Bundesverwaltungsgericht
21.10.2022
W288 2236696-1
W288 2236696-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HÄFELE über die Beschwerde von römisch 40 , geboren am römisch 40 , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.09.2020, Zl. römisch 40 , zu Recht:
A)
römisch eins. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte römisch eins., römisch II., und römisch IV. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
römisch II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und die Abschiebung von römisch 40 , geboren am römisch 40 , nach Afghanistan gemäß Paragraphen 52, Absatz 9, in Verbindung mit 46 FPG für unzulässig erklärt.
römisch III. Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab der Entlassung aus der Strafhaft.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang
1. Der zum damaligen Zeitpunkt bereits volljährige Beschwerdeführer (in Folge: BF) reiste zu einem unbekannten Zeitpunkt, spätestens jedoch am 14.09.2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei gab er an, den Namen römisch 40 zu tragen und am römisch 40 geboren und somit minderjährig zu sein.
2. Am 15.09.2015 wurde der BF in der Landespolizeidirektion Niederösterreich, PI Schwechat, durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi erstbefragt. Im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde die Volljährigkeit des BF festgestellt.
3. Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 07.09.2016, 015 HV 104/16m, wurden der BF wegen Paragraph 83, Absatz eins, StGB (Vergehen der Körperverletzung) und Paragraph 207, Absatz eins, StGB (Verbrechen des sexuellen Missbrauches von Unmündigen) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, davon sechs Monate bedingt (Probezeit drei Jahre), verurteilt.
4. Nach Entlassung aus der Strafhaft wurde dem BF wieder durch die Bundesbetreuung ein Quartier zur Verfügung gestellt. In weiterer Folge wurde der BF zwei Mal wegen Fehlverhaltens vom Quartiergeber verwarnt (Konsum von Alkohol und Marihuana im Quartier, Disziplinlosigkeit, Missachtung der Hausordnung und Disziplinlosigkeit, Übernachtung minderjähriger Mädchen im Quartier, Übernachtung fremder Personen im Quartier) und als Konsequenz darauf im Jänner 2017 nach Bleiburg verlegt.
5. Am 08.02.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: BFA oder belangte Behörde) unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen.
Dabei legte der BF unter anderem das Foto der Aufenthaltsbewilligungen seiner Eltern und seiner eigenen Person aus dem Iran vor: „AusweisNr. römisch 40 , Islamische Republik Iran, Innenministerium, Abt. f. afgh. Flüchtlinge, befristete Aufenthaltsbewilligung für ausl. Staatsanghörige. Name: römisch 40 Familienname: römisch 40 , Name des Vaters: römisch 40 , StA. Afghanistan, geb. römisch 40 ( römisch 40 ) wohnhaft Distrikt römisch 40 , gültig bis römisch 40 ( römisch 40 ) in römisch 40 .
Zu seiner Delinquenz befragt, gab der BF an, dass er sich geändert habe und seine Fehler bereue. Er sei nun ein ruhiger Mensch geworden und wolle keine Probleme mehr machen.
Hinsichtlich seiner Fluchtgründe gab der BF an, dass zunächst sein Bruder geflüchtet sei. Danach habe sein Vater auch ihn nach Österreich geschickt. Den Grund kenne er jedoch nicht. Die Familie des BF habe Afghanistan verlassen, als dieser noch ein neugeborenes Kind gewesen sei. Somit habe der BF sein gesamtes Leben im Iran verbracht. Auch den Grund seiner Familie für das Verlassen Afghanistans kenne er nicht. Von den Iranern sei er geschlagen und belästigt worden.
Im Anschluss daran wurde mit Verfahrensanordnung vom gleichen Tage der Name bzw. die Identität des BF auf römisch 40 , geboren römisch 40 , geändert.
6. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 02.06.2017 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 14.09.2015 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt römisch II.) und verband diese Entscheidung gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins a, FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt römisch IV.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gemäß Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 2, BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von 6 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VI.). Gegen diese Entscheidung erhob der BF keine Beschwerde. Sie erwuchs am 29.06.2017 in römisch eins. Instanz in Rechtskraft.
7. Nach Identifizierung durch die Islamische Republik Afghanistan wurde für den BF am 25.08.2017 ein Heimreisezertifikat ausgestellt.
8. Am 23.04.2018 stellte der BF einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag).
9. Daraufhin wurde der BF zu einer Einvernahme für den 16.05.2018 geladen. Der Ladung leistete er nicht Folge.
10. Am 24.05.2018 wurde dem BF im Zuge eines Rechtsberatungsgespräches die Gelegenheit geboten, volle Akteneinsicht in seinen Verwaltungsakt zu nehmen. Daraufhin wurde der BF von einem Organwalter des BFA niederschriftlich einvernommen. Im Zuge dieser Einvernahme berichtigte der BF sein Geburtsdatum auf den römisch 40 .
Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF insbesondere an, dass er im Iran vergewaltigt worden sei. Würden andere Afghanen davon erfahren, würden sie den BF umbringen. Deshalb sei er geflüchtet. Zudem führte er aus, dass er nicht in Afghanistan zur Welt gekommen sei und daher weder das Land kenne noch über soziale Kontakte verfüge. Es herrsche Krieg in Afghanistan und es würden täglich Anschläge verübt werden. Im Falle einer Rückkehr würde er dort sterben.
Zudem gab der BF im Wesentlichen an, dass er im Jahr 2017 auch in Wien von einem befreundeten Zimmerkammeraden vergewaltigt worden sei. Nach der Tat habe dieser dem BF gesagt, dass er ihn liebe und sie dies weiterhin machen sollten, da man so einen positiven Bescheid erhalten würde.
Zu seiner Sexualität befragt, gab der BF an, dass er homosexuell sei.
Dem BF wurde als Frist zur Einreichung von medizinischen Befunden oder sonstigen Dokumenten der 07.06.2018 gestellt.
11. Am 28.05.2018 brachte der BF ein medizinisches Schreiben ein. Diesem war zu entnehmen, dass dem BF Diproderm, ein entzündungshemmender Arzneistoff, in Form einer Creme verschrieben wurde. Eine Diagnose war im Schriftstück nicht enthalten.
12. Mit Bescheid vom 16.06.2018 wies das BFA den Folgeantrag vom 23.04.2018 des BF wegen entschiedener Sache zurück. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt. Dieser Bescheid ist am 18.07.2018 in römisch eins. Instanz in Rechtskraft erwachsen.
13. Am 21.06.2018 wurde der BF von der deutschen Polizei festgenommen und am 10.07.2018 in die Justizanstalt römisch 40 eingeliefert.
14. Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 16.01.2019, 036 HV 89/18i, wurde der BF wegen Paragraphen 201, Absatz eins,, 201 Absatz 2, 1. Fall StGB (Verbrechen der Vergewaltigung) Paragraphen 142, Absatz eins,, 143 Absatz eins, 2. Fall StGB (Verbrechen des schweren Raubes), Paragraphen 127,, 128 Absatz eins, Ziffer eins, StGB (Vergehen des schweren Diebstahls) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht mit Rechtsmittelentscheidung vom 30.08.2019 die verhängte Freiheitsstrafe auf acht Jahre erhöht.
15. Seit 14.01.2020 befindet sich der BF zum Strafvollzug in der Justizanstalt römisch 40 und wurde am 20.04.2022 in die Justizanstalt römisch 40 überstellt. Als Termin für seine Entlassung aus der Strafhaft ist derzeit der 23.12.2026 berechnet.
16. Mit Schriftsatz vom 21.08.2020 wurde dem BF eine Mitteilung zum Ergebnis der Beweisaufnahme sowie die aktuellen Länderfeststellungen zu Afghanistan übermittelt und ihm Parteiengehör mit einer Frist von 14 Tagen eingeräumt. Der BF wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass es beabsichtigt ist, das eingangs angeführte rechtskräftig befristete Einreiseverbot der aus der neuerlichen Verurteilung resultierenden Gefährdungsprognose anzupassen. Mit dem Schreiben wurde dem BF ein Fragebogen übermittelt.
Der BF gab mit Schreiben vom 01.09.2020 insbesondere an, dass er im Verfahren nicht vertreten sei. Außerdem habe er Schwindelanfälle und Kreislaubprobleme. Diesbezüglich habe er auch medizinische Befunde vorgelegt. Er habe eine Schwester, die mit Ihrem Mann und ihrem Sohn in römisch 40 lebe. Der Rest seiner Familie lebe im Iran. Der BF habe keine Aufenthaltsberechtigung für einen anderen europäischen Staat und lebe von der Caritas bzw. vom Geld seiner Schwester. Über weitere soziale Bindungen verfüge er in Österreich nicht. Er spreche Deutsch und habe im Iran als KFZ-Mechaniker und als Maurer gearbeitet. Während seiner Haft wolle er die Lehre zum KFZ-Mechaniker beginnen, um später in Österreich arbeiten zu können.
Auf die Frage, ob es Strafausschließungs- oder Rechtfertigungsgründe gäbe, die das Verhalten des BF und die damit verbundene Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in irgendeiner Form rechtfertigen könne, antwortete der BF mit „Nein“. Er sei nach Österreich geflüchtet, um sein Leben zu retten.
In der Strafhaft nehme er an einer Psychotherapie, Gruppentherapie und Drogengruppe teil. Nach seiner Haft wolle er bei seiner Schwester wohnen.
Befragt zu Gründen, die gegen eine Schubhaft bzw. Abschiebung sprechen, gab der BF an, dass er in Afghanistan von den Taliban verfolgt werde. Ihm drohe die Todesstrafe, weshalb er um sein Leben fürchte. Zudem herrsche in Afghanistan Krieg und er habe keine Angehörigen in seinem Herkunftsstaat. Ferner sei er homosexuell und dies würde in Afghanistan mit dem Tode bestraft werden.
18. Mit Bescheid vom 17.09.2020 erteilte das BFA dem BF gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt römisch eins.), erließ gegen den BF gemäß Paragraph 10, Absatz 2, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz eins, Ziffer eins, FPG (Spruchpunkt römisch II.), stellte gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß Paragraph 46, FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt römisch III.) und erließ gegen den BF gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer 5, FPG ein unbefristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt römisch IV.). Gemäß Paragraph 55, Absatz 4, FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt römisch fünf.) und zuletzt einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 18, Absatz 2, Ziffer eins, BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt römisch VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Von der Frist für die freiwillige Ausreise ist gemäß Paragraph 55, Absatz , FPG abzugehen, wenn die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG aberkannt wird. Mit der Begründung, dass die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich sei, wurde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung aberkannt. Die Erlassung des unbefristeten Einreiseverbotes begründete das BFA mit Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer 5, FPG, da der BF von einem Gericht zu einer achtjährigen unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden sei.
Dieser Bescheid wurde dem BF am 22.09.2020 über die Anstaltsleitung zugestellt. Gleichzeitig wurde dem BF mit Verfahrensanordnung eine Rechtsberaterin zur Verfügung gestellt.
19. Gegen diesen Bescheid erhob der BF durch seine damalige Vertretung mit Schreiben vom 30.09.2020 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
Darin begehrt der BF zunächst die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung. Angeführt wurde die Verletzung von Verfahrensvorschriften (unzureichende Länderfeststellungen), unrichtige Feststellungen aufgrund eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens und einer mangelhaften Beweiswürdigung (Verneinen der Homosexualität bloß mit Verweis auf dessen Straftat, Verkennen der derzeit schlechten Lage in Afghanistan besonders für einen Rückkehrer wie den BF), unrichtige rechtliche Beurteilungen sowohl bezüglich der Rückkehrentscheidung als auch der Abschiebung, des Unterbleibens einer mündlichen Einvernahme des BF, des Einreiseverbotes und der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde.
20. Mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.11.2020 wurde der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz , BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Hinsichtlich der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gab das Bundesverwaltungsgericht an, dass sich nach Durchsicht des vorgelegten Verwaltungsaktes ergebe, dass zur Frage der Homosexualität des BF tatsächlich keine Ermittlungen durchgeführt aber dazu Feststellungen getroffen worden seien, denen es an Begründung mangeln würde. Bei einer Grobprüfung dieses Vorbringens sei prima facie davon auszugehen, dass für den BF schon aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage bzw. sozialen Lage ein Gefährdungsrisiko bestehen könne. Daher sei der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 5, BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
21. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.01.2022 wurde das Verfahren der Gerichtsabteilung W288 zur Entscheidung zugewiesen.
