Bundesverwaltungsgericht
20.10.2022
W261 2253430-1
W261 2253430-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 28.01.2022, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
römisch eins. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
römisch II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Somalia zuerkannt.
römisch III. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.
römisch IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte römisch III., römisch IV., römisch fünf., römisch VI. und römisch VII. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Somalias, stellte nach unregelmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 11.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 12.07.2021 fand die Erstbefragung des Beschwerdeführers vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er unter anderem an, dass er aus römisch 40 in Somalia stamme und der Volksgruppe der Sheikhal angehöre. Sein Vater und ein Bruder seien 2019 verstorben, seine Mutter, zwei Brüder und vier Schwestern würden noch in Somalia leben.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass Al-Shabaab ihn und seinen Bruder rekrutieren habe wollen. Sein Vater habe das nicht gewollt. Deshalb hätten sie diesen und seinen Bruder getötet und er habe das Land verlassen. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass er rekrutiert oder getötet werde.
3. Mit Verfahrensanordnung vom 16.09.2021 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fest, dass der Beschwerdeführer spätestens am römisch 40 geboren sei. Begründet wurde dies mit dem Ergebnis eines medizinischen Gutachtens zur Altersfeststellung vom 13.09.2021, laut dem er zum Untersuchungszeitpunkt mindestens 19 Jahre alt gewesen sei.
4. Am 24.11.2021 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, dass er gesund und nicht in medizinischer Behandlung sei. Er gehöre der dem Clan der Sheikhal, dem Subclan der römisch 40 sowie dem Sub-Subclan der römisch 40 an und sei sunnitischer Muslim. Er sei in römisch 40 in Somalia geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er habe sieben Jahre die Grundschule besucht und in Somalia nicht gearbeitet. Er komme aus einer armen Familie, seine Eltern seien Tagelöhner gewesen. Sein Vater und ein Bruder seien 2019 verstorben, seine Mutter, zwei Brüder und vier Schwestern würden noch in seiner Heimat leben. Er sei ledig und habe keine Kinder. Auch eine Tante lebe in der Heimat. Seit seiner Ausreise habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie gehabt.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass eines Tages am Heimweg von der Schule maskierte Männer der Al-Shabaab zu ihnen gekommen seien. Er sei mit seinem Bruder unterwegs gewesen. Die Männer hätten sie mit einem Minibus zu ihrem Stützpunkt gebracht. Ihre Augen seien dabei verbunden gewesen. Dort seien sie für eineinhalb Tage festgehalten worden. Während dieser Zeit hätten die Männer gepredigt und gesagt, dass sie den Islam unterstützen und am Jihad teilnehmen müssten. Während der gesamten eineinhalb Tage seien ihre Augen verbunden gewesen. Am nächsten Tag hätten sie ihnen nachmittags, zur Zeit des Asar-Gebets, die Augenbinde abgenommen. Sein Bruder und er hätten beschlossen gehabt, während des Gebets von dort zu fliehen. Sie hätten die Gelegenheit bekommen und seien geflohen. Kurz danach hätten sie Schüsse gehört und seien in verschiedene Richtungen gerannt. Er sei auf einen Baum geklettert und habe gewartet, bis die Schüsse aufgehört hätten. Sein Bruder sei vor ihm zuhause angekommen und habe der Familie erzählt, was passiert sei. Er selbst sei erst in der Nacht nachhause gekommen. Kurz, nachdem sein Bruder nachhause gekommen sei, seien die Männer der Al-Shabaab mit einem Auto gekommen. Sein Vater sei auch anwesend gewesen. Dieser habe mit den Männern zu streiten begonnen. Dann seien sein Vater und auch sein Bruder ermordet worden. Als er heimgekommen sei, habe ihm seine Mutter alles erzählt. Seine Mutter habe ihm dann gesagt, dass er in großer Gefahr sei und das Dorf verlassen solle. Er sei mit einem Lkw nach Mogadischu gefahren und habe dort noch drei Wochen bei einem Schlepper verbracht, bis er aus Somalia ausgereist sei.
5. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 28.01.2022 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt römisch VI.) und gegen den Beschwerdeführer ein auf 18 Monate befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Somalia einer persönlichen asylrelevanten Verfolgung durch staatliche Organe oder Privatpersonen unterliege. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass er in Somalia einer ethnischen Verfolgung oder einer Verfolgung aus sonstigen Umständen oder Konventionsgründen unterliege. Seine Angaben betreffend den Fluchtgrund seien aus näher dargestellten Gründen weder glaubwürdig noch nachvollziehbar. Sein Vorbringen werde nicht als asylrelevant qualifiziert. Es habe unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland dort einer realen Gefahr der Verletzung von Artikel 2, oder 3 EMRK ausgesetzt wäre. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Somalia in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde. Zwar herrsche in Teilen Somalias eine Dürre, es seien jedoch nicht alle Personen gleichermaßen von dieser betroffen. Mogadischu werde in der IPC-Stufe 1 (minimal) klassifiziert, die Gefahr einer Hungersnot sei dort demnach nicht gegeben. Der Beschwerdeführer sei im erwerbsfähigen Alter, könne lesen und schreiben und verfüge über mehrjährige Schulbildung. Er verfüge auch nach wie vor über ein familiäres Netzwerk in Somalia, nämlich seine Mutter, zwei Brüder, vier Schwestern und eine Tante. Er könne somit im Falle einer Rückkehr mit Unterstützung durch seine Angehörigen, zum Beispiel durch die Zurverfügungstellung einer Unterkunft, rechnen. Aufgrund seines Alters und des Umstandes, dass er gesund sei, sei es ihm ohne weiteres zuzumuten, sich selbst zu versorgen.
6. Mit Eingabe vom 08.03.2022 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass der Bescheid sowohl inhaltlich als auch infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften rechtswidrig sei. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die Behörde zur Annahme der Unglaubwürdigkeit gelangen könne, dies auch, zumal die Feststellungen davon ausgehen würden, dass die Al-Shabaab in seinem Herkunftsbundesstaat „zunehmend aktiv“ sei bzw. werde. Bei richtiger Beweiswürdigung und rechtlicher Beurteilung hätte die Behörde zu einer Asylgewährung gelangen müssen. Aus den behördlichen Länderfeststellungen gehe hervor, dass die Grundversorgung Somalias in weiten Landesteilen nach wie vor nicht gewährleistet sei. Aus einem weiteren Länderbericht gehe hervor, dass es im September 2021 zu einer weitverbreiteten Krise (IPC-Stufe 3) kommen werde. In dieser Stufe würden Haushalte Lücken im Nahrungsmittelkonsum mit hoher oder überdurchschnittlicher akuter Unterernährung aufweisen und seien nur geringfügig in der Lage, ihren Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken. Es wurde auf Länderberichte zur humanitären Situation in Somalia verwiesen. Aufgrund dieser desaströsen Versorgungslage hätte die Behörde dem Beschwerdeführer bei richtiger Beweiswürdigung und rechtlicher Beurteilung jedenfalls wegen der drohenden Verletzung seiner aus Artikel 3, EMRK gewährleisteten Rechte den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen.
7. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 14.03.2022 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 31.03.2022 in der Gerichtsabteilung W186 einlangte.
8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2022 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W186 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 zugewiesen, wo dieses am 25.04.2022 einlangte.
9. Mit Eingabe vom 26.04.2022 übermittelte die belangte Behörde eine Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft römisch 40 , wonach ein gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts nach Paragraph 146, StGB geführtes Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.
10. Mit Eingabe vom 04.08.2022 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der nach neuerlicher Darstellung des Fluchtvorbringens im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass dieses glaubhaft sei, da er nachvollziehbare Angaben gemacht habe und sich das Vorbringen mit aktuellen, fallbezogenen Länderberichten decke. Es wurde auf Länderberichte zur Stadt römisch 40 , die unter Kontrolle der Al-Shabaab stehe, und zur Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab verwiesen. Der Beschwerdeführer stamme aus einem von Al-Shabaab kontrollierten Gebiet in Südsomalia und gehöre einem Minderheitenclan an. Weiters wurde auf mehrere Medienberichte zu den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die Nahrungsmittelversorgung in Somalia hingewiesen. Die belangte Behörde habe auch die Folgen der Covid-Pandemie und die sich verschlechternde Sicherheitslage in Mogadischu außer Acht gelassen. Die humanitäre Situation werde sich weiter verschlechtern. Insgesamt sei die aktuelle Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia derzeit so schlecht, dass bei einer Rückkehr jedenfalls eine Gefährdung des Artikel 2 und 3 EMRK vorliege.
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.08.2022 eine mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle einer Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.
12. Mit Eingabe vom 18.08.2022 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass es für seine Glaubwürdigkeit spreche, dass er einerseits aus einem von Al-Shabaab kontrollierten Gebiet stamme und es andererseits laut Länderinformationsblatt zu systematischen Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen und Minderheitenangehörigen komme. Diesbezüglich wurde auf Auszüge aus dem Länderinformationsblatt und aus den EUAA-Leitlinien zu Somalia vom Juni 2022 verwiesen. Aus letzteren ergebe sich auch, dass Entführungen eine systematische Zwangsrekrutierungsform der Al-Shabaab darstellen würden und nicht zwingend vorher Druck auf die Eltern ausgeübt werde. In eventu werde vorgebracht, dass der Beschwerdeführer nicht wissen könne, ob seine Eltern bereits vor seiner Entführung bedroht oder unter Druck gesetzt worden seien.
13. Mit E-Mail vom 27.09.2022 teilte das Bundesverwaltungsgericht den Verfahrensparteien mit, dass von UNHCR im September 2022 eine Position zu internationalem Schutz in Hinblick auf Menschen, die aus Somalia fliehen veröffentlicht worden sei. Nach Durchsicht durch die erkennende Richterin seien keine für den Beschwerdeführer maßgeblichen Änderungen der Situation in Somalia feststellbar, zumindest sei keine Verbesserung der Lage eingetreten. Es werde neuerlich darauf hingewiesen, dass im Erkenntnis die aktuellen Länderinformationen als Entscheidungsgrundlage verwendet werden werde. Es stehe den Verfahrensparteien frei, allenfalls zeitnah eine Stellungnahme abzugeben. Die Verfahrensparteien erstatteten keine weiteren Stellungnahmen.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch 40 und ist spätestens am römisch 40 geboren. Er ist somalischer Staatsangehöriger, Angehöriger des Clans der Sheikhal, des Subclans der römisch 40 sowie des Sub-Subclans der römisch 40 und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Somalisch.
Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt römisch 40 in der Region Galguduud geboren, wo er bis zu seiner Ausreise auch gelebt hat. Sein Vater hieß römisch 40 , er ist bereits verstorben. Seine Mutter heißt römisch 40 und ist ca. 44 Jahre alt. Er hat vier Schwestern, römisch 40 (ca. 18 Jahre), römisch 40 (ca. 15 Jahre), römisch 40 (ca. zwölf Jahre) und römisch 40 (ca. fünf Jahre), und drei Brüder, römisch 40 (bereits verstorben), römisch 40 (ca. 19 Jahre) und römisch 40 (ca. 13 Jahre).
Seine Mutter und Geschwister lebten bei seiner Ausreise noch in römisch 40 . Seither hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. In Somalia lebt auch eine Tante väterlicherseits, die er nie kennengelernt hat.
Der Beschwerdeführer hat sieben Jahre lang die Grundschule besucht. Er hat keine Berufsausbildung absolviert und in Somalia nicht gearbeitet. Seine Eltern waren Tagelöhner, sein Vater arbeitete als Träger und seine Mutter als Haushaltshilfe.
Er verließ Somalia im Jänner 2020 im Alter von ca. 17 Jahren. Er hielt sich unter anderem ca. sieben Monate in der Türkei, ca. acht Monate in Griechenland und ca. drei Monate in Serbien auf und stellte am 11.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer war in Somalia keiner versuchten Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab ausgesetzt. Er wurde nicht gemeinsam mit seinem Bruder von Al-Shabaab mitgenommen und eingesperrt, und sein Vater und Bruder wurden nicht in diesem Zusammenhang von Al-Shabaab ermordet.
Bei einer Rückkehr nach Somalia droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder von Al-Shabaab oder durch andere Personen.
1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Juli 2021 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 11.07.2021 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Er wohnt in Österreich in einer Asylunterkunft. Er besucht fünfmal in der Woche einen Deutschkurs, eine Deutschprüfung hat er noch nicht abgelegt. In seiner Freizeit spielt er Fußball. Er ist Mitglied in einem somalischen Verein und hilft freiwillig in seiner Unterkunft, etwa bei Reinigungsarbeiten.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich Freunde, aber keine Familienangehörigen oder vergleichbar enge soziale Kontakte.
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Heimatstadt römisch 40 in der Region Galguduud aufgrund der dort herrschenden schlechten allgemeinen Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Die Stadt steht unter der Kontrolle von Al-Shabaab.
Dem Beschwerdeführer ist auch eine Rückkehr in eine andere Region Somalias, etwa in die Stadt Mogadischu, aufgrund seiner individuellen Umstände in Verbindung mit der im ganzen Land äußerst angespannten Versorgunglage aktuell nicht zumutbar.
Der Beschwerdeführer ist ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der über grundlegende (siebenjährige) Schulbildung, aber keine Berufsausbildung oder Berufserfahrung verfügt. Er ist in Somalia aufgewachsen und entsprechend mit den somalischen Gepflogenheiten vertraut, er spricht auch Somalisch als Muttersprache. Dennoch wäre er insbesondere aufgrund der zuletzt deutlich verschlechterten Ernährungssituation, aber auch der Arbeitsmarkt- und Unterkunftssituation, im Fall einer Ansiedelung in einem anderen Landesteil jedenfalls anfänglich auf familiäre oder sonstige Unterstützung vor Ort angewiesen, um seine Grundbedürfnisse zu sichern.
Zwar leben die Mutter, vier Schwestern, zwei Brüder und eine Tante väterlicherseits des Beschwerdeführers mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit noch in Somalia. Zu diesen hat er jedoch weder Kontakt, noch wären sie wirtschaftlich in der Lage, ihn bei einer Ansiedelung in einem anderen Landesteil zu unterstützen. Seine Mutter arbeitet als Haushaltshilfe, seine Geschwister gehen keiner Arbeit nach. In anderen Landesteilen, etwa in Mogadischu, hat der Beschwerdeführer keine Angehörigen. Er verfügt damit über kein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk in sicheren Landesteilen Somalias und wäre daher darauf angewiesen, dort jedenfalls anfänglich in einem IDP-Lager unterzukommen.
Bei einer Rückkehr nach Somalia und Ansiedelung in einem anderen Landesteil liefe der Beschwerdeführer daher Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia aus dem COI-CMS, Version 4 vom 27.07.2022 (LIB)
- EUAA-Leitlinien zu Somalia vom Juni 2022 (EUAA)
- FSNAU Somalia 2022 Acute Food Insecurity Situation Overview, Rural, Urban and IDP Populations (Projected October-December 2022), [https://fsnau.org/ipc/ipc-map] (FSNAU)
1.5.1. COVID-19 – Letzte Änderung: 29.06.2022
Die Covid-19-Pandemie wirkt sich auch weiterhin auf die humanitäre Lage aus. Mit Stand 30.4.2022 waren seit Beginn der Pandemie insgesamt 26.581 Infektionen und 1.350 damit in Zusammenhang stehende Todesfälle registriert worden. Mit Stand 20.6.2022 waren in Somalia 12.205 aktive Fälle registriert (LIB).
Es gibt nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Impfungen. Ende April 2022 waren 1,4 Millionen Menschen voll immunisiert, insgesamt waren 2,6 Millionen Dosen verabreicht worden. Allerdings zögern viele Menschen, sich impfen zu lassen. U. a. lässt das durch fehlende öffentliche Informationen befeuerte, mangelnde Bewusstsein der Öffentlichkeit hinsichtlich Covid-19 viele Menschen zögern, sich impfen zu lassen; dies gilt sogar für medizinisches Personal. Andere Gründe für die geringe Durchimpfung sind: eine niedrige Zahl an Neuinfektionen; die nicht vorhersagbare Verfügbarkeit von Impfstoffen; die geringe Haltbarkeit der Impfstoffe; und der mangelnde Zugang zu Impfzentren aufgrund von Unsicherheit oder geografischer Entfernung (LIB).
Der Umgang der somalischen Regierung mit der Covid-19-Pandemie war und ist völlig inadäquat. Die tatsächliche Zahl an Covid-19-Fällen und -Toten ist vermutlich höher als die offiziellen Zahlen darstellen. So liegt die Zahl an Covid-19-Toten im Zeitraum März bis September 2020 gemäß einer Studie mindestens 32-mal höher als offiziell angegeben. Während die von der Regierung angegebene Zahl bei 99 liegt, schätzen Experten die Zahl an Toten auf 3.200-11.800. Die Regierung zählt üblicherweise nur jene Toten, die an Covid-19 in medizinischen Einrichtungen verstorben sind. Außerhalb davon gab und gibt es in Somalia kein System für eine Registrierung von Todesfällen. Auch insgesamt sind bei den Infektionen nur jene Fälle registriert worden, wo es Erkrankte überhaupt bis zu einer Gesundheitseinrichtung geschafft haben und dort dann auch tatsächlich getestet wurden. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs – viele mehr sind zu Hause gestorben (LIB).
Problematisch sind die - auch weiterhin - extrem geringen Testkapazitäten, das mit Covid-19 verbundene Stigma, das geringe Vertrauen in Gesundheitseinrichtungen sowie teils auch die Leugnung von Covid-19. Covid-19 wurde (und wird) von Falschinformationen und einem Stigma begleitet. So wurden z. B. Menschen, die Maske tragen, als infiziert oder sogar als gottlos erachtet, Abstandsregeln als kulturell inakzeptabel und unhöflich empfunden. Es wurde versucht, diesen Stigmata mit Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken (LIB).
Trotzdem sind seit Beginn der Pandemie bis Ende Mai 2022 nur rund 494.000 Tests durchgeführt worden. Testungen sind v.a. auf Städte beschränkt. Viele Infektionen werden wegen der geringen Testkapazitäten nicht erkannt (LIB).
