte Grundstücke umgesiedelt. Dort wurden zuvor Latrinen, Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung und andere Infrastruktur installiert. Auch zwei Polizeistationen wurden gebaut. Den IDPs wurden außerdem Gutscheine für Baumaterial zur Verfügung gestellt. Im November 2021 hat der SWS mehr als 4.300 Landbesitzurkunden im Neuansiedlungsgebiet Barwaaqo (Baidoa) ausstellt. Generell befinden sich derartige Relocation Areas am Stadtrand oder sogar weit außerhalb der jeweiligen Stadt. Allerdings bieten diese Lager wesentlich bessere Unterkünfte - etwa Häuser aus Wellblech oder sogar Stein (LIB).

Rechtliche Lage: Ende 2019 hat die Bundesregierung die Konvention der Afrikanischen Union zum Schutz von IDPs ratifiziert. Die Regionalverwaltung von Benadir (BAR) hat ein Büro für nachhaltige Lösungen für IDPs geschaffen. Auch eine nationale IDP-Policy wurde angenommen. Im Jänner 2020 präsentierte die BAR eine Strategie für nachhaltige Lösungen. Diesbezüglich wurden nationale Richtlinien zur Räumung von IDP-Lagern erlassen. Insgesamt sind dies wichtige Schritte, um die Rechte von IDPs zu schützen und nachhaltige Lösungen zu ermöglichen (LIB).

Menschenrechte: IDPs sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nicht-staatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkung und Diskriminierung aufgrund von Clanzugehörigkeit sind an der Tagesordnung. Dies trifft in erster Linie Bewohner von IDP-Lagern – in Mogadischu v. a. jene IDPs, die nicht über Clanbeziehungen in der Stadt verfügen. Weibliche und minderjährige IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung bzw. Missbrauch besonders gefährdet. Für IDPs in Lagern gibt es keinen Rechtsschutz, und es gibt in Lagern auch keine Polizisten, die man im Notfall alarmieren könnte (LIB).

Versorgung: In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten. Landesweit fehlen in 80 % der IDP-Lager Wasserstellen – v. a. in Benadir, dem SWS und Jubaland. Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt. Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften. Allerdings ist der Zustand von IDP-Lagern unterschiedlich. Während die neueren meist absolut rudimentär sind, verfügen ältere Lager üblicherweise über grundlegende Sanitär-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Oft wurde dort auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut. Trotzdem werden noch weniger Kinder von IDPs eingeschult, als es schon bei anderen Kindern der Fall ist (LIB).

Unterstützung: Die EU unterstützte über das Programm RE-INTEG Rückkehrer, IDPs und Aufnahmegemeinden. Dafür wurden 55 Millionen Euro zur Verfügung gestellt [siehe dazu Kapitel Rückkehrspezifische Grundversorgung]. Damit wurde unter anderem für 7.000 Familien aus 54 IDP-Lagern in Baidoa Land beschafft, welches diesen permanent als Eigentum erhalten bleibt, und auf welchem sie siedeln können. Die Weltbank stellt für fünf Jahre insgesamt 112 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Mit diesem Geld soll die städtische Infrastruktur verbessert werden, wovon sowohl autochthone Stadtbewohner als auch IDPs profitieren sollen. Andere Programme für nachhaltige Lösungen werden von UN-HABITAT, dem Norwegian Refugee Council und der EU finanziert oder geführt. Im März 2022 startete die Bundesregierung gemeinsam mit den UN ein vier-Jahres-Programm namens Saameynta. Mit diesem Programm soll mehr als 75.000 IDPs und Aufnahmegemeinden in Baidoa, Belet Weyne und Bossaso geholfen werden. Vor allem sollen die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe und die Armut reduziert sowie die Integration der IDPs in den Städten gefördert werden. Das Programm umfasst den Zugang zu Wasser, Unterkunft und medizinischer Versorgung. IOM setzt das Programm in Partnerschaft mit der Bundesregierung, UNDP und UNHABITAT um. Im März 2021 konnte IOM knapp 7.000 IDPs aus Baidoa in das IDP-Lager Barwaaqo übersiedeln, wo schon 2019 mehr als 6.000 IDPs angesiedelt worden waren. Das Land für dieses Lager wurde von der Lokalverwaltung zur Verfügung gestellt. In Barwaaqo bekommen Familien ein Stück Land, auf dem eine Unterkunft errichtet und ein Garten betrieben werden kann. Die Familien erhalten zudem finanzielle Unterstützung. Zwei Jahre nach der Umsiedlung erhalten die Familien dann auch Rechtsanspruch auf den von ihnen genutzten Grund.

Die Situation von IDPs in Puntland wird von NGOs als durchaus positiv beschrieben, sie können z. B. geregelter Tätigkeit nachgehen. Es gibt Anzeichen dafür, dass in Puntland aufhältige IDPs aus anderen Teilen Somalias dort permanent bleiben können und dieselben Rechte genießen wie die ursprünglichen Einwohner (LIB).

1.3.10. Grundversorgung/Wirtschaft – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Wirtschaft und Arbeit – Letzte Änderung: 27.07.2022

Mehrere Schocks haben die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes unterminiert, darunter Überschwemmungen, eine Heuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie. Die somalische Wirtschaft hat sich allerdings als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden, tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 % geworden. Für 2021 war ein Wachstum von 2,4 % prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 %. Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 % (LIB).

Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen und anhaltende Investitionen. Ein resilienter Privatsektor und starke Remissen aus der Diaspora bleiben Grundlage für Optimismus. Zudem gibt es unentwickelte Möglichkeiten aufgrund der Urbanisierung, sowie auf den Gebieten neuer Technologien, Bildung und Gesundheit. Die Geldrückflüsse nach Somalia sind 2021 im Vergleich zu 2020 noch einmal gestiegen, von 30,8 % des BIP auf 31,3 %. Neben der Diaspora sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen. Das Maß an privaten Investitionen bleibt konstant. Die Inflation lag 2021 bei 4,6 %, für 2022 werden aufgrund höherer Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sowie der herrschenden Dürre 9,4 % prognostiziert (LIB).

Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können. Der Bevölkerungszuwachs nivelliert das Wirtschaftswachstum und hemmt die Reduzierung von Armut. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 875 US-Dollar. Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt. Landwirtschaft, Handel, Kommunikation und mobile Geldtransferdienste tragen maßgeblich zum BIP bei; alleine die Viehwirtschaft macht rund 60% des BIP und 80 % der Exporte aus. Insgesamt sind zuverlässige Daten zur Wirtschaft schwierig bis unmöglich zu erhalten bzw. zu verifizieren bzw. sind vertrauenswürdige Daten kaum vorhanden (LIB).

Al Shabaab und andere nicht staatliche Akteure behindern kommerzielle Aktivitäten in Bakool, Bay, Gedo und Hiiraan (LIB).

Staatshaushalt: Die Regierung ist stark abhängig von externer Hilfe. Ein Großteil der Regierungsausgaben wird durch externe Akteure bezahlt. Alleine die offizielle Entwicklungshilfe betrug 2019 1,9 Milliarden US-Dollar – 40 % des BIP. Aufgrund der fehlenden Kontrolle über das Territorium – aber auch hinsichtlich technischer Fähigkeiten – war die Regierung bisher nicht in der Lage, ein nationales Steuersystem aufzubauen. Selbst für grundlegende Staatsausgaben ist das Land auf externe Geber angewiesen (LIB).

Das Budget für das Jahr 2022 beträgt ca. 919 Millionen US-Dollar. Nach anderen Angaben ist für das Jahr 2022 ein Staatsbudget von 699 Millionen US-Dollar vorgesehen. 2021 waren es 671 Millionen, 2020 476 Millionen und 2019 344 Millionen. 38 % der Staatsausgaben entfallen auf Verteidigung und Sicherheit, in den Jahren 2017 bis 2021 waren es durchschnittlich 31 %. 2021 betrugen die Staatseinnahmen 648 Millionen US-Dollar, davon stammten 388 Millionen von Geberländern. Für 2022 werden 410 Millionen US-Dollar, gespendet von Geberländern, eingeplant. Von den Bundesstaaten gelingt es neben Puntland nur Jubaland, ein relevantes Maß an Einnahmen selbst zu generieren (LIB).

Im Jahr 2020 hatte Somalia mit der Normalisierung der Beziehungen zu internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, Währungsfonds, Afrikanische Entwicklungsbank) einen Meilenstein erreicht. Das Land kann wieder partizipieren (LIB).

Arbeitsmarkt: Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Ca. 95 % der Berufstätigen arbeiten im informellen Sektor. In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab (LIB).

Das Unternehmertum spielt in der somalischen Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Schätzungen zufolge werden alleine dadurch mehr als drei Viertel aller Arbeitsplätze geschaffen. Zum Beispiel hat der Telekom-Konzern Hormuud Telecom in den vergangenen Jahren tausende Arbeitsplätze geschaffen und beschäftigt heute mehr als 20.000 Frauen und Männer. Überhaupt sind zwei Drittel der aktiven Erwerbsbevölkerung Selbständige (LIB)

Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia limitiert sind. So berichten etwa Personen, die aus Kenia zurückgekehrt sind, über mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten. Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle Gerade, um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde. Männer, die vom Land in Städte ziehen, stehen oft vor der Inkompatibilität ihrer landwirtschaftlichen Kenntnisse mit den vor Ort am Arbeitsmarkt gegebenen Anforderungen. Die Zugezogenen tun sich schwer, eine geregelte Arbeit zu finden; außerdem wird der Umstieg von Selbstständigkeit auf abhängige Hilfsarbeit oft als Demütigung und Erniedrigung gesehen. Darum müssen gerade IDPs aus ländlichen Gebieten in die Lage versetzt werden, neue Fähigkeiten zu erlernen, damit sie etwa am informellen Arbeitsmarkt oder als Kleinhändler ein Einkommen finden. Dies geschieht auch teilweise. Generell finden Männer unter anderem auf Baustellen, beim Graben, Steinebrechen, Schuhputzen oder beim Khatverkauf eine Arbeit. Ein Großteil der Tätigkeiten ist sehr anstrengend und mitunter gefährlich. Außerdem wird von Ausbeutung und Unterbezahlung berichtet (LIB).

Ende Mai 2022 hat die Regierung die National Youth Development Initiative gestartet. Mit dieser sollen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen werden. Zuvor hatte die von der EU finanzierte Dalbile Youth Initiative darauf abgezielt, junge Menschen mit Fähigkeiten und Ressourcen auszustatten und z. B. Start-ups mit bis zu 2.000 US-Dollar zu fördern. UNFPA und die EU unterstützen in Puntland Start-ups von Jungunternehmern – etwa im Bereich Fischfang, Modedesign oder Hotellerie – mit Ausbildung, Know-how und finanziellen Mitteln. Das Programm läuft jedenfalls bis 2024 (LIB).

Einkommen, Tätigkeiten: An Arbeitstätigkeiten genannt werden: Träger am Bau; Arbeiten am Hafen, Köhler; Hilfsarbeiter am Bau; Koranlehrer; Rickshaw-Fahrer; Transporteur mit einer Eselkarre; Transporteur mit einer Scheibtruhe. Arzt; Krankenschwester; Universitätslektor; angestellte und selbstständige Überlandfahrer; Fleischverkäufer; Magd; Hausangestellte; Wäscherin; Marktverkäuferin. In der Verwaltung sind nur wenige Stellen verfügbar, besser stellt sich die Situation bei Polizei und Armee dar. Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jene auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z. B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten. Weibliche IDPs arbeiten als Mägde, Hausangestellte oder Wäscherinnen. Manche verkaufen Früchte auf Märkten. Durch den Niedergang der Landwirtschaft, der maßgeblich durch die Dürre verursacht worden ist, ist auch die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft gesunken bzw. haben sich die Löhne dort verringert (LIB).

Arbeitslosenquote: Die Arbeitslosenquote ist landesweit hoch, wobei es zu konkreten Zahlen unterschiedlichste und teils widersprüchliche Angaben gibt: Laut einer Quelle lag die Erwerbsquote (labour force participation) 2018 bei Männern bei 58 %, bei Frauen bei 37 % . Die Zahl für Frauen wird auch von einer Quelle im Jahr 2021 erwähnt. Eine Quelle nennt 2022 eine Jugendarbeitslosigkeit (15-29 Jahre) von 68 %. Eine weitere Quelle erklärte 2016, dass 58 % der männlichen Jugendlichen (Altersgruppe 15-35) ökonomisch aktiv waren, während drei von zehn Jugendlichen arbeitslos waren. In einer anderen Quelle wird die Arbeitslosenrate für 2020 mit 13,1 % angeführt; die Weltbank nennt für das Jahr 2021 für ganz Somalia eine Arbeitslosenquote bei der Erwerbsbevölkerung von 19,9 %. Eine weitere Quelle nannte 2018 bei 15-24-Jährigen eine Quote von 48 % und eine andere Quelle berichtet 2020 von einer Arbeitslosenquote von 47,4 % bei der erwerbstätigen Bevölkerung. Bei einer Studie aus dem Jahr 2016 gaben hingegen nur 14,3 % der befragten Jugendlichen (Mogadischu 6 %, Kismayo 13 %, Baidoa 24 %) an, gegenwärtig arbeitslos zu sein. Dies kann auf folgende Gründe zurückzuführen sein: a) dass die Situation in diesen drei Städten anders ist als in anderen Teilen Somalias; b) dass die wirtschaftliche Entwicklung seit 2012 die Situation verbessert hat; c) dass es nun mehr Unterbeschäftigte gibt; d) dass die Definition von „arbeitslos“ unklar ist (z. B. informeller Sektor) (LIB).

Nach Angaben einer Quelle hat sich die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - infolge der Covid-19-Pandemie verstärkt. 21 % mussten ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnehmen. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens (LIB).