22. Am 03.08.2022 teilte die im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung den BF noch vertretende Rechtsberatung telefonisch mit, dass keine Vollmacht (mehr) vorhanden sei.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der BF führt den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 in römisch 40 , ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Usbeken, bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam, ist ledig und kinderlos. Seine Familie ist mit ihm als neugeborenes Kind in den Iran geflüchtet, wo diese immer noch lebt. Der BF hat im Iran acht Jahre lang die Schule besucht und anschließend als Hilfsarbeiter bzw. Betonarbeiter gearbeitet.
Der BF verließ den Iran und reiste nach Europa, wo er in Österreich erstmals am 14.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am 23.04.2018 stellte der BF einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag). Beide Anträge wurden in der römisch eins. Instanz rechtskräftig ab- bzw. zurückgewiesen.
Gegenständliche Beschwerde richtet sich gegen den Bescheid vom 17.09.2020, mit welchem das BFA keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilte (Spruchpunkt römisch eins.), gegen den BF eine Rückkehrentscheidung erließ (Spruchpunkt römisch II.), feststellte, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt römisch III.), gegen den BF ein unbefristetes Einreiseverbot erließ (Spruchpunkt römisch IV.), keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt römisch fünf.) und zuletzt einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannte (Spruchpunkt römisch VI.). Mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.11.2020 wurde der Beschwerde bereits die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
Der BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, er ist gesund.
1.2. Zum (Privat-)Leben des BF in Österreich:
Der BF verfügt in Österreich über einen familiären Anknüpfungspunkt in Form seiner Schwester, die mit ihrer Familie in römisch 40 lebt und ihn finanziell unterstützt. Anhaltspunkte für die Annahme einer Integration in Österreich in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht sind, bis auf eine Teilnahmebestätigung eines Deutschkurses für Anfänger im Ausmaß von 16 Trainingsstunden, nicht hervorgekommen.
1.3. Im vorliegenden Fall weist der BF zwei rechtskräftige Verurteilung von einem inländischen Strafgericht auf.
Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 07.09.2016, 015 HV 104/16m, wurde der BF wegen Paragraph 83, Absatz eins, StGB (Vergehen der Körperverletzung) und Paragraph 207, Absatz eins, StGB (Verbrechen des sexuellen Missbrauches von Unmündigen) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, davon sechs Monate bedingt (Probezeit drei Jahre), verurteilt.
Der BF wurde schuldig gesprochen, er habe neben dem Vergehen der Körperverletzung das Verbrechen des sexuellen Missbrauches von Unmündigen begangen, indem er in drei Angriffen eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person vorgenommen habe. Hierbei sei er dieser im Schwimmbecken drei Mal mit dem Finger über der Bikinihose vom Gesäß bis zum Scheidenbereich gefahren.
Mildernd wurde die Unbescholtenheit und das Geständnis, erschwerend das Zusammentreffen eines Verbrechens mit einem Vergehen und die Tatwiederholung beim Verbrechen gewertet.
Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 16.01.2019, 036 HV 89/18i, wurde der BF wegen Paragraphen 201, Absatz eins,, 201 Absatz 2, 1. Fall StGB (Verbrechen der Vergewaltigung) Paragraphen 142, Absatz eins,, 143 Absatz eins, 2. Fall StGB (Verbrechen des schweren Raubs), Paragraphen 127,, 128 Absatz eins, Ziffer eins, StGB (Vergehen des schweren Diebstahls) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht mit Rechtsmittelentscheidung vom 30.08.2019 die verhängte Freiheitsstrafe auf acht Jahre erhöht.
Neben dem Vergehen des schweren Diebstahls habe der BF das Verbrechen des schweren Raubes begangen, indem er in der Wohnung des Opfers mit Gewalt sowie durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben (Paragraph 89, StGB) fremde bewegliche Sachen, nämlich ein Drogenersatzpräparat, ein Mobiltelefon der Marke „Huawei Nova“ sowie ein Messer mit dem Vorsatz weggenommen bzw. abgenötigt habe, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er in dessen Wohnung dessen Drogenersatztabletten und – als dieser ihn mit seinem Mobiltelefon fotografiert habe – ein Messer des Genannten an sich genommen habe, ihm das Messer gegen den Hals gedrückt habe, das Mobiltelefon aus der Hand gerissen habe, Messerhiebe gegen das Opfer ausgeführt habe und mit der Beute geflüchtet sei, wobei er den Raub unter Verwendung einer Waffe, nämlich eines Messers begangen habe.
Hinsichtlich des Verbrechens der Vergewaltigung habe der BF sein Opfer unter einem Vorwand in ein Waldstück gelockt, habe sie unter der Bekundung sie sei jetzt seine Frau an den Schultern gepackt, habe sodann die Widerstrebende gegen einen Baum gezerrt und ihre Hände fixiert. Anschließend habe er sie entkleidet, auf den Boden geworfen und sei von hinten mit seinem Penis vaginal in sie eingedrungen. Zudem habe er ihr im Rahmen des Vorfalls Schläge gegen das Schulterblatt versetzt und habe ihr unter Vorzeigen eines ca. 75 cm langen Holzstückes von ca. 6 cm Durchmesser sinngemäß erklärt, dass er sie umbringen bzw. erschlagen werden, sollte sie sich nicht fügen.
Mildernd wurde vom Erstgericht das teilweise abgelegte Geständnis, die teilweise Schadensgutmachung (Ausfolgung des Mobiltelefons) und das Alter unter 21 Jahren, erschwerend das Zusammentreffen von zwei Verbrechen und einem Vergehen, die einschlägige Vorstrafe, das bereits verspürte Haftübel und die Deliktsqualifikation gewertet.
Seit 14.01.2020 befindet sich der BF zum Strafvollzug in der Justizanstalt römisch 40 und wurde am 20.04.2022 in die Justizanstalt römisch 40 überstellt. Als Termin für seine Entlassung aus der Strafhaft ist derzeit der 23.12.2026 berechnet.
1.4. Zur aktuellen Situation in Afghanistan (Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation vom 09.08.2022, Schreibfehler teilweise korrigiert):
COVID-19
Mit Stand 29.07.2022 wurden 185.272 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO o.D.). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.01.2022; vergleiche UNOCHA 18.02.2021, RFE/RL 23.02.2021a).
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen Patienten mit Verdacht auf COVID-19 vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 18.03.2021. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vergleiche WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vergleiche DW 17.06.2021).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vergleiche TG 02.05.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird (REU 26.01.2021; vergleiche ABC News 27.01.2021).
Mit Stand 04.04.2022 wurden insgesamt 5.872.684 Impfdosen verabreicht (WHO o. D.). Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 03.06.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.06.2021; vergleiche UNOCHA 03.06.2021, HRW 13.01.2022). Von den 40 COVID-19-Krankenhäusern in ganz Afghanistan bieten mit Stand März 2022 21 Krankenhäuser eine COVID-19-Behandlung an, 19 weitere wurden nach der Machtübernahme der Taliban wegen fehlender Finanzierung geschlossen (WHO 21.03.2022). Die Mitarbeiter des Afghan-Japan-Hospital gingen mit 17.11.2021 in einen Streik, da diese seit Monaten nicht bezahlt wurden (TN 17.11.2021). Im Februar 2022 setzte das Krankenhaus seine Arbeit fort (IOM 12.04.2022).
Die WHO übernimmt derzeit die vollen Betriebskosten / unterstützt die vollen Betriebskosten der folgenden COVID-19-Krankenhäuser/Gesundheitseinrichtungen ab Februar 2022 für 5-12 Monate (IOM 12.04.2022):
Übernahme der vollen Betriebskosten
Nangahar COVID-19 mit 50 Betten - Healthnet TPO
Ghazni COVID-19 Krankenhaus mit 25 Betten - AADA
Uruzgan COVID-19-Krankenhaus mit 20 Betten - MOVE
Afghanisches Japan COVID-19 Krankenhaus mit 100 Betten - Healthnet TPO
Paktia COVID-19 Krankenhaus mit 50 Betten - AADA
Unterstützung der vollen Betriebskosten
Kunar COVID-19 Krankenhaus mit 10 Betten - mit Healthnet TPO
Zabul COVID-19 Krankenhaus mit 20 Betten - mit AADA
Nimroz COVID-19-Krankenhaus mit 20 Betten - mit CHA
Indonesien COVID-19-Krankenhaus in Kabul mit 70 Betten - mit JACK, ab 1. März
Mit Stand April 2022 gibt es in Afghanistan keine Restriktionen im Hinblick auf COVID-19 (IOM 12.04.2022).
Politische Lage
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.01.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vergleiche NPR 06.05.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a).
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.04.2021; vergleiche RFE/RL 19.05.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO- Truppen - bis zum 11.09.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.05.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“ (WH 14.04.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 01.05.2021). Am 31.08.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.08.2021).
Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.08.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.08.2021; vergleiche JS 07.09.2021). Als letzte Provinz steht seit dem 05.09.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (AA 21.10.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.08.2021; vergleiche AJ 23.08.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.08.2021).
Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 07.09., 21.09. und 04.10.2021 - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung (AAN 07.10.2021). Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine „inklusive“ Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine Taliban-Regierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er-Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 07.09.2021; vergleiche BBC 08.09.2021a, AA 21.10.2021). [...]
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für Laster und Tugend“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 07.09.2021; vergleiche BBC 08.09.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 06.08.2021), der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.08.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 08.09.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 07.09.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.08.2021; vergleiche ICG 24.08.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine sogenannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.08.2021). Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt (AA 21.10.2021.
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75 % (ICG 24.08.2021) bis 80 % des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 08.09.2021a). Diese Finanzierungsquellen werden zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.08.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein Islamisches Emirat ausrufen sollten oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.08.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.08.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 08.09.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 08.09.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 01.09.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 08.09.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 08.09.2021).
Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigungen einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar. Das Regierungshandeln zeigte sich bisher uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 21.10.2021).
Im Juni 2022 berichtet der UN-Sicherheitsrat, dass sich die Taliban mit einer wachsenden Zahl von Problemen bei der Staatsführung und Sicherheitsproblemen konfrontiert sehen, unter anderem mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bewegung selbst (UNGASC 15.06.2022; vergleiche USDOS 12.04.2022), dem Auftauchen weiterer bewaffneter Oppositionsgruppen, erneuten Angriffen des Islamischen Staats und Grenzspannungen mit mehreren Nachbarländern (UNGASC 15.06.2022).
Die Taliban haben die Umstrukturierung staatlicher Einrichtungen auch 2022 fortgesetzt und ehemaliges Regierungspersonal durch Taliban-Mitglieder ersetzt (UNGASC 15.06.2022; vergleiche USDOS 12.04.2022), wobei sie häufig versuchten, verschiedenen Gruppen entgegenzukommen und durch diese Ernennungen interne Spannungen zu lösen. Im Januar verkleinerten die Behörden die frühere unabhängige Kommission für Verwaltungsreform und öffentlichen Dienst und legten sie mit dem Büro für Verwaltungsangelegenheiten zusammen. Am 07.04.2022 kündigte das Justizministerium der Taliban die Abschaffung der Abteilung für politische Parteien an und schloss damit die Registrierung von politischen Parteien aus. Am 04.05.2022 wurden die Unabhängige Menschenrechtskommission, die Kommission für die Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Sekretariate von Ober- und Unterhaus des Parlaments aufgelöst. Trotz der Forderungen der Afghanen, der Länder in der Region und der internationalen Gemeinschaft nach größerer ethnischer, politischer und geografischer Vielfalt sowie der Einbeziehung von Frauen in die Verwaltungsstrukturen der Taliban blieben das 25-köpfige Kabinett (bestehend aus 21 Paschtunen, drei Tadschiken und einem Usbeken) und die 34 durch die Taliban ernannten Provinzgouverneure (27 Paschtunen, vier Tadschiken und je ein Usbeke, Turkmene und Paschayi) alle männlich und den Taliban verbunden. Viele der Kabinettsmitglieder haben einen religiösen Hintergrund und begrenzte Verwaltungserfahrung und stehen auf der Sanktionsliste gemäß der Sicherheitsratsresolution 1988 (2011) (UNGASC 15.06.2022).