Humanitäre Partner hatten schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von Covid-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt. Anfangs gab es nur ein speziell für Covid-19-Patienten zugewiesenes Spital, das Martino Hospital in Mogadischu. Dieses ist allerdings unterbesetzt und schlecht ausgerüstet; von 150 Betten verfügten im Feber 2021 nur 11 über ein Beatmungsgerät und Sauerstoffversorgung. Viele Covid-19-Patienten sind in Spitälern aus Mangel an Sauerstoffversorgung oder wegen eines Stromausfalls gestorben. Es gibt so gut wie keine präventiven Maßnahmen und Einrichtungen. Menschen, die an Covid-19 erkranken, bleibt der Ausweg in ein Privatspital – wenn sie sich das leisten können. Die Situation war derart ernst, dass sich Akteure aus dem privaten Sektor engagiert und zusätzliche Covid-19-Kapazitäten geschaffen haben. Ab August 2021 gab es in Mogadischu schon drei Krankenhäuser, wo Covid-19-Patienten versorgt werden konnten. Der türkische Rote Halbmond hat Somalia im Feber 2021 weitere zehn Beatmungsgeräte zukommen lassen. Im März 2021 spendete die Dahabshil Group dem Staat Sauerstoffverdichter, mit denen insgesamt 250 Patienten versorgt werden können. Die Firma übernimmt auch die technische Instandhaltung. Ende September 2021 wurde in Mogadischu die erste öffentliche Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff eröffnet. Diese wurde von der Hormuud Salaam Stiftung angekauft und gespendet. Der Sauerstoff wird an öffentlichen Spitälern in Mogadischu kostenlos zur Verfügung gestellt. Außerdem hat die EU gemeinsam mit der WHO dem Martino Hospital in Mogadischu eine eigene Anlage zur Produktion von medizinischem Sauerstoff geschenkt. Die Anlage wurde im März 2022 übergeben. Der Sauerstoff wird zur Behandlung von Covid-19 aber auch für andere Patienten verwendet. Zwei weitere solche Anlagen werden in Garoowe und Hargeysa installiert. Taiwan unterstützt Somaliland bei Testungen, Masken, Sauerstoffanlagen sowie mit Impfstoff (LIB).
Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10 %. Nach anderen Angaben erwies sich der Remissenfluss als resilient. Demnach haben sich die Überweisungen von 2,3 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 auf 2,8 Milliarden im Jahr 2020 erhöht. Die Überweisungen an Privathaushalte erhöhten sich von 1,3 auf 1,6 Milliarden (WB 6.2021, Sitzung 11f). In Somaliland sind die Remissen im Jahr 2020 jedenfalls gegenüber jenen im Jahr 2019 gestiegen (LIB).
Der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen. 45 % der Kleinstunternehmen mussten schließen. Die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - haben sich verstärkt. Schätzungen zufolge mussten beim Ausbruch von Covid-19 21 % der Somali ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnimmt. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens. Familien - und hier v. a. von Frauen geführte - spüren auch im Jahr 2022 die Auswirkungen der Pandemie - sei es durch Jobverlust oder den Verlust von Kaufkraft. Manche Unternehmen müssen Mitarbeiter entlassen, um die Folgen der Pandemie zu bewältigen; andere haben mit einem Minimum an Personal wieder den Betrieb aufgenommen (LIB).
Ungeimpfte Reisende müssen ein negatives PCR-Testergebnis mitführen, das nicht mehr als 72 (Mogadischu) bzw. 96 (Hargeysa) Stunden alt ist. Geimpfte müssen keinen Testnachweis erbringen. Am Flughafen in Mogadischu und jenem in Hargeysa werden Screenings durchgeführt. Personen mit Symptomen müssen sich einem Antigentest unterziehen und werden - auf eigene Kosten - in einem Hotel unter Quarantäne gesetzt. Somalische Staatsangehörige, die ohne negatives Covid-19-Testergebnis ankommen, müssen sich für 14 Tage in Selbstquarantäne begeben. Ausländern ohne Testergebnis wird in Mogadischu die Einreise verweigert, in Hargeysa gelten die gleichen Regeln wie für Staatsbürger (LIB).
Die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 wurden weitgehend gelockert bzw. aufgehoben. Alle Menschen sind dazu aufgerufen, Menschenansammlungen zu meiden, Masken zu tragen und Abstandsregeln einzuhalten. Größere Veranstaltungen (Sport, Hochzeiten, Proteste) sind verboten. Nach anderen Angaben wurde das Verbot größerer Veranstaltungen am 19.4.2022 aufgehoben (LIB).
Es gibt keine Einschränkungen im Inlandsverkehr. Der zivile Luftverkehr und öffentliche Verkehrsmittel sind in Betrieb. Die Landverbindungen zwischen Dschibuti und Somaliland wurden wieder geöffnet, der Hafen in Berbera ist in Betrieb (LIB).
1.5.2. Politische Lage
1.5.2.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 22.07.2022
Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird. Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (LIB).
Staatlichkeit: Trotz massiver militärischer, diplomatischer und finanzieller Unterstützung hat die Regierung in Mogadischu kaum Fortschritte gemacht. Nach anderen Angaben hat Somalia in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert. Jedenfalls zeigt das Land trotz erzielter Fortschritte auch weiterhin alle Merkmale eines failed state . Laut einer anderen Quelle ist Somalia zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen, da sie nur wenige Gebiete kontrolliert. Zudem hängt die Existenz des somalischen Staates zum größten Teil von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ab. Dies gilt natürlich auch für die Umsetzung von Aktivitäten seitens der Regierung (LIB).
Aktuelle Politische Lage: Der neue Präsident hat von seinem Vorgänger eine politisierte, parteiische und unfähige Bürokratie geerbt. Die Nabad iyo Nolol (N&N, Friede und Leben), die Partei von Ex-Präsident Farmaajo, hat die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Verwaltung ohne Skrupel zu zentralisieren. Die Regierung unter Farmaajo und dem NISA-Chef Fahad Yasin wollte gemäß einer Quelle in Richtung von Verhandlungen mit al Shabaab und einer Talibanisierung Somalias. Dutzende ehemalige Dschihadisten wurden von ihnen in Schlüsselpositionen der Bundesverwaltung und der Sicherheitskräfte gehievt, politische Führungskräfte und Minister wurden auf Basis von Loyalität und nicht von Kompetenz ausgewählt. Jeder, der als Bedrohung wahrgenommen wurde, wurde angegriffen. Die Bundesregierung und regionale Führer haben alles getan, um zeitgerechte und glaubwürdige Wahlen zu verhindern. Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahlen zu manipulieren, führte das Land in politisches Chaos. Die Verzögerungen, Zusammenstöße und Ungewissheiten rund um die Wahlen haben außerdem zu einem fast vollständigen Zusammenbruch hinsichtlich der Erfüllung von Regierungsfunktionen geführt. Dies hat wiederum zur Spaltung aller Sektoren - auch des Sicherheitsapparats - beigetragen. Der mehr als ein Jahr andauernde Streit um die Wahlen hat nicht nur die Regierungsarbeit gelähmt, er hat es ermöglicht, dass al Shabaab den angeschlagenen Staat weiter ausgehöhlt hat (LIB).
Dahingegen ist Präsident Hassan Sheikh gemäß Angaben einer Quelle ein Demokrat. Er will die Staatsbildung im Konsens fortführen. Um aber den Einfluss von N&N zu tilgen und eine inklusive Politik umzusetzen, wird es Zeit brauchen. Gleichzeitig wird N&N alles daran setzen, von Hassan Sheikh vorangetriebene Reformen zu sabotieren - und zwar von innerhalb der Regierung. Folglich ist das Machtzentrum Somalias nach der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten paralysiert. Eine Elite im Wettstreit stehender islamistischer Fraktionen, die allesamt dem Föderalismus abgeneigt sind, versucht, Reformen zu hintertreiben oder rückgängig zu machen. Die N&N ist im Begriff, sich neu zu gruppieren. Der neue Präsident möchte dem mit einer Stärkung von Dam ul-Jadiid ["Partei" bzw. politisch-islamische Strömung des Präsidenten] entgegenwirken. Der Präsident ist moderat islamisch und keine Bedrohung für demokratische Werte. Insgesamt ist die Politik in Somalia zunehmend in der Hand von Eliten und fraktioniert. Clans üben weniger Macht aus, islamistische Fraktionen gewinnen an Macht und Einfluss (LIB).
1.5.2.1.1. Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug) – Letzte Änderung: 25.07.2022
Galmudug wurde im Jahr 2015 geschaffen. Der Bundesstaat wird vom Hawiye-Subclan der Habr Gedir-Sa'ad dominiert (LIB).
Die Staatsversammlung in Dhusamareb wählte am 02.02.2020 Ahmed Abdi Kariye 'Qoorqoor' zum Präsidenten, während der damalige Amtsinhaber Ahmed 'Haaf' dies anfocht. Nach Verhandlungen zwischen den beiden Opponenten konnte im April 2020 eine friedliche Amtsübergabe stattfinden – allerdings in Absenz der Sufi-Miliz Ahlu Sunna Wal Jama'a (ASWJ). Zuvor waren im Feber 2020 Spannungen zwischen der Regionalregierung und der ASWJ zu schweren Kämpfen eskaliert. Die Bundesregierung hat Qoorqoor so durch die Intervention der Bundesarmee das Amt als Präsident von Galmudug gesichert, das er nach den manipulierten Wahlen auch antrat. Die ASWJ hingegen ist nach einer kurzen Phase der Reorganisierung [siehe Sicherheitslage] de facto (Stand Juli 2022) ausgeschaltet und zerschlagen (LIB).
1.5.3. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten – Letzte Änderung: 25.07.2022
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen. Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIB).
1.5.3.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 25.07.2022
Die Sicherheitslage bleibt instabil bzw. volatil, mit durchschnittlich 236 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto von al Shabaab. Die Angriffe der Gruppe richten sich in erster Linie gegen somalische Sicherheitskräfte und AMISOM. Dabei werden Angriffe vorwiegend mit improvisierten Sprengsätzen und sogenannten hit-and-run-Angriffen durchgeführt. Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt, während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (LIB).
AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Allerdings konnten trotz internationaler Unterstützung kaum weitere territoriale Gewinne verzeichnet werden. Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren. Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS - aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen. Wenn ATMIS abzieht, würde Mogadischu rasch fallen. An dieser Situation wird sich in den nächsten Jahren nichts ändern. Zudem ist die Regierung zum eigenen Überleben schon alleine deswegen auf ausländische Truppen und Hilfe angewiesen, weil sie nicht in der Lage ist, aus eigenen Mitteln Polizisten und Soldaten zu bezahlen (LIB).
Trend: Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten. Der Kampf gegen al Shabaab stagniert seit mehreren Jahren. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hat die vergangenen vier Jahre damit zugebracht, einen Krieg gegen den Föderalismus, politischen Pluralismus und demokratische Normen zu führen – aber nicht gegen al Shabaab. Die Gruppe ist heute stärker denn je und hat 2021 aggressiv expandiert. Dabei sah sich al Shabaab schon zuvor durch den Abzug der USA und einen Teilabzug äthiopischer Kräfte gestärkt. Danach hat sie die große politische Unsicherheit und die damit verbundenen Spannungen genutzt, um das Tempo ihrer Aktivitäten in Mogadischu und in den Bundesstaaten auch mittel- und langfristig aufrechterhalten zu können. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hatte den Kampf gegen al Shabaab aufgeben, und immer mehr Gebiete gingen an die Gruppe verloren. Al Shabaab gewinnt an Boden und konnte im Jahr 2021 in Gebiete vordringen, die bis dahin als geschützt gegolten hatten - etwa in den Nordwesten von Galmudug und in die zuvor friedliche Küstenzone nordwestlich von Mogadischu in Middle Shabelle. Insgesamt konnte al Shabaab unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS-Geländegewinne erzielen (LIB).
Auch der Konflikt zwischen der Bundesregierung und einzelnen Bundesstaaten wurde immer wieder gewaltsam ausgetragen. Im April 2021 ist es in Mogadischu zu Kampfhandlungen gekommen. Auch im September 2021 war die Situation in Mogadischu höchst angespannt. Der Zusammenhalt von Bundesregierung und Bundesstaaten wäre notwendig, weil al Shabaab die Fähigkeit besitzt, Brüche zwischen Bundes- und Regionalregierungen auszunutzen (LIB).
Die Operation Badbaado – 2019 zur Sicherung der westlichen Zugänge zu Mogadischu begonnen - hat sich totgelaufen und wurde nach der Einnahme von Janaale im März 2020 nicht weiterverfolgt. Sie hat lediglich einige unzusammenhängende Vorposten zwischen Mogadischu und Janaale hinterlassen, deren Zwischengebiete von al Shabaab kontrolliert werden. Die als Folgeoperation geplante Operation Badbaado römisch II in Middle Shabelle ist de facto nie angelaufe). Seit Badbaado ist es zu keinem geplanten offensiven Vorgehen gegen al Shabaab mehr gekommen. Ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch ATMIS kann ohne Beteiligung der Truppen der Bundesregierung nicht erwartet werde). Die Fähigkeit, mittlerweile auch die am sichersten eingestuften Ziele angreifen zu können, verdeutlicht dies umso mehr. Die Bundesarmee ist teils nicht in der Lage, FOBs (Forward Operating Base) zu halten. Mehrfach hat al Shabaab erfolgreich FOBs der Bundesarmee angegriffen und überwältigt. Derartige Operationen sind mittlerweile für al Shabaab die wichtigste Quelle an militärischem Nachschub (LIB).
Noch im Mai und Juni 2021 hatte die Bundesarmee bei einer Offensive in Middle Shabelle bewiesen, dass sie zu einer ausschließlich auf eigenen Kräften beruhenden Initiative kaum in der Lage war. Die Operation endete unter großen Verlusten im Fiasko. Mit Antritt von Präsident Hassan Sheikh Mohamud im Mai 2022 haben somalische Kräfte plötzlich mehrere größere Erfolge gegen al Shabaab einfahren können. Einerseits konnte die Spezialeinheit Danab Ende Juni al Shabaab in HirShabelle mit einer Offensive überraschen und mehrere Stützpunkte der Gruppe zwischen Matabaan und Jowhar einnehmen. Andererseits wurden bei einem Zusammenspiel von Macawiisley und Ahlu Sunna Wal Jama'a in Galmudug dutzende Kämpfer der al Shabaab getötet. Dies waren die größten Verluste der Islamisten in den vergangenen fünf Jahren (LIB).
Al Shabaab führt nach wie vor einen Guerillakrieg mit gewalttätigen, extremistischen Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Die Gruppe ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte hit-and-run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Insgesamt verfolgt al Shabaab eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus. Die Präsenz von al Shabaab im ländlichen Raum hat 2021 zugenommen (LIB).
Im Zuge der Wahlen hat al Shabaab ihre Anschläge verstärkt. In Bevölkerungszentren - etwa Mogadischu, Kismayo und Baidoa - greift al Shabaab vorwiegend sogenannte "weiche" Ziele an. Damit sollen psychologische und hinsichtlich medialer Reichweite "sensationelle" Effekte erzielt werden, womit die Gruppe ihre Fähigkeiten zeigt und die Menschen einschüchtern möchte. Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (LIB).
Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab. Die Kriegsführung von al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn. Am meisten betroffen waren davon zuletzt Mogadischu, Lower Shabelle und Bay. Generell sind insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle betroffen. Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (LIB).
Innerhalb der von al Shabaab gehaltenen Gebiete führen Bundesarmee und AMISOM kaum Operationen durch. Es kommt dort lediglich zu sporadischen Luftschlägen der USA. Die größte Einzeloffensive der Bundesregierung der vergangenen Jahre richtete sich im Oktober 2021 gegen ASWJ in Guri Ceel. Dabei wurden 120 Menschen getötet und hunderte verwundet. Dies war die blutigste Schlacht in Somalia seit dem Angriff der al Shabaab auf den kenianischen Stützpunkt in Ceel Cadde (Gedo) Anfang 2016 (LIB).
Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt. Während AMISOM (bzw. als deren Nachfolgerin die ATMIS) und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen. Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen und hat Gebiete gefestigt, wo die Gruppe zuvor unter Druck von Regierungskräften gestanden ist. Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen. Nach anderen Angaben besitzt die Bundesregierung kaum Legitimität und kontrolliert lediglich Mogadischu - und das nicht zur Gänze. In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen. Gleichzeitig erhöht al Shabaab mit der Einnahme von Wegzöllen das eigene Budget. Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (LIB).
Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind
1. das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;
2. Jamaame und Badhaade in Lower Juba;
3. größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;
4. Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;
5. der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor; sowie Rab Dhuure;
6. weites Gebiet recht und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;
7. sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (LIB).
Die Regierung kontrolliert Städte und Orte nur punktuell als Inseln inmitten umstrittener und umkämpfter Gebiete. Selbst in diesen Städten und Orten wird die Regierung von Rebellen unterwandert. In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden – insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (BMLV 19.7.2022). Immer wieder gelingt es al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Matabaan - einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (LIB).
Andere Akteure: Über drei Jahrzehnte gewaltsamer Konflikte haben die sozialen Brüche größer werden lassen. Kämpfe zwischen Clanmilizen und gewaltsame Auseinandersetzungen in Bundesstaaten und zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung kennzeichnen den anhaltenden Konflikt um Macht und Ressourcen. Diese Konflikte um z.B. Land und Wasser führen regelmäßig zu Gewalt. Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie ASWJ. Solche Kämpfe zwischen (Sub-)Clans - vorrangig um Land und Wasser, aber auch um Macht - haben im Jahr 2021 zugenommen. Bei Zusammenstößen in Galmudug, Jubaland und dem SWS kam es dabei zu Toten und massiven Vertreibungen. Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten. Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer – generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter – Gewalt verbunden sein. Das Expertenpanel der UN hat im Zeitraum Jänner bis August 2021 118 Vorfälle von Clankonflikten registriert. Dabei handelte es sich v.a. um Rachemorde und Entführungen. Insgesamt starben dabei 80 Menschen, 170 wurden verletzt; 22 Personen wurden entführt, um Blutgeld für vorhergehende Morde zu erpressen (LIB).
Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (LIB).
Im Zeitraum Feber-Mai 2022 verübte der sogenannte Islamische Staat zwei Sprengstoffanschläge auf einen Polizisten und einen Beamten sowie einen Handgranatenanschlag auf einen Checkpoint der Polizei. Alle diese Vorfälle, bei denen zwei Zivilisten und drei Angehörige der Sicherheitskräfte verletzt wurden, ereigneten sich in Mogadischu (LIB).
Zivile Opfer: Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten. Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an. Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu ATMIS und somalischen Sicherheitskräften. Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIB).
Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von AMISOM bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28% der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20% (LIB).
Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:9367 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen] (LIB).
Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA. Im Jahr 2017 führten die USA 35 Luftschläge in Somalia durch, 2018 waren es 47 und 2019 63. Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 51 gesunken. Im Jahr 2021 bestätigten die USA lediglich 11 Luftangriffe, insgesamt sollen es aber 16 gewesen sein. Die Luftangriffe auf al Shabaab und den IS, bei denen seit 2017 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden sind konzentrierten sich vor allem auf die Regionen Lower Shabelle, Lower Juba, Middle Juba, Gedo und Bari. Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z.B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (LIB).
1.5.3.1.1. Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug) – Letzte Änderung: 25.07.2022
Generell hat die Regierung von Galmudug die Kontrolle über die Städte Dhusamareb, Cadaado, Matabaan und Cabudwaaq. Die Städte Dhusamareb und Guri Ceel sind weitgehend frei von al Shabaab. Dort befindet sich das Hauptquartier einer Division der Bundesarmee sowie eine Garnison von ATMIS-Truppen aus Dschibuti; letztere soll allerdings mittelfristig abgezogen werden. Die Städte Cadaado und Galkacyo können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Dhusamareb und Matabaan waren in der jüngeren Vergangenheit Kernraum des Konflikts zwischen ASWJ und Regierungskräften sowie hinsichtlich Kampfhandlungen mit al Shabaab. Die Lage in diesen Städten hat sich verschlechtert (LIB).
Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ): Nach einem für die ASWJ unvorteilhaften Friedensabkommen im Jahr 2020 befand sich die politische Führung der ASWJ im innerstaatlichen Exil in der puntländischen Hauptstadt Garoowe. Die Miliz wurde teilweise entwaffnet, teilweise – nach einer Ausbildungszeit in Mogadischu – in die staatlichen Sicherheitskräfte übernommen. Damit war die ASWJ vorerst zerschlagen und ausgeschaltet. Allerdings hatte sich ASWJ im September 2021 neu gesammelt und mobilisiert. Die Gruppe argumentierte damit, dass al Shabaab in Galmudug zu einer zunehmend großen Bedrohung geworden war. Demnach hatte ASWJ nach eigenen Angaben lediglich vor, al Shabaab aus Galmudug zu vertreiben. Die Regierung des Bundesstaates hingegen sprach von einem Angriff. Ein anderer Grund für die Remobilisierung war das Schwinden von Geldflüssen. Qatar hatte ursprünglich zugesagt, für die Demobilisierung von 5.000 Kämpfern aufzukommen. Allerdings wurden die Zahlungen später auf 2.500 Mann reduziert. Viele (ehemalige) Kämpfer der ASWJ gingen daher zu ihren Clans zurück, das Friedensabkommen zwischen Galmudug und der Sufi-Miliz begann zu bröckeln (LIB).
Jedenfalls wurde ASWJ im September 2021 in Bohol von Bundestruppen angegriffen. Danach besetzte ASWJ Guri Ceel, Matabaan und Ceel Dheere. Im Zeitraum 23.-27.10.2021 kam es im Bereich Guri Ceel zu Kämpfen zwischen ASWJ und Kräften von Bundesregierung und Galmudug. Dabei sind mindestens 120 Menschen getötet und 600 verletzt worden. 100.000 wurden vertrieben. ASWJ konnte Guri Ceel nach einem vereinbarten Waffenstillstand verlassen und sich nach Bohol, einem 40 Kilometer von Dhusamareb entfernten Dorf, zurückziehen. Bei dem Angriff auf ASWJ spielen auch religiöse Motive eine Rolle, ein Kampf der (damals) in wichtigen Positionen vertretenen Salafisten gegen die Miliz der Sufis. Seit Monaten kommt es also in und um Dhusamareb zu Spannungen und Gewalt zwischen ASWJ und Kräften Galmudugs. Laut neueren Angaben haben sich die Spannungen mit der (neuerlichen) mehrheitlichen Auflösung der ASWJ gelegt (LIB).
Clans: Im März 2021 kam es zu weiteren Gesprächen zwischen den Ayr und Saleban. Insgesamt zogen sich aber Auseinandersetzungen um Wasser, Weideland und andere Ressourcen über Monate hin und halten an – z. B. im Gebiet Balanbaale. Dort wurden im Feber 2022 bei Kämpfen zwischen Marehan und Habr Gedir 43 Menschen getötet und 35 verletzt. Mehr als 2.500 Haushalte wurden vertrieben. Nach anderen Angaben kamen bei Kämpfen zwischen Ayr und Marehan im Gebiet Balanbaale mindestens zehn Menschen ums Leben und 15 wurden verwundet (LIB).
Gebietskontrolle und al Shabaab: Cadaado und Dhusamareb laufen wegen der Präsenz von Sicherheitskräften nicht Gefahr, von al Shabaab überlaufen zu werden. Insgesamt hat al Shabaab ihre Präsenz in Galmudug verstärkt. Zudem hat sich die Grenze des Einflussbereichs von al Shabaab von der Achse Hobyo-Dhusamareb deutlich nach Norden verschoben und reicht nahezu bis Cadaado. In und um Hobyo hat die Gruppe ihre Gebiete ebenfalls ausgedehnt, und in diesem Bezirk kommt es fallweise auch zu Kampfhandlungen (LIB).
Die Bezirke Ceel Dheere und Ceel Buur befinden sich samt Bezirkshauptstädten unter Kontrolle von al Shabaab, dies gilt auch für die Bezirkshauptstadt Xaradheere sowie für Teile dieses Bezirks und Teile des Bezirks Dhusamareb. In Mudug verfügt al Shabaab also weiterhin über eine signifikante Präsenz, führt dort auch Operationen durch und verfolgt eine aggressive Expansion. Die Gruppe ist bis an die wichtige Hauptverbindungsroute Belet Weyne-Galkacyo herangerückt. Al Shabaab kommt mit Angriffen bis an die Straße heran. Die Gruppe dringt zeitweise auch ins Umland von Dhusamareb vor und hat im Juni 2021 auch schon einen AMISOM-Stützpunkt in der Nähe des Flughafens angegriffen. Im Juli wurden Regierungskräfte auf der Straße zwischen Guri Ceel und Dhusamareb angegriffen. Zusätzlich überfiel al Shabaab einen militärischen Stützpunkt in Godinlabe - eine Gegend, die bis zum Zeitpunkt der Auflösung von ASWJ immer frei von al Shabaab geblieben war. Schlussendlich gelang es al Shabaab 2021 zudem, die Stadt Matabaan kurzzeitig einzunehmen, nachdem Polizisten von Galmudug ihre Posten geräumt hatten. Zuvor war al Shabaab seit vielen Jahren keine Bedrohung mehr für die Stadt gewesen (LIB).
2021 kam es vermehrt zu Aktivitäten im Bereich Ba’ad Weyne, Bezirk Hobyo. Dieser Ort sowie Wisil waren von al Shabaab eingenommen worden. Bei Wisil kam es zu schweren Kämpfen mit dutzenden Toten. Al Shabaab hat die Bewohner aufgefordert, Schutzgeld zu bezahlen oder das Gebiet zu räumen. Außerdem forderte die Gruppe die Übergabe junger Männer und Frauen für den Kampf. Hunderte Familien sind daraufhin geflüchtet. Die Bundesarmee und Kräfte von Galmudug haben im Juli 2021 anfänglich das Gebiet von Ba’ad Weyne zurückerobert und sind in Richtung Bezirk Xaradheere vorgestoßen. Al Shabaab setzte zu einer Gegenoffensive an, und es kam in der Folge zu mehreren Kämpfen zwischen beiden Seiten sowie zu US-Luftschlägen. Jedenfalls haben die Regierungskräfte das zuvor gewonnene Gelände wieder verloren (LIB).
Bisweilen wehren sich lokale Clans gegen al Shabaab. So wurden bei einem Angriff der Gruppe auf den Ort Baxdo (ca. 100km nordöstlich von Dhusamareb) am 22.6.2022 67 al-Shabaab-Kämpfer getötet. Beteiligt an dieser erfolgreichen Abwehr waren Sicherheitskräfte und Clanmilizen der Habr Gedir. Andererseits führt al Shabaab gegen Dörfer, die mit ASWJ affiliiert sind bzw. gegen deren Älteste Strafaktionen durch (LIB).
Vorfälle: In den beiden Regionen Galgaduud und Mudug lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 1,29 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 36 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 25 dieser 36 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es 43 derartige Vorfälle (davon 28 mit je einem Toten) (LIB).
1.5.3.1.2. Banadir Regional Administration (BRA; Mogadischu) – Letzte Änderung: 25.07.2022
Noch vor zehn Jahren kontrollierte al Shabaab die Hälfte der Stadt, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Grabenkämpfe war. Seit 2014 ist das Leben nach Mogadischu zurückgekehrt und die Stadt befindet sich unter Kontrolle von Regierung und AMISOM. AMISOM markiert permanent ihre Präsenz in der Hauptstadt. Generell haben sich seit 2014 die Lage für die Zivilbevölkerung sowie die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden in Mogadischu verbessert. Letztere können nunmehr großteils jene Gebiete kontrollieren, in welchen al Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte. Allerdings verfügt die Bundesregierung nicht flächendeckend über ausreichend staatliche Institutionen hinsichtlich der Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums (LIB).
Insgesamt ist die Sicherheitslage in Mogadischu ständigen Änderungen unterworfen. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen der somalischen Sicherheitskräfte untereinander, bei denen nicht selten auch Unbeteiligte zu Schaden kommen. So kam es etwa im Zuge der politischen Krise im Feber und dann wieder im April 2021 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung loyalen Kräften einerseits und oppositionellen Kräften andererseits. Im Zuge dieser Krise haben sich unterschiedliche Fraktionen unterschiedliche Teile von Mogadischu "gesichert". Hawiye-Milizen der Opposition - zum Teil Soldaten der somalischen Armee - hatten große Teile der Stadt unter Kontrolle genommen, rund 200.000 Menschen haben die Stadt verlassen. Anfang Mai 2021 wurden rund drei Viertel der Stadt von der Opposition kontrolliert, während sich die in der Stadt befindlichen Farmaajo-loyalen Kräfte maßgeblich aus - irregulären - Einheiten der NISA zusammensetzten. Nach der Wahl von Hassan Sheikh Mohamed hat sich die Atmosphäre in Mogadischu dramatisch verändert, die Stadt ist ruhiger geworden - zumindest hinsichtlich der politischen Auseinandersetzungen (LIB).
Einerseits reicht die in Mogadischu gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte weiterhin nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen. Andererseits bietet die Stadt für al Shabaab alleine aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele. Innerhalb der Stadt hat sich die Sicherheit zwar verbessert, al Shabaab kann aber nach wie vor Anschläge durchführen. Andererseits gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. In Mogadischu besteht kein Risiko, von al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen. Bei einem Abzug von AMISOM aus Mogadischu droht hingegen die Rückkehr von al Shabaab (LIB).
Geographische Situation: Al Shabaab ist im gesamten Stadtgebiet präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich. Dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische. Relevante Verwaltungsstrukturen gelten als von al Shabaab unterwandert. Der Gruppe gelingt es nach wie vor, selbst die am besten abgesicherten Ziele in der Stadt zu penetrieren. So drang ein Kommando am 23.3.2022 auf das Flughafengelände vor und tötete dort fünf Personen (darunter drei Ausländer). In Mogadischu betreibt al Shabaab nahezu eine Schattenregierung: Betriebe werden eingeschüchtert und "besteuert" und eigene Gerichte sprechen Recht. Al Shabaab ist in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. Stadtbewohner geben an, dass sie aus Angst vor einem Übergriff mit einer Hausrenovierung erst dann beginnen würden, wenn sie an al Shabaab Schutzgeld bezahlt hätten. In den Außenbezirken hat al Shabaab größeren Einfluss, auch die Unterstützung durch die Bevölkerung ist dort größer (LIB).
Anschläge und Attentate: Mogadischu bleibt ein Hotspot terroristischer Gewalt. Al Shabaab verübt gezielte Tötungen und Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen, einige wenige Mörserangriffe und kleinere sogenannte hit-and-run-Angriffe auf Positionen von Regierungskräften am Stadtrand sowie Attentate mit Handgranaten. Die Gruppe ist zudem weiterhin in der Lage, in Mogadischu auch größere Sprengstoffanschläge durchzuführen. Üblicherweise zielt al Shabaab mit Angriffen auf Sicherheitskräfte und Vertreter des Staates ["officials"]. Es werden auch jene Örtlichkeiten angegriffen, die von Regierungsvertretern und Wirtschaftstreibenden sowie Sicherheitskräften frequentiert werden, z.B. Restaurants, Hotels oder Einkaufszentren (LIB).
Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al Shabaab gleich unsicher. Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al Shabaab. Die Hauptziele von al Shabaab befinden sich in den inneren Bezirken: militärische Ziele, Regierungseinrichtungen und das Flughafenareal. Die Außenbezirke hingegen werden von manchen als die sichersten Teile der Stadt erachtet, da es dort so gut wie nie zu größeren Anschlägen kommt. Allerdings kommt es dort öfter zu gezielten Tötungen. Das Expertenpanel der UN verzeichnete im Zeitraum Dezember 2020 bis September 2021 in Mogadischu 270 Vorfälle. Demnach sind die kleinen Altstadtbezirke wenig betroffen, die großen Flächenbezirke im Norden und Nordosten am meisten: Cabdulcasiis, Boondheere, Xamar Weyne und Waaberi je 1; Xamar Jabjab und Shangaani je 2; Kaxda (ein neuer peripherer Bezirk) 3; Shibis 4; Waardhiigley 11; Dharkenley 19; Hawl Wadaag und Wadajir/Medina je 21; Heliwaa und Karaan je 29; Yashiid 30; Hodan 32; Dayniile 63 (LIB).
Zivilisten: Generell unterstützt die Zivilbevölkerung von Mogadischu nicht die Ideologie von al Shabaab. Am Stadtrand ist die Unterstützung größer, die meisten Bewohner haben al Shabaab gegenüber aber eine negative Einstellung. Sie befolgen die Anweisungen der Gruppe nur deshalb, weil sie Repressalien fürchten. Al Shabaab agiert wie eine Mafia: Sie droht jenen mit ernsten Konsequenzen, welche sich Wünschen der Gruppe entgegensetzen. Zivilisten leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al Shabaab: Jene, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Und natürlich besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, und damit zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (LIB).
Bewegungsfreiheit: Da al Shabaab indirekt Kontrolle ausübt, wird dadurch die Mobilität der Stadtbewohner im Alltag eingeschränkt. Die Menschen wissen um die Gefahr bestimmter Örtlichkeiten und versuchen daher, diese zu meiden. Sie bewegen sich in der Stadt, vermeiden aber unnötige Wege. Für viele Bewohner der Stadt ist die Instabilität Teil ihres Lebens geworden. Sie versuchen, Gefahren auszuweichen, indem sie Nachrichten mitverfolgen und sich gegenseitig warnen. An neuralgischen Punkten der Stadt befinden sich Checkpoints, allerdings weniger als früher. An den Einfahrtsstraßen wird jedes Fahrzeug kontrolliert. Insgesamt wird an diesen Straßensperren professioneller vorgegangen als noch vor einigen Jahren (LIB).
Die Gewaltkriminalität in der Stadt ist hoch. Monatlich sterben mehrere Menschen bei Raubüberfällen oder aus anderen Gründen verübten Morden. Zuletzt ist die Gewaltkriminalität weiter angestiegen – v.a. durch Jugendbanden. In rezenter Zeit gab es einen Mangel an Patrouillen, Gangs brechen in Häuser und Geschäfte ein, und begehen Raubüberfälle. Bei manchen Vorfällen ist unklar, von wem oder welcher Gruppe die Gewalt ausgegangen ist; Täter und Motiv bleiben unbekannt. Es kommt zu Rachemorden zwischen Clans, zu Gewalt aufgrund wirtschaftlicher Interessen oder aus politischer Motivation. Lokale Wirtschaftstreibende haben in der Vergangenheit auch schon al Shabaab engagiert, um Auftragsmorde durchzuführen. Mit Stand 2020 berichtet die finnische COI-Einheit: Die Bewohner haben eine hohe Hemmschwelle, um sich an die Polizei zu wenden. Das Vertrauen ist gering. Die Fähigkeit der Behörden, bei kleineren Delikten wie etwa Diebstahl zu intervenieren, ist derart gering, dass Menschen keinen Nutzen darin sehen, Anzeige zu erstatten. Hat eine Person Angst vor al Shabaab, dann kann ein Hilfesuchen bei der Polizei – aufgrund der Unterwanderung selbiger – die Gefahr noch verstärken. Die Polizei ist auch nicht in der Lage, Menschen bei gegebenen Schutzgeldforderungen seitens al Shabaab zu unterstützen (LIB).
Die Kapazitäten des sogenannten Islamischen Staates sind in Mogadischu sehr beschränkt. Im Zeitraum November 2021 - Dezember 2022 verübte die Terrorgruppe in Mogadischu zwei Sprengstoffanschläge auf Sicherheitskräfte (LIB).