[Zur Arbeitsmarktlage in Somalia gibt es kaum aktuelle, v. a. kaum detaillierte Informationen.] In einer eingehenden Analyse hat UNFPA im Jahr 2016 Daten zur Ökonomie in der somalischen Gesellschaft erhoben. Dabei wird festgestellt, dass nur knapp die Hälfte der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (15-64) überhaupt am Arbeitsleben teilnimmt. Der Rest ist „ökonomisch inaktiv“; in diese Gruppe fallen in erster Linie Hausfrauen, gefolgt von Schülern/Studenten, pensionierten oder arbeitsunfähigen Personen. Bei den ökonomisch Aktiven wiederum finden sich in allen Lebensbereichen deutlich mehr Männer (LIB):

●             Ländlich: 68,8 % der Männer - 40,5 % der Frauen

●             Urban: 52,6 % der Männer - 24,6 % der Frauen

●             IDP-Lager: 55,2 % der Männer - 32,6 % der Frauen

●             Nomaden: 78,9 % der Männer - 55,6 % der Frauen (LIB)

Aufgeschlüsselt für Puntland und Süd-/Zentralsomalia ergibt sich aus den UNFPA-Daten, dass dort 44,4 % der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeiten. 11,4 % gelten als Arbeitssuchende. 44,2 % der Bevölkerung sind ökonomisch inaktiv (LIB).

Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen in Puntland und Süd-/Zentralsomalia arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (65,6 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (13,5 %) (LIB).

Frauen: Der vor allem unter Männern vorherrschende Khat-Konsum, der im langjährigen Konflikt geforderte Blutzoll an der männlichen Bevölkerung und die hohe Scheidungsrate haben dazu geführt, dass Frauen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vorstoßen – etwa bei der Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43 % der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener. Frauen spielen - außer bei den großen Betrieben - eine führende Rolle beim Unternehmertum. In Mogadischu und Bossaso sind ca. 45 % der formellen Unternehmen im Besitz von Frauen (LIB).

Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z. B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i. d. R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z.B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80 % - 90 % des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft, oder sie verkaufen Kleidung und Essen. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf Baustellen. All diese Tätigkeiten führen Frauen jenseits des ihnen traditionell zugeschriebenen Bereichs des eigenen Haushalts aus. Natürlich gibt es für Frauen auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z. B. können sie nicht Taxifahrerin werden. Sie haben hinsichtlich Einkommensmöglichkeiten eine eingeschränkte Auswahl. Von Frauen abgehaltene Workshops (z. B. Schneiderei-, Henna- und Kochkurse) in Mogadischu tragen zur Verbesserung der Situation bei. Allerdings ist auch bekannt, dass Frauen eine geringere Aussicht auf eine Vollzeitanstellung haben (LIB).

Lebensunterhalt: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, kleine Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1 %). 6,9 % arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8 % als Handwerker, 4,7 % als Techniker, 4,1 % als Hilfsarbeiter und 2,3 % als Manager (LIB).

Die Mehrheit der IDPs verdingt sich als Tagelöhner. Frauen gehen oft von Tür zu Tür und bieten ihre Dienste an, etwa als Wäscherinnen oder in der Hausarbeit. Männer gehen häufig auf Baustellen - die Städte werden ja wieder aufgebaut und daher braucht es auch viele Tagelöhner. Die begehrtesten Jobs sind jene auf Baustellen, wo der Verdienst höher ist als in anderen Bereichen. Es gibt auch viele Kleinstunternehmer beiderlei Geschlechts. Dabei bekommen die Menschen nicht immer einen Job, sie arbeiten z. B. nur 2-3 Tage in der Woche. Daneben gibt es humanitäre Hilfe, aber damit sind die Menschen nicht ausreichend versorgt. Nach anderen Angaben bieten NGOs und der Privatsektor den Menschen grundlegende Dienste – vor allem in urbanen Zentren. Zudem haben Menschen in IDP-Lagern - v. a. wenn sie länger dort leben - in der Regel auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut (LIB).

In einer Studie von IOM aus dem Jahr 2016 gaben arbeitslose Jugendliche (14-30 Jahre) an, in erster Linie von der Familie in Somalia (60 %) und von Verwandten im Ausland (27 %) versorgt zu werden. Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z. B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie). Erweiterte Familie und Clan stellen also das grundlegende soziale Sicherheitsnetz dar (LIB).

Aufgrund des Fehlens eines formellen Bankensystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debt-credit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clanverbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greißler anschreiben lassen. Zusätzlich ist es 2019 gelungen, die Gargaara Company Ltd. zu etablieren. Über diese Institution werden Kredite an Mikro-, Klein- und mittlere Unternehmen vergeben. Gargaara spielt auch beim Abfedern von Auswirkungen der Covid-19-Pandemie eine Rolle (LIB).

Die Inflation zeigt Auswirkungen auf die Bewertung von Einkommen. Ein Universitätslektor in Mogadischu erörtert, dass vorher 130 US-Dollar ausgereicht haben, um für die Kinder Milch und Nahrung zu besorgen. Nun aber reichen nicht einmal 250 US-Dollar. Er verdient 800 US-Dollar und damit konnte er mit seiner Frau und sieben Kindern ein komfortables Leben führen. Jetzt erklärt er, kaum alle lebenswichtigen Kosten abdecken zu können (LIB).

Remissen: Im Jahr 2020 wurden insgesamt 2,8 Milliarden US-Dollar (2019: 2,3 Milliarden) nach Somalia zurück überwiesen. Davon flossen 1,6 Milliarden an Privathaushalte (2019: 1,3 Milliarden). Wie erwähnt, sind für viele Haushalte Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle bzw. ermöglichen sie es vielen somalischen Staatsbürgern, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Remissen, die bis zu 40% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen also wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte. Städtische Haushalte erhalten viel eher regelmäßige monatliche Remissen, dort sind es 72 %. Die durchschnittliche Höhe der monatlichen Überweisungen beträgt 229 US-Dollar. IDPs bekommen verhältnismäßig weniger oft Remissen. Auch die Bevölkerung in Südsomalia – und hier v. a. im ländlichen Raum – empfängt verhältnismäßig weniger Geld als jene in Somaliland oder Puntland. Ein Grund dafür ist, dass dort ein höherer Anteil marginalisierter Gruppen und ethnischer Minderheiten beheimatet ist (LIB).

Mindestens 65 % der Haushalte, welche Remissen beziehen, erhalten diese regelmäßig (monatlich), der Rest erhält sie anlassbezogen oder im Krisenfall. Remissen können folglich Fluktuationen im Einkommen bzw. gestiegene Ausgaben ausgleichen. Dies ist gerade in Zeiten einer humanitären Krise - etwa jener von 2017 - wichtig. Durch Remissen können Haushalte Quantität und Qualität der für den Haushalt besorgten Lebensmittel verbessern, und ein sehr großer Teil der Überweisungen wird auch für Lebensmittel aufgewendet. Zusätzlich wird in Somalia in Zeiten der Krise auch geteilt. Menschen bitten z.B. andere Personen, von welchen sie wissen, dass diese Remissen erhalten, um Hilfe (LIB).

1.3.11. Grundversorgung und humanitäre Lage – Letzte Änderung: 27.07.2022

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Regelmäßig wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen wie auch Überflutungen, zuletzt auch die Heuschreckenplage, die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia zu einem Land mit hohen humanitären Nöten. Öffentliche Dienste gibt es kaum, meist finden sich Angebote wie Wasser- und Stromversorgung sowie Bildung und Gesundheitsdienste bei privaten Dienstleistern. Für viele Menschen sind derartige Dienste nur schwer oder gar nicht zugänglich. Der Gouverneur der somalischen Zentralbank erklärt, dass es für die Zurverfügungstellung eines finanziellen Sicherheitsnetzes für Bedürftige seitens der Regierung keinerlei budgetären Spielraum gibt (LIB).

Armut: Rund 70 % der Bevölkerung müssen mit weniger als 1,9 US-Dollar pro Tag auskommen und leben damit unterhalb der Armutsgrenze. Die Covid-19-Krise hat die Zahlen noch einmal ansteigen lassen. Es gibt viele IDPs und Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten. Generell sind somalische Haushalte aufgrund von Naturkatastrophen, Epidemien, Verletzung oder Tod für Notsituationen anfällig. Mangelnde Bildung, übermäßige Abhängigkeit von landwirtschaftlichem Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringer Wohlstand und große Haushaltsgrößen tragen weiter dazu bei. 60 % der Somali sind zum größten Teil von der Viehzucht abhängig, 23 % sind Subsistenz-Landwirte. Zwei Drittel der Bevölkerung leben im ländlichen Raum. Sie sind absolut vom Regen abhängig. In den vergangenen Jahren haben Frequenz und Dauer von Dürren zugenommen. Deswegen wurde auch die Kapazität der Menschen, derartigen Katastrophen zu begegnen, reduziert. Mit jeder Dürre wurden ihre Vermögenswerte reduziert: Tiere starben oder wurden zu niedrigen Preisen verkauft, Ernten blieben aus; es fehlt das Geld, um neues Saatgut anzuschaffen (LIB).

Dürre, Regenfälle, Überschwemmungen: Überschwemmungen und Dürre stellen für Somalia kein neues Phänomen dar. Immer spielt Wasser eine Rolle: Entweder gibt es zu viel davon, oder zu wenig. Derartige Katastrophen ereignen sich seit Jahrzehnten. Allein in den letzten fünfzig Jahren wurden drei Millionen Menschen durch Dürre und Hunger vertrieben. Im Zuge der Dürre im Jahr 1973 in Nordsomalia wurden mehr als 100.000 Familien nach Lower Shabelle und in die Juba-Regionen übersiedelt. Bei der Hungersnot in den Jahren 1991-1992 starben 300.000 Menschen, im Jahr 2011 mehr als 260.000 – die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Seit 1990 hat Somalia zwölf Dürren und 19 Flutkatastrophen durchlebt. Doch auch wenn Dürren in dieser afrikanischen Region üblich sind, werden sie tendenziell schlimmer. Somalia ist hinsichtlich des Klimawandels als Frontstaat zu bezeichnen und hat in Ostafrika bislang den größten Temperaturanstieg zu verzeichnen (LIB).

So stehen Somalia und Somaliland diesmal vor einer der schlimmsten Dürren der vergangenen Jahrzehnte, nachdem vier Regenzeiten in Folge schlecht ausgefallen sind, und zuvor eine Heuschreckenplage geherrscht hat. Mehr als 80 % des Landes befinden sich bereits jetzt in schwerer oder extremer Dürre. Damit kann die Situation mit jenen der Jahre 2010/11 und 2016/17 verglichen werden. Bereits am 23.11.2021 hat die Bundesregierung aufgrund der anhaltenden Dürre den Notstand ausgerufen. Die sich verschlechternde Lage bei der Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung und der Ernährungssituation wird von der seit 2020 mehrfach vorkommenden Dürre, von Unsicherheit und Konflikt in Süd-/Zentralsomalia und von durch globale Ereignisse verursachte Preisschocks angetrieben. Dabei sind die Bewältigungsstrategien der Menschen in den vorangehenden Jahren ohnehin durch Nahrungsmittelengpässe, Klimaschocks, Krankheiten, Heuschrecken und die Covid-19-Pandemie erodiert. Von der Dürre sind rund 6,1 Millionen Menschen betroffen, die Mehrheit davon sind Hunger, Elend und dem Verlust ihrer Lebensgrundlage ausgesetzt (LIB).

Die Gu-Regenzeit 2022 verlief unterdurchschnittlich. Im Norden des Landes wurden zwischen 30 % und 60 % der durchschnittlich erwartbaren Menge verzeichnet; in Süd-/Zentralsomalia waren es zwischen 45 % und 75 %. Dies ist die vierte aufeinanderfolgende unterdurchschnittliche Regenzeit. Kurzfristig wird es nach der Gu-Regenzeit zu Verbesserungen kommen; allerdings ist für die Trockenzeit von Juli bis September 2022 eine starke Verschlechterung der Dürrebedingungen vorhergesagt. Langzeitprognosen weisen darauf hin, dass auch die Deyr-Regenzeit im Herbst 2022 schlecht verlaufen wird (LIB).

Ernte, Vieh, Nahrungsmittel, Preise: Das Ausfallen der Deyr-Regenzeit 2021 hat zur schlechtesten Ernte seit Aufzeichnungsbeginn geführt. Auch andere Ernten sind unterdurchschnittlich ausgefallen. Prognosen sagen für die nächste Ernte eine um ca. 40-60 % unterdurchschnittliche Ernte voraus. Unterdurchschnittliche Ernten haben wiederum die Bedeutung von Nahrungsmittelimporten vergrößert. Dementsprechend hat nicht nur die Dürre, sondern auch der Krieg gegen die Ukraine, Nahrungsmittel knapp und teuer werden lassen und die ohnehin angespannte Situation verschlimmert. Somalia bezieht mehr als 90% seines Weizens von Russland und der Ukraine, 70 % stammen aus der Ukraine. Zusätzlich haben der schlechte Regen und die Flucht von Bauern auf der Suche nach Nahrung und Wasser dazu geführt, dass in Ackerbaugebieten weniger Frucht angebaut worden ist. Hinzu kommt ein Mangel an Saatgut, Bewässerungsmöglichkeiten und anderen Notwendigkeiten (LIB).

Bereits im Feber 2022 waren die Nahrungsmittel- und Wasserpreise in einigen Gebieten auf 140-160 % über dem Fünfjahresdurchschnitt angestiegen, ähnlich wie bei den Dürren in den Jahren 2010/11 und 2016/17. Nach Angaben aus dem Juni 2022 haben sich die Preise für Speiseöl, Bohnen, Reis und Zucker verdoppelt – nicht zuletzt auch aufgrund gestiegener Treibstoffpreise (LIB).

Nachdem auch im März 2022 nur wenig Regenfälle verzeichnet wurden, haben 3,5 Millionen Menschen dringend Wasser gebraucht. 80 % der Wasserquellen landesweit sind ausgetrocknet. Am Juba und am Shabelle sank der Wasserstand unter das historische Minimum, in Teilen der Flussverläufe trockneten die beiden Flüsse ganz aus, was wiederum die Landwirtschaft beeinflusst hat. Al Shabaab nutzt Wasser mitunter als Waffe, indem für den Zugang zu Wasserstellen Gebühren eingehoben werden. Bereits im Jänner 2022 konnte ein Fünftel der Bevölkerung grundlegende Bedürfnisse an Wasser nicht abdecken (LIB).