Am 29.04.2022, zum Eid al-Fitr, dem Ende des heiligen Monats Ramadan, gab der Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada eine Erklärung ab, in der er das Engagement der Taliban-Behörden für „alle Scharia-Rechte von Männern und Frauen“ darlegte und insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung, die Sicherheit, die Bemühungen um einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Rückkehr von Afghanen aus dem Ausland und die Bemühungen um die nationale Einheit hervorhob. Am 11.05.2022 leitete der stellvertretende Ministerpräsident Kabir die erste Sitzung der Kommission für Rückkehr und Kommunikation mit ehemaligen afghanischen Beamten und politischen Persönlichkeiten, die daraufhin ihr Mandat annahm und die Absicht ankündigte, eine Loya Jirga einzuberufen. Am 18.05.2022 trafen sich Vertreter der bislang zersplitterten politischen Opposition aus verschiedenen ethnischen Gruppen in der Türkei unter dem Dach des Hohen Rates des Nationalen Widerstands zur Rettung Afghanistans und forderten die Taliban auf, sich zu Verhandlungen bereit zu erklären (UNGASC 15.06.2022; vergleiche BAMF 01.07.2022.
Exilpolitische Aktivitäten
Am 28.09.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an (AA 21.10.2021; vergleiche ANI 29.09.2021). Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv (AA 21.10.2021).
Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen (AA 21.10.2021; vergleiche France 24 17.08.2021). Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (AA 21.10.2021).
Erreichbarkeit
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen (TD 5.12.2017). Seit dem Fall der ersten Talibanregierung wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die [beinahe] Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet (TD 26.1.2018). Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.) (STDOK 4.2018; vergleiche TD 5.12.2017), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (STDOK 4.2018; vergleiche USAID o.D.a, WB 17.1.2020).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Treibstoffpreise um 20 % gestiegen. Zuvor kostete ein Liter Benzin 64 AFN, jetzt sind es 76 AFN (RA KBL 8.11.2021).
Jährlich sterben Hunderte von Menschen bei Verkehrsunfällen auf Straßen im ganzen Land - vor allem durch unbefestigte Straßen, überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit (GIZ 7.2019; vergleiche AT 23.11.2019, PAJ 12.12.2019, ABC News 1.10.2020).
Die Taliban halten weiterhin Fahrzeuge an und durchsuchen sie. Am 26.12.2021 erließ das Ministerium für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters eine Richtlinie, die es Frauen nur in Begleitung eines engen männlichen Verwandten erlaubt, weiter als 72 Kilometer zu reisen. Der Erlass riet Taxifahrern außerdem, nur Frauen zu befördern, die einen islamischen Hidschab oder ein Kopftuch tragen (IOM 12.4.2022).
Transportwesen
Öffentliche Verkehrsmittel und Busse sind 24 Stunden am Tag verfügbar (IOM 12.4.2022). Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gibt einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans (IE o.D.). Es existierten einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali (vertrauliche Quelle 14.5.2018; vergleiche IWPR 26.3.2018).
Flugverbindungen
Die vier internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Herat und Kandarhar sind für internationale Flüge geöffnet (RA KBL 8.11.2021; vergleiche F 24 o.D., IOM 12.4.2022) auch wenn die Anzahl der Flüge seit der Machtübernahme der Taliban abgenommen hat. Die meisten internationalen Flüge werden über die Flughäfen Kabul und Mazar abgewickelt (RA KBL 8.11.2021).
Zugverbindungen
In Afghanistan existieren insgesamt drei Zugverbindungen: Eine Linie verläuft entlang der nördlichen Grenze zu Usbekistan (von Hairatan nach Mazar-e Sharif, Anmerkung und zwei kurze Strecken verbinden Serhetabat in Turkmenistan mit Torghundi (in der Provinz Herat, Anmerkung und Aqina (in der Provinz Faryab, Anmerkung in Afghanistan (RoA 25.2.2018; vergleiche RoA o.D., RFE/RL 29.11.2016, vertrauliche Quelle 16.5.2018). Alle drei Zugverbindungen sind für den Transport von Fracht gedacht, wobei sie prinzipiell auch Passagiere transportieren könnten (vertrauliche Quelle 16.5.2018), es jedoch in Afghanistan nach wie vor keine Eisenbahn- oder Schienenverbindung für den Personentransport gibt. Es gibt Pläne, dies zu ändern, aber es wird nicht erwartet, dass dies in naher Zukunft geschieht (RA KBL 20.11.2020). Die afghanischen Machthaber lehnten lange Zeit den Bau von Eisenbahnen in Afghanistan ab, aus Angst, ausländische Mächte könnten ihre Unabhängigkeit gefährden (RoA o.D.).
Grenzübergänge
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 1.9.2021; vergleiche NDTV 14.9.2021) oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen (DZ 1.9.2021). Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet (AnA 14.9.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 1.9.2021).
Anfang November 2021 wurde der Chaman-Spin Boldak Grenzübergang zwischen Pakistan und Afghanistan für Zivilisten und den Handel wieder geöffnet (ANI 2.11.2021; vergleiche Dawn 1.11.2021). Mit Anfang Dezember sind die Landgrenzen Afghanistans zu Pakistan und Iran fast ausschließlich für Personen mit den erforderlichen Pässen und Visa geöffnet, wobei eine kleine Anzahl von medizinischen Fällen ausnahmsweise ohne Dokumente nach Pakistan einreisen darf. Die Landgrenzen zu Tadschikistan und Usbekistan sind für Afghanen vollständig geschlossen (UNHCR 1.12.2021; vergleiche RFE/RL 1.12.2021). Während die offiziellen Grenzen für die große Mehrheit der Afghanen geschlossen bleiben, berichtet UNHCR, dass viele Afghanen über inoffizielle Kanäle in die Nachbarländer einreisen. Viele, die in den Iran einreisen, berichten, dass sie die Hilfe von Schmugglern in Anspruch genommen haben, um Afghanistan zu verlassen. Dabei waren sie Schutzrisiken wie Erpressung, Schläge und andere Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Mädchen ausgesetzt (UNHCR 1.12.2021).
Allgemeine Menschenrechtslage
Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen (AA 21.10.2021). Die gewählte Regierung Afghanistans, die durch einen von den Taliban geführten Aufstand sowie durch Gewalt, Korruption und mangelhafte Wahlverfahren unterminiert wurde, bot vor ihrem Zusammenbruch im Jahr 2021 dennoch ein breites Spektrum an individuellen Rechten. Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban den politischen Raum des Landes geschlossen; Opposition gegen ihre Herrschaft wird nicht geduldet, während Frauen und Minderheitengruppen durch das neue Regime in ihren Rechten beschnitten wurden (FH 28.02.2022). Unter der Taliban-Herrschaft werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Versammlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt, und jede Form von Dissens wird mit Verschwindenlassen, willkürlichen Verhaftungen und unrechtmäßiger Inhaftierung bestraft (AI 21.03.2022).
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.08.2021; vergleiche AA 21.10.2021, USDOS 12.04.2022), wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen (AA 21.10.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (HRW 30.11.2021; vergleiche USDOS 12.04.2022). Ebenso deuteten seit August zahlreiche Berichte darauf hin, dass die Taliban gewaltsam in Wohnungen und Büros eindrangen, um nach politischen Gegnern und nach Personen zu suchen, die die NATO- und US-Missionen unterstützt hatten (USDOS 12.04.2022). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, dass sie Repressalien fürchten (BBC 20.08.2021), und es gibt Berichte über das gewaltsame Verschwindenlassen von Frauen, willkürliche Verhaftungen von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft durch die Taliban (AI 21.03.2022) sowie über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen und Ähnliches durchführen (AA 21.10.2021). Im Juni 2022 wurde berichtet, dass einige der Männer, die in der britischen Botschaft in Afghanistan arbeiteten und im Land geblieben waren, geschlagen und gefoltert wurden (BBC 16.07.2022, AN 16.07.2022).
UNAMA, AIHRC und andere Beobachter berichteten, dass es sowohl unter der früheren Regierung als auch unter den Taliban im ganzen Land zu willkürlichen und lang andauernden Inhaftierungen kam, einschließlich von Personen, die ohne richterliche Genehmigung festgehalten wurden. Die ehemaligen Regierungsbehörden informierten die Inhaftierten häufig nicht über die gegen sie erhobenen Anschuldigungen (USDOS 12.04.2022).
Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.07.2021 getötet (AI 9.2021; vergleiche WP 28.07.2021), ein Folksänger von den Taliban erschossen (AI 9.2021; vergleiche RFE/RL 29.08.2021) und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen (AI 9.2021; vergleiche BBC 05.09.2021).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 02.09.2021; vergleiche REU 03.09.2021).
IDPs und Flüchtlinge
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten (AA 16.07.2021).
Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führte vor der Machtübernahme durch die Taliban zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlte weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft (USDOS 12.04.2022).
IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen (USDOS 12.04.2022). Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrern war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Über-Weisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (Halle 12.2020).
Die vier Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch, und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren (AI 30.03.2021). Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrer bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging (Halle 12.2020).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban seit Anfang 2021
736.889 Menschen sind seit Anfang 2021 [Anmerkung: bis 13.03.2022] in Afghanistan intern vertrieben worden, 72.487 bislang im Jahr 2022 (UNHCR 15.03.2022). Im gesamten Jahr 2021 waren es 682,031 Menschen (AI 29.03.2022). Im Jahr 2020 hatte UNOCHA 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und von Naturkatastrophen bestätigt (UNOCHA 27.12.2020; vergleiche NRC 11.2020, AI 30.03.2021). Bis Oktober 2021 stieg die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen auf mehr als 3,5 Millionen Menschen (AA 21.10.2021). Ihre genaue Zahl lässt sich jedoch nicht bestimmen (STDOK 10.2020).
Die Unsicherheit ist nicht der einzige Faktor, der die Menschen zwingt, ihre Häuser zu verlassen (UNHCR 15.10.2021; vergleiche NH 30.08.2021, UNGASC 28.01.2022). Die Wirtschafts- und Liquiditätskrise seit der Machtübernahme durch die Taliban, die geringeren landwirtschaftlichen Erträge aufgrund der Dürre, die unzuverlässige Stromversorgung und die sich verschlechternde Infrastruktur sowie die anhaltende COVID-19-Pandemie haben die humanitäre Krise verschärft (USDOS 12.04.2022). Darüber hinaus erlebte Afghanistan 2021 die zweite schwere Dürre innerhalb von vier Jahren, die die Nahrungsmittelproduktion stark beeinträchtigte (UNHCR 15.10.2021; vergleiche NH 30.08.2021, UNGASC 28.01.2022).
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 01.09.2021) oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen (DZ 01.09.2021). Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen (IOM 19.08.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Taliban verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 01.09.2021).
Nach dem Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes gibt es erste Anzeichen für eine Rückkehr Binnenvertriebener in ihre Heimatprovinzen (AA 21.10.2021; vergleiche UNHCR 27.02.2022). Die Taliban haben internationale Organisationen der humanitären Hilfe um Unterstützung bei der Rückführung Binnenvertriebener gebeten, die selbst in der Regel nicht über ausreichende Mittel zur Rückkehr verfügen (AA 21.10.2021).
Aufgrund des Winters gingen viele Binnenflüchtlinge nach Kabul, wo sie auf Hilfe hofften (UNHCR 15.10.2021). Das Ministerium für Flüchtlingsangelegenheiten der Übergangsregierung der Taliban hat zusammen mit einer Reihe von Hilfsorganisationen mit der Umsiedlung von Tausenden von Binnenvertriebenen im Oktober begonnen, die zumeist aus Behelfsunterkünften in Kabul in ihre Heimatprovinzen umgesiedelt wurden (römisch XI 05.10.2021; vergleiche KP 03.10.2021).
Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan
Iran
Anmerkung, Das Unterkapitel "Iran" des Kapitels "Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan" entspricht inhaltlich dem Kapitel "Flüchtlinge" der Version 4 der Länderinformation zu Iran (Veröffentlichungsdatum 22.12.2021).
Iran hat die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet und übernimmt seit mehr als drei Jahrzehnten Verantwortung für afghanische und irakische Flüchtlinge im Land (AA 28.1.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Die Behörden arbeiten mit dem Büro von UNHCR zusammen, um afghanischen und irakischen Flüchtlingen Hilfe bereitzustellen (USDOS 30.3.2021; vergleiche UNHCR 30.9.2020), vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (UNHCR 2020). Die iranische Regierung ist über das Amt für Ausländer- und Einwanderungsangelegenheiten (BAFIA) für die Registrierung von Asylwerbern und Flüchtlingen sowie für die Feststellung des Flüchtlingsstatus in Iran gemäß den iranischen Rechtsvorschriften zuständig. UNHCR in Iran nimmt keine Asylanträge an und entscheidet nicht über Asylanträge (UNHCR 26.9.2021).