Vorfälle: 2021 waren die Bezirke Dayniile (57 Vorfälle), Hodan (35), Karaan (31), Wadajir/Medina (30), Dharkenley (24), Yaqshiid (21) und Hawl Wadaag (21), in geringerem Ausmaß die Bezirke Wardhiigleey (17) und Heliwaa (12) von tödlicher Gewalt betroffen. Zivilisten waren 2021 v.a. in den Bezirken Dayniile (16 Vorfälle) und in geringerem Ausmaß in Hodan (10) und Karaan (11) von gegen sie gerichteter, tödlicher Gewalt betroffen (LIB).
In Benadir/Mogadischu lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 1,65 Millionen Menschen. Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 96 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 86 dieser 96 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es 85 derartige Vorfälle (davon 79 mit je einem Toten). In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2021 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "violence against civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind (LIB).
1.5.4. Al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022
Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz. Zuletzt hat al Shabaab an Macht gewonnen. Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen. Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia. Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah. Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (LIB).
Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit. römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben. Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (LIB).
Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen. Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten. Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung. Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei. Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (LIB).
Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität. Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (LIB).
Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung. Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (LIB).
Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiterbestehen. Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen. Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattet letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (LIB).
Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft. Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel. Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (LIB).
Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk. Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer, jedenfalls mindestens 10.000 Mann an permanent verfügbarer Kampftruppe; mit einer Hinzunahme diverser Dorfmilizen ist diese Zahl vervielfachbar. Eine Quelle vom Mai 2021 spricht von 5.000-10.000 (bewaffneten) Angehörigen der al Shabaab. Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln. Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk. Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann. Der Amniyad ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyad ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig. Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen. Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (LIB).
Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen. Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (LIB).
Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern. Gemäß einer Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus. Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen. In den meisten Städten verfügt die Gruppe zudem über Schattenverwaltungen. "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt"; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (LIB).
Kapazitäten: Al Shabaab hat insgesamt an Stärke gewonnen - auch hinsichtlich personeller und materieller Kapazitäten. Die Gruppe weitet ihren Einfluss ständig aus – nicht nur in den eigenen Gebieten, sondern auch in den nominell unter Kontrolle der Regierung befindlichen Landesteilen. Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z.B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (LIB).
Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Kapitel "Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen"]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem, dort wird alles und jeder besteuert. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022, Sitzung 10). Mit Steuereinnahmen kann al Shabaab genug Geld generieren, um die Rebellion auch hinkünftig aufrechterhalten zu können (LIB).
Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen. Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen. In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (LIB).
Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat. Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel. So wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (LIB).
Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen US-Dollar generieren. Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh; sowie auf manche Dienstleistungen. Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird. Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (LIB).
1.5.5. Rechtsschutz, Justizwesen – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022
Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden. Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (LIB).
Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtsprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen. Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (LIB).
Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere, und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene. Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit. Diese wird von al Shabaab etwa durch die Einhebung von Steuern und die Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte untergraben. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen. Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (LIB).
Formelle Justiz - Kapazität: De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem. Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten. In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet. Generell sind Gerichte aber nur in größeren Städten verfügbar. Der Verfassungsgerichtshof ist immer noch nicht eingerichtet worden. An allen Gerichten mangelt es dem Personal an Ausbildung. Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt. Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes. Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt. Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt, v. a. außerhalb urbaner Zentren nicht vorhanden. Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig. Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (LIB).
Formelle Justiz - Qualität und Unabhängigkeit: Eine landesweite Implementierung und einheitliche Anwendung der von der somalischen Bundesregierung vorgegebenen Bestimmungen ist nicht gesichert. In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt, und nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz. Außerdem werden Urteile durch Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst. Die meisten der in der Verfassung vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nicht angewendet. Nationales oder internationales Recht werden bei Fest- oder Ingewahrsamnahme sowie beim Vorgerichtstellen von Tatverdächtigen nur selten eingehalten. Verfahren dauern sehr lang (LIB).
Die somalische Justiz ist zudem von Korruption geprägt. Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren. Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder. In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten. Zusätzlich halten sich Behörden oft selbst nicht an gerichtliche Anordnungen). In anderen Worten ist [Zitat] 'die soalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden'. Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen. Insgesamt stehen Zivilisten also ernsten Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (LIB).
Formelle Justiz – Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig. Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen, bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren. Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (LIB).
Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller. Auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist Xeer von Bedeutung. Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung eine Policy zu traditioneller Konfliktlösung verabschiedet. Damit sollte die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert (LIB).
Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert. Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen. Jedenfalls dient diese Art der Justiz im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten. Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet. Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität. Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück, in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer. Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIB).
Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen. Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan. Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (LIB).
Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei. Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen. Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt. Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (LIB).
Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle, denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden. Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (LIB).
Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler. Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen. Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren. Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv usammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z. B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (LIB).
In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält. Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (LIB).
Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten. Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen. Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (LIB).
Recht bei al Shabaab: In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten wird das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt. Dort ersetzt islamisches Recht auch Xeer; nach anderen Angaben kommt Xeer fallweise zum Einsatz. Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem. Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (, es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LIB).
Al Shabaab unterhält in den von ihr kontrollierten Gebieten ständige, von Geistlichen geführte Gerichte, welche ein breites Spektrum an straf- und zivilrechtlichen Fällen abhandeln. Zusätzlich gibt es auch mobile Gerichte. Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch. Al Shabaab wendet eine zum Teil extreme Sichtweise und Auslegung der Scharia an. In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch. Al Shabaab inhaftiert Personen für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören, den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes, unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs. Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LIB).
Die Gerichte der al Shabaab werden als gut funktionierend, effektiv, weniger korrupt, schnell und im Vergleich fairer beschrieben – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung. Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden. Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt, bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – selbst Personen aus von der Regierung kontrollierten. So begeben sich z. B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen. Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz. Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren. So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen. Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt. Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch, mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (LIB).
Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage. Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIB).
Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen. Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (LIB).
1.5.6. Sicherheitsbehörden – Süd-/Zentralsomalia, Puntland
1.5.6.1. Ausländische Kräfte - Letzte Änderung: 26.07.2022
Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde. AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv. Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024. Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident. Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (LIB).
Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten. ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab. Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung, die in großem Maße von den Kräften der AMISOM abhängig ist (LIB).
AMISOM hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann. Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert. Bis Ende 2022 ist ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (LIB).
AMISOM wird maßgeblich von der EU finanziert. Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren während die UN für logistische Unterstützung sorgt. Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (LIB).
Im Land befindet sich auch eine auf 1.040 Polizisten mandatierte ATMIS-Polizeikomponente unterschiedlicher afrikanischer Teilnehmerstaaten (Uganda, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, Kenia und Sambia). Die Hauptaufgabe von ATMIS ist hier u. a. die Unterstützung der somalischen Polizei bei der Polizeiarbeit und die Ausbildung somalischer Polizisten (LIB).
Neben den fünf Armeen der AMISOM-Truppenstellerstaaten sind in Somalia noch Militärberater aus zahlreichen anderen Staaten aktiv. Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von AMISOM ausgestattet. Eine Quelle berichtet von vermutlich drei (teils verstärkten) Bataillonen und insgesamt geschätzten 2.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug. Bereits abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (LIB).
Die USA haben die Eliteeinheit Danaab ausgebildet. Allerdings wurden die US-Truppen abgezogen, dieser Abzug war mit Mitte Jänner 2021 offiziell abgeschlossen. 2022 wurde die Entscheidung zum Abzug revidiert. Nun sollen wieder bis zu 500 Soldaten in Somalia stationiert werden, um somalische Truppen auszubilden, zu beraten und auszurüsten. Sie werden in Bali Doogle stationiert – samt Drohnen und Hubschraubern. Zusätzlich befinden sich im Land 50 Soldaten aus Großbritannien. Diese führen ein Trainingsprogramm für somalische Kräfte in Baidoa durch (LIB).
1.5.6.2. Wehrdienst und Rekrutierungen (durch den Staat und Dritte) – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022
Die somalische Armee ist eine Freiwilligenarmee. Es gibt keinen verpflichtenden Militärdienst. Allerdings rekrutieren Clans regelmäßig – und teils unter Androhung von Zwangsmaßnahmen für die Familie – junge Männer zum Dienst in einer Miliz, bei den staatlichen Sicherheitskräften oder bei al Shabaab. Dadurch soll für den eigenen Clan oder Subclan Schutz erlangt werden (LIB).
1.5.6.2.1. (Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten – Letzte Änderung: 26.07.2022
Kindersoldaten:
Allen Konfliktparteien wird vorgeworfen, Kinder zu rekrutieren. Im Jahr 2021 gab es immer wieder Berichte über den Einsatz von Kindersoldaten durch die Bundesarmee, alliierte Milizen, die Sufi-Miliz Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ) und al Shabaab. Im ersten Halbjahr 2021 sind 631 Kinder rekrutiert und eingesetzt worden; weitere 348 wurden entführt – oft mit dem Ziel einer Rekrutierung. Für 77 % der Fälle zeichnet al Shabaab verantwortlich. Dahingegen waren im Vergleichszeitraum 2020 insgesamt 535 Kinder rekrutiert worden, mehr als 400 davon durch al Shabaab. Im Jahr 2019 waren noch 1.169 durch al Shabaab rekrutiert worden, 2018 waren es 2.300. Die Regierung versucht der Rekrutierung von Kindern durch die Armee mit Ausbildungs- und Screening-Programmen entgegenzuwirken. Der Umstand, dass es keine Geburtenregistrierung gibt, macht diese Arbeit schwierig (LIB).
Generell wird festgestellt, dass immer dann, wenn aktive Kampfhandlungen zunehmen, in der Vergangenheit ein damit verbundener Anstieg bei der Rekrutierung von Kindern zu verzeichnen war. Gerade in umkämpften Gebieten ist wiederholt eine besonders hohe Zahl an Rekrutierungen zu verzeichnen (LIB).
Beim Konflikt in der äthiopischen Region Tigray sind auch somalische Rekruten eingesetzt worden, die sich in Eritrea zur Ausbildung befunden haben. Nach Angaben betroffener Eltern sind die Jungmänner unter Vorspiegelung falscher Aussichten in die somalische Armee und damit in den Krieg gelockt worden. Es handelt sich dabei um mindestens 929, möglicherweise aber bis zu 5.000 Rekruten (LIB).
Kindersoldaten - al Shabaab: Al Shabaab rekrutiert und entführt auch weiterhin Kinder. Die Gruppe entführt systematisch Kinder von Minderheitengruppen. Al Shabaab führt u. a. Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch. Es gibt Berichte über Gruppenentführungen aus Madrassen heraus. So sind etwa bei zwei Vorfällen in Bay und Hiiraan im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 35 Buben entführt und zwangsrekrutiert worden. Außerdem indoktriniert und rekrutiert al Shabaab Kinder gezielt in Schulen. Manchmal werden Clanälteste bedroht und erpresst, damit Kinder an die Gruppe abgegeben werden. Es wird mitunter auch Gewalt angewendet, um von Gemeinden und Ältesten junge Rekruten zu erpressen. Knapp die Hälfte der Kinder wird mittels Gewalt und Entführung rekrutiert, die andere durch Überzeugung der Eltern, Ältesten oder der Kinder selbst. Die Methoden unterscheiden sich jedenfalls. So wurde beispielsweise ein Fall dokumentiert, wo im Gebiet um Xudur (Bakool) al Shabaab in manchen Dörfern die „freiwillige“ Übergabe von Kindern zwischen 12 und 15 Jahren forderte, während in anderen Dörfern Kinder zwangsweise rekrutiert wurden. Zudem sind Clans unterschiedlich stark betroffen. So berichten etwa die Hadame [Rahanweyn], dass immer wieder Kinder von al Shabaab zwangsrekrutiert worden sind – z. B. im Februar 2021 (LIB).
In Lagern werden Kinder einer grausamen körperlichen Ausbildung unterzogen. Sie erhalten keine adäquate Verpflegung, dafür aber eine Ausbildung an der Waffe, physische Strafen und religiöse Indoktrination. Kinder werden gezwungen, andere Kinder zu bestrafen oder zu exekutieren. Eingesetzt werden Kinder etwa als Munitions- und Versorgungsträger, zur Spionage, als Wachen; aber auch zur Anbringung von Sprengsätzen, in Kampfhandlungen und als Selbstmordattentäter (LIB).
Manchmal werden Kinder aus den Händen der al Shabaab befreit, so etwa durch Sicherheitskräfte im August 2020, als 33 Buben aus einer Madrassa in Kurtunwareey (Lower Shabelle) befreit wurden. Alle Kinder wurden mit ihren Eltern wiedervereint (LIB).
(Zwangs-)Rekrutierung:
Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia. Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert. Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool. Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten. Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (LIB).
Die Rekrutierung durch Al-Shabaab fand ursprünglich in urbanen Zentren statt. Seit Al-Shabaab in den urbanen Zentren 2012 und 2015 Territorium verloren hat, hat die Rekrutierung in ländlichen Gebieten begonnen. Es wurde berichtet, dass Al-Shabaab seine Stärke aktiver Kämpfer von geschätzten 2.000–3.000 im Jahr 2017 auf 5.000–7.000 im Jahr 2020 erhöht hat. Obwohl Al-Shabaab überwiegend aus Gebieten unter seiner Kontrolle rekrutiert, gab es auch solche Berichte über Rekrutierungen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten, insbesondere aus Mogadischu. Die Rekrutierung außerhalb des eigenen Territoriums von Al-Shabaab beinhaltet häufig Aspekte von Nötigung. Auch in von der Gruppe kontrollierten Gebieten wurde über Zwangsrekrutierung berichtet (EUAA).
Al-Shabaab rekrutiert in der Regel an Orten mit mehreren Clans und baut ihre Rekrutierungsstrategie auf Clan-Konflikten auf. Bis zu 40 % der einfachen Mitglieder werden aus den Regionen Bay und Bakool rekrutiert. In der Region Gedo erleichtern hohe Arbeitslosigkeit und Armut die Fähigkeit von Al-Shabaab, junge Männer als Kämpfer zu rekrutieren, indem sie stark aus dem Marehan-Clan rekrutieren und aus den Beschwerden der Marehan-Subclans Kapital schlagen, die von stärkeren Subclans an den Rand gedrängt werden. In Hirshabelle nutzt Al-Shabaab Beschwerden gegen die wahrgenommene Hawadle-Dominanz aus, indem sie erfolgreich aus den Clans Gaaljeel, Jajele und Baadi Adde rekrutiert Die Mirifle-Clan-Gruppe stellt die Hauptquelle für Fußsoldaten für Al-Shabaab dar, während in der Region Middle Shabelle die Mehrheit der Fußsoldaten von Al-Shabaab aus Gruppen mit niedrigem Status wie den Bantu/Jareer rekrutiert wurden (EUAA).
Die Rekrutierung umfasst sowohl Männer als auch Frauen und findet in allen Altersgruppen statt. Der Zweck der Rekrutierung wird durch Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund und frühere Berufe beeinflusst. Al-Shabaab rekrutiert nicht nur Kämpfer, sondern auch Verwaltungspersonal, Finanziers, Logistikpersonal, Richter, Lehrer und Gesundheitspersonal. Sie ist auch auf Unterstützer und Sympathisanten angewiesen. Informanten werden in Gebieten rekrutiert, die nicht unter der Kontrolle von Al-Shabaab stehen. Die Organisation kann sich auf ein sehr starkes Geheimdienstnetzwerk in Mogadischu verlassen, wo Informanten einfache Studenten, Beamte, Sicherheitskräfte usw. sein können. Einige Rekruten arbeiten in Teilzeit für die Gruppe und gehen ihren täglichen Aufgaben wie der Landwirtschaft oder Geschäftstätigkeit nach (EUAA).
Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet, jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen. Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z. B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung. Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen. Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren. Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss. Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen. Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM oder die Regierung äußern (LIB).
Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan. Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (LIB).
Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt. Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlenden religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle. Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle. Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden. Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 %. Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen. Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent. Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (LIB).
Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer. Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans. Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern. Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet. So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (LIB).
Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (LIB).
Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (LIB).
Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat. Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird. Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (LIB).
Menschen, die Rekrutierungsanträge abgelehnt haben, einschließlich lokaler Gemeindemitglieder, die sich geweigert haben, jüngere Familienmitglieder für die Organisation bereitzustellen, wurden bedroht und als Ungläubige bezeichnet, die den Islam und die Scharia ablehnen, und einige wurden getötet, um andere zu warnen. In anderen Fällen verlässt sich Al-Shabaab auf Älteste, die sich angesichts der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen, Angriffen, Verhaftungen und Zwangsvertreibungen im Falle einer Weigerung nicht weigern können, Dutzende oder sogar Hunderte junger Menschen aus ihrem Clan an die Organisation auszuliefern (EUAA).
1.5.7. Religionsfreiheit – Letzte Änderung: 26.07.2022
Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam. Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an. Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche. Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (LIB).
1.5.7.1. Gebiete unter Regierungskontrolle – Letzte Änderung: 26.07.2022
Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist. Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt, alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (LIB).
Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände. Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen. Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten. Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit. Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (LIB).
Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet. Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (LIB).
1.5.7.2. Gebiete von al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022
In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt. Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch. Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten. Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren. Auf Apostasie steht die Todesstrafe. Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (LIB).
In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt. Al Shabaab verbietet dort generell „un-islamisches Verhalten“ - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung. Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (LIB).
1.5.8. Minderheiten und Clans – Letzte Änderung: 26.07.2022
Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen. Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben. Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt. In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz und für ökonomische sowie politische Partizipation. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten. Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (LIB).
Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor. Weder das traditionelle Recht (Xeer) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren. Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen. Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile. Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet. Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei. Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIB).
Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (LIB).
Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel. Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten. Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert. Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen. So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (LIB).
Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion. Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Zudem mangelt es ihnen an Remissen. Haushalte, die einer Minderheit angehören, stehen einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u. a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (LIB).
Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden. In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (LIB).
Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt. Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten. Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet. Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab. Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (LIB).
1.5.8.1. Bevölkerungsstruktur – Letzte Änderung: 26.07.2022
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen. Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar. Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft. Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist. Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden. Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren. Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern. Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB).
Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden:
o Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
o Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
o Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
o Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.
o Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie. Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (LIB).
Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern. In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (LIB).
Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind. Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine „falsche“ Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (LIB).
1.5.8.2. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation – Letzte Änderung: 13.06.2022
Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums. Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich. Sie werden aber als minderwertig und mitunter als Fremde erachtet. So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (LIB).
Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war. Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler. In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (LIB).
Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status, Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v.a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (LIB).
1.5.8.3. Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose – Letzte Änderung: 13.06.2022
Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (LIB).
Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren. Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser. In Mogadischu ist es im Allgemeinen schwierig, Menschen die dort aufgewachsen sind, nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Selbst anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (LIB).
Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (LIB).
Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben. Allerdings gibt es laut Experten bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt. Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (LIB).
1.5.9. Binnenflüchtlinge (IDPs) und Flüchtlinge – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 25.07.2022
Die somalische Regierung arbeitet mit dem UNHCR und IOM zusammen, um Flüchtlinge, zurückkehrende Flüchtlinge, Asylwerber, Staatenlose und andere relevante Personengruppen zu unterstützen. Der UNHCR setzt sich für den Schutz von IDPs ein und gewährt etwas an finanzieller Unterstützung (LIB).
IDP-Zahlen: Rund 2,9 Millionen Menschen gelten als intern Vertriebene, davon sind ca. 1,9 Millionen Kinder. Im ersten Halbjahr 2021 wurden 359.000 Menschen durch Unsicherheit neu vertrieben (Vergleichszeitraum 2020: 134.000); 68.000 durch Dürre (45.000); 56.500 durch Überflutungen (453.200). Von Überflutungen waren v. a. Jowhar und Belet Weyne betroffen. 207.000 der im Jahr 2021 durch Unsicherheit Vertriebenen flohen temporär aus und innerhalb von Mogadischu, als es dort im April 2021 zu Zusammenstößen in Zusammenhang mit den Wahlen gekommen war. Im Zeitraum November 2021 bis April 2022 wurden insgesamt ca. 650.000 Menschen durch die Dürre neu vertrieben (LIB).
Es gibt mehr als 2.400 IDP-Lager in Somalia. Die Migration vom Land in die Stadt hat zu einem enormen und unregulierten Städtewachstum geführt. Hinsichtlich der IDP-Zahlen müssen zwei Faktoren berücksichtigt werden: Einerseits gibt es für Somalia keine Zahlen zur "normalen" Urbanisierung. Andererseits werden in der Regel nur jene IDPs gezählt, die in Lagern wohnen. Mitglieder großer Clans kommen aber üblicherweise bei Verwandten unter und leben daher nicht in Lagern. In Städten wurde die Urbanisierung durch den Zuzug vieler IDPs verstärkt. Dies hat zu einer hohen Nachfrage nach Land aber auch zu nochmaligen Zwangsräumungen geführt (LIB).
Allerdings ist die Zahl dieser Zwangsräumungen seit 2019 rückläufig. Im ersten Quartal 2022 wurden ca. 31.000 IDPs zwangsweise vertrieben. Zehntausende IDPs wurden auch 2021 vertrieben - v. a. in Mogadischu. Im Jahr 2020 waren es insgesamt 143.000 gewesen - zwei Drittel davon im Großraum Mogadischu, außerdem auch in Baidoa und Kismayo. Insgesamt bleiben Zwangsräumungen von IDPs und armer Stadtbevölkerung ein Problem. Bewohner von Lagern leben daher in ständiger Ungewissheit, da sie immer eine Zwangsräumung befürchten müssen. Die Mehrheit der betroffenen Menschen zog in der Folge in entlegene und unsichere Außenbezirke der Städte, wo es lediglich eine rudimentäre bzw. gar keine soziale Grundversorgung gibt (LIB).
Organisationen wie IOM versuchen, durch eine Umsiedlung von IDPs auf vorbereitete Grundstücke einer Zwangsräumung zuvorzukommen. So wurden z. B. in Baidoa 2019 1.000 IDP-Haushalte aus 15 Lagern auf mit der Stadtverwaltung abgestimmte Grundstücke umgesiedelt. Dort wurden zuvor Latrinen, Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung und andere Infrastruktur installiert. Auch zwei Polizeistationen wurden gebaut. Den IDPs wurden außerdem Gutscheine für Baumaterial zur Verfügung gestellt. Im November 2021 hat der SWS mehr als 4.300 Landbesitzurkunden im Neuansiedlungsgebiet Barwaaqo (Baidoa) ausstellt. Generell befinden sich derartige Relocation Areas am Stadtrand oder sogar weit außerhalb der jeweiligen Stadt. Allerdings bieten diese Lager wesentlich bessere Unterkünfte - etwa Häuser aus Wellblech oder sogar Stein (LIB).
Rechtliche Lage: Ende 2019 hat die Bundesregierung die Konvention der Afrikanischen Union zum Schutz von IDPs ratifiziert. Die Regionalverwaltung von Benadir (BAR) hat ein Büro für nachhaltige Lösungen für IDPs geschaffen. Auch eine nationale IDP-Policy wurde angenommen. Im Jänner 2020 präsentierte die BAR eine Strategie für nachhaltige Lösungen. Diesbezüglich wurden nationale Richtlinien zur Räumung von IDP-Lagern erlassen. Insgesamt sind dies wichtige Schritte, um die Rechte von IDPs zu schützen und nachhaltige Lösungen zu ermöglichen (LIB).
Menschenrechte: IDPs sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nicht-staatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkung und Diskriminierung aufgrund von Clanzugehörigkeit sind an der Tagesordnung. Dies trifft in erster Linie Bewohner von IDP-Lagern – in Mogadischu v. a. jene IDPs, die nicht über Clanbeziehungen in der Stadt verfügen. Weibliche und minderjährige IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung bzw. Missbrauch besonders gefährdet. Für IDPs in Lagern gibt es keinen Rechtsschutz, und es gibt in Lagern auch keine Polizisten, die man im Notfall alarmieren könnte (LIB).
Versorgung: In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten. Landesweit fehlen in 80 % der IDP-Lager Wasserstellen – v. a. in Benadir, dem SWS und Jubaland. Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt. Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften. Allerdings ist der Zustand von IDP-Lagern unterschiedlich. Während die neueren meist absolut rudimentär sind, verfügen ältere Lager üblicherweise über grundlegende Sanitär-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Oft wurde dort auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut. Trotzdem werden noch weniger Kinder von IDPs eingeschult, als es schon bei anderen Kindern der Fall ist (LIB).
Unterstützung: Die EU unterstützte über das Programm RE-INTEG Rückkehrer, IDPs und Aufnahmegemeinden. Dafür wurden 55 Millionen Euro zur Verfügung gestellt [siehe dazu Kapitel Rückkehrspezifische Grundversorgung]. Damit wurde unter anderem für 7.000 Familien aus 54 IDP-Lagern in Baidoa Land beschafft, welches diesen permanent als Eigentum erhalten bleibt, und auf welchem sie siedeln können. Die Weltbank stellt für fünf Jahre insgesamt 112 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Mit diesem Geld soll die städtische Infrastruktur verbessert werden, wovon sowohl autochthone Stadtbewohner als auch IDPs profitieren sollen. Andere Programme für nachhaltige Lösungen werden von UN-HABITAT, dem Norwegian Refugee Council und der EU finanziert oder geführt. Im März 2022 startete die Bundesregierung gemeinsam mit den UN ein vier-Jahres-Programm namens Saameynta. Mit diesem Programm soll mehr als 75.000 IDPs und Aufnahmegemeinden in Baidoa, Belet Weyne und Bossaso geholfen werden. Vor allem sollen die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe und die Armut reduziert sowie die Integration der IDPs in den Städten gefördert werden. Das Programm umfasst den Zugang zu Wasser, Unterkunft und medizinischer Versorgung. IOM setzt das Programm in Partnerschaft mit der Bundesregierung, UNDP und UNHABITAT um. Im März 2021 konnte IOM knapp 7.000 IDPs aus Baidoa in das IDP-Lager Barwaaqo übersiedeln, wo schon 2019 mehr als 6.000 IDPs angesiedelt worden waren. Das Land für dieses Lager wurde von der Lokalverwaltung zur Verfügung gestellt. In Barwaaqo bekommen Familien ein Stück Land, auf dem eine Unterkunft errichtet und ein Garten betrieben werden kann. Die Familien erhalten zudem finanzielle Unterstützung. Zwei Jahre nach der Umsiedlung erhalten die Familien dann auch Rechtsanspruch auf den von ihnen genutzten Grund.
Die Situation von IDPs in Puntland wird von NGOs als durchaus positiv beschrieben, sie können z. B. geregelter Tätigkeit nachgehen. Es gibt Anzeichen dafür, dass in Puntland aufhältige IDPs aus anderen Teilen Somalias dort permanent bleiben können und dieselben Rechte genießen wie die ursprünglichen Einwohner (LIB).
1.5.10. Grundversorgung/Wirtschaft – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Wirtschaft und Arbeit – Letzte Änderung: 27.07.2022
Mehrere Schocks haben die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung des Landes unterminiert, darunter Überschwemmungen, eine Heuschreckenplage und die Covid-19-Pandemie. Die somalische Wirtschaft hat sich allerdings als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet: Ursprünglich war für 2020 ein Rückgang des BIP um 2,5 % prognostiziert worden, tatsächlich sind es dann nur minus 0,4 % geworden. Für 2021 war ein Wachstum von 2,4 % prognostiziert, geworden sind es dann 2,9 %. Für das Jahr 2022 prognostiziert die Weltbank ein Wachstum von 3,2 % (LIB).
Eine der Triebfedern der wirtschaftlichen Erholung sind Remissen und anhaltende Investitionen. Ein resilienter Privatsektor und starke Remissen aus der Diaspora bleiben Grundlage für Optimismus. Zudem gibt es unentwickelte Möglichkeiten aufgrund der Urbanisierung, sowie auf den Gebieten neuer Technologien, Bildung und Gesundheit. Die Geldrückflüsse nach Somalia sind 2021 im Vergleich zu 2020 noch einmal gestiegen, von 30,8 % des BIP auf 31,3 %. Neben der Diaspora sind auch zahlreiche Agenturen der UN (etwa UN-Habitat, UNICEF, UNHCR) tatkräftig dabei, das Land wiederaufzubauen. Das Maß an privaten Investitionen bleibt konstant. Die Inflation lag 2021 bei 4,6 %, für 2022 werden aufgrund höherer Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sowie der herrschenden Dürre 9,4 % prognostiziert (LIB).
Allerdings war das Wirtschaftswachstum schon in besseren Jahren für die meisten Somalis zu gering, als dass sich ihr Leben dadurch verbessern hätte können. Der Bevölkerungszuwachs nivelliert das Wirtschaftswachstum und hemmt die Reduzierung von Armut. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 875 US-Dollar. Zusätzlich bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt. Landwirtschaft, Handel, Kommunikation und mobile Geldtransferdienste tragen maßgeblich zum BIP bei; alleine die Viehwirtschaft macht rund 60% des BIP und 80 % der Exporte aus. Insgesamt sind zuverlässige Daten zur Wirtschaft schwierig bis unmöglich zu erhalten bzw. zu verifizieren bzw. sind vertrauenswürdige Daten kaum vorhanden (LIB).
Al Shabaab und andere nicht staatliche Akteure behindern kommerzielle Aktivitäten in Bakool, Bay, Gedo und Hiiraan (LIB).
Staatshaushalt: Die Regierung ist stark abhängig von externer Hilfe. Ein Großteil der Regierungsausgaben wird durch externe Akteure bezahlt. Alleine die offizielle Entwicklungshilfe betrug 2019 1,9 Milliarden US-Dollar – 40 % des BIP. Aufgrund der fehlenden Kontrolle über das Territorium – aber auch hinsichtlich technischer Fähigkeiten – war die Regierung bisher nicht in der Lage, ein nationales Steuersystem aufzubauen. Selbst für grundlegende Staatsausgaben ist das Land auf externe Geber angewiesen (LIB).
Das Budget für das Jahr 2022 beträgt ca. 919 Millionen US-Dollar. Nach anderen Angaben ist für das Jahr 2022 ein Staatsbudget von 699 Millionen US-Dollar vorgesehen. 2021 waren es 671 Millionen, 2020 476 Millionen und 2019 344 Millionen. 38 % der Staatsausgaben entfallen auf Verteidigung und Sicherheit, in den Jahren 2017 bis 2021 waren es durchschnittlich 31 %. 2021 betrugen die Staatseinnahmen 648 Millionen US-Dollar, davon stammten 388 Millionen von Geberländern. Für 2022 werden 410 Millionen US-Dollar, gespendet von Geberländern, eingeplant. Von den Bundesstaaten gelingt es neben Puntland nur Jubaland, ein relevantes Maß an Einnahmen selbst zu generieren (LIB).
Im Jahr 2020 hatte Somalia mit der Normalisierung der Beziehungen zu internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, Währungsfonds, Afrikanische Entwicklungsbank) einen Meilenstein erreicht. Das Land kann wieder partizipieren (LIB).
Arbeitsmarkt: Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. Ca. 95 % der Berufstätigen arbeiten im informellen Sektor. In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort ab (LIB).
Das Unternehmertum spielt in der somalischen Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Schätzungen zufolge werden alleine dadurch mehr als drei Viertel aller Arbeitsplätze geschaffen. Zum Beispiel hat der Telekom-Konzern Hormuud Telecom in den vergangenen Jahren tausende Arbeitsplätze geschaffen und beschäftigt heute mehr als 20.000 Frauen und Männer. Überhaupt sind zwei Drittel der aktiven Erwerbsbevölkerung Selbständige (LIB)
Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge und zurückkehrende Flüchtlinge in Süd-/Zentralsomalia limitiert sind. So berichten etwa Personen, die aus Kenia zurückgekehrt sind, über mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten. Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Am Arbeitsmarkt spielen Clanverbindungen eine Rolle Gerade, um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde. Männer, die vom Land in Städte ziehen, stehen oft vor der Inkompatibilität ihrer landwirtschaftlichen Kenntnisse mit den vor Ort am Arbeitsmarkt gegebenen Anforderungen. Die Zugezogenen tun sich schwer, eine geregelte Arbeit zu finden; außerdem wird der Umstieg von Selbstständigkeit auf abhängige Hilfsarbeit oft als Demütigung und Erniedrigung gesehen. Darum müssen gerade IDPs aus ländlichen Gebieten in die Lage versetzt werden, neue Fähigkeiten zu erlernen, damit sie etwa am informellen Arbeitsmarkt oder als Kleinhändler ein Einkommen finden. Dies geschieht auch teilweise. Generell finden Männer unter anderem auf Baustellen, beim Graben, Steinebrechen, Schuhputzen oder beim Khatverkauf eine Arbeit. Ein Großteil der Tätigkeiten ist sehr anstrengend und mitunter gefährlich. Außerdem wird von Ausbeutung und Unterbezahlung berichtet (LIB).
Ende Mai 2022 hat die Regierung die National Youth Development Initiative gestartet. Mit dieser sollen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen werden. Zuvor hatte die von der EU finanzierte Dalbile Youth Initiative darauf abgezielt, junge Menschen mit Fähigkeiten und Ressourcen auszustatten und z. B. Start-ups mit bis zu 2.000 US-Dollar zu fördern. UNFPA und die EU unterstützen in Puntland Start-ups von Jungunternehmern – etwa im Bereich Fischfang, Modedesign oder Hotellerie – mit Ausbildung, Know-how und finanziellen Mitteln. Das Programm läuft jedenfalls bis 2024 (LIB).
Einkommen, Tätigkeiten: An Arbeitstätigkeiten genannt werden: Träger am Bau; Arbeiten am Hafen, Köhler; Hilfsarbeiter am Bau; Koranlehrer; Rickshaw-Fahrer; Transporteur mit einer Eselkarre; Transporteur mit einer Scheibtruhe. Arzt; Krankenschwester; Universitätslektor; angestellte und selbstständige Überlandfahrer; Fleischverkäufer; Magd; Hausangestellte; Wäscherin; Marktverkäuferin. In der Verwaltung sind nur wenige Stellen verfügbar, besser stellt sich die Situation bei Polizei und Armee dar. Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jene auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z. B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten. Weibliche IDPs arbeiten als Mägde, Hausangestellte oder Wäscherinnen. Manche verkaufen Früchte auf Märkten. Durch den Niedergang der Landwirtschaft, der maßgeblich durch die Dürre verursacht worden ist, ist auch die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft gesunken bzw. haben sich die Löhne dort verringert (LIB).
Arbeitslosenquote: Die Arbeitslosenquote ist landesweit hoch, wobei es zu konkreten Zahlen unterschiedlichste und teils widersprüchliche Angaben gibt: Laut einer Quelle lag die Erwerbsquote (labour force participation) 2018 bei Männern bei 58 %, bei Frauen bei 37 % . Die Zahl für Frauen wird auch von einer Quelle im Jahr 2021 erwähnt. Eine Quelle nennt 2022 eine Jugendarbeitslosigkeit (15-29 Jahre) von 68 %. Eine weitere Quelle erklärte 2016, dass 58 % der männlichen Jugendlichen (Altersgruppe 15-35) ökonomisch aktiv waren, während drei von zehn Jugendlichen arbeitslos waren. In einer anderen Quelle wird die Arbeitslosenrate für 2020 mit 13,1 % angeführt; die Weltbank nennt für das Jahr 2021 für ganz Somalia eine Arbeitslosenquote bei der Erwerbsbevölkerung von 19,9 %. Eine weitere Quelle nannte 2018 bei 15-24-Jährigen eine Quote von 48 % und eine andere Quelle berichtet 2020 von einer Arbeitslosenquote von 47,4 % bei der erwerbstätigen Bevölkerung. Bei einer Studie aus dem Jahr 2016 gaben hingegen nur 14,3 % der befragten Jugendlichen (Mogadischu 6 %, Kismayo 13 %, Baidoa 24 %) an, gegenwärtig arbeitslos zu sein. Dies kann auf folgende Gründe zurückzuführen sein: a) dass die Situation in diesen drei Städten anders ist als in anderen Teilen Somalias; b) dass die wirtschaftliche Entwicklung seit 2012 die Situation verbessert hat; c) dass es nun mehr Unterbeschäftigte gibt; d) dass die Definition von „arbeitslos“ unklar ist (z. B. informeller Sektor) (LIB).