Wassermangel und Mangel an Weidemöglichkeiten haben den Viehbestand der Nomaden dezimiert. Von Mitte 2021 bis Mai 2022 sind mehr als drei Millionen Stück Vieh verendet. Nach anderen Angaben waren es sogar sieben Millionen und damit ein Drittel des somalischen Bestandes. Alleine in Jubaland haben Nomaden seit Oktober 2021 80 % ihrer Rinder verloren. Dabei hat Vieh bis dahin maßgeblich zur Versorgung der Familien – mit Milch und Fleisch – beigetrag). Mancher Suizid ist auf den Verlust des gesamten Viehbestandes zurückzuführen (LIB).

Fluchtbewegungen: Bereits Ende 2021 haben sich Menschen und Nutzvieh aus Dürregebieten auf die Flucht begeben. Aus und in Bay, Bakool, Mudug und Galgaduud kam es zu Fluchtbewegungen. In Belet Weyne kommen laufend Flüchtlinge an. Sie hoffen, dort Hilfe zu finden. Nicht viele in den Lagern können sich ein Fass Wasser um zwei US-Dollar leisten. Die Hungersnot ist selbst in Mogadischu spürbar, wo am Stadtrand immer wieder erschöpfte Menschen aus dem Hinterland eintreffen. Mit Stand Mai 2022 sind mehr als 760.000 Menschen geflüchtet und befinden sich auf der Suche nach Nahrung, Wasser und humanitärer Hilfe (LIB).

Versorgungslage / IPC: [IPC = Integrated Phase Classification for Food Security; 1-moderat bis 5-Hungersnot] Im September 2021 wurden 2,2 Millionen Menschen in IPC 3-4 eingeordnet, weitere 5,6 Millionen in IPC 2. Mit Stand Mai 2022 befanden sich fast vier Millionen Menschen in IPC-Stufe 3; mehr als 1,2 Millionen in Stufe 4 und 38.000 in Stufe 5 (Hungersnot). Die meisten Nomaden befinden sich in IPC-Stufe 3 oder 4. Auch viele IDPs sind schwer betroffen. Die meisten armen Stadtbewohner finden sich in IPC-Stufe 3 (LIB).

Die Stadtbevölkerung ist i. d. R. von IPC 3 oder IPC 4 anteilig weniger betroffen als Menschen in ländlichen Gebieten. Generell finden sich unter IDPs mehr Personen, die unter Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung sowie an Mangel- oder Unterernährung leiden (LIB).

Hungersnot: Die sich verschlimmernde Dürre in einigen Teilen Süd-/Zentralsomalias hat die Gefahr einer Hungersnot, die zumindest bis September 2022 besteht, herbeigeführt. Dies gilt dann, wenn die Ernte aus der Gu-Regenzeit schlecht ausfällt; die Nahrungsmittelpreise weiter steigen; und die humanitäre Hilfe nicht hochgefahren wird. Insbesondere betroffen sind: Zentral-Hiiraan (Hawd); Teile von Mudug, Nugaal und Galgaduud (Addun); Bay und Bakool; IDPs in Baidoa, Mogadischu, Dhusamareb und Galkacyo. Überall dort könnte bis September auch eine Hungersnot eintreten. Besonders besorgniserregend ist die Situation jedenfalls in Bay. Bei ausbleibender Hilfe und einer Zuspitzung der Lage können in der Folge auch Teile von Somaliland (Teile von Sanaag, Sool und Togdheer), weitere Teile von Bakool, das Jubatal, die südlichen Küstengebiete in Middle und Lower Juba, weitere Teile von Togdheer, die Küstengebiete in Zentral- und Nordostsomalia sowie die IDPs in Burco, Laascaanood, Garoowe, Belet Weyne, Doolow und Kismayo betroffen sein. Das World Food Programme hat die Menschen im Juni 2022 aufgerufen, sich auf eine Hungersnot vorzubereiten. Gleichzeitig haben sich die Möglichkeiten – v. a. armer und vulnerabler - Bevölkerungsgruppen, sich vor Hunger zu schützen, erheblich gemindert (LIB).

Der aktuelle FSNAU Acute Food Insecurity Situation Overview für Somalia prognostiziert für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2022 für IDPs in Mogadischu und Kismayo jeweils die IPC-Stufe 4 („emergency“) (FSNAU).

Mindestens 7,7 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen bzw. von schwerem Hunger oder einer Hungersnot bedroht. Eine Million Menschen befindet sich bereits im Vorzustand einer Hungersnot. Die Zahlen sind mit jenen der äthiopischen Hungersnot 1984 vergleichbar. Schätzungen zufolge könnten bei ausbleibender Hilfe 350.000 Kinder verhungern. Aus Gedo wurden bereits im November 2021 die ersten Hungertoten gemeldet, im März 2022 wurden dort 25 Hungertote bzw. Tote in Zusammenhang mit Nahrungsmittel- und Wasserknappheit gemeldet. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 sind alleine im Spital in Kismayo 33 Kinder an Unterernährung verstorben. Auch aus Hiiraan kommen Meldungen über Kinder, die an Unterernährung verstorben sind. Im Jahr 2022 sind bis Juni 448 Kinder in Zentren zur Versorgung von Unterernährung an Unterernährung verstorben. Viele andere sterben abseits solcher Zentren – in entlegenen Gebieten, auf dem Weg, um Hilfe zu suchen. Die UNO geht von tausenden Hungertoten seit Beginn des Jahres 2022 aus (LIB).

Die Zahlen zur akuten Unterernährung haben sich im ganzen Land verschlechtert. Ca. 1,4 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind davon betroffen, fast 330.000 davon gelten als schwer unterernährt. Vor allem unter neu ankommenden IDPs in Mogadischu, Baidoa und Galkacyo werden hohe Zahlen gemeldet. UNICEF hat von Jänner bis Mai 2022 mehr als 50.000 Kinder wegen schwerer akuter Unterernährung behandelt. Nach neueren Angaben sind bis Jahresende 2022 sogar 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren akut unterernährt, 386.000 Kinder davon akut schwer unterernährt und auf lebensrettende Hilfe angewiesen (LIB).

Humanitäre Hilfe: In Somalia ist die längstdienende humanitäre Mission tätig, jährlich werden Milliarden US-Dollar ausgegeben. Mit Stand Mai 2022 waren in Somalia in 72 von 74 Bezirken alleine 220 humanitäre Organisationen aktiv, davon 158 nationale NGOs. Hier nur einige Beispiele an erbrachter Hilfeleistung: Zwischen Jänner und März 2022 erreichte unterschiedliche Form an Dürrehilfe ca. 2,5 Millionen Einwohner. Durchschnittlich erreichte Hilfe 2,4 Millionen Menschen pro Monat. Viele davon erhielten Nahrungsmittelhilfe durch Geldtransfers, mehr als eine Million Menschen profitieren von längerfristigen Programmen. Insgesamt nutzen rund 70 % der Bevölkerung mobile Bankdienste, ein Drittel der Menschen haben mobile Konten. Die Weltbank stellt 143 Millionen US-Dollar zur Verfügung, um vulnerablen Haushalten, die übermäßig von den Klima- und Umweltschäden der letzten Jahre betroffen sind, mit Geld helfen zu können. Bestehende Programme für 160.000 Haushalte werden um mehr als 350.000 Haushalte erweitert. Bereits Anfang Juni 2022 wurde im Rahmen des Baxnaano-Programms Geld an 243.000 Haushalte überwiesen. Die USA stellen 105 Millionen US-Dollar für Nothilfe zur Verfügung. Das Geld wird v. a. für Nahrungsmittel, medizinische und Wasserversorgung verwendet werden. CARE arbeitet an 56 Einrichtungen des Gesundheitsministeriums und mit 77 mobilen Kliniken, um lebensrettende Gesundheits- und Ernährungsleistungen zur Verfügung stellen zu können – v. a. an Schwangere, stillende Mütter und Kinder unter fünf Jahren. Hilfsorganisationen im sogenannten Nutrition Cluster (Ernährung) erreichten 2021 mehr als eine Million Kinder unter fünf Jahren sowie fast 280.000 Schwangere und stillende Mütter mit Ernährungsdiensten. Mehr als 327.000 Kinder unter zwei Jahren wurden mit Nahrungsergänzung versorgt, es gibt hierzu 988 Ernährungszentren. UN-Agenturen und andere Akteure haben im Zeitraum Jänner bis Mai 2022 in Gedo und Bay 42 neue Brunnen errichtet und in Lower Shabelle, Gedo, Lower Juba, Bay, Mudug und Galgaduud 55 Brunnen rehabilitiert. Alle Brunnen wurden mit Solaranlagen ausgestattet. In Puntland helfen u. a. Sicherheitskräfte bei der Verteilung von Wasser in von der Dürre betroffene Gebiete. Auch IOM hat 13.000 Haushalte in neun Bezirken in ganz Somalia mit Wasser versorgt (LIB).

Generell stellen Sicherheitsprobleme ein Hindernis bei der Versorgung von Menschen dar. Unterschiedliche bewaffnete Akteure – aber in erster Linie al Shabaab – behindern v. a. in Süd-/Zentralsomalia humanitäre Hilfe (UNSC 6.10.2021). Die meisten Vorfälle gegen humanitäre Kräfte ereigneten sich zuletzt in Galmudug, HirShabelle und dem SWS. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist der Zugang für humanitäre Hilfe eingeschränkt. Dort kann eine effektive humanitäre Hilfe nur eingeschränkt vollbracht werden (LIB).

Insgesamt ist die Nahrungsmittelhilfe aber nicht ausreichend, weswegen mit einer Verschlimmerung der Situation zu rechnen ist (LIB).

Öffentliche Hilfe - Programm "Baxnaano": Mit diesem Programm soll chronische Armut reduziert und Resilienz aufgebaut werden. Dabei werden 200.000 Haushalten mit Kindern unter fünf Jahren für drei Jahre monatlich 20 US-Dollar an Unterstützung zur Verfügung gestellt. Im November 2021 waren 186.400 Haushalte als Nutznießer gelistet. Insgesamt werden mehr als 1,1 Millionen Menschen - in ländlichen Gebieten, aber auch arme Menschen und IDPs in Städten - über Programme mit vierteljährlichen Geldzahlungen bedacht. Der Anteil des Sozialsektors am Staatsbudget soll 2021 auf 34 % anwachsen; der Großteil davon fließt über Baxnaano an arme und vulnerable Haushalte (LIB).

Gesellschaftliche Unterstützung: Insgesamt gibt es kein öffentliches Wohlfahrtssystem, keinen sozialen Wohnraum und keine Sozialhilfe. Soziale Unterstützung erfolgt entweder über islamische Wohltätigkeitsorganisationen, NGOs oder den Clan. Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Armutsminderung liegen im privaten Sektor. Das eigentliche soziale Sicherungsnetz ist die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan. Sie bieten oftmals zumindest einen rudimentären Schutz. Vorrangig stellt die patrilineare (väterliche) Abstammungsgemeinschaft die Solidaritäts- und Schutzgruppe. Aber daneben gibt es auch die Patri-(Vater)-Linie der Mutter und zusätzlich möglicherweise noch angeheiratete Verwandtschaft. Alle drei Linien bilden in der Regel - wie es ein Experte formuliert - "einen ganz beachtlichen Verwandtschaftskosmos". Und in diesem Netzwerk kann Hilfe und Solidarität gesucht werden, es besteht diesbezüglich eine moralische Pflicht. Allerdings müssen verwandtschaftliche Beziehungen auch gepflegt werden. Entscheidend ist also nicht unbedingt die Quantität an Verwandten, sondern die Qualität der Beziehungen. Wer als schwacher Akteur in diesem Netzwerk positioniert ist, der wird schlechter behandelt als die stark Positionierten. In einer Dokumentation der Deutschen Welle wird ein junger Mann gezeigt, der im Sudan medizinisch versorgt und von dort zurückgeholt werden musste. Die Ältesten bzw. Sultans sammeln Geld im ganzen Clan, und dieser gab dafür schließlich 7.000 US-Dollar aus. Danach hat der Clan dem Mann um 3.000 US-Dollar ein Tuk-Tuk finanziert, damit er den gefährlichen Weg der Migration nicht noch einmal antritt. Diese Art des "Fundraising" (Qaraan) in Somalia und in der Diaspora wird also nicht nur gemacht, um sogenanntes Blutgeld im Fall eines Mordes zu sammeln, sondern auch, um andere Bedürfnisse eines Clanmitglieds abzudecken. Darunter fallen auch Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung (LIB).

Eine weitere Hilfestellung bieten Remissen aus dem Ausland. Allein im Jahr 2021 flossen durch solche Heimatüberweisungen rund 2,8 Milliarden US-Dollar nach Somalia. Das entspricht rund einem Drittel des Bruttoinlandprodukts und ist weit mehr Geld, als durch Entwicklungshilfe ins Land kommt. Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Diese stellen einen bedeutenden Anteil des Budgets von Privathaushalten dar. Vor allem für die unteren 40 %, wo Remissen 54 % aller Haushaltsausgaben decken. Minderheiten mangelt es oft am Zugang zu Remissen (LIB).

In Krisenzeiten (etwa Hungersnot 2011 und Dürre 2016/17) stellt die Hilfe durch Freunde oder Verwandte die am meisten effiziente und verwendete Bewältigungsstrategie dar. Neben Familie und Clan helfen also auch andere soziale Verbindungen – seien es Freunde, geschlechtsspezifische oder Jugendgruppen, Bekannte, Berufsgruppen oder religiöse Bünde. Meist ist die Unterstützung wechselseitig. Über diese sozialen Netzwerke können auch Verbindungen zwischen Gemeinschaften und Instanzen aufgebaut werden, welche Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder andere Formen von Unterstützung bieten. Auch für IDPs stellen solche Netzwerke die Hauptinformationsquelle dar, wo sie z. B. Unterkunft und Nahrung finden können. Generell ist es auch üblich, Kinder bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen, wenn eine Familie diese selbst nicht erhalten kann 22 % der bei einer Studie befragten IDP-Familien haben Kinder bei Verwandten, 28 % bei institutionellen Pflegeeinrichtungen (7 %) untergebracht. Weitere 28 % schicken Kinder zum Essen zu Nachbarn (LIB).