Von den Flüchtlingen stellen die afghanischen weiterhin die größte Gruppe, gefolgt von irakischen. Insgesamt ist Iran eines der größten Aufnahmeländer für Flüchtlinge weltweit (GIZ 12.2020c). In Iran halten sich ca. 3-4,5 Millionen Afghanen auf, wobei ca. 300.000 seit Machtergreifung der Taliban Anfang August 2021 nach Iran geflohen sind (ÖB Teheran 11.2021). Einem eingeschränkten Kreis von 800.000 Amayesh-Karteninhaberinnen und -inhabern, die Zugang zu Gesundheitsdiensten und zum Bildungssystem haben, stehen laut UNHCR 2,6 Mio. nicht registrierte Flüchtlinge und 586.000 Afghan*innen mit Pass und Visum gegenüber (AA 28.1.2022). Internationale Organisationen wie UNHCR und NGOs bestätigen, dass Iran afghanische Flüchtlinge einerseits in den vergangenen Jahren sehr großzügig aufgenommen und behandelt, andererseits aber sehr wenig internationale Unterstützung erhalten hat (ÖB Teheran 11.2021). Vor dem Hintergrund der faktischen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan rechnet die iranische Regierung mit einer Massenfluchtbewegung aus dem Nachbarland und betont mit Blick auf die Wirtschaftslage und die anhaltende COVID-19-Pandemie, dass die Aufnahmekapazität erreicht sei. Deshalb fordert Iran substanzielle finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. UNHCR beobachtet ein erhöhtes Fluchtaufkommen, insb. über illegale Schleuserrouten (AA 28.1.2022).
Mit der Durchführung des Amayesh-Programms für Flüchtlinge in Iran wurde in der Zeit von 2001 bis 2003 begonnen. Im Jahr 2001 begann man mit den Vorregistrierungen und im Jahr 2003 wurde die erste Amayesh-Runde durchgeführt. Die Personen, die durch das Programm registriert worden sind, bekamen sogenannte Amayesh-Karten ausgestellt, die unter anderem das Recht auf medizinische Versorgung und Ausbildung einschließen. Die Amayesh-Karten haben eine begrenzte Gültigkeit und um ihren legalen Status in Iran nicht zu verlieren, müssen sich Amayesh-registrierte Personen bei jeder Registrierungsrunde, die in Iran durchgeführt wird, erneut registrieren. Der Prozess zur erneuten Registrierung ist immer noch mit Schwierigkeiten und unterschiedlichen Ausgaben verbunden, die in den unterschiedlichen Provinzen variieren können. Normalerweise geschieht die Erneuerung jedes Jahr, die Kosten liegen bei 200-300 US-Dollar für eine Familie mit fünf Personen (hierin sind die Kosten für die Arbeitserlaubnis für eine Person sowie die Provinzsteuer inkludiert). Die iranischen Behörden geben im Internet bekannt, wenn es Zeit für eine neue Amayesh-Runde ist. Sie informieren auch über andere Regeln online und erwarten, dass sich die Betroffenen auf dem Laufenden halten, was nicht immer der Fall ist. Hilfsorganisationen richten sich mit extra Information an die am meisten schutzbedürftigen Gruppen, damit sie nicht verpassen, sich erneut für eine neue Amayesh-Karte oder den Schulbesuch der Kinder zu registrieren (Lifos 10.4.2018).
Die Afghanen, die vor 2001 nach Iran gekommen sind, werden - vorausgesetzt, dass sie sich bei sämtlichen Amayesh-Registrierungen registriert haben - von den iranischen Behörden als Flüchtlinge betrachtet. Das Amayesh-System ist aber kein offenes System, was bedeutet, dass neu eingereiste Afghanen kein Asyl in Iran beantragen können. Seit 2001 werden im Prinzip keine Neuregistrierungen mehr vorgenommen. Zu den Ausnahmen gehören wenige, besonders schutzbedürftige Fälle. Kinder von Amayesh-registrierten Eltern werden registriert (Lifos 10.4.2018). Die Behörden erlauben aber auch unregistrierten afghanischen Kindern den Schulbesuch (HRW 14.5.2019; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Wenn eine Person ihren Amayesh-Status infolge einer verpassten Registrierung verliert, gibt es keine Möglichkeit zur erneuten Registrierung. Amayesh-Registrierte verlieren ihren Status, wenn sie Iran verlassen, weil der Amayesh-Status keine Ausreise erlaubt (Lifos 10.4.2018).
Amayesh-registrierte Afghanen haben das Recht, eine Arbeitsgenehmigung zu beantragen (Lifos 10.4.2018; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Männer im Alter von 18 bis 65 sind dazu verpflichtet, dieses in Zusammenhang mit der Amayesh-Registrierung zu tun. Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis in Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen - oft zu Hause. Der Arbeitsmarkt für Afghanen in Iran ist reguliert und Afghanen haben das Recht, in 87 verschiedenen Berufen zu arbeiten. Ein Problem für Amayesh-registrierte, ausgebildete Personen ist, dass die Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt bedeuten können, dass sie nicht in dem Bereich arbeiten können, für den sie ausgebildet sind. Was den Zugang der afghanischen Bevölkerung zum Arbeitsmarkt sowie die Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen angeht, haben die iranischen Behörden in den letzten Jahren frühere Restriktionen verringert. In einzelnen Fällen, wo eine Amayesh-registrierte Person eine gewisse Berufskompetenz besitzt, die nicht unter die 87 erlaubten Berufe fällt, kann eine Ausnahme gestattet werden (Lifos 10.4.2018). Gemäß einem anderen Bericht gehen die meisten Flüchtlinge jedoch eher minderwertigen und schlecht bezahlten Arbeiten v.a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach, die offiziell versicherungspflichtig sind, während eine Beschäftigung in hochqualifizierten Berufen nicht erlaubt ist (AA 28.1.2022).
Als Teil der Bestrebungen der iranischen Behörden, Kontrolle über die sich illegal im Land aufhaltenden Afghanen zu bekommen, wurde 2017 ein Programm zur Identifikation und Registrierung afghanischer Staatsbürger durchgeführt. Dieser sogenannte 'headcount' richtete sich zu Beginn nur auf Afghanen, wurde aber später auch auf irakische Staatsbürger im Land ausgeweitet. Bis Mitte September 2017 wurden durch dieses Programm ca. 800.000 ausländische Staatsbürger mit illegalem Aufenthalt im Land identifiziert. Hinsichtlich sich illegal im Land aufhaltender Afghanen wurde das Hauptaugenmerk in der ersten Runde auf drei besondere Kategorien gerichtet:
1. Unregistrierte Afghanen mit in die Schule gehenden Kindern;
2. Unregistrierte Afghanen, die mit Amayesh-registrierten Personen verheiratet sind;
3. Unregistrierte Afghanen, die mit iranischen Staatsbürgern verheiratet sind (Lifos 10.4.2018).
Personen aus diesen Kategorien, die eine dem Programm entsprechende Identifikation durchlaufen haben, haben einen Papierbeleg (headcount slip) erhalten, der sie bis auf Weiteres davor schützt, aus Iran deportiert zu werden. Die Möglichkeit zur Teilnahme an dem Programm wurde auf früher Amayesh-registrierte Personen oder Visumsinhaber, die ihren Status aus irgendeinem Grund verloren haben, ausgeweitet. Der Fokus der iranischen Behörden liegt darauf, den Aufenthalt der Afghanen, die sich illegal im Land befinden, zu erfassen und zu regulieren, und nicht auf Deportationen (Lifos 10.4.2018). Infolge eines Dekrets des Obersten Revolutionsführers aus dem Jahr 2015 sind aktuell 500.080 afghanische und irakische Flüchtlingskinder, darunter 185.000 ohne offiziellen Flüchtlingsstatus, an iranischen Schulen eingeschrieben. Neben dem Schutz vor Abschiebungen für die ganze Familie geht damit der Zugang zu einer besseren Grundversorgung mit Nahrungsmitteln sowie Beratung und Gesundheitsfürsorge einher (AA 28.1.2022). Auch die Schulgebühren für Flüchtlingskinder wurden 2016 aufgehoben. Dennoch finden nicht alle Kinder einen Schulplatz, auch weil erschwingliche Transportmöglichkeiten zur nächsten Schule fehlen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche ACCORD 5.2020), die Kinder illegal arbeiten geschickt werden, die allgemeine Einschreibegebühr von umgerechnet 60 USD zu hoch ist, oder Eltern iranischer Kinder gegen die Aufnahme von afghanischen Kindern sind (ÖB Teheran 11.2021). Flüchtlingskinder lernen Seite an Seite mit ihren iranischen Klassenkameraden nach dem iranischen Lehrplan. Allein im Jahr 2019 schuf Iran in seinen Schulen Platz für etwa 60.000 zusätzliche afghanische Schüler. Es gibt einige von der afghanischen Gemeinschaft betriebene Schulen, in denen in Dari oder anderen in Afghanistan gesprochenen Sprachen unterrichtet wird, aber diese Schulen wurden erst vor Kurzem offiziell anerkannt, nachdem sie zuvor regelmäßig von den Behörden geschlossen wurden (ACCORD 5.2020). Auch der Zugang zu höherer Bildung ist möglich, dafür muss jedoch der Flüchtlingsstatus aufgegeben, und ein Studentenvisum beantragt werden. Nach dem Studium besteht daher die Gefahr, keine Aufenthaltserlaubnis mehr zu erlangen. Infolgedessen beantragen viele stattdessen Asyl in Europa, um dort ihre Ausbildung fortzusetzen, obwohl sie dies lieber in Iran gemacht hätten (ÖB Teheran 11.2021).
Die Krankenversicherungsleistungen für registrierte Flüchtlinge sollen erweitert und möglichst alle Flüchtlinge in medizinische Betreuungsmaßnahmen aufgenommen werden. Dazu bedient sich die Flüchtlingsbehörde BAFIA zunehmend eines Überweisungssystems von besonders schwierigen Fällen an internationale NGOs oder den UNHCR. Dieser ist mit Gesundheitsstationen in 18 Provinzen tätig und leistet mit einem zusätzlichen Versicherungsangebot innerhalb des bestehenden Salamat-System (UPHI) im aktuellen 7. Zyklus, der am 24.02.2022 abläuft, Hilfe in bis zu 120.000 Härtefällen. Zudem sind Flüchtlinge Teil der staatlichen COVID-19-Impfkampagne. Bis Ende September hatten ca. 500.000 Personen die Erstdosis erhalten (AA 28.1.2022). Afghanen haben auch ohne Aufenthaltstitel Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Medizinische Grundversorgung ist für alle Menschen in Iran gratis zugänglich, nicht registrierte Flüchtlinge haben jedoch oft Angst, abgeschoben zu werden, und nehmen diese nicht in Anspruch. Seit 2016 können sich alle registrierten Flüchtlinge in der staatlichen Krankenversicherung registrieren, müssen allerdings eine Gebühr zahlen, die sich viele nicht leisten können. UNHCR zahlt diese Gebühr für die vulnerabelsten Flüchtlinge (ÖB Teheran 11.2021). 120.000 Flüchtlinge wurden von UNHCR beim Zugang zur iranischen Krankenversicherung unterstützt. Die Krankenversicherung zielt darauf ab, den am stärksten gefährdeten afghanischen Flüchtlingen den nötigen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. UNHCR übernahm die Kosten für die Versicherungsprämien der schutzbedürftigen Flüchtlinge, die 2020 in der iranischen Allgemeinen Krankenversicherung (UPHI) eingeschrieben waren. Angesichts der COVID-19-Pandemie und des anhaltenden wirtschaftlichen Abschwungs in Iran hat UNHCR die Zahl der von dem Programm erfassten Flüchtlinge vorübergehend erhöht. Trotz der Herausforderungen gewährt Iran den Flüchtlingen weiterhin großzügig Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten. Iran ist eines von nur einer Handvoll Ländern auf der Welt, die Flüchtlingen die Möglichkeit bietet, sich wie iranische Staatsangehörige in eine nationale Krankenversicherung für wesentliche sekundäre und tertiäre öffentliche Gesundheitsdienste einzuschreiben. Das nationale Versicherungssystem ermöglicht eine kostenlose COVID-19-Behandlung und Krankenhausaufenthalte. Es subventioniert auch die Kosten für Operationen, Dialyse, Radiologie, Labortests, ambulante Versorgung und mehr. Viele Flüchtlinge können sich die Prämienkosten jedoch nicht leisten. Die Auswirkungen der Pandemie auf den Lebensunterhalt sind besonders schwerwiegend für Flüchtlinge, die oft auf prekäre und instabile Arbeitsplätze angewiesen sind. Viele können ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken, geschweige denn die Kosten für die Krankenversicherung, die schätzungsweise rund 40% der monatlichen Ausgaben einer durchschnittlichen Flüchtlingsfamilie ausmachen (UNHCR 6.4.2021).