Nach Angaben einer Quelle hat sich die Arbeitslosigkeit - und damit auch die Armut - infolge der Covid-19-Pandemie verstärkt. 21 % mussten ihre Arbeit niederlegen; und das, obwohl nur 55 % der Bevölkerung überhaupt am Arbeitsmarkt teilnehmen. 78 % der Haushalte berichteten über einen Rückgang des Einkommens (LIB).
[Zur Arbeitsmarktlage in Somalia gibt es kaum aktuelle, v. a. kaum detaillierte Informationen.] In einer eingehenden Analyse hat UNFPA im Jahr 2016 Daten zur Ökonomie in der somalischen Gesellschaft erhoben. Dabei wird festgestellt, dass nur knapp die Hälfte der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (15-64) überhaupt am Arbeitsleben teilnimmt. Der Rest ist „ökonomisch inaktiv“; in diese Gruppe fallen in erster Linie Hausfrauen, gefolgt von Schülern/Studenten, pensionierten oder arbeitsunfähigen Personen. Bei den ökonomisch Aktiven wiederum finden sich in allen Lebensbereichen deutlich mehr Männer (LIB):
● Ländlich: 68,8 % der Männer - 40,5 % der Frauen
● Urban: 52,6 % der Männer - 24,6 % der Frauen
● IDP-Lager: 55,2 % der Männer - 32,6 % der Frauen
● Nomaden: 78,9 % der Männer - 55,6 % der Frauen (LIB)
Aufgeschlüsselt für Puntland und Süd-/Zentralsomalia ergibt sich aus den UNFPA-Daten, dass dort 44,4 % der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeiten. 11,4 % gelten als Arbeitssuchende. 44,2 % der Bevölkerung sind ökonomisch inaktiv (LIB).
Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen in Puntland und Süd-/Zentralsomalia arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (65,6 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (13,5 %) (LIB).
Frauen: Der vor allem unter Männern vorherrschende Khat-Konsum, der im langjährigen Konflikt geforderte Blutzoll an der männlichen Bevölkerung und die hohe Scheidungsrate haben dazu geführt, dass Frauen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vorstoßen – etwa bei der Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43 % der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener. Frauen spielen - außer bei den großen Betrieben - eine führende Rolle beim Unternehmertum. In Mogadischu und Bossaso sind ca. 45 % der formellen Unternehmen im Besitz von Frauen (LIB).
Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z. B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i. d. R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z.B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80 % - 90 % des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft, oder sie verkaufen Kleidung und Essen. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf Baustellen. All diese Tätigkeiten führen Frauen jenseits des ihnen traditionell zugeschriebenen Bereichs des eigenen Haushalts aus. Natürlich gibt es für Frauen auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z. B. können sie nicht Taxifahrerin werden. Sie haben hinsichtlich Einkommensmöglichkeiten eine eingeschränkte Auswahl. Von Frauen abgehaltene Workshops (z. B. Schneiderei-, Henna- und Kochkurse) in Mogadischu tragen zur Verbesserung der Situation bei. Allerdings ist auch bekannt, dass Frauen eine geringere Aussicht auf eine Vollzeitanstellung haben (LIB).
Lebensunterhalt: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, kleine Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8 %). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1 %). 6,9 % arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8 % als Handwerker, 4,7 % als Techniker, 4,1 % als Hilfsarbeiter und 2,3 % als Manager (LIB).
Die Mehrheit der IDPs verdingt sich als Tagelöhner. Frauen gehen oft von Tür zu Tür und bieten ihre Dienste an, etwa als Wäscherinnen oder in der Hausarbeit. Männer gehen häufig auf Baustellen - die Städte werden ja wieder aufgebaut und daher braucht es auch viele Tagelöhner. Die begehrtesten Jobs sind jene auf Baustellen, wo der Verdienst höher ist als in anderen Bereichen. Es gibt auch viele Kleinstunternehmer beiderlei Geschlechts. Dabei bekommen die Menschen nicht immer einen Job, sie arbeiten z. B. nur 2-3 Tage in der Woche. Daneben gibt es humanitäre Hilfe, aber damit sind die Menschen nicht ausreichend versorgt. Nach anderen Angaben bieten NGOs und der Privatsektor den Menschen grundlegende Dienste – vor allem in urbanen Zentren. Zudem haben Menschen in IDP-Lagern - v. a. wenn sie länger dort leben - in der Regel auch eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut (LIB).
In einer Studie von IOM aus dem Jahr 2016 gaben arbeitslose Jugendliche (14-30 Jahre) an, in erster Linie von der Familie in Somalia (60 %) und von Verwandten im Ausland (27 %) versorgt zu werden. Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z. B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie). Erweiterte Familie und Clan stellen also das grundlegende soziale Sicherheitsnetz dar (LIB).
Aufgrund des Fehlens eines formellen Bankensystems ist die Schulden-Kredit-Beziehung (debt-credit relationship) ein wichtiges Merkmal der somalischen Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei spielen Vertrauen, persönliche und Clanverbindungen eine wichtige Rolle – und natürlich auch der ökonomische Hintergrund. Es ist durchaus üblich, dass Kleinhändler und Greißler anschreiben lassen. Zusätzlich ist es 2019 gelungen, die Gargaara Company Ltd. zu etablieren. Über diese Institution werden Kredite an Mikro-, Klein- und mittlere Unternehmen vergeben. Gargaara spielt auch beim Abfedern von Auswirkungen der Covid-19-Pandemie eine Rolle (LIB).
Die Inflation zeigt Auswirkungen auf die Bewertung von Einkommen. Ein Universitätslektor in Mogadischu erörtert, dass vorher 130 US-Dollar ausgereicht haben, um für die Kinder Milch und Nahrung zu besorgen. Nun aber reichen nicht einmal 250 US-Dollar. Er verdient 800 US-Dollar und damit konnte er mit seiner Frau und sieben Kindern ein komfortables Leben führen. Jetzt erklärt er, kaum alle lebenswichtigen Kosten abdecken zu können (LIB).
Remissen: Im Jahr 2020 wurden insgesamt 2,8 Milliarden US-Dollar (2019: 2,3 Milliarden) nach Somalia zurück überwiesen. Davon flossen 1,6 Milliarden an Privathaushalte (2019: 1,3 Milliarden). Wie erwähnt, sind für viele Haushalte Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle bzw. ermöglichen sie es vielen somalischen Staatsbürgern, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Remissen, die bis zu 40% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen also wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte. Städtische Haushalte erhalten viel eher regelmäßige monatliche Remissen, dort sind es 72 %. Die durchschnittliche Höhe der monatlichen Überweisungen beträgt 229 US-Dollar. IDPs bekommen verhältnismäßig weniger oft Remissen. Auch die Bevölkerung in Südsomalia – und hier v. a. im ländlichen Raum – empfängt verhältnismäßig weniger Geld als jene in Somaliland oder Puntland. Ein Grund dafür ist, dass dort ein höherer Anteil marginalisierter Gruppen und ethnischer Minderheiten beheimatet ist (LIB).
Mindestens 65 % der Haushalte, welche Remissen beziehen, erhalten diese regelmäßig (monatlich), der Rest erhält sie anlassbezogen oder im Krisenfall. Remissen können folglich Fluktuationen im Einkommen bzw. gestiegene Ausgaben ausgleichen. Dies ist gerade in Zeiten einer humanitären Krise - etwa jener von 2017 - wichtig. Durch Remissen können Haushalte Quantität und Qualität der für den Haushalt besorgten Lebensmittel verbessern, und ein sehr großer Teil der Überweisungen wird auch für Lebensmittel aufgewendet. Zusätzlich wird in Somalia in Zeiten der Krise auch geteilt. Menschen bitten z.B. andere Personen, von welchen sie wissen, dass diese Remissen erhalten, um Hilfe (LIB).
1.5.11. Grundversorgung und humanitäre Lage – Letzte Änderung: 27.07.2022
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Regelmäßig wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen wie auch Überflutungen, zuletzt auch die Heuschreckenplage, die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia zu einem Land mit hohen humanitären Nöten. Öffentliche Dienste gibt es kaum, meist finden sich Angebote wie Wasser- und Stromversorgung sowie Bildung und Gesundheitsdienste bei privaten Dienstleistern. Für viele Menschen sind derartige Dienste nur schwer oder gar nicht zugänglich. Der Gouverneur der somalischen Zentralbank erklärt, dass es für die Zurverfügungstellung eines finanziellen Sicherheitsnetzes für Bedürftige seitens der Regierung keinerlei budgetären Spielraum gibt (LIB).
Armut: Rund 70 % der Bevölkerung müssen mit weniger als 1,9 US-Dollar pro Tag auskommen und leben damit unterhalb der Armutsgrenze. Die Covid-19-Krise hat die Zahlen noch einmal ansteigen lassen. Es gibt viele IDPs und Kinder, die auf der Straße leben und arbeiten. Generell sind somalische Haushalte aufgrund von Naturkatastrophen, Epidemien, Verletzung oder Tod für Notsituationen anfällig. Mangelnde Bildung, übermäßige Abhängigkeit von landwirtschaftlichem Einkommen, hohe Arbeitslosigkeit, geringer Wohlstand und große Haushaltsgrößen tragen weiter dazu bei. 60 % der Somali sind zum größten Teil von der Viehzucht abhängig, 23 % sind Subsistenz-Landwirte. Zwei Drittel der Bevölkerung leben im ländlichen Raum. Sie sind absolut vom Regen abhängig. In den vergangenen Jahren haben Frequenz und Dauer von Dürren zugenommen. Deswegen wurde auch die Kapazität der Menschen, derartigen Katastrophen zu begegnen, reduziert. Mit jeder Dürre wurden ihre Vermögenswerte reduziert: Tiere starben oder wurden zu niedrigen Preisen verkauft, Ernten blieben aus; es fehlt das Geld, um neues Saatgut anzuschaffen (LIB).
Dürre, Regenfälle, Überschwemmungen: Überschwemmungen und Dürre stellen für Somalia kein neues Phänomen dar. Immer spielt Wasser eine Rolle: Entweder gibt es zu viel davon, oder zu wenig. Derartige Katastrophen ereignen sich seit Jahrzehnten. Allein in den letzten fünfzig Jahren wurden drei Millionen Menschen durch Dürre und Hunger vertrieben. Im Zuge der Dürre im Jahr 1973 in Nordsomalia wurden mehr als 100.000 Familien nach Lower Shabelle und in die Juba-Regionen übersiedelt. Bei der Hungersnot in den Jahren 1991-1992 starben 300.000 Menschen, im Jahr 2011 mehr als 260.000 – die Hälfte davon Kinder unter fünf Jahren. Seit 1990 hat Somalia zwölf Dürren und 19 Flutkatastrophen durchlebt. Doch auch wenn Dürren in dieser afrikanischen Region üblich sind, werden sie tendenziell schlimmer. Somalia ist hinsichtlich des Klimawandels als Frontstaat zu bezeichnen und hat in Ostafrika bislang den größten Temperaturanstieg zu verzeichnen (LIB).
So stehen Somalia und Somaliland diesmal vor einer der schlimmsten Dürren der vergangenen Jahrzehnte, nachdem vier Regenzeiten in Folge schlecht ausgefallen sind, und zuvor eine Heuschreckenplage geherrscht hat. Mehr als 80 % des Landes befinden sich bereits jetzt in schwerer oder extremer Dürre. Damit kann die Situation mit jenen der Jahre 2010/11 und 2016/17 verglichen werden. Bereits am 23.11.2021 hat die Bundesregierung aufgrund der anhaltenden Dürre den Notstand ausgerufen. Die sich verschlechternde Lage bei der Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung und der Ernährungssituation wird von der seit 2020 mehrfach vorkommenden Dürre, von Unsicherheit und Konflikt in Süd-/Zentralsomalia und von durch globale Ereignisse verursachte Preisschocks angetrieben. Dabei sind die Bewältigungsstrategien der Menschen in den vorangehenden Jahren ohnehin durch Nahrungsmittelengpässe, Klimaschocks, Krankheiten, Heuschrecken und die Covid-19-Pandemie erodiert. Von der Dürre sind rund 6,1 Millionen Menschen betroffen, die Mehrheit davon sind Hunger, Elend und dem Verlust ihrer Lebensgrundlage ausgesetzt (LIB).
Die Gu-Regenzeit 2022 verlief unterdurchschnittlich. Im Norden des Landes wurden zwischen 30 % und 60 % der durchschnittlich erwartbaren Menge verzeichnet; in Süd-/Zentralsomalia waren es zwischen 45 % und 75 %. Dies ist die vierte aufeinanderfolgende unterdurchschnittliche Regenzeit. Kurzfristig wird es nach der Gu-Regenzeit zu Verbesserungen kommen; allerdings ist für die Trockenzeit von Juli bis September 2022 eine starke Verschlechterung der Dürrebedingungen vorhergesagt. Langzeitprognosen weisen darauf hin, dass auch die Deyr-Regenzeit im Herbst 2022 schlecht verlaufen wird (LIB).
Ernte, Vieh, Nahrungsmittel, Preise: Das Ausfallen der Deyr-Regenzeit 2021 hat zur schlechtesten Ernte seit Aufzeichnungsbeginn geführt. Auch andere Ernten sind unterdurchschnittlich ausgefallen. Prognosen sagen für die nächste Ernte eine um ca. 40-60 % unterdurchschnittliche Ernte voraus. Unterdurchschnittliche Ernten haben wiederum die Bedeutung von Nahrungsmittelimporten vergrößert. Dementsprechend hat nicht nur die Dürre, sondern auch der Krieg gegen die Ukraine, Nahrungsmittel knapp und teuer werden lassen und die ohnehin angespannte Situation verschlimmert. Somalia bezieht mehr als 90% seines Weizens von Russland und der Ukraine, 70 % stammen aus der Ukraine. Zusätzlich haben der schlechte Regen und die Flucht von Bauern auf der Suche nach Nahrung und Wasser dazu geführt, dass in Ackerbaugebieten weniger Frucht angebaut worden ist. Hinzu kommt ein Mangel an Saatgut, Bewässerungsmöglichkeiten und anderen Notwendigkeiten (LIB).
Bereits im Feber 2022 waren die Nahrungsmittel- und Wasserpreise in einigen Gebieten auf 140-160 % über dem Fünfjahresdurchschnitt angestiegen, ähnlich wie bei den Dürren in den Jahren 2010/11 und 2016/17. Nach Angaben aus dem Juni 2022 haben sich die Preise für Speiseöl, Bohnen, Reis und Zucker verdoppelt – nicht zuletzt auch aufgrund gestiegener Treibstoffpreise (LIB).
Nachdem auch im März 2022 nur wenig Regenfälle verzeichnet wurden, haben 3,5 Millionen Menschen dringend Wasser gebraucht. 80 % der Wasserquellen landesweit sind ausgetrocknet. Am Juba und am Shabelle sank der Wasserstand unter das historische Minimum, in Teilen der Flussverläufe trockneten die beiden Flüsse ganz aus, was wiederum die Landwirtschaft beeinflusst hat. Al Shabaab nutzt Wasser mitunter als Waffe, indem für den Zugang zu Wasserstellen Gebühren eingehoben werden. Bereits im Jänner 2022 konnte ein Fünftel der Bevölkerung grundlegende Bedürfnisse an Wasser nicht abdecken (LIB).
Wassermangel und Mangel an Weidemöglichkeiten haben den Viehbestand der Nomaden dezimiert. Von Mitte 2021 bis Mai 2022 sind mehr als drei Millionen Stück Vieh verendet. Nach anderen Angaben waren es sogar sieben Millionen und damit ein Drittel des somalischen Bestandes. Alleine in Jubaland haben Nomaden seit Oktober 2021 80 % ihrer Rinder verloren. Dabei hat Vieh bis dahin maßgeblich zur Versorgung der Familien – mit Milch und Fleisch – beigetrag). Mancher Suizid ist auf den Verlust des gesamten Viehbestandes zurückzuführen (LIB).
Fluchtbewegungen: Bereits Ende 2021 haben sich Menschen und Nutzvieh aus Dürregebieten auf die Flucht begeben. Aus und in Bay, Bakool, Mudug und Galgaduud kam es zu Fluchtbewegungen. In Belet Weyne kommen laufend Flüchtlinge an. Sie hoffen, dort Hilfe zu finden. Nicht viele in den Lagern können sich ein Fass Wasser um zwei US-Dollar leisten. Die Hungersnot ist selbst in Mogadischu spürbar, wo am Stadtrand immer wieder erschöpfte Menschen aus dem Hinterland eintreffen. Mit Stand Mai 2022 sind mehr als 760.000 Menschen geflüchtet und befinden sich auf der Suche nach Nahrung, Wasser und humanitärer Hilfe (LIB).
Versorgungslage / IPC: [IPC = Integrated Phase Classification for Food Security; 1-moderat bis 5-Hungersnot] Mit Stand Mai 2022 befanden sich fast vier Millionen Menschen in IPC-Stufe 3; mehr als 1,2 Millionen in Stufe 4 und 38.000 in Stufe 5 (Hungersnot). Die meisten Nomaden befinden sich in IPC-Stufe 3 oder 4. Auch viele IDPs sind schwer betroffen. Die meisten armen Stadtbewohner finden sich in IPC-Stufe 3 (LIB).
Die Stadtbevölkerung ist i. d. R. von IPC 3 oder IPC 4 anteilig weniger betroffen als Menschen in ländlichen Gebieten. Generell finden sich unter IDPs mehr Personen, die unter Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung sowie an Mangel- oder Unterernährung leiden (LIB).