In der somalischen Gesellschaft – auch bei den Bantu – ist die Tradition des Austauschs von Geschenken tief verwurzelt. Mit dem traditionellen Teilen werden in dieser Kultur der Gegenseitigkeit bzw. Reziprozität Verbindungen gestärkt. Folglich wurden auch im Rahmen der Dürre 2016/17 die über Geldtransfers zur Verfügung gestellten Mittel und Remissen mit Nachbarn, Verwandten oder Freunden geteilt – wie es die Tradition des Teilens vorsah. Selbst Kleinhändlerinnen in IDP-Lagern, die ihre Ware selbst nur auf Kredit bei einem größeren Geschäft angeschafft haben, lassen anschreiben und streichen manchmal die Schulden von noch ärmeren Menschen. Menschen, die selbst wenig haben, teilen ihre wenigen Habseligkeiten und helfen anderen beim Überleben. Es herrscht eine starke Solidarität (LIB).

Die hohe Anzahl an IDPs zeigt jedenfalls, dass soziale Absicherungssysteme bei Krisen in vielen Teilen des Landes zunehmend überlastet sind, dass also z. B. manche Clans nicht mehr in der Lage sind, der Armut ihrer Mitglieder entsprechend zu begegnen. Wenn Menschen in weit von ihrer eigentlichen Clanheimat entfernte Gebiete fliehen, verlieren sie zunehmend an Rückhalt und setzen sich größeren Risiken aus (LIB).

1.3.12. Relevante Bevölkerungsgruppen

1.3.12.1. Frauen – Allgemein – Letzte Änderung: 26.07.2022

Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Scharia wird ausschließlich von Männern angewendet, die oftmals zugunsten von Männern entscheiden. Zudem gelten die aus der Scharia interpretierten Regeln des Zivil- und Strafrechts. Entsprechend gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z. B. halbe Erbquote). Insgesamt gibt es hinsichtlich der grundsätzlich diskriminierenden Auslegungen der zivil- und strafrechtlichen Elemente der Scharia keine Ausweichmöglichkeiten, diese gelten auch in Somaliland. Auch im Rahmen der Ausübung des Xeer haben Frauen nur eingeschränkt Einfluss. Verhandelt wird unter Männern, und die Frau wird üblicherweise von einem männlichen Familienmitglied vertreten. Oft werden Gewalttaten gegen Frauen außerhalb des staatlichen Systems zwischen Clanältesten geregelt, sodass ein Opferschutz nicht gewährleistet ist (LIB).

Die von Männern dominierte Gesellschaft und ihre Institutionen gestatten es somalischen Männern, Frauen auszubeuten. Verbrechen an Frauen haben nur geringe oder gar keine Konsequenzen. Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt werden oft im Rahmen kollektiver Clanverantwortung abgehandelt. Viele solche Fälle werden nicht gemeldet. Weibliche Opfer befürchten, von ihren Familien oder Gemeinden verstoßen zu werden, sie fürchten sich z. B. auch vor einer Scheidung oder einer Zwangsehe. Anderen Opfern sind die formellen Regressstrukturen schlichtweg unbekannt (LIB).

Gemäß einer aktuellen Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer – und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft; wirtschaftliche Möglichkeiten; Politik; und Bildung (LIB).

1.3.12.1.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022

Diskriminierung: Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten. Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär. Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet. Sie genießen nicht die gleichen Rechte und den gleichen Status wie Männer und werden diesen systematisch untergeordnet. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung (LIB).

Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst. Frauen sind das ökonomische Rückgrat der Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie. Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen. Außer bei großen Betrieben spielen Frauen eine führende Rolle bei den Privatunternehmen. In Mogadischu und Bossaso gehören ca. 45 % aller formellen Unternehmen Frauen (LIB).

Politik: Viele traditionelle und religiöse Eliten stellen sich vehement gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen am politischen Leben. Die eigentlich vorgesehene 30 %-Frauenquote für Abgeordnete im somalischen Parlament wird nicht eingehalten. Aktuell liegt diese bei 20 %. Bei den Wahlen zum Oberhaus im Jahr 2021 wurden 14 von 54 Sitzen mit Frauen besetzt. Außerdem sind 4 von 26 Bundesministern weiblich (LIB).

Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist, bleiben häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze (LIB).

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt bleiben ein großes Problem – speziell für IDPs. Im Jahr 2021 kam es zu einem Anstieg an derartigen Fällen, oft werden Opfer auch getötet. Auch im Jahr 2022 ist die Zahl an Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt weiter gestiegen. Im Jahr 2021 setzten sich die Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt wie folgt zusammen: 62 % physische Gewalt; 11 % Vergewaltigungen; 10 % sexuelle Übergriffe; 7 % Verweigerung von Ressourcen; 6 % psychische Gewalt; 4 % Zwangs- oder Kinderehe. 53 % der Fälle ereigneten sich im Wohnbereich der Opfer. 2021 war eine hohe Rate an Partnergewalt zu verzeichnen; mit der Rücknahme von Covid-19-bedingten Einschränkungen ist die Rate an Partnergewalt zuletzt gesunken. 74 % aller registrierten Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs. Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt. NGOs haben eine diesbezügliche Systematik dokumentiert (LIB).

Frauen und Mädchen werden Opfer, wenn sie Wasser holen, Felder bewirtschaften oder auf den Markt gehen. Klassische Muster sind: a) die Entführung von Mädchen und Frauen zum Zwecke der Vergewaltigung oder der Zwangsehe. Hier sind die Täter meist nicht-staatliche Akteure; und b) Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch staatliche Akteure, assoziierte Milizen und unbekannte Bewaffnete. Nach anderen Angaben wiederum ereignet sich der Großteil der Vergewaltigungen - über 50 % - im eigenen Haushalt oder aber im direkten Umfeld; das heißt, Täter sind Familienmitglieder oder Nachbarn der Opfer. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass die Zahl an Fällen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund der COVID-19-Maßnahmen zugenommen hat. Alleine im Juli 2021 wurden von der UN 168 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt dokumentiert - darunter auch Vergewaltigungen und versuchte Vergewaltigungen. Es wird angenommen, dass die Dunkelziffer viel höher liegt. Insgesamt hat sich aber aufgrund von Chaos und Gesetzlosigkeit seit 1991 eine Kultur der Gewalt etabliert, in welcher Männer Frauen ungestraft vergewaltigen können. Frauen und Mädchen bleiben daher den Gefahren bezüglich Vergewaltigung, Verschleppung und systematischer sexueller Versklavung ausgesetzt (LIB).

Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten Allerdings handelt es sich um ein Vergehen gegen Anstand und Ehre - und nicht gegen die körperliche Integrität. Die Strafandrohung beträgt 5 - 15 Jahre, vor Militärgerichten auch den Tod. Das Problem im Kampf gegen sexuelle Gewalt liegt insgesamt nicht am Mangel an Gesetzen – sei es im formellen Recht oder in islamischen Vorschriften. Woran es mangelt, ist der politische Wille der Bundesregierung und der Bundesstaaten, bestehendes Recht umzusetzen und Täter zu bestrafen. Fälle sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt werden häufig als Kavaliersdelikte abgetan, eine Verurteilung der Täter mithilfe von Bestechung oder Kompensationszahlungen verhindert. Hinsichtlich einer Strafverfolgung von Vergewaltigern gibt es keine Fortschritte (LIB).

Bei Vergewaltigungen kann von staatlichem Schutz nicht ausgegangen werden. Generell herrscht Straflosigkeit, meist bleiben die Täter unbekannt. Nach anderen Angaben nimmt die Zahl erfolgreicher Strafverfolgung bei Vergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt zu. Mädchen und Frauen haben demnach Vertrauen gewonnen und zeigen Fälle an. Trotzdem gibt es noch zahlreiche Mängel und Hürden, wenn Opfer Gerechtigkeit suchen (LIB).

Die Tabuisierung von Vergewaltigungen führt u. a. dazu, dass kaum Daten zur tatsächlichen Prävalenz vorhanden sind. Außerdem leiden Vergewaltigungsopfer an Stigmatisierung. Opfer, die sich an Behörden wenden, werden oft angefeindet; in manchen Fällen sogar getötet. Aus Furcht vor Repressalien und Stigmatisierung wird folglich in vielen Fällen keine Anzeige erstattet. Zudem untersucht die Polizei Fälle sexueller Gewalt nur; manchmal verlangt sie von den Opfern, die Untersuchungen zu ihrem eigenen Fall selbst zu tätigen (LIB).

Insgesamt werden Vergewaltigungen aber nur selten der formellen Justiz zugeführt. Zum größten Teil (95 %) werden Fälle sexueller Gewalt – wenn überhaupt – im traditionellen Rechtsrahmen erledigt. Dort getroffene Einigungen beinhalten Kompensationszahlungen an die Familie des Opfers, oder aber das Opfer wird gezwungen, den Täter zu ehelichen. Das patriarchalische Clansystem und Xeer an sich bieten Frauen also keinen Schutz, denn wird ein Vergehen gegen eine Frau gemäß Xeer gesühnt, wird der eigentliche Täter nicht bestraft. Manchmal übergibt die Polizei ohne Zustimmung des Opfers oder der Familie des Opfers einen Vergewaltigungsfall an traditionelle Rechtsinstrumente (LIB).

Sexuelle Gewalt - Maßnahmen: Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden. Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren (LIB).

Bei der Armee wurden einige Soldaten wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung verhaftet. In Puntland wurden zwei Zivilisten (Vergewaltigung und Mord) und in Baidoa ein Polizist (Vergewaltigung einer Schwangeren) – nach Verurteilung – exekutiert. Im Mai 2021 wurden drei Verdächtige festgenommen, die als Sicherheitskräfte Frauen vergewaltigt haben sollen. Ihre DNA-Proben wurden zur Untersuchung nach Garoowe geschickt – dort befindet sich das einzige dafür ausgerüstete Labor Somalias.

Sexuelle Gewalt - Unterstützung: Insgesamt gibt es für Opfer sexueller Gewalt beachtliche Hürden, um notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können. Zudem gibt es nur wenig Unterstützung in Fällen von Vergewaltigung, da es kaum spezialisierte Anbieter hinsichtlich psycho-sozialer Unterstützung oder zur Behandlung von Traumata gibt. Sogenannte One-Stop-Centers, die von lokalen und internationalen Organisationen sowie vom Gesundheitsministerium betrieben werden, bieten Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt (auch FGM) rechtliche Hilfe und andere Dienste. UNFPA unterstützt insgesamt 31 solche Einrichtungen sowie 16 Gesundheitseinrichtungen, welche für Opfer spezialisierte Behandlungen anbieten. In ganz Somalia sind 74 NGOs und internationale Organisationen aktiv, um Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterstützen. In Mogadischu und in Puntland sind z. B. jeweils mehr als 20 Organisationen aktiv. Im Jahr 2021 wurden durch diese Anbieter ca. 51.000 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt behandelt, fast 10.000 Opfern wurde ein safe space zur Verfügung gestellt. In Lower Shabelle stellen etwa ein Dutzend NGOs und andere Akteure für Vergewaltigungsopfer medizinische Behandlung, Beratung und andere Dienste zur Verfügung. Insgesamt mangelt es allerdings an Schutzeinrichtungen. In Puntland gibt es einige Frauenhäuser, im Süd-/Zentralsomalia hingegen gibt es nur sehr wenige derartige Einrichtungen für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt (LIB).

Frauen – al Shabaab: In den von ihr kontrollierten Gebieten gelingt es al Shabaab, Frauen und Mädchen ein gewisses Maß an physischem Schutz zukommen zu lassen. Die Gruppe interveniert z. B. in Fällen häuslicher Gewalt. Al Shabaab hat Vergewaltiger – mitunter zum Tode – verurteilt. Dies ist auch ein Grund dafür, warum es in den Gebieten der al Shabaab nur vergleichsweise selten zu Vergewaltigungen kommt (LIB).

Andererseits legen Berichte nahe, dass sexualisierte Gewalt von al Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt wird. Die Zahl an Zwangs- und Frühehen durch al Shabaab hat zugenommen. Dabei zwingt al Shabaab Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren zur Ehe. Diese sowie deren Familien haben generell kaum eine Wahl. Solche Zwangsehen gibt es nur in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten. Nach anderen Angaben werden die meisten Ehen mit Mitgliedern der al Shabaab freiwillig eingegangen, auch wenn der Einfluss von Eltern und Clan sowie das geringe Alter bei der Eheschließung nicht gering geschätzt werden dürfen. Eine solche Ehe bietet der Ehefrau und ihrer Familie ein gewisses Maß an finanzieller Stabilität, selbst Witwen beziehen eine Rente. Demgegenüber stehen Berichte, wonach viele Eltern ihre Töchter in Städte gebracht haben, um sie vor dem Zugriff durch al Shabaab in Sicherheit zu bringen (LIB).

Al Shabaab schränkt die Freiheit und die Möglichkeiten von Frauen auf dem Gebiet unter ihrer Kontrolle signifikant ein. Die Anwendung einer extremen Form der Scharia resultiert in einer entsprechend weitgehenden Diskriminierung von Frauen. Diese werden etwa insofern stärker ausgeschlossen, als ihre Beteiligung an ökonomischen Aktivitäten als unislamisch erachtet wird. Nach anderen Angaben hat al Shabaab einen pragmatischen Zugang. Da immer mehr Familien vom Einkommen der Frauen abhängig sind, tendiert die Gruppe dazu, sie ihren wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen zu lassen. Und dies, obwohl Frauen nominell das Verlassen des eigenen Hauses nur unter Begleitung eines männlichen Verwandten (mahram) erlaubt ist (LIB).

Eheschließung: Bei Eheschließungen gilt das Scharia-Recht. Polygamie ist somit erlaubt, ebenso die Ehescheidung. Es gibt keine Zivilehe. Die Ehe ist extrem wichtig, und es ist in der somalischen Gesellschaft geradezu undenkbar, dass eine junge Person unverheiratet bleibt. Gleichzeitig besteht gegenüber der Braut die gesellschaftliche Erwartung, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung Jungfrau ist. Gerade bei der ersten Ehe ist die arrangierte Ehe die Norm. Eheschließungen über Clangrenzen [Anm.: großer bzw. "nobler" Clans] hinweg sind normal (LIB).