Seit Beginn der Corona-Pandemie gab die Regierung immer wieder bekannt, dass die Behandlung für ausländische COVID-19-Patienten kostenlos erfolge. Mit Unterstützung des GAVI-COVAX-Mechanismus erhält Iran mittlerweile auch kostenlose Impfstoffe zum Impfen für die Afghanen im Land (ÖB Teheran 11.2021).
Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen. Iranische Behörden fürchten jedoch einen noch größeren Zustrom von Afghanen in den kommenden Monaten und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde in Iran, die schlechte Wirtschaftslage angesichts der US-Sanktionen und die Auswirkungen der COVID-Pandemie. Es werden Spannungen zwischen residenter Bevölkerung und den Neuankömmlingen befürchtet. Bereits bisher werden Afghanen teilweise diskriminiert, und es kommt zu Protesten gegen Afghanen, z.B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder an Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Die meisten Flüchtlinge sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben - wenig integriert (AA 28.1.2022). Neu angekommene Afghanen haben meist keine Probleme, in Iran eine Wohnung zu finden. Dies liegt daran, dass die afghanische Gesellschaft eine starke Netzwerkgesellschaft mit festen Beziehungen innerhalb der Netzwerke ist. Diejenigen, die nach Iran kommen, haben oft bereits Familienmitglieder im Land, bei denen sie wohnen können. Afghanen in Iran unterstützen sich gegenseitig und dieses kann auch für Personen gelten, die nicht miteinander verwandt sind. Viele Afghanen mieten große Wohnungen und es können viele Personen in einem Haushalt wohnen. Afghanen in Iran haben ungeachtet dessen, ob sie Amayesh-registriert sind oder nicht, nicht das Recht dazu, ein Haus oder eine Wohnung zu besitzen, sondern können diese nur mieten. Die Wohnungskosten stellen einen der größten Ausgabenposten für Afghanen in Iran dar. Bei der Anmietung eines Hauses wird eine Kaution an den Besitzer bezahlt und je größer die Kaution, die hinterlegt werden kann, desto billiger werden die Mietkosten (Lifos 10.4.2018).
Hochzeiten zwischen Iranern und afghanischen Flüchtlingen sind, obwohl keine Seltenheit, schwierig, da die iranischen Behörden dafür Dokumente der Botschaft oder der afghanischen Behörden benötigen. Staatenlosen wird von einigen Provinzverwaltungen Zugang zur öffentlichen Grundversorgung und das Ausstellen von Reisedokumenten und sonstigen Papieren verwehrt; eine einheitliche Praxis fehlt (ÖB Teheran 11.2021). Mittlerweile ist es möglich, dass iranische Frauen ihre Staatsbürgerschaft an Kinder mit einem ausländischen Vater weitergeben können [vgl. hierzu Kapitel Frauen im COI-CMS Iran] (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche USDOS 31.3.2021).
Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befinden (FH 28.2.2022; vergleiche USDOS 30.3.2021).
Die freiwillige Rückkehr registrierter afghanischer Flüchtlinge sank 2021 mit 800 Personen weiter (Vergleichszeitraum 2020: 947). Nach Angaben des UNHCR erfolgten 60% dieser Ausreisen durch Studierende in der Absicht, mit einem entsprechenden Visum wieder in den Iran einzureisen. Seit Jahresbeginn 2021 sind laut IOM bislang (Stand November 2021) mit 1.063.393 erneut mehr nicht registrierte Afghan*innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. UNHCR führt dies auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage in Iran sowie die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zurück (AA 28.1.2022). Von 1.1.2021 bis 28.2.2022 haben 34.185 in Iran ankommende Afghanen bei UNHCR um Unterstützung und Hilfe angesucht. Für den Grenzübertritt wird ein Pass sowie gültiges Visum verlangt (UNHCR 8.3.2022). Infolgedessen meldete UNHCR im September 2021 eine Zunahme der Bewegungen von Afghanen ohne Papiere, die auf dem Landweg irreguläre Grenzübertritte nach Iran vornehmen (AI 10.2021; vergleiche AA 28.1.2022).
Am 8.2.2022 wurde berichtet, dass nach Angaben von Beamten der Abteilung für Flüchtlinge und Repatriierung in Herat in Afghanistan in den letzten sechs Monaten fast 100 afghanische Flüchtlinge von iranischen Sicherheitskräften getötet worden seien (UNHCR 27.2.2022). Im Mai 2020 griffen iranische Grenzposten zahlreiche Afghanen auf, darunter auch Minderjährige, die auf der Suche nach Arbeit die Grenze überschritten hatten. Die Personen wurden geschlagen und mit vorgehaltener Waffe in den iranisch-afghanischen Grenzfluss Hariroud gezwungen. Dabei ertranken mehrere Menschen. Die Behörden wiesen jede Verantwortung für den Vorfall zurück (AI 7.4.2021).
Grundversorgung und Wirtschaft
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o. D.). Afghanistan ist mit mehreren Krisen konfrontiert: einer wachsenden humanitären Notlage, massivem wirtschaftlichen Rückgang, der Lähmung des Banken- und Finanzsystems und der Tatsache, dass eine inklusive Regierung noch gebildet werden muss (UNGASC 28.01.2022).
Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vergleiche Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1 %, tertiärer Sektor: 53,1 %; WB 7.2019). Rund 45 % aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20 % sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vergleiche CSO 2018).
Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste zivile Hilfe, finanzielle Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021).
Bevor sie die Macht übernahmen, hatten die Taliban große Teile des Landes kontrolliert oder in ihrem Einfluss und konnten die Bevölkerung und die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, denen die Menschen dort nachgingen, „besteuern“. Dazu gehörten unter anderem: die landwirtschaftliche Ernte (Ushr) [Anm.: 10 % Steuer auf landwirtschaftliche Produkte nach islamischem Recht], insbesondere Opium; der grenzüberschreitende Handel, sowohl legal als auch illegal; Bergbau; Gehälter, auch von Beamten und NGO-Mitarbeitern. Sie erzielten auch Einnahmen in Form von Schutzgeldern sowie durch die Einhebung von Geld von Reisenden an Kontrollpunkten. Die Taliban erhielten auch Spenden von afghanischen und ausländischen Anhängern (AAN 11.11.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben dieVereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. USD (7,66 Mrd. EUR) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.08.2021; vergleiche AAN 11.11.2021). Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wiederaufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (KP 09.11.2021; vergleiche ANI 09.11.2021).
Die Regierung der Taliban hat einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NGOs und UN-Organisationen aufgenommen (AAN 11.11.2021).
Anfang Dezember wurde berichtet, dass die Taliban begonnen haben, landesweit eine Ushr einzutreiben (BAMF 06.12.2021).
Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen ist ebenso wie eine Reihe von UN-Unterorganisationen (z. B. WHO, WFP, UNHCR, IOM) vor Ort - mit Abstrichen - weiter arbeitsfähig. Bei einer internationalen Geberkonferenz am 13.09.2021 hat die internationale Gemeinschaft über 1 Milliarde USD an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (AA 21.10.2021).
Die Haushalte haben Einkommensverluste erlitten und kämpfen ums Überleben, was dazu führt, dass die Familien auf problematische Bewältigungsmechanismen zurückgreifen. Eine derart ernste sozioökonomische Situation führt zu psychosozialen Problemen, geschlechtsspezifischer Gewalt und schwerwiegenden Kinderschutzproblemen, einschließlich Kinderarbeit und Ausbeutung, und verhindert den Zugang zu Bildung, da Kinder gezwungen sein können, zu arbeiten oder zu betteln (UNHCR 12.04.2022).
Laut einer Studie des UNHCR, die vom 10.10.2021 bis 31.12.2021 durchgeführt und bei der 142.182 Personen in 34 Provinzen befragt wurden, gab die Mehrheit der untersuchten Haushalte an, zum Zeitpunkt der Befragung keine humanitäre Hilfe erhalten zu haben. Von denjenigen, die Hilfe erhalten hatten, gab die Mehrheit (53 %) an, die Hilfe vor mehr als drei Monaten erhalten zu haben, und zwar in erster Linie in Form von Nahrungsmitteln, während Bargeld (das zur Deckung einer Vielzahl anderer Grundbedürfnisse verwendet werden könnte) nur für 10 % der insgesamt untersuchten Haushalte bereitgestellt wurde (UNHCR 12.04.2022).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 4 % der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul gaben 80 % der Befragten an, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66 % in Mazar-e Sharif und 45 % in Herat. Ebenso gaben 8 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24 % in Mazar-e Sharif und 42 % in Herat (ATR/STDOK 18.01.2022).
Naturkatastrophen
Zu Beginn des Frühjahrs 2022 gibt es Berichte über schwere Regenfälle und Sturzfluten in Nangarhar (römisch XI 20.03.2022; vergleiche ANI 20.03.2022) und auch am 04.05.2022 wurden schwere Regenfälle und Sturzfluten in vielen Provinzen gemeldet (BAMF 09.05.2022; vergleiche UNOCHA 07.05.2022), z. B. in Badakhshan, Badghis, Baghlan, Bamyan, Faryab, Herat, Jawzjan, Kunar, Kunduz, Samangan und Takhar (UNOCHA 07.05.2022).
Am 22.06.2022 ereignete sich in den Provinzen Paktika und Khost ein Erdbeben der Stärke 5,9, das schätzungsweise 770 Todesopfer und etwa 1.500 Verletzte forderte (USAID 28.06.2022; vergleiche WHO 03.07.2022). Zusätzlich zu dem Erdbeben haben Sturzfluten nach schweren Regenfällen am 21.06.2022 in mindestens vier Provinzen Häuser und Lebensgrundlagen zerstört (WFP 23.06.2022).
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Afghanistan kämpft weiterhin mit den Auswirkungen einer Dürre, der Aussicht auf eine weitere schlechte Ernte in diesem Jahr, einer Banken- und Finanzkrise, die so schwerwiegend ist, dass mehr als 80 % der Bevölkerung verschuldet sind, und einem Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise (UNOCHA 15.03.2022). 18,9 Millionen Menschen - fast die Hälfte der Bevölkerung - werden Schätzungen zufolge zwischen Juni und November 2022 von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. In allen 34 Provinzen herrschte im April 2022 akute Ernährungsunsicherheit auf Krisen- oder Notfallniveau (WFP 23.06.2022). Für die breite Bevölkerung waren seit Februar jeden Monat allmähliche Verbesserungen zu beobachten. Allerdings sind Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand immer noch weitgehend auf Bewältigungsstrategien angewiesen (87 %), wobei seit fast neun Monaten keine klare Tendenz zur Verbesserung zu erkennen ist (WFP 5.2022). Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mit März 2022 die Krankenhäuser voll mit Kindern, die an Unterernährung leiden (UNOCHA 15.03.2022). Der Hunger geht weiterhin über die Kluft zwischen Stadt und Land hinaus, wobei beide Gruppen gleichermaßen betroffen sind: 92 % der Menschen in Afghanistan sind mit unzureichender Nahrungsaufnahme konfrontiert. Beide Gruppen verzeichneten im Mai einen Anstieg der ernsten Ernährungsunsicherheit (WFP 5.2022).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban sind die Lebensmittel- und Kraftstoffpreise in die Höhe geschossen und stiegen im Mai 2022 weiter an. Da die Lebensmittelpreise steigen, wird noch mehr Haushaltseinkommen für Lebensmittel ausgegeben. Die Haushalte geben jetzt 87 % ihres Einkommens für Lebensmittel aus - gegenüber 85 % und 83 % im April bzw. März 2022. Dies geschieht vor dem Hintergrund steigender Preise für wichtige Rohstoffe, wobei Weizenmehl um 4 % und Speiseöl um 8 % im Mai 2022 gestiegen sind (WFP 5.2022).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.01.2022).