Hungersnot: Die sich verschlimmernde Dürre in einigen Teilen Süd-/Zentralsomalias hat die Gefahr einer Hungersnot, die zumindest bis September 2022 besteht, herbeigeführt. Dies gilt dann, wenn die Ernte aus der Gu-Regenzeit schlecht ausfällt; die Nahrungsmittelpreise weiter steigen; und die humanitäre Hilfe nicht hochgefahren wird. Insbesondere betroffen sind: Zentral-Hiiraan (Hawd); Teile von Mudug, Nugaal und Galgaduud (Addun); Bay und Bakool; IDPs in Baidoa, Mogadischu, Dhusamareb und Galkacyo. Überall dort könnte bis September auch eine Hungersnot eintreten. Besonders besorgniserregend ist die Situation jedenfalls in Bay. Bei ausbleibender Hilfe und einer Zuspitzung der Lage können in der Folge auch Teile von Somaliland (Teile von Sanaag, Sool und Togdheer), weitere Teile von Bakool, das Jubatal, die südlichen Küstengebiete in Middle und Lower Juba, weitere Teile von Togdheer, die Küstengebiete in Zentral- und Nordostsomalia sowie die IDPs in Burco, Laascaanood, Garoowe, Belet Weyne, Doolow und Kismayo betroffen sein. Das World Food Programme hat die Menschen im Juni 2022 aufgerufen, sich auf eine Hungersnot vorzubereiten. Gleichzeitig haben sich die Möglichkeiten – v. a. armer und vulnerabler - Bevölkerungsgruppen, sich vor Hunger zu schützen, erheblich gemindert (LIB).
Der aktuelle FSNAU Acute Food Insecurity Situation Overview für Somalia prognostiziert für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2022 für IDPs in Mogadischu die IPC-Stufe 4 („emergency“) (FSNAU).
Mindestens 7,7 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen bzw. von schwerem Hunger oder einer Hungersnot bedroht. Eine Million Menschen befindet sich bereits im Vorzustand einer Hungersnot. Die Zahlen sind mit jenen der äthiopischen Hungersnot 1984 vergleichbar. Schätzungen zufolge könnten bei ausbleibender Hilfe 350.000 Kinder verhungern. Aus Gedo wurden bereits im November 2021 die ersten Hungertoten gemeldet, im März 2022 wurden dort 25 Hungertote bzw. Tote in Zusammenhang mit Nahrungsmittel- und Wasserknappheit gemeldet. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 sind alleine im Spital in Kismayo 33 Kinder an Unterernährung verstorben. Auch aus Hiiraan kommen Meldungen über Kinder, die an Unterernährung verstorben sind. Im Jahr 2022 sind bis Juni 448 Kinder in Zentren zur Versorgung von Unterernährung an Unterernährung verstorben. Viele andere sterben abseits solcher Zentren – in entlegenen Gebieten, auf dem Weg, um Hilfe zu suchen. Die UNO geht von tausenden Hungertoten seit Beginn des Jahres 2022 aus (LIB).
Die Zahlen zur akuten Unterernährung haben sich im ganzen Land verschlechtert. Ca. 1,4 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind davon betroffen, fast 330.000 davon gelten als schwer unterernährt. Vor allem unter neu ankommenden IDPs in Mogadischu, Baidoa und Galkacyo werden hohe Zahlen gemeldet. UNICEF hat von Jänner bis Mai 2022 mehr als 50.000 Kinder wegen schwerer akuter Unterernährung behandelt. Nach neueren Angaben sind bis Jahresende 2022 sogar 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren akut unterernährt, 386.000 Kinder davon akut schwer unterernährt und auf lebensrettende Hilfe angewiesen (LIB).
Humanitäre Hilfe: In Somalia ist die längstdienende humanitäre Mission tätig, jährlich werden Milliarden US-Dollar ausgegeben. Mit Stand Mai 2022 waren in Somalia in 72 von 74 Bezirken alleine 220 humanitäre Organisationen aktiv, davon 158 nationale NGOs. Hier nur einige Beispiele an erbrachter Hilfeleistung: Zwischen Jänner und März 2022 erreichte unterschiedliche Form an Dürrehilfe ca. 2,5 Millionen Einwohner. Durchschnittlich erreichte Hilfe 2,4 Millionen Menschen pro Monat. Viele davon erhielten Nahrungsmittelhilfe durch Geldtransfers, mehr als eine Million Menschen profitieren von längerfristigen Programmen. Insgesamt nutzen rund 70% der Bevölkerung mobile Bankdienste, ein Drittel der Menschen haben mobile Konten. Die Weltbank stellt 143 Millionen US-Dollar zur Verfügung, um vulnerablen Haushalten, die übermäßig von den Klima- und Umweltschäden der letzten Jahre betroffen sind, mit Geld helfen zu können. Bestehende Programme für 160.000 Haushalte werden um mehr als 350.000 Haushalte erweitert. Bereits Anfang Juni 2022 wurde im Rahmen des Baxnaano-Programms Geld an 243.000 Haushalte überwiesen. Die USA stellen 105 Millionen US-Dollar für Nothilfe zur Verfügung. Das Geld wird v. a. für Nahrungsmittel, medizinische und Wasserversorgung verwendet werden. CARE arbeitet an 56 Einrichtungen des Gesundheitsministeriums und mit 77 mobilen Kliniken, um lebensrettende Gesundheits- und Ernährungsleistungen zur Verfügung stellen zu können – v. a. an Schwangere, stillende Mütter und Kinder unter fünf Jahren. Hilfsorganisationen im sogenannten Nutrition Cluster (Ernährung) erreichten 2021 mehr als eine Million Kinder unter fünf Jahren sowie fast 280.000 Schwangere und stillende Mütter mit Ernährungsdiensten. Mehr als 327.000 Kinder unter zwei Jahren wurden mit Nahrungsergänzung versorgt, es gibt hierzu 988 Ernährungszentren. UN-Agenturen und andere Akteure haben im Zeitraum Jänner bis Mai 2022 in Gedo und Bay 42 neue Brunnen errichtet und in Lower Shabelle, Gedo, Lower Juba, Bay, Mudug und Galgaduud 55 Brunnen rehabilitiert. Alle Brunnen wurden mit Solaranlagen ausgestattet. In Puntland helfen u. a. Sicherheitskräfte bei der Verteilung von Wasser in von der Dürre betroffene Gebiete. Auch IOM hat 13.000 Haushalte in neun Bezirken in ganz Somalia mit Wasser versorgt (LIB).
Generell stellen Sicherheitsprobleme ein Hindernis bei der Versorgung von Menschen dar. Unterschiedliche bewaffnete Akteure – aber in erster Linie al Shabaab – behindern v. a. in Süd-/Zentralsomalia humanitäre Hilfe (UNSC 6.10.2021). Die meisten Vorfälle gegen humanitäre Kräfte ereigneten sich zuletzt in Galmudug, HirShabelle und dem SWS. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist der Zugang für humanitäre Hilfe eingeschränkt. Dort kann eine effektive humanitäre Hilfe nur eingeschränkt vollbracht werden (LIB).
Insgesamt ist die Nahrungsmittelhilfe aber nicht ausreichend, weswegen mit einer Verschlimmerung der Situation zu rechnen ist (LIB).
Öffentliche Hilfe - Programm "Baxnaano": Mit diesem Programm soll chronische Armut reduziert und Resilienz aufgebaut werden. Dabei werden 200.000 Haushalten mit Kindern unter fünf Jahren für drei Jahre monatlich 20 US-Dollar an Unterstützung zur Verfügung gestellt. Im November 2021 waren 186.400 Haushalte als Nutznießer gelistet. Insgesamt werden mehr als 1,1 Millionen Menschen - in ländlichen Gebieten, aber auch arme Menschen und IDPs in Städten - über Programme mit vierteljährlichen Geldzahlungen bedacht. Der Anteil des Sozialsektors am Staatsbudget soll 2021 auf 34 % anwachsen; der Großteil davon fließt über Baxnaano an arme und vulnerable Haushalte (LIB).
Gesellschaftliche Unterstützung: Insgesamt gibt es kein öffentliches Wohlfahrtssystem, keinen sozialen Wohnraum und keine Sozialhilfe. Soziale Unterstützung erfolgt entweder über islamische Wohltätigkeitsorganisationen, NGOs oder den Clan. Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Armutsminderung liegen im privaten Sektor. Das eigentliche soziale Sicherungsnetz ist die erweiterte Familie, der Subclan oder der Clan. Sie bieten oftmals zumindest einen rudimentären Schutz. Vorrangig stellt die patrilineare (väterliche) Abstammungsgemeinschaft die Solidaritäts- und Schutzgruppe. Aber daneben gibt es auch die Patri-(Vater)-Linie der Mutter und zusätzlich möglicherweise noch angeheiratete Verwandtschaft. Alle drei Linien bilden in der Regel - wie es ein Experte formuliert - "einen ganz beachtlichen Verwandtschaftskosmos". Und in diesem Netzwerk kann Hilfe und Solidarität gesucht werden, es besteht diesbezüglich eine moralische Pflicht. Allerdings müssen verwandtschaftliche Beziehungen auch gepflegt werden. Entscheidend ist also nicht unbedingt die Quantität an Verwandten, sondern die Qualität der Beziehungen. Wer als schwacher Akteur in diesem Netzwerk positioniert ist, der wird schlechter behandelt als die stark Positionierten. In einer Dokumentation der Deutschen Welle wird ein junger Mann gezeigt, der im Sudan medizinisch versorgt und von dort zurückgeholt werden musste. Die Ältesten bzw. Sultans sammeln Geld im ganzen Clan, und dieser gab dafür schließlich 7.000 US-Dollar aus. Danach hat der Clan dem Mann um 3.000 US-Dollar ein Tuk-Tuk finanziert, damit er den gefährlichen Weg der Migration nicht noch einmal antritt. Diese Art des "Fundraising" (Qaraan) in Somalia und in der Diaspora wird also nicht nur gemacht, um sogenanntes Blutgeld im Fall eines Mordes zu sammeln, sondern auch, um andere Bedürfnisse eines Clanmitglieds abzudecken. Darunter fallen auch Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung (LIB).
Eine weitere Hilfestellung bieten Remissen aus dem Ausland. Allein im Jahr 2021 flossen durch solche Heimatüberweisungen rund 2,8 Milliarden US-Dollar nach Somalia. Das entspricht rund einem Drittel des Bruttoinlandprodukts und ist weit mehr Geld, als durch Entwicklungshilfe ins Land kommt. Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22 % der städtischen, 12 % der ländlichen und 6 % der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Diese stellen einen bedeutenden Anteil des Budgets von Privathaushalten dar. Vor allem für die unteren 40 %, wo Remissen 54 % aller Haushaltsausgaben decken. Minderheiten mangelt es oft am Zugang zu Remissen (LIB).
In Krisenzeiten (etwa Hungersnot 2011 und Dürre 2016/17) stellt die Hilfe durch Freunde oder Verwandte die am meisten effiziente und verwendete Bewältigungsstrategie dar. Neben Familie und Clan helfen also auch andere soziale Verbindungen – seien es Freunde, geschlechtsspezifische oder Jugendgruppen, Bekannte, Berufsgruppen oder religiöse Bünde. Meist ist die Unterstützung wechselseitig. Über diese sozialen Netzwerke können auch Verbindungen zwischen Gemeinschaften und Instanzen aufgebaut werden, welche Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder andere Formen von Unterstützung bieten. Auch für IDPs stellen solche Netzwerke die Hauptinformationsquelle dar, wo sie z. B. Unterkunft und Nahrung finden können. Generell ist es auch üblich, Kinder bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen, wenn eine Familie diese selbst nicht erhalten kann 22 % der bei einer Studie befragten IDP-Familien haben Kinder bei Verwandten, 28 % bei institutionellen Pflegeeinrichtungen (7 %) untergebracht. Weitere 28 % schicken Kinder zum Essen zu Nachbarn (LIB).
In der somalischen Gesellschaft – auch bei den Bantu – ist die Tradition des Austauschs von Geschenken tief verwurzelt. Mit dem traditionellen Teilen werden in dieser Kultur der Gegenseitigkeit bzw. Reziprozität Verbindungen gestärkt. Folglich wurden auch im Rahmen der Dürre 2016/17 die über Geldtransfers zur Verfügung gestellten Mittel und Remissen mit Nachbarn, Verwandten oder Freunden geteilt – wie es die Tradition des Teilens vorsah. Selbst Kleinhändlerinnen in IDP-Lagern, die ihre Ware selbst nur auf Kredit bei einem größeren Geschäft angeschafft haben, lassen anschreiben und streichen manchmal die Schulden von noch ärmeren Menschen. Menschen, die selbst wenig haben, teilen ihre wenigen Habseligkeiten und helfen anderen beim Überleben. Es herrscht eine starke Solidarität (LIB).
Die hohe Anzahl an IDPs zeigt jedenfalls, dass soziale Absicherungssysteme bei Krisen in vielen Teilen des Landes zunehmend überlastet sind, dass also z. B. manche Clans nicht mehr in der Lage sind, der Armut ihrer Mitglieder entsprechend zu begegnen. Wenn Menschen in weit von ihrer eigentlichen Clanheimat entfernte Gebiete fliehen, verlieren sie zunehmend an Rückhalt und setzen sich größeren Risiken aus (LIB).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Feststellung des spätestmöglichen Geburtsdatums folgt dem von der belangten Behörde eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten zu Altersfeststellung vergleiche AS 97-169, insbesondere AS 123), dessen Ergebnissen der Beschwerdeführer nicht entgegentrat vergleiche AS 212). Die getroffenen Feststellungen zum Namen und Geburtsdatum gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Clan- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinen Familienangehörigen (siehe aber sogleich), seinem Aufwachsen in Somalia, seiner Schulbildung, seiner Arbeitserfahrung und seiner Ausreise gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben vor der Behörde und in der mündlichen Verhandlung. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Nicht glaubhaft war betreffend seine Familienangehörigen jedoch, dass sein Bruder römisch 40 nicht mehr in Somalia lebe. Der Beschwerdeführer änderte seine diesbezüglichen Angaben wiederholt ab. In der behördlichen Einvernahme gab er zunächst an, dass auch römisch 40 noch in der Heimat lebe vergleiche AS 215). Erst als er später gefragt wurde, wieso dieser nicht auch Probleme mit Al-Shabaab habe, sagte er plötzlich, dass römisch 40 nicht in Somalia, sondern in Äthiopien lebe, und nur selten heimgekommen sei vergleiche AS 219). In der mündlichen Verhandlung wiederum sagte er, dass römisch 40 als Lkw-Begleiter „zwischen Somalia und Äthiopien“ verkehre und die Familie (überhaupt) nicht besucht habe vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 8-9). Es liegt daher nahe, dass der Beschwerdeführer mit der Behauptung, sein Bruder sei nicht mehr in Somalia, bloß sein Fluchtvorbringen plausibler erscheinen lassen wollte (siehe dazu noch Punkt 2.2.2.).
Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 3). Seine Arbeitsfähigkeit folgt aus seinem Alter und seinem Gesundheitszustand.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach Paragraph 15, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt vergleiche VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
2.2.2. Der Beschwerdeführer konnte sein Fluchtvorbringen, er sei einer versuchten Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab ausgesetzt gewesen und von diesen zusammen mit seinem Bruder mitgenommen und eingesperrt worden, wobei in der Folge auch sein Vater und Bruder von Al-Shabaab ermordet worden seien, nicht glaubhaft machen. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen. Insbesondere weisen seine Angaben eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten auf, die er nicht plausibel auflösen konnte. Sein Vorbringen blieb auch auffällig oberflächlich und vage und erwies sich vor dem Hintergrund der Länderberichte als nicht plausibel.
In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass Al-Shabaab ihn und seinen Bruder rekrutieren habe wollen. Sein Vater habe das nicht gewollt. Deshalb hätten sie diesen und seinen Bruder getötet und er habe das Land verlassen. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass er rekrutiert oder getötet werde. vergleiche AS 26).
In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass eines Tages am Heimweg von der Schule maskierte Männer der Al-Shabaab zu ihnen gekommen seien. Er sei mit seinem Bruder unterwegs gewesen. Die Männer hätten sie mit einem Minibus zu ihrem Stützpunkt gebracht. Ihre Augen seien dabei verbunden gewesen. Dort seien sie für eineinhalb Tage festgehalten worden. Während dieser Zeit hätten die Männer gepredigt und gesagt, dass sie den Islam unterstützen und am Jihad teilnehmen müssten. Während der gesamten eineinhalb Tage seien ihre Augen verbunden gewesen. Am nächsten Tag hätten sie ihnen nachmittags, zur Zeit des Asar-Gebets, die Augenbinde abgenommen. Sein Bruder und er hätten beschlossen gehabt, während des Gebets von dort zu fliehen. Sie hätten die Gelegenheit bekommen und seien geflohen. Kurz danach hätten sie Schüsse gehört und seien in verschiedene Richtungen gerannt. Er sei auf einen Baum geklettert und habe gewartet, bis die Schüsse aufgehört hätten. Sein Bruder sei vor ihm zuhause angekommen und habe der Familie erzählt, was passiert sei. Er selbst sei erst in der Nacht nachhause gekommen. Kurz, nachdem sein Bruder nachhause gekommen sei, seien die Männer der Al-Shabaab mit einem Auto gekommen. Sein Vater sei auch anwesend gewesen. Dieser habe mit den Männern zu streiten begonnen. Dann seien sein Vater und auch sein Bruder ermordet worden. Als er heimgekommen sei, habe ihm seine Mutter alles erzählt. Seine Mutter habe ihm dann gesagt, dass er in großer Gefahr sei und das Dorf verlassen solle. Er sei mit einem Lkw nach Mogadischu gefahren und habe dort noch drei Wochen bei einem Schlepper verbracht, bis er aus Somalia ausgereist sei vergleiche AS 217-219).