Ehe-Alter/Kinderehe: Generell sind die Ausdrücke "Erwachsener" und "Kind" in Somalia umstritten und de facto gesetzlich nicht explizit definiert. Zwar ist gemäß somalischem Zivilrecht für eine Eheschließung ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen, doch Scharia und Tradition nehmen eine Heiratsfähigkeit bei Erreichen der Pubertät an. Generell herrscht unter den relevanten Stakeholdern keine Einigkeit darüber, wann denn nun eigentlich das Heiratsalter erreicht ist. Laut Gesetzen sollen beide Ehepartner das "age of maturity" erreicht haben; als Kinder werden Personen unter 18 Jahren definiert. Außerdem sieht die Verfassung vor, dass beide Ehepartner einer Eheschließung freiwillig zustimmen müssen. Trotzdem ist die Kinderehe verbreitet– gerade in ärmeren, ländlichen Gebieten. Oft werden Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren verheiratet, wobei die Eheschließung von den Eltern schon sehr früh vereinbart wird. Die eigentliche Hochzeit erfolgt, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht. Eltern ermutigen Mädchen zur Heirat, in der Hoffnung, dass die Ehe dem Kind finanzielle und soziale Absicherung bringt und dass diese die eigene Familie finanziell entlastet. Zudem wird eine frühe Ehe als kulturelle und religiöse Anforderung wahrgenommen. Bei einer Umfrage im Jahr 2017 gaben ca. 60 % der Befragten an, dass eine Eheschließung für Mädchen unter 18 Jahren kein Problem ist (LIB).

Arrangierte Ehe/Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich. Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen. Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt. Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden. Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition. Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren (LIB).

Bereits eine Quelle aus dem Jahr 2004 besagt, dass sich die Tradition gewandelt hat, und viele Ehen ohne Einbindung, Wissen oder Zustimmung der Eltern geschlossen werden. Viele junge Somali akzeptieren arrangierte Ehen nicht mehr. Gerade in Städten ist es zunehmend möglich, den Ehepartner selbst zu wählen. In der Hauptstadt ist es nicht unüblich, dass es zu – freilich oft im Vorfeld mit den Familien abgesprochenen – Liebesehen kommt. Dort sind arrangierte Ehen eher unüblich. Gemäß einer Schätzung konnten sich die Eheleute in 80 % der Fälle ihren Partner selbst aussuchen bzw. bei der Entscheidung mitreden. Zusätzlich gibt es auch die Tradition der "runaway marriages", bei welcher die Eheschließung ohne Wissen und Zustimmung der Eltern erfolgt. Diese Art der Eheschließung ist in den vergangenen Jahren immer verbreiteter in Anspruch genommen worden (LIB).

Durch eine Scheidung wird eine Frau nicht stigmatisiert, und Scheidungen sind in Somalia nicht unüblich. Bereits 1991 wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der über 50-jährigen Frauen mehr als einmal verheiratet gewesen ist. Die Zahlen geschiedener Frauen und von Wiederverheirateten sind gestiegen. Bei einer Scheidung bleiben die Kinder üblicherweise bei der Frau, diese kann wieder heiraten oder die Kinder alleine großziehen. Um unterstützt zu werden, zieht die Geschiedene aber meist mit den Kindern zu ihren Eltern oder zu Verwandten. Bei der Auswahl eines Ehepartners sind Geschiedene in der Regel freier als bei der ersten Eheschließung. Auch bei al Shabaab sind Scheidungen erlaubt und werden von der Gruppe auch vorgenommen (LIB).

In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben – z. B. Geburt eines unehelichen Kindes. Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen (LIB).

1.3.12.2. Mädchen/Frauen – Weibliche Genitalverstümmelung und -beschneidung (FGM/C) – Letzte Änderung: 26.07.2022

Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann. In Somalia herrschen zwei Formen von FGM vor:

a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (gudniinka fircoonige), welche weitgehend dem WHO Typ römisch III (Infibulation) entspricht und von der somalischen Bevölkerung unter dem – mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym „FGM“ verstanden wird.

b) Andererseits die Sunna (gudniinka sunna), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ römisch eins entspricht, laut einer anderen Quelle WHO Typ römisch eins und römisch II umfasst bzw. laut einer dritten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst. Denn die Sunna wird nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (sunna kabir) und die kleine Sunna (sunna saghir); es gibt auch Mischformen. De facto kann unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht. Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt, wissen Eltern oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIB).

Durchführung: Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten. Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 %. Diese „Medizinisierung“ von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen. FGM/C wird also zunehmend im medizinischen Bereich durchgeführt – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. Diese „Medizinisierung“ ist teilweise schon gängige Praxis – in Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für „FGM clinics“. Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen. Der Eingriff wird an einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (LIB).

Verbreitung: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet und bleibt die Norm. Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen. Eine Studie aus dem Jahr 2011 erklärt, dass 97 % der Mädchen und Frauen in der Altersgruppe 15-19 Jahre von irgendeiner Form von FGM betroffen sind. Gemäß einer neueren Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten. Nach anderen Angaben liegt die Prävalenz von FGM/C in der Altersgruppe von 15-49 Jahren bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 % (LIB).

Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIB).

Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten. Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt. Vielen Menschen – v. a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ römisch eins fest. Bei einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 2017 haben 40,6 % angegeben, von einer Infibulation betroffen zu sein. Jedenfalls ist die Quote an Infibulationen im ganzen Land rückläufig (LIB).

Üblicherweise liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter. Der Vater hingegen wird wenig eingebunden. Dabei geht es bei dieser Entscheidung weniger um das „ob“ als vielmehr um das „wie und wann“. Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten. Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen; manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben. Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen. Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter maßgeblich in die Entscheidung involviert. Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten. Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt. Gerade in Städten ist es heutzutage kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen, und die Zahl unbeschnittener Mädchen steigt (LIB).

In der Diaspora nimmt die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie. In manchen Gemeinden und Gemeinschaften, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich Teile der Bevölkerung gegen jegliche Art von FGM. Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat. Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (LIB).

Überhaupt ist der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, der Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden. So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen. Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird. Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet. Kulturell gilt die Klitoris als „schmutzig“, eine Infibulation als ästhetisch. Letztere trägt zur Ehre der Frau bei, denn sie beschränkt den Sexualdrang, sichert die Jungfräulichkeit und die Heirat. Dahingegeben werden unbeschnittene Frauen oft als schmutzig oder un-somalisch bezeichnet (LI 15.3.2021, S.16), als abnormal und schamlos. Die Bezeichnung für solche Frauen leitet sich vom Wort für Klitoris (kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine unbeschnittene Frau zu kennen (LIB).

Die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, hängt maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber. In der Stadt ist es kein Problem, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das anders. Eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, wird versuchen, die Tatsache geheim zu halten. Nur wenige Mütter „bekennen“, dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten. In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig. Natürlich werden nicht ständig die Genitalien von Mädchen überprüft. Aber Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei. Da gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden, ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht. Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber. Spätestens bei der Verheiratung ist der physische Status jedenfalls klar (LIB).

Trotzdem gibt es sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen. Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen. Doch auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land. Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (LIB).

Zum Alter bei der Beschneidung gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen ein Alter von 5-10 Jahren; in Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10 - 14 Jahren. Dieses Alter ist aber im Zuge des Wechsels hin zur Sunna in Somaliland auf 5-8 Jahre gesunken. Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen. Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren. UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt. Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt. Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg. Im Jahr 2018 hat man über vier Mädchen aus Galmudug und Puntland erfahren, dass diese im Zuge einer FGM bzw. an deren Folgen verstorben sind. Diese Mädchen waren 10-11 Jahre alt. Ein weiteres Mädchen, das fast gestorben wäre, war bei der Vornahme der FGM sieben Jahre alt (LIB).

1.3.12.2.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 21.10.2021

In der Übergangsverfassung steht, dass eine Beschneidung von Mädchen der Folter gleichkommt und daher verboten ist. Allerdings spiegelt sich dieses Verbot in keinem Gesetz mit Strafandrohung wider und hat damit keine praktische Bedeutung. Zudem mangelt es an einer Definition von „Beschneidung“, und es wird kein Strafmaß genannt. Das Strafgesetz von 1964 sieht zwar Strafen für die Verletzung einer Person vor, es sind aber keine Fälle bekannt, wo FGM/C dahingehend einer Strafverfolgung zugeführt worden wäre – selbst dann, wenn ein Mädchen an den Folgen der Verstümmelung verstorben ist. Generell mangelt es den Behörden landesweit an Integrität und Kapazität, um eine für die Beschneidung eines Mädchens verantwortliche Person rechtlich zu verfolgen. Es gibt folglich auch keine Beispiele dafür, wo eine solche Person bestraft worden wäre. In Jubaland, in Süd-/Zentralsomalia sowie in Puntland gibt es Gesetzesentwürfe, teilweise auch schon Gesetze gegen FGM/C; diese wurden aber bislang von traditionellen Führern blockiert. Die Frage, ob nur eine bestimmte Form von FGM/C oder aber alle Formen von FGM/C verboten werden sollen, hat die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes (auf Bundesebene) seit 2016 verzögert. Denn es gibt zwei unterschiedliche Agenden: Die eine will jegliche Form von FGM/C ausrotten. Die andere richtet sich gegen die schweren Formen und ist für die Erhaltung der Sunna (WHO Typ römisch eins). Diese divergierenden Ansichten haben zu einem Stillstand bei der Entwicklung einer nationalen FGM/C-Politik geführt. Zusammenfassend gibt es gegenwärtig keine tatsächlich von der Regierung approbierte Gesetzgebung gegen alle Formen von FGM/C (LIB).

Bereits im Jahr 2011 erhobene Zahlen für Puntland zeigten eine rückläufige FGM-Rate. In der Altersgruppe 45-49 waren 2011 97,8 % der Frauen von irgendeiner Form von FGM betroffen, in jener von 15 bis 19 Jahren waren es 97,3 %, in der Gruppe 10-14 waren es 82,3 %. Die Infibulationsrate ist von 93,2 % im Jahr 2005 auf 86,7 % im Jahr 2011 zurückgegangen. Im Jahr 2011 waren ca. 90 % der über 25-jährigen, 85,4 % der 20-24-jährigen und 79,7 % der 15-19-jährigen von einer Infibulation betroffen. Auch eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigt, dass die Infibulationsrate in Puntland zurückgeht – und auch die Sunna Kabir. Die Sunna Saghir (im Sinne einer moderaten Beschneidung der Klitoris) hingegen ist auf dem Vormarsch. Dementgegen gaben bei einer puntländischen Studie im Jahr 2018 nur 65 % der befragten Frauen an, selbst beschnitten zu sein; nur ein Drittel gab an, dass die eigene Tochter beschnitten sei (LIB).

Mit dem noch nicht vom Parlament abgesegneten Sexual Offenses Act von Puntland würden Infibulation und Sunna verboten; allerdings ist im Gesetz kein Bestrafungsmechanismus angeführt. Im Juni 2021 wurde die sogenannte FGM Zero Tolerance Bill vom Präsidenten unterzeichnet und vom Ministerkabinett verabschiedet. Die UN hat dazu gratuliert. Dabei hatten in Puntland schon im Jahr 2013 religiöse Führer und Akademiker eine Fatwa veröffentlicht, wonach jede Form von FGM verboten ist. Zusätzlich gibt es ein Dekret, dass Ärzten die Vornahme einer FGM verbietet. Insgesamt sind aber keine Schritte gegen Täter unternommen worden (LIB).

Al Shabaab hatte ursprünglich jede Form von FGM verboten. Mittlerweile gilt das Verbot für die Infibulation, während die Sunna akzeptiert wird. Generell ist al Shabaab nicht Willens, dieses Verbot auf dem von ihr kontrollierten Gebiet auch umzusetzen. Die Gruppe unterstützt die Tradition nicht, geht aber auch nicht aktiv dagegen vor. So zeigt das Verbot auf dem Gebiet von al Shabaab kaum einen Effekt (LIB).

Internationale und lokale NGOs führen Sensibilisierungsprogramme durch, landesweit bemühen sich die Regierungen, die Verbreitung von FGM einzuschränken – speziell jene der Infibulation. So hat UNFPA etwa im Feber 2020 Veranstaltungen gegen FGM organisiert, bei welchen 1.000 Behörden- bzw. Regierungsvertreter, Aktivistinnen, junge Menschen und IDPs teilnahmen. Mit durch internationale Organisationen finanzierten Kampagnen wird landesweit gegen FGM angekämpft, auch einige Ministerien sind aktiv. UNFPA gibt an, dass 890 somalische Gemeinden zwischen 2014 und 2017 die Durchführung von FGM aufgegeben haben. Auch Medien, Prominente und religiöse Persönlichkeiten werden in die Kampagnen eingebunden. Der Staat und religiöse Führer haben wichtige Schritte gesetzt, um FGM zu kriminalisieren und auszurotten. Allerdings stellen Ineffizienz, Korruption und Nepotismus im Rechtsstaat bedeutende Hindernisse bei der Umsetzung dar. Außerdem gibt es nach wie vor religiöse Führer, die sich gegen ein Verbot der Sunna aussprechen (LIB).

Schon 1985 hat ein Trend eingesetzt, mit dem sich die Sunna nunmehr zur üblichsten Form der Beschneidung entwickeln konnte. So werden in Mogadischu junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt. Gemäß Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2017 ist in Mogadischu kaum ein unter 18-jähriges Mädchen infibuliert; dagegen kommen sowohl große als auch kleine Sunna breitflächig zur Anwendung. Insgesamt waren bei dieser Studie rund ein Viertel der beschnittenen Unter-18-Jährigen von Infibulation, die große Mehrheit von kleiner und großer Sunna betroffen. Die Infibulation ist also insgesamt zurückgedrängt worden, dies wird von mehreren Quellen bestätigt. Außerdem sprachen sich in einer Umfrage aus dem Jahr 2017 42,6 % gegen die Tradition von FGM aus. Allerdings gaben nur 15,7 % an, dass in ihrer Gemeinde („community“) FGM nicht durchgeführt wird. Bei einer Studie im Jahr 2015 wendete sich die Mehrheit der Befragten gegen die Fortführung der Infibulation, während es kaum Unterstützung für eine völlige Abschaffung von FGM gab. Die Unterstützung für FGM/C ist jedenfalls gesunken. Zum Beispiel wurden in Cadaado (Mudug) im November 2020 nur noch 28 von 278 Eingriffen als Infibulation ausgeführt, im Dezember waren es 22 von 222. Dahingegen sind es Anfang 2019 noch über 200 Infibulationen pro Monat gewesen. Auch hier hat sich die Sunna durchgesetzt. Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht soweit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht – und trotzdem von den Betroffenen als „Sunna“ bezeichnet wird (LIB).

Schlussendlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia auch noch Bevölkerungsgruppen oder Gemeinschaften, wo generell keine Infibulation durchgeführt wird. Dies betrifft etwa einige ländliche Gemeinden der Rahanweyn sowie einige Bantugruppen an der äthiopischen Grenze, aber auch die städtischen Gemeinschaften der Reer Xamar und Reer Baraawe. Dort gibt es zwar eine Beschneidung (Sunna), nicht aber eine Infibulation. Jedenfalls sind solche Gruppen die Ausnahme und nicht die Regel (LIB).

1.3.12.2.2. Reinfibulation, Deinfibulation – Letzte Änderung: 08.07.2021

Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs oder aber z. B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten (LIB).

Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen – üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung – eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen. Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt, kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich eine Reinfibulation zu unterziehen. Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht. Es kann auch vorkommen, dass Eltern oder Verwandte eine bestehende Infibulation als zu gering erachten und ein Mädchen deswegen zu einem zweiten Eingriff geschickt wird (LIB).

Stellt nämlich der Ehemann in der Hochzeitsnacht fest, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt, kann dies Folgen haben – bis hin zur sofortigen Scheidung. Letztere kann zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von „Gerede“ führen. Generell können zur Frage der Reinfibulation von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z. B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren (LIFOS 16.4.2019, S.40f).

Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue (LIB).

Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist. Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben (LIB).

Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i. d. R. der Entscheidung der betroffenen Frau. Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation. Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige – von der Frau verlangte – Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation. Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neu-Vernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten eher unüblich. Die Verbreitung variiert offenbar auch geografisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95 % der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation. Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt (LIB).

Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann natürlich auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko eine Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (LIB).

1.3.8.3. Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und andere terroristische Gruppen –Letzte Änderung: 27.07.2022

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

•             Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS;

•             nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter;

•             Angehörige der Sicherheitskräfte;

•             Regierungsangehörige, Parlamentarier und Offizielle; al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen;

•             mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten;

•             Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen;

•             Wirtschaftstreibende, insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen

•             Älteste und Gemeindeführer;

•             Wahldelegierte und deren Angehörige; dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich. Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen;

•             Angehörige diplomatischer Missionen;

•             prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten;

•             religiöse Führer;

•             Journalisten und Mitarbeiter von Medien;

•             Telekommunikationsarbeiter;

•             mutmaßliche Kollaborateure und Spione;

•             Deserteure;

•             als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten);

•             (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS; den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (LIB).

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (LIB).

Kollaboration: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden. Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird. Z. B. wurde im Feber 2022 in Buulo Fulay (Bay) ein Mann hingerichtet, dem Spionage für die äthiopischen Streitkräfte und die Kräfte des SWS vorgeworfen wurde. Alleine im Zeitraum Mai-Juli 2021 wurden von al Shabaab 19 Zivilisten öffentlich hingerichtet – 18 davon wegen vorgeblicher Spionage und eine Person wegen Mordes (LIB).

Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten. Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt. So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an. Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden. So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet. Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (LIB).

Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein „Angebot“ von al Shabaab abzulehnen (LIB).

Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und AMISOM [nunmehr ATMIS]. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (LIB).

Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden. So greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden. Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann. Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (LIB).

Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet. Nach Angaben eines Journalisten wiederum kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecken. Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (LIB).

Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (LIB).

Der sogenannte Islamische Staat (IS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des IS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v. a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (LIB).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin und ihren persönlichen Umständen:

Die Feststellungen zum Namen und Geburtsdatum der Beschwerdeführerin ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführerin (Name und Geburtsdatum) getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für ihre Identifizierung im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Clans-, Subclans- und Religionszugehörigkeit sowie Muttersprache der Beschwerdeführerin gründen sich auf ihre diesbezüglich glaubhaften Angaben; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen – im Wesentlichen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen und vor dem Hintergrund der Länderberichte zu Somalia plausiblen – Aussagen der Beschwerdeführerin zu zweifeln.

Die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrem Geburts- und Wohnort, ihrem schulischen und beruflichen Werdegang, ihrem Familienstand, ihren Familienangehörigen und ihrer Ausreise aus Somalia waren im Wesentlichen gleichbleibend und widerspruchsfrei, weitgehend chronologisch stringent und vor dem Hintergrund der bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen in Somalia plausibel.

Nicht festgestellt werden konnte jedoch, dass der Vater der Beschwerdeführerin bereits verstorben sei und ihre Mutter, Geschwister und Söhne Somalia mittlerweile verlassen hätten. Sowohl der Tod des Vaters als auch die Flucht der restlichen Familie – zunächst nach Mogadischu, später nach Kenia – wären nach ihren Angaben eine Folge der Bedrohung seitens der Al-Shabaab gewesen vergleiche AS 99, Sitzung 7 des Verhandlungsprotokolls) und stünden damit in untrennbarem Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen. Da dieses aber nicht glaubhaft war (siehe dazu sogleich), war festzustellen, dass die Familie der Beschwerdeführerin nach wie vor in römisch 40 lebt vergleiche Sitzung 6-7).

Die Aufenthalte der Beschwerdeführerin in der Türkei und in Serbien ergeben sich aus ihren eigenen glaubhaften Angaben. Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin ergibt sich aus ihren eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vergleiche Sitzung 4 des Verhandlungsprotokolls), an denen das Bundesverwaltungsgericht keinen Grund zu zweifeln hat.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug vergleiche OZ 7).

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin:

2.2.1. Dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie und ihre Familie seien mit dem Tod bedroht worden, weil sie den Heiratswunsch eines Al-Shabaab-Mitglieds abgelehnt habe, weshalb auch ihr Vater ermordet worden sei, nicht glaubhaft war, ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen. Insbesondere verstrickte sich die Beschwerdeführerin mehrere deutliche Widersprüche und Ungereimtheiten, ihr Vorbringen erwies sich vor dem Hintergrund der Länderberichte als nicht plausibel und es blieb in wichtigen Punkten auch auffällig oberflächlich und vage.

In ihrer polizeilichen Erstbefragung brachte die Beschwerdeführerin vor, ein Al-Shabaab habe sie zwangsweise heiraten wollen. Sie habe Angst, dass er sie umbringe. Sie sei dort ohne männlichen Schutz. Dieser Mann werde sie nicht in Ruhe lassen und sie umbringen vergleiche AS 17).

In ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl brachte die Beschwerdeführerin zusammengefasst vor, dass sie und ihre Familie in römisch 40 gelebt und dort ein Teehaus betrieben hätten. Unter ihren Kunden seien auch Männer von Al-Shabaab gewesen. Einer von ihnen habe sie heiraten wollen. Sie habe ihm gesagt, dass sie bereits verheiratet sei. Ihr Mann sei vermisst und man wisse noch nicht, ob er wieder zurückkomme. Dann sei der Mann zu ihrem Vater gegangen und habe diesem gesagt, dass er sie heirate. Auch ihr Vater habe gesagt, dass das nicht gehe, weil sie bereits verheiratet sei. Die vierjährige Frist sei noch nicht aus, man müsse abwarten, ob sich ihr Mann melde. Erst nach den vier Jahren könne sie jemand anderen heiraten. Diese Antwort habe den Mann sauer und wütend gemacht. Er sei ein Anführer von Al-Shabaab, ein sogenannter Amir, gewesen. Er habe zu ihrem Vater gesagt: „Entweder werde ich deine Tochter heiraten oder euch bestrafen.“ Dann hätten die Beschwerdeführerin und ihre Familie beschlossen, dass sie von dort weg und zu ihrer Tante gehe. Der Mann sei ständig bei ihren Eltern im Geschäft gewesen und habe nach ihr gefragt. Ihr Vater habe ihm dann gesagt, dass sie vermisst sei und er nicht wisse, wo sie sich befinde. Der Anführer von Al-Shabaab habe ihn bedroht. Er habe immer gesagt, dass er ihn verurteilen und töten lassen werde. Spätabends hätten Männer von Al-Shabaab ihren Vater mitgenommen und am nächsten Morgen habe man seine Leiche gefunden. Dann sei ihre Mutter mit den Geschwistern nach Mogadischu geflohen. Einige Tage später habe der Mann ihr eine SMS geschickt, in der gestanden sei, dass er sie in Mogadischu finden und Al-Shabaab auch sie töten werde. Daraufhin habe ihre Familie entschieden, dass sie das Land verlasse, ihre Tante habe ihre Ausreise finanziert vergleiche AS 104-107).

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte die Beschwerdeführerin zusammengefasst vor, dass sie ihr Heimatland verlassen habe, weil ein Al-Shabaab-Mann sie zwangsheiraten habe wollen. Er sei ein Kunde ihres Restaurants gewesen. Sie habe ihm gesagt, dass sie eine verheiratete Frau sei, aber ihr Mann verschwunden sei. In ihrer Tradition dürfe die Frau, wenn der Mann verschwunden sei, erst nach vier Jahren heiraten. Der Mann sei zu ihrem Vater gegangen, um um ihre Hand anzuhalten. Auch ihr Vater habe gesagt, dass sie eine verheiratete Frau sei. Der Mann habe ihm nicht geglaubt und habe gesagt, dass ihr Vater ihn anlüge. Er sei ein paar Mal zu ihm gegangen und habe die Frage wiederholt und dann am Ende habe er gesagt, dass er ihren Vater töten werde, wenn er die Beschwerdeführerin nicht heiraten könne. Eines Abends, als ihr Vater in ihrem kleinen Restaurant gewesen sei, hätten die Al-Shabaab-Männer ihn entführt. Sie sei zu dieser Zeit in Mogadischu gewesen. Diese Männer hätten ihren Vater getötet. Als ihr Vater getötet worden sei, habe ihre Mutter nicht mehr in römisch 40 bleiben können und sei mit den Kindern und Geschwistern der Beschwerdeführerin nach Mogadischu gekommen. Ihre Mutter habe große Angst um sie gehabt und habe gemeint, dass sie das Land verlassen solle, weil ihr Vater ihretwegen getötet worden sei und sie in Gefahr sei. Dann hätten ihre Mutter und ihre Tante entschieden, dass sie Land verlasse, und begonnen, ihre Reise zu organisieren. Ihre Familie habe ihretwegen so viele Probleme bekommen, sie gebe sich selbst die Schuld dafür vergleiche Sitzung 9-14 des Verhandlungsprotokolls).

Zunächst ist augenscheinlich, dass sich die Beschwerdeführerin in ihrem Vorbringen, wiewohl sie dieses zugleich sehr oberflächlich und vage hielt (siehe dazu noch unten), in eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten verstrickte. So machte sie etwa unterschiedliche Angaben dazu, was letztlich der Auslöser für ihre Flucht auch aus Mogadischu gewesen sei. In der behördlichen Einvernahme sagte sie, dass ihr der Al-Shabaab-Anführer einige Tage nach dem Mord an ihrem Vater eine SMS geschickt habe, in der gestanden sei, dass er sie in Mogadischu finden und Al-Shabaab auch sie töten werde. Als sie das ihrer Mutter und Tante gezeigt habe, habe ihre Tante vorschlagen, ihre Ausreise zu finanzieren vergleiche AS 104). In der mündlichen Verhandlung hingegen erwähnte sie eine solche SMS von sich aus überhaupt nicht. In der freien Schilderung der Fluchtgründe sagte sie nur, dass ihre Mutter nach dem Tod des Vaters große Angst um sie gehabt und gemeint habe, sie solle das Land verlassen, weil sie in Gefahr sei vergleiche Sitzung 10 des Verhandlungsprotokolls). Auch, als die erkennende Richterin die Beschwerdeführerin ausdrücklich fragte, weshalb sie letztlich Mogadischu verlassen habe müssen, verwies sie zunächst nur allgemein auf die Bedrohungen durch ihren Verfolger, erwähnte aber keine SMS. Erst auf die direkte Frage, ob der Mann nochmals mit ihr Kontakt aufgenommen habe, als sie in Mogadischu gewesen sei, brachte sie auch in der Verhandlung erstmals vor, eine SMS erhalten zu haben vergleiche Sitzung 11-12). Es ist kaum vorstellbar, dass die Beschwerdeführerin einen so zentralen Aspekt wie diese SMS – als vermeintlichen Auslöser ihrer Flucht aus Mogadischu – in der mündlichen Verhandlung nicht von sich aus erwähnen würde, wenn es eine solche SMS tatsächlich gegeben hätte.

Die Zweifel an dieser Darstellung werden durch die Angaben der Beschwerdeführerin zum Inhalt der SMS noch verstärkt. Vor der belangten Behörde sagte sie dazu nur, der Mann habe geschrieben, dass er sie in Mogadischu finden und Al-Shabaab auch sie, gleich wie ihren Vater, töten werde vergleiche AS 104, 106). In der mündlichen Verhandlung gab sie darüber hinausgehend an, der Mann habe geschrieben, er wisse, dass sie mit ihrer Mutter, ihren Kindern und ihren Geschwistern bei ihrer Tante in Mogadischu lebe und dass er, falls sie ihn ablehne, sie und ihre ganze Familie töten werde. Er habe auch dazu geschrieben, dass er ihren Vater getötet habe vergleiche Sitzung 12 des Verhandlungsprotokolls). Auf Vorhalt ihrer früheren Angaben erklärte sie die Divergenz in der Verhandlung so, dass sie es bei der Behörde „nicht ausführlich“ erzählt habe. Ihre nunmehrige Beschreibung der SMS steht aber auch zu sonstigen eigenen Angaben in Widerspruch. In der behördlichen Einvernahme hatte die Beschwerdeführerin noch gesagt, dass nur sie selbst, nicht aber andere Familienmitglieder bedroht worden seien. Deshalb könne der Rest der Familie weiterhin in Mogadischu leben vergleiche AS 106-107). Dies deckt sich keinesfalls damit, dass der Al-Shabaab-Anführer schon in der SMS gedroht hätte, sie „und ihre ganze Familie“ zu töten. Diesfalls wäre auch umso weniger nachvollziehbar, dass die restliche Familie noch bis März 2022 in Mogadischu geblieben wäre.