Laut dem jüngsten Food Security Update vom März 2022 erreicht die humanitäre Hilfe von Monat zu Monat mehr Menschen. Einer von fünf Haushalten (21 %) meldete, dass er im März humanitäre Nahrungsmittelhilfe erhalten hat - hauptsächlich von UN/NGOs - was einen deutlichen Anstieg gegenüber den Vormonaten darstellt. Diese Hilfe trägt dazu bei, die gravierende Ernährungsunsicherheit in mehreren Regionen (Herat, Kabul, Nordost- und Südostafghanistan) zu verringern. Bei Familien, die in diesen Regionen keine humanitäre Hilfe erhalten haben, hat sich das Niveau der schweren Ernährungsunsicherheit nicht verbessert (WFP 3.2022).
Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 und 300 USD monatlich (STDOK 21.07.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließendem Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020).
Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.07.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vergleiche STDOK 21.07.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat, wobei abhängig vom Verbrauch diese Kosten auch höher liegen konnten. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen als in den Städten (IOM 2020).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Mieten um 20-40 % gesunken. Die durchschnittliche Miete für eine Wohnung wird mit November 2021 auf 110 bis 550 USD (10.000 bis 50.000 AFN) für Kabul, Herat und Mazar-e Sharif geschätzt. Je nach Standort und Art der Einrichtung (RA KBL 08.11.2021). Einer anderen Quelle zufolge liegt die durchschnittliche Monatsmiete für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern in Kabul im April 2022 bei 120 bis 150 USD. Die monatliche Miete für ein einfaches Haus mit drei Schlafzimmern in einem Vorort liegt bei etwa 100 USD. In Mazar-e Sharif und Herat liegt dieser Satz bei 150 USD pro Monat für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern, und für eine Lage weitab vom Stadtzentrum beträgt er 80 USD pro Monat (IOM 12.04.2022). Allerdings steigt wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage die Gefahr der Zwangsräumung, da die Haushalte möglicherweise nicht in der Lage sind, die Miete zu zahlen (UNHCR 12.04.2022).
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66 %) und Mazar-e Sharif (63 %) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50 % der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3 % der Befragten in Kabul, 48,4 % in Balkh und 8,7 % in Herat an, dass sie 5.000 bis 10.000 AFN (ca. 40 bis 80 Euro) pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3 % der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3 % und in Balkh 48,4 %. Nur 4,3 % der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.01.2022).
Arbeitsmarkt
Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Millionen in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich (UNDP 30.11.2021).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vergleiche Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 03.12.2020; vergleiche, CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 03.12.2020).
Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.07.2020; vergleiche IOM 18.03.2021), ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (AAN 03.12.2020).
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 01.06.2020; vergleiche STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vergleiche STDOK 10.2020, CSO 2018).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenige Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.06.2017). Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.07.2020; vergleiche STDOK 13.06.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen, und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.06.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbesondere Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vergleiche Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.03.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden (IOM 18.03.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Million Personen geschätzt wird, hat nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit mehr (IPC 10.2021; vergleiche RA KBL 08.11.2021). Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (MSF 10.11.2021; vergleiche IPC 10.2021). Viele Unternehmen und NGOs haben ihre Arbeit eingestellt oder ihre Aktivitäten auf ein Minimum reduziert. Die Bargeldknappheit und die Unterbrechung der Versorgungsketten in Verbindung mit dem Verlust von Investitionen und Kunden haben den privaten Sektor stark beeinträchtigt und zwingen die Unternehmen, in Nachbarländer auszuweichen, ihre Türen zu schließen oder ihre Mitarbeiter zu entlassen, um die Kosten zu senken. Ein Tagelöhner verdient bis zu 350 AFN (3,55 EUR) pro Tag. Tagesarbeit ist jedoch meist nur für zwei Tage in der Woche zu finden. Es ist schwierig geworden, Tagesarbeit zu finden, da viele, die zuvor für Unternehmen, NGOs oder die Regierung gearbeitet haben, jetzt nach Tagesarbeit suchen, um die Einkommensverluste auszugleichen (IOM 12.04.2022).
Das UNDP (United Nations Development Program) erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10% sinken werden (UNDP 30.11.2021). Afghanische Arbeitnehmerinnen machten vor der Krise 20% der Beschäftigten aus. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Gesellschaft auswirken. Außerdem wird sich das Einkommen der Haushalte verringern, deren weibliche Mitglieder nun nicht mehr arbeiten, weniger arbeiten bzw. weniger verdienen, was zu einem Rückgang des Konsums auf der Mikroebene und der Nachfrage auf der Makroebene führen wird (UNDP 30.11.2021).
Die Markt- und Preisbeobachtung des Welternährungsprogramms (WFP) ergab einen drastischen Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten: Im Juli waren es zwei Tage pro Woche, im August nur noch 1,8 Tage und im September nur noch ein Arbeitstag (IPC 10.2021). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, lag Ende November 2021 bei 1,4 Tagen pro Woche (BAMF 29.11.2021).
Laut der saisonalen Bewertung der Ernährungssicherheit (SFSA) für das Jahr 2021 meldeten 95% der Bevölkerung Einkommenseinbußen, davon 76% einen erheblichen Einkommensrückgang (83% bei städtischen und 72% bei ländlichen Haushalten) im Vergleich zum Vorjahr. Die Hauptgründe waren ein Rückgang der Beschäftigung (42%) und Konflikte (41%) (IPC 10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3% der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3%, Frauen: 81,3%). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62% der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25% eine Teilzeitstelle hatten, 9% als Tagelöhner arbeiteten und 2% mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1%) gaben an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN (100 USD) pro Monat zu haben. 8,7% der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN (100-200 USD) pro Monat zu haben, und 2,2% stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.000 und 50.000 AFN (200-500 USD) pro Monat ein (ATR/STDOK 18.01.2022).
Es wird geschätzt, dass mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer im dritten Quartal 2021 ihren Arbeitsplatz verloren haben und dass der Verlust von Arbeitsplätzen bis zum zweiten Quartal 2022 auf fast 700.000 ansteigen wird. Wenn sich die Situation der Frauen weiter verschlechtert und die Abwanderung zunimmt, könnten die Beschäftigungsverluste bis zum zweiten Quartal 2022 auf mehr als 900.000 Arbeitsplätze ansteigen. Die sich verschärfende Wirtschaftskrise hat sich besonders stark auf einige der wichtigsten Sektoren der afghanischen Wirtschaft ausgewirkt, darunter Landwirtschaft, öffentliche Verwaltung, soziale Dienstleistungen und das Baugewerbe, wo Hunderttausende von Arbeitnehmern ihren Arbeitsplatz verloren oder keinen Lohn erhielten (ILO 1.2022).
Rückkehr
IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.02.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.01.2021; vergleiche NH 26.01.2021). Im Jahr 2021 wurden bis November 1.2 Millionen Rückkehrer verzeichnet, welche die Grenze aus dem Iran und Pakistan überquerten (USAID 28.02.2022).
Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vergleiche IOM KBL 30.04.2020, Reach 10.2017). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vergleiche IOM KBL 30.04.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017), da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme, und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.06.2019, IOM KBL 30.04.2020). Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.04.2020; vergleiche Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhal¬tungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).
Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, der ohnehin großen Familienverbände und individueller Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.06.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politischen Netzwerken usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte (STDOK 4.2018; vergleiche VIDC 1.2021). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (VIDC 1.2021; vergleiche STDOK 13.06.2019, STDOK 4.2018).
„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vergleiche SFH 26.03.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.07.2021; vergleiche SFH 26.03.2021). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.06.2019; vergleiche SFH 26.03.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.06.2019).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART römisch III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (IOM AUT 08.09.2021; vergleiche IOM 19.08.2021).
Während IOM derzeit in allen 34 Provinzen Afghanistans tätig ist, konzentrieren sich ihre Hauptaktivitäten vor allem auf lebensrettende humanitäre Hilfe für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen, wie z. B. die Bereitstellung von Non-Food-Items (NFIs), Bargeldhilfe sowie Gesundheits- und Schutzleistungen. Aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 und der daraus resultierenden Sicherheitsbedenken hat IOM mit Wirkung vom 16.08.2021 eine vollständige Aussetzung aller unterstützten freiwilligen Rückkehr- und Wiedereingliederungsmaßnahmen (AVRR) nach Afghanistan verfügt. Daher wurde seither keine Unterstützung für die freiwillige Rückkehr im Rahmen des Projekts RESTART römisch III mehr geleistet. Projektteilnehmer, die vor dem 16.08.2021 nach Afghanistan zurückkehrten, wurden mit Beratung und Geld- bzw. Sachleistungen bis zur Höhe des ausstehenden förderfähigen Betrags unterstützt. Darüber hinaus sah sich IOM gezwungen, die Aktivitäten im Bereich der Soforthilfe bei der Aufnahme einzustellen, da die Flüge nach Afghanistan eingestellt wurden (IOM 12.04.2022).
Die Taliban haben in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren. Zum Umgang der Taliban mit Rückkehrern [Anmerkung: aus Europa] liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021).
Am 30.08.2021 gab Taliban-Sprecher Zabihulla Mujahid ein Interview. Laut Mujahid seien viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist, und die Taliban seien nicht glücklich darüber, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylbewerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgelegt würden (KrZ 30.08.2021). Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen hatten (EASO 1.2022).
Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die „Eliten“, die das Land verließen. Sie würden nicht als „Afghanen“, sondern als korrupte „Marionetten“ der „Besatzung“ angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen, und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein „guter Muslim“ nicht gehen würde, und dass viele, die in den Westen gingen, nicht „gut genug als Muslime“ seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als „die richtige Art von Mensch“ bzw. nicht als „gute Muslime“ wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die Tradition der paschtunischen Männer, die ins Ausland gehen, um dort zu arbeiten, was eine lange Tradition hat, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht „der richtige Weg“ sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, auch wenn es sich nur um Personen mit westlichen Kontakten handelt (EASO 1.2022).
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch:
Einsicht in den den BF betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, dabei insbesondere in den
● Bescheid des BFA über die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vom 02.06.2017;
● Bescheid des BFA hinsichtlich der Nichterteilung des Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen vom 17.09.2020(AS 47ff);
● Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.11.2020;
● vom BF im Verfahrensverlauf vorgelegte Beleg (insbesondere die Stellungnahme vom 01.09.2020 (AS 405 ff).
Einsicht in das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 04.05.2022.
Einsicht in die Auszüge des Zentralen Melderegisters, das Strafregister vom 22.06.2022 und das Grundversorgungssystem vom 16.02.2022.
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zum Namen und Geburtsdatum des BF ergeben sich aus seinen Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde und dem im Jahr 2020 geführten Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des BF gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des BF im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des BF, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation im Iran, seiner Schulbildung und Berufserfahrung gründen sich auf die Angaben des BF in der Stellungnahme vom 01.09.2020 (AS 405 ff) sowie auf die Angaben des BF in den Einvernahmen vor dem BFA vom 08.02.2017 und 24.05.2018.
Der Familienstand und die Kinderlosigkeit des BF ergeben sich aus den glaubwürdigen und gleichlautenden Angaben im Verfahren.
Dass der BF von seiner in Österreich lebenden Schwester finanziell unterstützt wird und nach der Haft bei ihr wohnen möchte, ergibt sich aus der Stellungnahme des BF vom 01.09.2020 (AS 405). Die Feststellung, hinsichtlich der sehr geringen Integration in Österreich ergibt sich daraus, dass bis auf eine Teilnahmebestätigung eines Deutschkurses im Ausmaß von 16 Trainingsstunden, keine weiteren Integrationsunterlagen vorgelegt wurden.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF im Verfahrensverlauf und den Angaben in seiner Stellungnahme vom 01.09.2020 (AS 405).
2.2. Zu den Feststellungen zum (Privat-)Leben des BF in Österreich:
Dass die Schwester des BF in Österreich lebt, ergibt sich aus seinen Angaben im Verfahrensverlauf seiner Stellungnahme vom 01.09.2020 (AS 405 ff).
2.3. Zu den Feststellungen betreffend den bisherigen Verfahrensverlauf:
Die Feststellungen zum bisherigen Verfahrensablauf ergeben sich aus dem Verwaltungs- und Gerichtsakt, insbesondere aus den oben angeführten Bescheiden des BFA vom 02.06.2017, sowie vom 17.09.2020 und dem Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.11.2020. Der Verwaltungs- und Gerichtsakt ist nachvollziehbar und unbedenklich und konnte somit den Feststellungen zu Grunde gelegt werden.