Widersprüchlich äußerte sich die Beschwerdeführerin auch dazu, wie genau sie vom Tod ihres Vaters erfahren habe. In der behördlichen Einvernahme antwortete sie auf eine diesbezügliche Frage, dass ihre Mutter und ihre Geschwister, die damals in römisch 40 gewesen seien, sie angerufen hätten vergleiche AS 105). In der mündlichen Verhandlung sagte sie zunächst auch, ihre Mutter habe ihr das erzählt, diese habe aber (nicht sie, sondern) ihre Tante angerufen. Als ihr daraufhin ihre Aussage vor der Behörde vorgehalten und sie noch einmal gefragt wurde, ob sie oder ihre Tante angerufen worden sei, sagte sie: „Vielleicht haben sie das falsch verstanden. Ich habe gemeint, dass meine Tante angerufen wurde, weil ich bei meiner Tante war.“ vergleiche Sitzung 14 des Verhandlungsprotokolls). Diese Erklärung überzeugt jedoch nicht. Die Beschwerdeführerin hatte vor der Behörde nicht nur wörtlich „Sie haben mich angerufen.“ gesagt, sondern auch hervorgehoben, dass ihre Mutter und Geschwister damals in römisch 40 , sie aber in Mogadischu gewesen sei, und somit erläutert, warum es einen Anruf gebraucht habe. Im Übrigen geht aus ihrem Vorbringen zur SMS hervor, dass sie ein Handy bei sich gehabt hätte, sodass nicht nachvollziehbar ist, warum eine derart dringliche und persönliche Nachricht über den „Umweg“ der Tante übermittelt werden sollte.

Ein weiterer Aspekt, bei dem die Angaben der Beschwerdeführerin nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind, ist die Frage, ab wann sie und ihre Familie gewusst hätten, dass der Heiratswerber ein Mitglied von Al-Shabaab sei. In ihrer Beschwerde gab sie dazu an, dass ihr Vater und sie das zuerst nicht gewusst hätten. Ihr Vater habe erst nach ihrer Flucht nach Mogadischu mitbekommen, dass der Mann ein lokaler Al-Shabaab-Anführer sei vergleiche AS 281). Dies deckt sich jedoch zum einen nicht damit, dass sie in der behördlichen Einvernahme – gleich zu Beginn der Schilderung ihrer Fluchtgründe – Folgendes angab: „Als Kunden unseres Teehauses waren auch Männer von Al Shabaab dort. Einer von ihnen wollte mich heiraten.“ vergleiche AS 104). Wenn ihr bzw. ihrer Familie gleich betreffend mehrere Kunden bekannt gewesen wäre, dass diese Al-Shabaab-Mitglieder seien, ist jedenfalls davon auszugehen, dass sie auch deren lokalen Anführer, angeblich ebenfalls ein Stammkunde, als solchen gekannt hätten. Zum anderen wäre nicht nachvollziehbar, weshalb die Familie der Beschwerdeführerin diese nach Mogadischu geschickt hätte, wenn sie den Heiratswerber zu diesem Zeitpunkt bloß für eine Privatperson ohne Verbindung zu Al-Shabaab gehalten hätten. Vor allem hätten sie einen solchen Mann dann wohl nicht immer wieder in ihr Teehaus kommen lassen, nachdem er ihren Vater schon einmal mit den Worten „Entweder werde ich deine Tochter heiraten oder euch bestrafen“ bedroht hätte. Als Angehörige des Mehrheitsclans der Hawiye wären ihre Eltern durchaus in einer Position gewesen, sich gegen eine (nicht der Al-Shabaab zugehörige) Einzelperson zur Wehr zu setzen.

Darüber hinaus ist ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin ihr Fluchtvorbringen im Laufe des Verfahrens deutlich gesteigert hat. Während sie in der polizeilichen Erstbefragung zwar ebenfalls angab, dass ein Al-Shabaab-Mitglied sie zwangsweise heiraten habe wollen und sie Angst habe, dass er sie umbringe vergleiche AS 17), erwähnte sie bei dieser Gelegenheit mit keinem Wort, dass deshalb ihr Vater ermordet worden wäre. Auf die Frage, ob es „konkrete Hinweise“ gebe, dass ihr bei Rückkehr unmenschliche Behandlung oder Strafe, die Todesstrafe oder sonst irgendwelche Sanktionen drohen würden, antwortete sie nur, dass dieser Mann sie nicht in Ruhe lassen und sie umbringen werde.

Das Gericht verkennt bei der Würdigung der Aussagen der Beschwerdeführerin in der Erstbefragung nicht, dass gemäß Paragraph 19, Absatz eins, AsylG die Erstbefragung insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden dient und sich nicht auf die „näheren“ Fluchtgründe zu beziehen hat. Die Beweisergebnisse der Erstbefragung dürfen nicht unreflektiert übernommen werden vergleiche VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061). Ein vollständiges Beweisverwertungsverbot normiert Paragraph 19, Absatz eins, AsylG jedoch nicht. Im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen können Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten in den Angaben in der Erstbefragung zu späteren Angaben – unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind – einbezogen werden vergleiche VwGH 26.03.2019, Ra 2018/19/0607 bis 0608, VwGH 28.06.2018, Ra 2018/19/0271, mwN).

Doch auch unter Berücksichtigung des Zwecks einer Erstbefragung ist für das erkennende Gericht nicht nachvollziehbar, weshalb die Beschwerdeführerin die mit Abstand gravierendste Folge ihrer Verfolgung, die Ermordung ihres Vaters, bei dieser Gelegenheit mit keinem Wort erwähnen würde. Dies hätte ihre behauptete Furcht vor Verfolgung plausibler erscheinen lassen und wäre jedenfalls ein „konkreter Hinweis“ auf drohende Sanktionen gewesen, wonach sie ausdrücklich gefragt wurde. Sie bestätigte vor der Erstbefragung, dass sie die Dolmetscherin verstehe und der Einvernahme ohne Probleme folgen könne vergleiche AS 9, 11), und danach, dass ihr die Niederschrift in einer ihr verständlichen Sprache rückübersetzt worden sei, sie keine Ergänzungen oder Korrekturen zu machen und alles verstanden habe vergleiche AS 19). Auch in der behördlichen Einvernahme bestätigte sie, dass ihre Angaben in der Erstbefragung rückübersetzt und korrekt protokolliert worden seien, nur betreffend ihren Familienstand und Geburtsort nahm sie in der Folge Korrekturen vor vergleiche AS 96). In der mündlichen Verhandlung gab die Beschwerdeführerin zwar erstmals an, die Dolmetscherin der Erstbefragung „nicht gut“ verstanden zu haben, bestätigte aber ebenfalls, dass alles richtig protokolliert worden sei vergleiche Sitzung 4 des Verhandlungsprotokolls). Ein nachvollziehbarer Grund dafür, die Ermordung ihres Vaters in der Erstbefragung nicht erwähnt zu haben, ist damit im gesamten Verfahren nicht hervorgekommen.

Vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderberichte erscheinen die Angaben der Beschwerdeführerin zudem nicht plausibel. Aus diesen ergibt sich zwar, dass Zwangsehen in Somalia weit verbreitet sind und auch von Al-Shabaab gezielt als Taktik im bewaffneten Konflikt eingesetzt werden. Solche Zwangsehen gibt es den Berichten zufolge aber nur in den von Al-Shabaab kontrollierten Gebieten, und diese betreffen in der Regel Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren (siehe Punkt 1.3.12.1.1.). Die Beschwerdeführerin stammt zum einen aus einem nicht von Al-Shabaab kontrollierten Gebiet vergleiche AS 101), und wäre zum anderen im Zeitpunkt der versuchten Zwangsverheiratung bereits 27 Jahre alt gewesen. Besonders unplausibel erscheint das Vorbringen auch deshalb, weil sie zu dieser Zeit bereits verheiratet war und zwei Kinder hatte. Es wäre ihr daher gar nicht möglich gewesen, den Al-Shabaab-Anführer zu heiraten, was sie und ihr Vater diesem auch mitgeteilt hätten. Für diese Ungereimtheit präsentierte die Beschwerdeführerin einander widersprechende Erklärungen: In der Beschwerde gab sie an, sie gehe davon aus, dass der Mann sie aufgrund ihrer bereits bestehenden Ehe zumindest nicht gleich mitgenommen habe vergleiche AS 281). In der mündlichen Verhandlung sagte sie jedoch (erstmals), der Al-Shabaab-Anführer habe ihrem Vater nicht geglaubt, dass sie bereits verheiratet sei vergleiche Sitzung 9 des Verhandlungsprotokolls).

Schließlich schilderte die Beschwerdeführerin ihr Fluchtvorbringen in wesentlichen Punkten auch auffällig oberflächlich und vage und damit nicht ausreichend substantiiert. Nähere Details zum Ablauf der Ereignisse brachte sie sowohl vor der belangten Behörde als auch in der mündlichen Verhandlung überwiegend nicht von selbst, sondern erst auf ausdrückliche Nachfrage bzw. Aufforderung der Einvernahmeleiterin und der erkennenden Richterin vor. Besonders augenscheinlich war dies in beiden Befragungen etwa betreffend jenen Moment, in dem sie angeblich vom Tod ihres Vaters erfahren habe, das wohl einschneidendste Erlebnis ihres Vorbringens. In der behördlichen Einvernahme überging sie diesen Moment in der freien Erzählung völlig. Aber auch, als sie ausdrücklich gefragt wurde, wie sie vom Mord an ihrem Vater erfahren habe, antwortete sie nur vage: „Meine Mutter und meine Geschwister waren damals in römisch 40 . Sie haben mich angerufen. Ich war zu dem Zeitpunkt in Mogadischu.“ vergleiche AS 105), ohne in irgendeiner Weise auf ihre Gedanken und Empfindungen in diesem Moment einzugehen. Auch in der mündlichen Verhandlung antwortete sie auf eine gleichlautende Frage bloß mit „Meine Mutter hat mir das erzählt, weil sie in der Früh, als sie erfahren hat, dass mein Vater getötet wurde, meine Tante angerufen hat.“ vergleiche Sitzung 14 des Verhandlungsprotokolls). Auch die Person des vermeintlichen Heiratswerbers konnte sie nur äußerst oberflächlich beschreiben. Durch dieses Aussageverhalten ergab sich insgesamt der Eindruck, dass die Beschwerdeführerin bewusst von selbst nur bestimmte Einzelheiten vorbrachte und nicht zu viel preisgeben wollte, um sich nicht in (weitere) Widersprüche zu verstricken und ihre Antworten besser abwägen zu können.

In einer Gesamtschau der dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere der aufgezeigten Widersprüche und Ungereimtheiten, der fehlenden Plausibilität vor dem Hintergrund der Länderberichte und der oberflächlichen und vagen Schilderung, konnte die Beschwerdeführerin nicht glaubhaft machen, dass sie und ihre Familie mit dem Tod bedroht worden seien, weil sie den Heiratswunsch eines Al-Shabaab-Mitglieds abgelehnt habe. Ihr Vater wurde nicht aus diesem Grund ermordet und der Rest ihrer Familie war nicht aus diesem Grund gezwungen, Somalia zu verlassen.

Der Beschwerdeführerin droht daher aus diesem Grund bei einer Rückkehr nach Somalia auch nicht die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt durch Al-Shabaab oder andere Personen.

2.2.2. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin nach wie vor über die genannten Familienangehörigen an ihrem Heimatort in Somalia verfügt, ergibt sich, wie bereits ausgeführt (siehe Punkt 2.1.), daraus, dass ihr Vorbringen zu einer Flucht ihrer Familie nach Mogadischu und später nach Kenia aus den unter Punkt 2.2.1. dargelegten Erwägungen nicht glaubhaft war. Die Beschwerdeführerin könnte daher im Fall ihrer – aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage bloß theoretischen (siehe dazu noch Punkt 3.2.3.) – Rückkehr an ihren Heimatort wieder bei ihrer Familie wohnen. Mit ihrem Vater und ihrem volljährigen Bruder verfügt sie dort auch über erwachsene männliche Verwandte, die sie vor Übergriffen schützen können.

Daraus ergibt sich entgegen dem diesbezüglichen Vorbringen in der Beschwerde, dass die Beschwerdeführerin keine alleinstehende Frau ohne soziales und familiäres Netzwerk ist, die im Falle einer Rückkehr Gefahr laufen würde, in einem IDP-Lager unterkommen zu müssen und dort geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein.

2.2.3. Darüber hinaus brachte die Beschwerdeführerin in der Beschwerde vor, dass es bei ihr im Kindesalter zu einer Genitalverstümmelung gekommen sei, an deren Folgen sie noch heute leide. Sie befürchte bei einer Rückkehr nach Somalia im Falle der Geburt eines Kindes eine Defibulation und anschließende Reinfibulation. Sie stehe dieser somalischen Praxis ablehnend gegenüber und würde sich auch weigern, dass ihre Kinder genitalverstümmelt werden, doch könnte sie sich als Frau nicht, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen, durchsetzen vergleiche AS 267).

Die Befürchtung einer zwangsweisen Reinfibulation ist vor dem Hintergrund der Länderberichte zur Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung in Somalia jedoch nicht nachvollziehbar. Aus diesen geht unter anderem hervor, dass es in der Regel der Entscheidung der betroffenen Frau obliegt, ob sie nach einer Geburt reinfibuliert wird. Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Zwar kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden, generell liegt die Entscheidung darüber aber bei diesen selbst. Eine Frau kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (siehe Punkt 1.3.12.2.2.).

Unter Berücksichtigung dieser Länderberichte ist es nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin im Fall der Rückkehr nach Somalia von einer zwangsweisen Reinfibulation nach der Geburt eines weiteren Kindes bedroht wäre. Anders als in der Beschwerde behauptet verfügt sie, wie bereits ausgeführt, auch nach wie vor über (männliche) Familienangehörige in Somalia, die sie vor einer solchen Maßnahme schützen könnten, wenn sie diese ablehnt. Dass ihre Angehörigen sie in dieser Situation zu einer Reinfibulation drängen würden, hat die Beschwerdeführerin im gesamten Verfahren nicht behauptet, dies war offenbar auch nach der Geburt ihrer ersten beiden Kinder nicht der Fall. Eine Genitalverstümmelung der Kinder der Beschwerdeführerin droht ebenfalls nicht, da diese zwei Söhne, aber keine Töchter hat.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia aktuell. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind jedenfalls durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zu A.)

3.1. Zur Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten:

3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde vergleiche VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr vergleiche VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinne des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe vergleiche VwGH vom 10. 12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, Paragraph 45,, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrunde liegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus vergleiche VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

3.1.2. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, ist das Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie und ihre Familie seien mit dem Tod bedroht worden, weil sie den Heiratswunsch eines Al-Shabaab-Mitglieds abgelehnt habe, nicht glaubhaft. Ihr Vater wurde nicht aus diesem Grund ermordet und der Rest ihrer Familie war nicht aus diesem Grund gezwungen, Somalia zu verlassen. Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Somalia kann daher nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführerin insofern im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.

3.1.3. Weiters ist die Beschwerdeführerin auch keine alleinstehende Frau ohne familiäres und soziales Netzwerk, welche im Falle einer Rückkehr in einem IDP-Lager unterkommen müsste und dort sexualisierter Gewalt ausgesetzt sein könnte. Die Beschwerdeführerin verfügt in Somalia nach wie vor über ihre Eltern, ihre Geschwister und ihre Kinder und könnte bei einer – theoretischen – Rückkehr an ihren Herkunftsort wieder bei ihrer Familie wohnen.

3.1.4. Schließlich ist die bereits beschnittene Beschwerdeführerin im Fall der Rückkehr auch nicht konkret und individuell von einer zwangsweisen Reinfibulation nach einer Deinfibulation bei der Geburt eines weiteren Kindes bedroht.

3.1.5. Da sich aus den Verfahrensergebnissen auch sonst keine konkrete gegen die Beschwerdeführerin gerichtete Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat ableiten ließ, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

3.2. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung:

3.2.1. Paragraph 8, AsylG lautet auszugsweise:

„Status des subsidiär Schutzberechtigten

Paragraph 8, (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1.           der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2.           dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, ist mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, zu verbinden.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht.

…“

3.2.2. Gemäß Artikel 2, Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Artikel 3, EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention betreffen die Abschaffung der Todesstrafe.

Unter realer Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573).

Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH vom 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).

Für die zur Prüfung der Notwendigkeit von subsidiärem Schutz erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird vergleiche EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; VfGH 13.09.2013, U370/2012; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).

3.2.3. Die Herkunftsregion der Beschwerdeführerin, Lower Shabelle, wird in den Länderberichten als Region beschrieben, die stark zwischen der somalischen Regierung bzw. AMISOM und Al-Shabaab umkämpft und besonders von Angriffen und Anschlägen betroffen ist. Das Gebiet zwischen den Städten Lower Shabelles liegt „im Fokus“ der Al-Shabaab (siehe Punkt 1.3.3.2.). Auch der EUAA-Leitfaden für Somalia vom Juni 2022 kategorisiert Lower Shabelle als eine jener Regionen, in denen der Grad willkürlicher Gewalt ein „hohes Niveau“ erreicht, sodass weniger individuelle Elemente gegeben sein müssen, um die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15, Litera c, Statusrichtlinie festzustellen vergleiche Sitzung 48). Als gefahrenerhöhendes individuelles Element ist im Fall der Beschwerdeführerin insbesondere ihr Geschlecht zu berücksichtigen.

Auch wenn sich der unmittelbare Herkunftsort der Beschwerdeführerin, römisch 40 , (derzeit) unter Kontrolle der somalischen Regierung befindet, ist die allgemeine Sicherheitslage in der Region somit derart volatil, dass eine Rückführung für die Beschwerdeführerin mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben verbunden sein könnte, weshalb ihr eine Rückkehr dorthin nicht möglich ist.

Da im angefochtenen Bescheid offenbar die Stadt Mogadischu als Herkunftsregion der Beschwerdeführerin angenommen wurde, ist in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, nach der zur Bestimmung der Heimatregion der Frage maßgebliche Bedeutung zukommt, wie stark die Bindungen des Asylwerbers an ein bestimmtes Gebiet sind. Hat er vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland nicht mehr in dem Gebiet gelebt, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist, ist der neue Aufenthaltsort als Heimatregion anzusehen, soweit der Asylwerber zu diesem Gebiet enge Bindungen entwickelt hat vergleiche VwGH 25.05.2020, Ra 2019/19/0192, mwN). Die Beschwerdeführerin ist wie festgestellt zwar in Mogadischu geboren, aber im Alter von ca. zwölf Jahren mit ihrer Familie nach römisch 40 gezogen, wo sie seither gelebt hat. Es ist daher jedenfalls von engen Bindungen an diesen Ort auszugehen. Ihre Eltern, Geschwister und Kinder leben noch heute dort. Dass sie kurz vor ihrer Ausreise aus Angst vor einer Zwangsverheiratung erneut nach Mogadischu gezogen wäre, konnte nicht festgestellt werden, da dieses Vorbringen wie dargelegt nicht glaubhaft war.

3.2.4. Gemäß Paragraph 8, Absatz 3, AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offensteht.

3.2.5. Paragraph 11, AsylG lautet:

„Innerstaatliche Fluchtalternative

Paragraph 11, (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins,) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.“

3.2.6. Für die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative sind zwei getrennte und selbständige Voraussetzungen zu prüfen. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und Schutz vor Bedingungen, die nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Das als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet muss zudem sicher und legal zu erreichen sein vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). (Analyse der Relevanz). Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen (Analyse der Zumutbarkeit).

Ob dem Asylwerber ein Aufenthalt in einem bestimmten Gebiet des Herkunftsstaates zugemutet werden kann, hängt von mehreren Faktoren ab, insbesondere von persönlichen Umständen des Betroffenen, der Sicherheit, der Achtung der Menschenrechte und der Aussichten auf wirtschaftliches Überleben. Es muss möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute des Asylwerbers führen können. Ein voraussichtlich niedrigerer Lebensstandard oder eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation sind keine ausreichenden Gründe, um ein vorgeschlagenes Gebiet als unzumutbar abzulehnen. Die Verhältnisse in dem Gebiet müssen aber ein für das betreffende Land relativ normales Leben ermöglichen vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH vom 30.01.2018 Ra 2018/18/0001).

3.2.7. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in den Städten Mogadischu und Kismayo so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein. Diese Städte sind durch internationale Flughäfen über den Luftweg auch sicher und legal erreichbar. Damit liegt die erste Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative vor.

3.2.8. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat; es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001). Dabei handelt es sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss vergleiche VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118, mwN).

Fallgegenständlich muss neben der nach wie vor prekären Sicherheitslage in Süd-/Zentralsomalia sowie der prekären Menschenrechtslage in von Al-Shabaab kontrollierten Gebieten auch die aktuell angespannte Grundversorgungslage berücksichtigt werden. Aus den Länderberichten ergibt sich, wie beweiswürdigend bereits ausgeführt, dass sich insbesondere die ohnehin schon angespannte Ernährungssituation zuletzt noch einmal drastisch verschlechtert hat, es droht unter anderem in Mogadischu und Kismayo infolge mehrerer Dürreperioden und stark gestiegener Preise eine Hungersnot.

3.2.9. Die Beschwerdeführerin kann unter diesen Umständen nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Somalias, insbesondere nach Mogadischu oder Kismayo, verwiesen werden:

Gegen eine innerstaatliche Fluchtalternative spricht nicht nur die prekäre Versorgungs- und Sicherheitssituation in weiten Teilen des Landes, sondern auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin in anderen Gebieten ihres Herkunftsstaats, insbesondere in Mogadischu oder Kismayo, keinerlei unterstützungsfähiges soziales oder familiäres Netzwerk hätte, welches ihr zumindest anfänglich bei der Sicherung ihrer Grundbedürfnisse helfen könnte. Ihre Mutter betreibt zwar ein kleines Teehaus, mit dessen Einnahmen wird jedoch bereits eine sechsköpfige Familie versorgt. Es kann daher nicht mit der nötigen Sicherheit angenommen werden, dass ihre Familie sie bei einem Leben in einer somalischen Großstadt finanziell unterstützen könnte.

Die Beschwerdeführerin ist ein junge und gesunde Frau, der jedoch über keine Schulbildung oder Berufserfahrung verfügt. Sie ist in Somalia aufgewachsen und entsprechend mit den somalischen Gepflogenheiten vertraut, sie spricht auch Somalisch als Muttersprache. Dennoch wäre sie insbesondere aufgrund der zuletzt deutlich verschlechterten Ernährungssituation, aber auch der Arbeitsmarkt- und Unterkunftssituation, im Fall einer Ansiedelung in einem anderen Landesteil jedenfalls anfänglich auf familiäre oder sonstige Unterstützung vor Ort angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse zu sichern.

Aus den aktuellen Länderberichten (siehe Punkt 1.3.11.) geht hervor, dass die sich verschlimmernde Dürre in einigen Teilen Süd- und Zentralsomalias die Gefahr einer Hungersnot, die zumindest bis September 2022 besteht, herbeigeführt hat. Besonders betroffen sind davon unter anderem auch Mogadischu und Kismayo. Die aktuelle FSNAU-Prognose bestätigt, dass diese Gefahr weiter andauert, und klassifiziert die Ernährungssituation von IDPs in Mogadischu und Kismayo für den Zeitraum Oktober-Dezember 2022 mit IPC-Stufe 4 („emergency“).

Für Rückkehrer ohne Netzwerk oder Geld gestaltet sich die Situation schwierig. Im herausfordernden Umfeld der Großstädte sind entweder ein funktionierendes Netzwerk oder aber genügend Eigenressourcen notwendig, um ein Auslangen finden zu können. Mangels eines solchen Netzwerks würde die Beschwerdeführerin Gefahr laufen, in ein IDP-Lager gehen zu müssen. In diesem Zusammenhang ergibt sich aus den Länderberichten, dass sich ein erheblicher Teil der Rückkehrer als IDPs wiederfindet und es vor allem in Mogadischu zu Vertreibung bzw. Zwangsräumungen von IDPs gekommen ist. IDPs gehören in Somalia generell zu den am meisten gefährdeten Personengruppen. Die Regierung und Regionalbehörden bieten nur unwesentlichen Schutz und Unterstützung. In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten. Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt. Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften. Auch wenn es in Mogadischu mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt als an anderen Orten Somalias, ist dennoch zu berücksichtigen, dass freie Arbeitsplätze häufig über die Verwandtschaft oder den Clan vergeben werden.

3.2.10. Auch die aktuellen UNHCR-Richtlinien vom September 2022 gehen davon aus, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mogadischu im Allgemeinen nicht verfügbar ist. Eine Ausnahme dafür besteht für alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige Männer im erwerbsfähigen Alter ohne besondere Vulnerabilitäten, die einem lokalen Mehrheitsclan wie dem Abgaal-Subclan der Hawiye angehören, wodurch sie Zugang zu (i) einer Unterkunft außerhalb einer IDP-Siedlung und ohne das Risiko einer Räumung, (ii) grundlegenden Dienstleistungen wie Trinkwasser und Kanalisation, Gesundheitsfürsorge und Bildung und (iii) einem Lebensunterhalt, der die Person nicht einem erhöhtem Risiko der willkürlichen Gewalt in Mogadischu aussetzt, oder nachgewiesener und nachhaltiger Unterstützung, die Zugang zu einem angemessenen Lebensstandard ermöglicht, haben. Diese Bedingungen sind im Fall der Beschwerdeführerin schon deshalb nicht erfüllt, weil sie eine Frau ist, sie hat aber auch keinen Zugang zu nachgewiesener und nachhaltiger Unterstützung.

Den Länderberichten ist daher in ihrer Gesamtheit zu entnehmen, dass sich eine Rückkehrerin mit dem Profil der Beschwerdeführerin in einem IDP-Lager wiederfinden und ihren Lebensunterhalt nicht sichern wird können.

In Hinblick auf die Länderberichte und unter Berücksichtigung der UNHCR-Richtlinien muss daher davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Somalia außerhalb ihres Heimatortes derzeit nicht mit der nötigen Wahrscheinlichkeit ihren notdürftigsten Lebensunterhalt erwirtschaften und dadurch für sie in kürzester Zeit eine existenzbedrohende Lage entstehen könnte, zumal derzeit auch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass sie in Somalia sonst ausreichend finanziell unterstützt werden würde. Aufgrund der dargestellten Situation betreffend die unter anderem in Mogadischu und Kismayo drohende Hungersnot und unter Berücksichtigung der fehlenden Schulbildung und Berufsausbildung der Beschwerdeführerin nicht von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in diesen Städten auszugehen.

Sohin kommt im Falle der Beschwerdeführerin eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des Paragraph 11, AsylG 2005 nicht in Frage.

3.2.11. Ausschlussgründe nach Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 liegen nicht vor, weil sie einerseits nicht hervorgekommen sind (Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer eins und 2 leg. cit.) und die Beschwerdeführerin andererseits strafgerichtlich unbescholten ist (Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG 2005).

Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides war daher gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG in Verbindung mit Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 stattzugeben.

3.2.12. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Fall des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Das Bundesverwaltungsgericht erkannte der Beschwerdeführerin mit vorliegendem Erkenntnis den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu, sodass eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von einem Jahr zu erteilen war.

3.2.13. Nachdem der Beschwerdeführerin mit dem vorliegenden Erkenntnis der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, waren auch die mit Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides nach Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG erlassene Rückkehrentscheidung sowie die weiteren damit verbundenen Aussprüche zu beheben, da diese ihre rechtliche Grundlage verloren haben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (z.B. VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0002, mwN). Auch bei Gefahrenprognosen im Sinne des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 und bei Interessenabwägungen nach Artikel 8, EMRK handelt es sich letztlich um einzelfallbezogene Beurteilungen, die im Allgemeinen nicht revisibel sind (z.B. VwGH 18.03.2016, Ra 2015/01/0255; 12.10.2016, Ra 2016/18/0039).

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2022:W265.2256100.1.00