2.4. Zu den Feststellungen der Strafhaft und den strafgerichtlichen Verurteilungen:
Die Feststellung, dass sich der BF aktuell in Strafhaft befindet, gründet sich auf im Verwaltungsakt einliegende Schreiben vom 20.01.2020 der Justizanstalt römisch 40 über die Verständigung der Fremdenbehörde vom Strafantritt eines Fremden. Das errechnete Strafende ist am 23.12.2026. Dass der BF am 20.04.2022 in die Justizanstalt römisch 40 überstellt wurde, ergibt sich aus dem Bericht der Überstellung der Justizanstalt römisch 40 vom 20.04.2022.
Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ergeben sich aus einem Auszug aus dem Strafregister sowie den im Akt einliegenden Strafurteilen.
2.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus der von Amts wegen vorgenommenen Einsicht in die zitierten aktuellen Länderberichte vergleiche Pkt. 1.4.).
Die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes und schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A)
3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins., römisch II. und römisch III. des angefochtenen Bescheides (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz, Rückkehrentscheidung, Zulässigkeit der Abschiebung):
3.1.1. Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz:
Gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz , Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt (Ziffer eins,), zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel (Ziffer 2,) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Ziffer 3,).
Eine Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gem. Paragraph 57, AsylG 2005 ist im Falle des BF ausgeschlossen. Es sind im gesamten Verfahren weder Umstände vorgebracht worden, die eine Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels rechtfertigen würden, noch sind derartige Umstände amtswegig hervorgetreten.
Die Beschwerde hinsichtlich der Nicht-Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen in Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides war daher im Ergebnis als unbegründet abzuweisen.
3.1.2. Rückkehrentscheidung:
Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt, so ist diese Entscheidung gemäß Paragraph 10, Absatz 2, AsylG mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden. Gemäß Paragraph 52, Absatz eins, Ziffer eins, FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
Würde durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG (nur) zulässig, wenn sie zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Der Begriff „Familienleben“ iSd Artikel 8, EMRK umfasst dabei Beziehungen zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern. Liegt eine gewisse Beziehungsintensität vor, umfasst er auch andere Bindungen, wie Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR vom 14.03.1980, B 8986/80; EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (EKMR vom 06.10.1981, B 9202/80; EuGRZ 1983, 215; VfGH vom 12.03.2014, U 1904/2013).
Der Begriff „Privatleben“ iSd Artikel 8, EMRK umfasst die persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen eines Menschen vergleiche EGMR 15.01.2007, Sisojeva ua gegen Lettland, Appl 60654/00).
Gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben eines Fremden zulässig ist, ist eine einzelfallbezogene Interessensabwägung zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits vorzunehmen. Dabei sind alle relevanten Umstände zu berücksichtigen. Das sind gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG insbesondere: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Der BF hält sich zumindest seit dem 14.09.2015, somit mehr als 6,5 Jahre im Bundesgebiet auf. Er verfügt im Bundesgebiet über einen familiären Anknüpfungspunkt in Form seiner Schwester.
Diesen integrationsbegründenden Umständen steht jedoch die Tatsache, dass der BF insbesondere wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen, des Verbrechens des schweren Raubes sowie des Verbrechens der Vergewaltigung verurteilt worden ist, entgegen. In diesem Zusammenhang ist explizit darauf hinzuweisen, dass es sich beim Verbrechen der Vergewaltigung um das Gravierendste der Delikte gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung handelt.
Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 07.09.2016, 015 HV 104/16m, wurde der BF wegen Paragraph 83, Absatz eins, StGB (Vergehen der Körperverletzung) und Paragraph 207, Absatz eins, StGB (Verbrechen des sexuellen Missbrauches von Unmündigen) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, davon sechs Monate bedingt (Probezeit drei Jahre), verurteilt.
Bezüglich des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen ist auf die besonders verwerfliche Tatbegehung des BF hinzuweisen. Der BF wurde insbesondere schuldig gesprochen, das Verbrechen des sexuellen Missbrauches von Unmündigen begangen zu haben, indem er in drei Angriffen eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person vorgenommen hat. Der BF fuhr dieser im Schwimmbecken drei Mal mit dem Finger über der Bikinihose vom Gesäß bis zum Scheidenbereich.
Mildernd wurde die Unbescholtenheit und das Geständnis, erschwerend das Zusammentreffen eines Verbrechens mit einem Vergehen und die Tatwiederholung beim Verbrechen gewertet.
Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 16.01.2019, 036 HV 89/18i, wurde der BF wegen Paragraphen 201, Absatz eins,, 201 Absatz 2, 1. Fall StGB (Verbrechen der Vergewaltigung) Paragraphen 142, Absatz eins,, 143 Absatz eins, 2. Fall StGB (Verbrechen des schweren Raubs), Paragraphen 127,, 128 Absatz eins, Ziffer eins, StGB (Vergehen des schweren Diebstahls) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht mit Rechtsmittelentscheidung vom 30.08.2019 die verhängte Freiheitsstrafe auf acht Jahre erhöht.
Es ist zudem die erhebliche Brutalität und Aggressivität bei der Begehung des Verbrechens des schweren Raubes sowie des Verbrechens der Vergewaltigung zu berücksichtigen: Der BF hat in der Wohnung des Opfers mit Gewalt sowie durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben Paragraph 89, StGB fremde bewegliche Sachen, nämlich ein Drogenersatzpräparat, ein Mobiltelefon der Marke „Huawei Nova“ sowie ein Messer mit dem Vorsatz weggenommen bzw. abgenötigt, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er in dessen Wohnung dessen Drogenersatztabletten und – als dieser ihn mit seinem Mobiltelefon fotografierte– ein Messer des Genannten an sich nahm, ihm das Messer gegen den Hals drückte, das Mobiltelefon aus der Hand riss, Messerhiebe gegen das Opfer ausführte und mit der Beute flüchtete, wobei er den Raub unter Verwendung einer Waffe, nämlich eines Messers beging.
Hinsichtlich des Verbrechens der Vergewaltigung lockte der BF sein Opfer unter einem Vorwand in ein Waldstück, packte sie unter der Bekundung sie sei jetzt seine Frau an den Schultern, zerrte die Widerstrebende gegen einen Baum, fixierte sie an den Händen und entkleidete sie, warf sie sodann zu Boden und drang von hinten mit seinem Penis vaginal in sie ein. Zudem versetzte er ihr im Rahmen des Vorfalls Schläge gegen das Schulterblatt und erklärte ihr unter Vorzeigen eines ca. 75 cm langen Holzstückes von ca. 6 cm Durchmesser sinngemäß, dass er sie umbringen bzw. erschlagen werden, sollte sie sich nicht fügen.
Mildernd wurde vom Erstgericht das teilweise abgelegte Geständnis, die teilweise Schadensgutmachung (Ausfolgung des Mobiltelefons) und das Alter unter 21 Jahren, erschwerend das Zusammentreffen von zwei Verbrechen und einem Vergehen, die einschlägige Vorstrafe, das bereits verspürte Haftübel und die Deliktsqualifikation gewertet.
Anhand dieser Vorgangsweise ist im Falle des BF von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit auszugehen. Bei dieser Einschätzung ist zu bedenken, dass der BF nicht davor zurückschreckte, zur Befriedigung seines Triebes auch Gewalt gegenüber seinen Opfern anzuwenden.
Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche VwGH 11.12.2007, 2006/18/0227), wonach vom Fremden eine große Gefährdung öffentlicher Interessen ausgeht, wenn sein Fehlverhalten zeigt, dass er zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen nicht davor zurückscheut, massive Gewalt gegen andere anzuwenden, und er nicht bereit ist, auf die berechtigten Interessen anderer Rücksicht zu nehmen, zumal mit einer Vergewaltigung häufig eine besondere psychische Belastung des Opfers, insbesondere eine posttraumatische Belastungsstörung, verbunden ist (Hinweis E 19. Oktober 1999, 98/18/0338).
Bei dem Verbrechen der Vergewaltigung handelt es sich zudem nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche VwGH 12.03.2002, 2002/18/0037; VwGH 14.02.2002, 2002/18/0002; VwGH 06.11.2001, 98/18/0293; VwGH 27.06.2001, 2001/18/0099) um eine schwere und besonders verwerfliche strafbare Handlung gegen die Sittlichkeit und die körperliche Integrität einer anderen Person (Hinweis E 21. September 2000, 99/18/0263).
Ebenso ist das öffentliche Interesse am Schutz der körperlichen und der sexuellen Integrität anderer Personen - vor allem Jugendlicher - hoch zu veranschlagen vergleiche VwGH 19.10.2004, 2001/21/0191).
Weiters können insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt vergleiche VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0034; VwGH 05.10.2017, Ra 2017/21/0174; jeweils mit weiteren Hinweisen).
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung iSd Paragraph 9, BFA-VG ist das Bundesamt somit zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes des BF im Bundesgebiet sein persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Artikel 8, EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, wonach im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG stellt zusammengefasst keine Verletzung des Rechts des BF auf Privat- und Familienleben gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG in Verbindung mit Artikel 8, EMRK dar.
Lediglich der Vollständigkeit halber sei angeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht keineswegs die beim EuGH anhängige Rechtssache C-663/21 verkennt. Der Verwaltungsgerichtshof sieht zwar gem. Paragraph 17, VwGVG in Verbindung mit Paragraph 38, AVG die Verwaltungsgerichte als berechtigt an, ein Verfahren auszusetzen, wenn die betreffende Frage auf Grund eines Vorabentscheidungsersuchens in einem gleich gelagerten Fall bereits beim EuGH anhängig ist, hält jedoch zugleich fest, dass es sich bei der Aussetzung um eine Ermessensentscheidung handelt vergleiche VwGH 20.05.2015, Ra 2015/10/0023). Das Verwaltungsgericht ist somit nicht zur Aussetzung des Verfahrens verpflichtet, um das Ergebnis eines für die Beurteilung seiner Entscheidung relevanten Vorabentscheidungsverfahrens abzuwarten.
Mit Beschluss vom 20.10.2021, Ra 2021/20/0246, legte der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Artikel 267, AEUV die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:
„Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, im Besonderen deren Artikel 5,, Artikel 6,, Artikel 8 und Artikel 9,, einer nationalen Rechtslage entgegen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem sein bisheriges Aufenthaltsrecht als Flüchtling durch Aberkennung des Status des Asylberechtigten entzogen wird, selbst dann eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn bereits im Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung feststeht, dass eine Abschiebung wegen des Verbotes des Refoulement auf unbestimmte Dauer nicht zulässig ist und dies auch in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt wird?“
Das Bundesverwaltungsgericht geht jedenfalls davon aus, dass im konkreten Fall die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässig sein muss, selbst wenn im selben Erkenntnis die Unzulässigkeit der Abschiebung ausgesprochen wird. Denn aus Artikel 6, Absatz eins, der Richtlinie 2008/115/EG ergibt sich eine allgemeine Verpflichtung zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung im Falle eines illegalen Aufenthalts eines Fremden und zwar unabhängig davon, ob der konkrete Vollzug der Rückkehrentscheidung im nächsten Prüfungsschritt als unzulässig erachtet wird oder nicht. Wie der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache C-546/19, Westerwaldkreis festgehalten hat, würde ein Fremder, der sich nicht oder nicht mehr rechtmäßig im Mitgliedstaat aufhält, infolge der Nichterlassung einer Rückkehrentscheidung in einen (unerwünschten) „Zwischenstatus“ gedrängt werden. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang explizit klargestellt, dass diese Erwägungen auch für Drittstaatsangehörige gelten, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, jedoch aufgrund des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nicht abgeschoben werden können. Die Tatsache, dass die Rückkehrverpflichtung einer Rückkehrentscheidung nicht mit einer Abschiebung vollstreckt werden kann vergleiche Artikel 3, Ziffer 5, der Richtlinie 2008/115/EG), steht der Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher nicht entgegen.
Ändert sich die relevante Sachlage bezüglich der (Un-)Zulässigkeit einer Abschiebung, so hat die Behörde einen neuen Bescheid – in Form einer neuen Rückkehrentscheidung samt Ausspruch gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG – zu erlassen und festzustellen, dass die Abschiebung gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG nunmehr zulässig ist. Mit der Rechtskraft einer solchen neuen Feststellung erlischt das Verbot der Abschiebung. Durch diese Vorgehensweise wird auch dem Ziel der Richtlinie 2008/115/EG, eine wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu gewährleisten, Rechnung getragen.
Die Beschwerde hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides war daher im Ergebnis ebenfalls als unbegründet abzuweisen.
3.1.3. Zulässigkeit der Abschiebung:
Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG ist mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
Gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, FPG ist der Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet zu dulden, solange deren Abschiebung gemäß Paragraphen 50,, 51 oder 52 Absatz 9, Satz 1 FPG unzulässig ist, vorausgesetzt die Abschiebung ist nicht in einen anderen Staat zulässig.
Nach Paragraph 50, Absatz eins, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974,), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG).
Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht.
Gemäß Paragraph 46 a, Absatz 4, FPG hat das Bundesamt bei Vorliegen der Voraussetzungen nach Absatz eins, von Amts wegen oder auf Antrag eine Karte für Geduldete auszustellen. Gemäß Paragraph 46 a, Absatz 5, FPG gilt die Karte für Geduldete ein Jahr beginnend mit dem Ausstellungsdatum und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen nach Absatz eins, über Antrag des Fremden für jeweils ein weiteres Jahr verlängert. Die Karte ist zu entziehen, wenn
1. deren Gültigkeitsdauer abgelaufen ist;
2. die Voraussetzungen der Duldung iSd Absatz eins, nicht oder nicht mehr vorliegen;
3. das Lichtbild auf der Karte den Inhaber nicht mehr zweifelsfrei erkennen lässt oder
4. andere amtliche Eintragungen auf der Karte unlesbar geworden sind.
Der Fremde hat die Karte unverzüglich dem Bundesamt vorzulegen, wenn die Karte entzogen wurde oder Umstände vorliegen, die eine Entziehung rechtfertigen würden. Wurde die Karte entzogen oder ist diese vorzulegen, sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und das Bundesamt ermächtigt, die Karte abzunehmen. Von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes abgenommene Karten sind unverzüglich dem Bundesamt vorzulegen.
Gemäß Paragraph 46 a, Absatz 6, FPG gilt der Aufenthalt des Fremden mit Ausfolgung der Karte als geduldet, es sei denn das Vorliegen der Voraussetzungen nach Absatz eins, wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt rechtskräftig festgestellt. Diesfalls gilt der Aufenthalt ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Feststellung als geduldet.
Der Beschwerde hinsichtlich der Zulässigkeit der Abschiebung des BF in Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides war im Ergebnis stattzugeben und dieser Spruchpunkt dahingehend abzuändern, dass festgestellt wird, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan unzulässig ist, weil dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet ist daher gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, FPG geduldet, sodass ihm gemäß Paragraph 46 a, Absatz 4 und 5 FPG eine Karte für Geduldete auszustellen ist.
3.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides (Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes):
Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, FPG kann vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG ist ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Ziffer 5 bis 9 leg. cit. auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots neben den anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat gemäß Ziffer eins, leg. cit. insbesondere zu gelten, wenn ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist.
Bei der Entscheidung über das Ausmaß des Einreiseverbotes ist die Dauer der vom Fremden ausgehenden Gefährdung zu prognostizieren; außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen vergleiche VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109).
Bei der Erstellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in Paragraph 53, Absatz 3, FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Bei dieser Beurteilung kommt es demnach nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf das, diesem zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an vergleiche VwGH 19.02.2013, 2012/18/0230).
Gegenständlich stützte die belangte Behörde das Einreiseverbot auf den Tatbestand des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer 5, FPG. Begründend wurde auf zwei strafgerichtliche Verurteilungen verwiesen.
Bei den vom BF begangenen strafbaren Handlungen handelt es sich – wie bereits ausgeführt – um gewichtige Verstöße gegen die Rechtsordnung.
Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 07.09.2016, 015 HV 104/16m, wegen Paragraph 83, Absatz eins, StGB (Vergehen der Körperverletzung) und Paragraph 207, Absatz eins, StGB (Verbrechen des sexuellen Missbrauches von Unmündigen) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, davon sechs Monate bedingt (Probezeit drei Jahre), verurteilt.
Mildernd wurde die Unbescholtenheit und das Geständnis, erschwerend das Zusammentreffen eines Verbrechens mit einem Vergehen und die Tatwiederholung beim Verbrechen gewertet.
Mit Urteil des Landesgerichts römisch 40 vom 16.01.2019, 036 HV 89/18i, wurde der BF wegen Paragraphen 201, Absatz eins,, 201 Absatz 2, 1. Fall StGB (Verbrechen der Vergewaltigung mit schwerer Körperverletzung) Paragraphen 142, Absatz eins,, 143 Absatz eins, 2. Fall StGB (Verbrechen des schweren Raubs mit Waffe), Paragraphen 127,, 128 Absatz eins, Ziffer eins, StGB (Vergehen des schweren Diebstahls) zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren verurteilt. Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht mit Rechtsmittelentscheidung vom 30.08.2019 die verhängte Freiheitsstrafe auf acht Jahre erhöht. Der BF brachte durch die Begehung fortgesetzter Straftaten klar zum Ausdruck, dass er nicht gewillt ist, sich der österreichischen Rechts- und Werteordnung zu unterwerfen.
Mildernd wurde vom Erstgericht das teilweise abgelegte Geständnis, die teilweise Schadensgutmachung (Ausfolgung des Mobiltelefons) und das Alter unter 21 Jahren, erschwerend das Zusammentreffen von zwei Verbrechen und einem Vergehen, die einschlägige Vorstrafe, das bereits verspürte Haftübel und die Deliktsqualifikation gewertet.
Die belangte Behörde hat das Einreiseverbot daher zu Recht auf Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer 5, FPG (Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig) gestützt und im Wesentlichen damit begründet, dass aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens davon auszugehen sei, dass der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle.
Bezüglich des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen ist auf die besonders verwerfliche Tatbegehung des BF hinzuweisen. Der BF wurde insbesondere schuldig gesprochen, das Verbrechen des sexuellen Missbrauches von Unmündigen begangen zu haben, indem er in drei Angriffen eine geschlechtliche Handlung an einer unmündigen Person vorgenommen hat. Der BF fuhr dieser im Schwimmbecken drei Mal mit dem Finger über der Bikinihose vom Gesäß bis zum Scheidenbereich.
Es ist zudem die erhebliche Brutalität und Aggressivität bei der Begehung des Verbrechens des schweren Raubes sowie des Verbrechens der Vergewaltigung zu berücksichtigen: Der BF hat in der Wohnung des Opfers mit Gewalt sowie durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben Paragraph 89, StGB fremde bewegliche Sachen, nämlich ein Drogenersatzpräparat, ein Mobiltelefon der Marke „Huawei Nova“ sowie ein Messer mit dem Vorsatz weggenommen bzw. abgenötigt, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem er in dessen Wohnung dessen Drogenersatztabletten und – als dieser ihn mit seinem Mobiltelefon fotografierte– ein Messer des Genannten an sich nahm, ihm das Messer gegen den Hals drückte, das Mobiltelefon aus der Hand riss, Messerhiebe gegen das Opfer ausführte und mit der Beute flüchtete, wobei er den Raub unter Verwendung einer Waffe, nämlich eines Messers beging.
Hinsichtlich des Verbrechens der Vergewaltigung mit schwerer Körperverletzung lockte der BF sein Opfer unter einem Vorwand in ein Waldstück, packte sie unter der Bekundung sie sei jetzt seine Frau an den Schultern, zerrte die Widerstrebende gegen einen Baum, fixierte sie an den Händen und entkleidete sie, warf sie sodann zu Boden und drang von hinten mit seinem Penis vaginal in sie ein. Zudem versetzte er ihr im Rahmen des Vorfalls Schläge gegen das Schulterblatt und erklärte ihr unter Vorzeigen eines ca. 75 cm langen Holzstückes von ca. 6 cm Durchmesser sinngemäß, dass er sie umbringen bzw. erschlagen werden, sollte sie sich nicht fügen.
Dieses massive Fehlverhalten bietet einen klaren Grund für die Annahme, dass vom Fremden eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Stellt man hier das private Interesse des BF an einem Aufenthalt in Österreich dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit gegenüber, so kommt man zu dem Ergebnis, dass der straffällige BF eine derartige Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt, dass sein privates Interesse an einem Verbleib in Österreich zurückstehen muss. Die Trennung von seiner Schwester in Österreich ist dadurch, dass dem hohen öffentlichen Interesse an der Verhängung eines Einreiseverbotes aufgrund der besonderen Straffälligkeit ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, gerechtfertigt.
Da sich der BF nach wie vor in Strafhaft befindet, kann zudem noch nicht von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit ausgegangen werden. Dazu bedarf es grundsätzlich eines längeren Zeitraums des Wohlverhaltens.
Angesichts dessen sind letztlich auch Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat auftreten können, im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen und insgesamt an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinzunehmen vergleiche VwGH 15.03.2016, Ra 2015/21/0180).
Was die Dauer des Einreisverbotes anbelangt, steht angesichts der bisherigen Ausführungen außer Frage, dass Sexualdelikte, insbesondere aber auch Gewaltdelikte schwere Straftaten mit hohem Unrechtsgehalt darstellen, an deren Verhinderung ein großes öffentliches Interesse besteht.
Die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes erweist sich als gerechtfertigt.
Demnach war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch IV. abzuweisen.
3.3. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides (Ausreisefrist):
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins a, FPG besteht eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchführbar wird.
Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Gemäß Paragraph 55, Absatz 3, FPG kann die Frist bei Überwiegen besonderer Umstände für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben.
Die belangte Behörde gewährte im gegenständlichen Verfahren infolge der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung keine Frist zur freiwilligen Ausreise, da gemäß Paragraph 55, Absatz eins a, FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise für die Fälle, in denen eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG (Aberkennung der aufschiebenden Wirkung) durchführbar wird, nicht besteht.
Aufgrund der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.11.2020 und des Umstands, dass die in Paragraph 55, Absatz 2, FPG normierten Voraussetzungen erfüllt sind, war nunmehr eine vierzehntägige Frist zur freiwilligen Ausreise festzulegen. Hinweise auf das Vorliegen von Umständen, welche gemäß Paragraph 55, Absatz 3, FPG eine Verlängerung dieser Frist rechtfertigen würden, sind im Verfahren weder behauptet worden noch hat das Verfahren solche Umstände ergeben.
Da sich der BF in Strafhaft befindet, ist der Beginn der Frist für die freiwillige Ausreise mit dem Zeitpunkt der Entlassung des BF anzusetzen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Fristenlauf gehemmt. Andernfalls käme er nie in den Genuss der freiwilligen Ausreise, was mit Artikel 7, der Rückführungsrichtlinie offenkundig in Widerspruch stünde (siehe VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237).
Dass ein Ausspruch einer Frist zur freiwilligen Ausreise trotz festgestellter Unzulässigkeit der Abschiebung des BF zu erfolgen hat, ergibt sich aus Paragraph 55, Absatz eins, FPG, wonach die Frist zur freiwilligen Ausreise mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, festgelegt wird. Sie knüpft damit an das Bestehen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme einer Rückkehrentscheidung an.
Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides war entsprechend abzuändern.
3.4. Zum Unterbleiben einer mündlichen Beschwerdeverhandlung
Gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt Paragraph 24, VwGVG.
Gemäß Paragraph 24, Absatz eins, des VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Gemäß Paragraph 24, Absatz 4, VwGVG kann – soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist – das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Artikel 6, Absatz eins, EMRK noch Artikel 47, GRC entgegenstehen.
Dem Bundesverwaltungsgericht liegt kein Beschwerdevorbringen vor, das mit dem BF mündlich erörtert hätte werden müssen. Die Ausführungen in der Beschwerde sind daher nicht geeignet, erheblich erscheinende neue Tatsachen oder Beweise (vergleiche Paragraph 10, VwGVG) darzustellen und eine Verhandlungspflicht auszulösen. Da der entscheidungsrelevante Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint, konnte gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG entgegen dem Parteienantrag eine mündliche Verhandlung somit unterbleiben.
Zu Spruchteil B)
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), Bundesgesetzblatt Nr. 10 aus 1985, in der geltenden Fassung, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH bezüglich Rückkehrentscheidungen und zu den Voraussetzungen für die Erlassung und Bemessung eines Einreiseverbotes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen sowie Interessenabwägungen maßgeblich für die zu treffende Entscheidung waren.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
ECLI:AT:BVWG:2022:W288.2236696.1.00