In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er eines Tages mit seinem Bruder am Heimweg von der Schule gewesen sei, als plötzlich ein Minibus neben ihnen angehalten habe. Männer seien ausgestiegen, hätten sie mitgenommen und ihnen die Augen verbunden. Sie hätten nicht gesehen, wo sie hingebracht worden seien. Nach einer Weile habe das Auto angehalten und sie seien mit verbundenen Augen zu einem Raum gebracht worden. Sie hätten nicht gewusst, warum sie mitgenommen worden seien. Eineinhalb Tage seien sie in diesem Raum eingesperrt gewesen, in dieser Zeit hätten sie nur beim Essen die Augenbinde leicht nach oben schieben dürfen. Die Männer hätten ihnen gesagt, dass sie am heiligen Krieg teilnehmen und als Jihadisten kämpfen würden. Sein Bruder und er hätten zugestimmt, für sie als Kämpfer zu arbeiten. Erst dann hätten sie ihnen die Augenbinden abgenommen und gesagt, dass sie sie an einen anderen Ort bringen und trainieren würden. Sein Bruder und er hätten ausgemacht, dass sie von dort flüchten würden, da ihre Augen nicht mehr verbunden gewesen seien. Nachmittags gegen 16 Uhr, als die Männer mit dem Aser-Gebet beschäftigt gewesen seien, seien sie geflüchtet. Sie seien in eine unbekannte Richtung gelaufen und hätten Schüsse gehört. Daraufhin hätten sie sich getrennt und seien in verschiedene Richtungen gelaufen. Er habe sich unter einem Baum versteckt und sei dann auf den Baum geklettert. Sein Bruder sei als erstes bei ihnen zuhause angekommen und habe dort von dem Vorfall erzählt. Nach einiger Zeit seien die Al-Shabaab-Männer zu ihnen nachhause gekommen, um seinen Bruder und seinen Vater mitzunehmen. Sein Vater habe mit den Männern diskutiert, woraufhin diese auf seinen Vater und seinen Bruder geschossen und beide getötet hätten. Er selbst sei gegen Mitternacht nachhause gekommen, wo ihm seine Mutter von dem Vorfall erzählt habe. Sie habe gesagt, dass er flüchten solle, da er sonst ebenfalls getötet werde. Er sei von einem entfernten Verwandten nach Mogadischu gebracht worden, wo er noch etwa sechs Wochen in einer Schlepperunterkunft verbracht habe, bis er ausgereist sei vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 10-16).
2.2.3. Diese Angaben des Beschwerdeführers weisen zunächst eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten in für das Fluchtvorbringen durchaus zentralen Punkten auf. So machte er mehrfach einander widersprechende Angaben zum zeitlichen Ablauf der geschilderten Ereignisse. In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde sagte er zunächst, sein Vater sei „ca.“ am 15.12.2019 ermordet worden vergleiche AS 216). Später in derselben Einvernahme gab er jedoch auch ausdrücklich an: „Ich weiß den Tag, als mein Vater ermordet wurde. Das war der Montag, der 02.12.2019.“ vergleiche AS 218). Von Al-Shabaab entführt worden wäre der Beschwerdeführer daher am 30.11.2019. Bei diesen beiden Daten bleib er auch in seiner Stellungnahme vom 04.08.2022 vergleiche OZ 8) und in der mündlichen Verhandlung vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 11). Auf den Widerspruch zum ursprünglich genannten 15.12.2019 ging er später nicht mehr ein. Zugleich sagte er in der behördlichen Einvernahme auch, dass er bis zur endgültigen Ausreise (am 20.01.2020) „noch drei Wochen“ bei einem Schlepper in Mogadischu gewesen sei vergleiche AS 218), was sich ebenso eher mit dem 15.12.2019 als dem 02.12.2019 als Tag der Ermordung decken würde. Zu dieser Angabe brachte der Beschwerdeführer in der Stellungnahme vom 04.08.2022 vor, dass er sich aufgrund der traumatischen Erlebnisse „bei der Datumsangabe“ geirrt habe, es seien nicht drei, sondern über sechs Wochen gewesen vergleiche OZ 8). Wiewohl nicht bestritten wird, dass die vorgebrachten Ereignisse äußerst traumatisch gewesen wären, ist die Divergenz zwischen einem dreiwöchigen und einem über sechswöchigen Aufenthalt in Mogadischu zu gravierend, um allein durch diesen Umstand plausibel erklärt werden zu können. Der Beschwerdeführer hat sich daher sowohl betreffend den Zeitpunkt der Ermordung als auch betreffend den Zeitraum bis zur endgültigen Ausreise in Widersprüche verstrickt.
Ein weiterer, auch für das Fluchtvorbringen relevanter Widerspruch betrifft die Frage, wo sich römisch 40 , ein Bruder des Beschwerdeführers, aufhält. Wie zur Beweiswürdigung der persönlichen Umstände (siehe Punkt 2.1.) bereits ausgeführt, änderte er seine diesbezüglichen Angaben wiederholt ab. In der behördlichen Einvernahme gab er zunächst an, dass auch römisch 40 noch in der Heimat lebe vergleiche AS 215). Erst als er später gefragt wurde, wieso dieser nicht auch Probleme mit Al-Shabaab habe, sagte er plötzlich, dass römisch 40 nicht in Somalia, sondern in Äthiopien lebe, und nur selten heimgekommen sei vergleiche AS 219). In der mündlichen Verhandlung wiederum sagte er, davon erneut teilweise abweichend, dass römisch 40 als Lkw-Begleiter „zwischen Somalia und Äthiopien“ verkehre und die Familie (überhaupt) nicht besucht habe vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 8-9). Wie die belangte Behörde dem Beschwerdeführer zurecht vorhielt, wäre es nicht plausibel, dass Al-Shabaab zwar seinen Bruder römisch 40 und ihn, nicht aber seinen damals ebenfalls ca. 17-jährigen Bruder römisch 40 rekrutieren wollen würde. Spätestens zu jenem Zeitpunkt, als die Al-Shabaab-Mitglieder zu ihnen nachhause gekommen wären, um seinen Vater und Bruder mitzunehmen, wäre anzunehmen, dass auch dieser in ihr Visier geraten würde. Gerade dadurch, dass der Beschwerdeführer seine Angaben zu römisch 40 abrupt änderte, als er von der Behörde auf eine mögliche Ungereimtheit aufmerksam gemacht wurde, erwies er sich in diesem Punkt als besonders unglaubwürdig.
Auch den Ablauf der Gefangenschaft bei Al-Shabaab stellte der Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens unterschiedlich dar. In der mündlichen Verhandlung sagte er, dass sein Bruder und er in dort schließlich zugestimmt hätten, für Al-Shabaab zu kämpfen, und dass ihnen nur deshalb die Augenbinden abgenommen worden seien vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 10, 13). In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde hingegen erwähnte er eine solche Zustimmung mit keinem Wort, und ebenso wenig, dass Al-Shabaab dazu überhaupt eine Entscheidung von ihnen abgewartet hätte vergleiche AS 218). Auch in seiner Stellungnahme vom 04.08.2022 gab er bloß an, dass man „versucht“ habe, sie davon zu überzeugen, für den Jihad zu kämpfen. Gleich im nächsten Satz schilderte er, wie sie vom Stützpunkt geflohen seien vergleiche OZ 8). Für die in der Verhandlung beschriebene Zustimmung zur Rekrutierung bleibt in dieser Darstellung kein Raum. Gerade wenn diese Zustimmung die Bedingung zur Abnahme der Augenbinden (und damit Voraussetzung der Flucht) gewesen wäre, wäre zu erwarten, dass der Beschwerdeführer dies jedenfalls bereits in der behördlichen Einvernahme oder seiner Stellungnahme erwähnt hätte.
Des Weiteren ist auf Grundlage der Angaben des Beschwerdeführers auch in keiner Weise nachvollziehbar, wie es seinem Bruder und ihm gelungen sein soll, aus dem Al-Shabaab-Stützpunkt zu fliehen. Er gab an, dass sie dort die ersten eineinhalb Tage in einem Raum eingesperrt gewesen seien. Dabei seien ihre Augen durchgehend verbunden und die Tür sei verriegelt gewesen, auch beim Essen und auf der Toilette seien sie bewacht worden vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 12-13). Die Vorkehrungen dafür, dass sie nicht aus dem Stützpunkt entkommen, wären somit überaus streng gewesen. Vor diesem Hintergrund ist nicht plausibel, dass man ihnen später nicht nur die Augenbinden abgenommen, sondern sie auch gleich ohne Bewachung ins Freie gelassen hätte. In der behördlichen Einvernahme erläuterte der Beschwerdeführer überhaupt nicht, wie genau die Flucht abgelaufen sei vergleiche AS 218). In der mündlichen Verhandlung sagte er, als er ersucht wurde, die Flucht ganz genau zu beschreiben, dass sie gewusst hätten, dass zur Gebetszeit jeder mit dem Gebet beschäftigt sei. Sie hätten so getan, als würden sie sich für das Gebet waschen, und das Ganze ein bisschen verzögert. Als die Männer angefangen hätten, zu betten, seien sie weggelaufen. Erst nach einer Weile hätten sie Schüsse gehört vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 13). Auch diese Erklärung setzt aber voraus, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder völlig unbeobachtet ins Freie gelassen worden wären, was aus den bereits dargelegten Gründen nicht glaubhaft ist. Selbst wenn die Al-Shabaab-Mitglieder während des Gebets von der Flucht überrascht worden wären, ist angesichts der zuvor beschriebenen Vorkehrungen nicht plausibel, dass sie ihre Gefangenen unverletzt entkommen lassen und „erst nach einer Weile“ Schüsse abgegeben hätten.
Zudem schilderte der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen in wichtigen Punkten auch auffällig oberflächlich und vage und damit im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht ausreichend substantiiert. Nähere Details zum Ablauf der behaupteten Ereignisse brachte er sowohl vor der belangten Behörde als auch in der mündlichen Verhandlung wiederholt nicht von selbst, sondern, wenn überhaupt, erst auf ausdrückliche Nachfrage bzw. Aufforderung des Einvernahmeleiters und der erkennenden Richterin vor. Besonders augenscheinlich war dies zum einen, wie bereits ausgeführt, betreffend die Flucht vom Al-Shabaab-Stützpunkt, zum anderen auch betreffend die Ermordung seines Vaters und Bruders und jenen Moment, als er von deren Tod erfahren hätte. Letzteres überging er im Rahmen seiner freien Erzählung in der mündlichen Verhandlung fast völlig, indem er nur angab, dass seine Mutter ihm „von dem Vorfall erzählt“ habe vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 10-11). Angesichts des einschneidenden Charakters und der Tragweite dieser Ereignisse wäre zu erwarten, dass der Beschwerdeführer sie wesentlich ausführlicher beschreiben würde, wenn er sie tatsächlich erlebt hätte. Durch sein Aussageverhalten verstärkte sich jedoch der Eindruck, dass er bewusst von selbst nur ausgewählte Momente näher beschrieb, um sich nicht in (weitere) Widersprüche zu verstricken und seine Antworten besser abwägen zu können.
Das Bundesverwaltungsgericht übersieht bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen nicht, dass er im Zeitpunkt der vorgebrachten Ereignisse und des Verlassens seines Heimatlandes noch minderjährig gewesen wäre bzw. ist. Der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend ist in diesen Fällen eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und die Dichte dieses Vorbringens kann nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden vergleiche VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0150). Allerdings wäre der Beschwerdeführer auch zum Zeitpunkt der behaupteten Ereignisse bereits 17 Jahre alt gewesen. Es kann durchaus erwartet werden, dass sich jemand an in diesem Alter erlebte bedeutsame Erlebnisse knapp drei Jahre später noch im Wesentlichen erinnert. Die Ungereimtheiten im Vorbringen des Beschwerdeführers betreffen wie dargelegt nicht bloße Details, sondern zentrale Aspekte der Fluchtgeschichte, und waren damit zu groß, um allein durch seine (knappe) Minderjährigkeit bei Ausreise erklärt werden zu können. Es ist auch zu beachten, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Asylantragstellung und damit bei all seinen Einvernahmen in Österreich jedenfalls volljährig war.
Schließlich deckt sich das Vorbringen des Beschwerdeführers in mehrfacher Hinsicht auch nicht mit den vorliegenden Länderberichten zur Praxis der Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab in Somalia (siehe Punkt 1.5.6.2.1.) Darin wird unter anderem ausgeführt, dass bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten direkter Zwang angewendet wird, jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen. Üblicherweise richtet Al-Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Zwar wird in den Berichten auch ausgeführt, dass „die Möglichkeit“ besteht, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Beispiele dafür, dass Al-Shabaab tatsächlich einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat, fänden sich aber nicht. Vor diesem Hintergrund erscheint es zum einen nicht plausibel, dass der Beschwerdeführer gewissermaßen „wahllos“ auf der Straße von Al-Shabaab-Mitgliedern aufgegriffen und mitgenommen worden wäre. Zum anderen legen die Berichte nahe, dass sein Vater nicht bloß deshalb, weil er sich gegen seine Rekrutierung ausgesprochen hätte, getötet worden wäre, zumal ohne jegliche vorherige Einbindung des Clans oder Möglichkeit einer Kompensationszahlung. Entgegen den Ausführungen in der Stellungnahme vom 18.08.2022 vergleiche OZ 13) ergibt sich aus den dort zitierten EUAA-Leitlinien vom Juni 2022 auch nicht, dass Entführungen eine „systematische“ Zwangsrekrutierungsform der Al-Shabaab darstellen würden. Entführungen (von Kindern) werden in den Länderberichten zwar vereinzelt beschrieben, stellen aber, wie eben ausgeführt, nicht den typischen Fall einer Rekrutierung dar.
In einer Gesamtschau dieser beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere der genannten Widersprüche und Ungereimtheiten in zentralen Punkten, der vagen und detailarmen Schilderung und der fehlenden Plausibilität vor dem Hintergrund der Länderberichte, konnte der Beschwerdeführer eine versuchte Zwangsrekrutierung und Gefangennahme durch Al-Shabaab sowie eine Ermordung seines Vaters und Bruders in diesem Zusammenhang nicht glaubhaft machen.
Daraus ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer auch bei einer Rückkehr nach Somalia individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Al-Shabaab oder andere Personen droht.
2.3. Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich, insbesondere zu Aufenthaltsdauer und -titel, seinen Integrationsbemühungen und seinen fehlenden familiären oder vergleichbar engen sozialen Anknüpfungspunkten, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung sowie auf die von ihm im Laufe des Verfahrens vorgelegten Unterlagen.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.4. Zu den Feststellungen zur Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
2.4.1. Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Heimatstadt römisch 40 in der Region Galguduud ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten. Demnach befindet sich unter anderem der Bezirk römisch 40 samt Bezirkshauptstadt unter der Kontrolle von Al-Shabaab (siehe Punkt 1.5.3.1.1.).
Die Feststellungen zu den Familienangehörigen des Beschwerdeführers in Somalia und deren fehlender Unterstützungsfähigkeit ergeben sich aus seinen eigenen, stets gleichlautenden Angaben in Bezug auf deren persönliche Verhältnisse, die vor dem Hintergrund der Situation im Herkunftsstaat plausibel und glaubhaft waren.
Die Feststellung zur deutlich verschlechterten Ernährungssituation in Somalia ergibt sich aus den aktuellen Länderberichten (siehe Punkt 1.5.11.), wonach die sich verschlimmernde Dürre in einigen Teilen Süd- und Zentralsomalias die Gefahr einer Hungersnot, die zumindest bis September 2022 besteht, herbeigeführt hat. Besonders betroffen ist davon unter anderem auch Mogadischu. Die aktuelle FSNAU-Prognose für den Zeitraum Oktober-Dezember 2022 klassifiziert die Ernährungssituation von IDPs in Mogadischu mit IPC-Stufe 4 („emergency“).
In Anbetracht dieser Umstände wäre auch der junge, gesunde und arbeitsfähige Beschwerdeführer, der über grundlegende Schulbildung, aber keine Berufsausbildung oder Berufserfahrung verfügt und als IDP einer besonders vulnerablen Personengruppe angehören würde, bei einer Rückkehr in einen anderen Landesteil jedenfalls anfänglich auf familiäre oder soziale Unterstützung angewiesen, um seine Grundbedürfnisse zu sichern. Wie festgestellt stünde ihm eine solche jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit zur Verfügung. Er müsste daher jedenfalls anfänglich in einem IDP-Lager unterkommen.
Es war daher in einer Gesamtbetrachtung der aktuellen Situation in Somalia und der individuellen Umstände des Beschwerdeführers festzustellen, dass dieser bei einer Rückkehr nach Somalia und Ansiedelung in einem anderen Landesteil Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
2.5. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia aktuell.
Das Bundesverwaltungsgericht legt der gegenständlichen Entscheidung die erst nach der mündlichen Verhandlung veröffentliche FSNAU-Prognose für Somalia betreffend den Zeitraum Oktober bis Dezember 2022 zugrunde, ohne dass diese dem Beschwerdeführer erneut zur Stellungnahme übermittelt wurde. Der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung erklärten sich mit dieser Vorgangsweise in der Verhandlung ausdrücklich einverstanden vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 16).
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.3. Wie festgestellt war der Beschwerdeführer in Somalia keiner versuchten Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab ausgesetzt. Er wurde nicht gemeinsam mit seinem Bruder von Al-Shabaab mitgenommen und eingesperrt, und sein Vater und Bruder wurden nicht in diesem Zusammenhang von Al-Shabaab ermordet. Da die vom Beschwerdeführer geschilderte Verfolgung sich nicht ereignet hat, droht dem Beschwerdeführer aus diesem Grund auch keine Gefahr bei einer Rückkehr nach Somalia. Es liegt beim Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund vor.
3.1.4. Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.
3.1.5. Im Ergebnis droht dem Beschwerdeführer aus den von ihm ins Treffen geführten oder sonstigen Gründen im Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung.
3.1.6. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. war daher als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zu Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten
3.2.1. Paragraph 8, AsylG lautet auszugsweise:
„Status des subsidiär Schutzberechtigten
Paragraph 8, (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, ist mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht.
…“
3.2.2. Gemäß Artikel 2, Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Artikel 3, EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention betreffen die Abschaffung der Todesstrafe.
Unter realer Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH vom 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).
Für die zur Prüfung der Notwendigkeit von subsidiärem Schutz erforderliche Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird vergleiche EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; VfGH 13.09.2013, U370/2012; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).
3.2.3. Die Herkunftsregion des Beschwerdeführers ist wie festgestellt auf Grund der dort herrschenden allgemeinen Sicherheitslage volatil. Aus diesem Grund könnte eine Rückführung des Beschwerdeführers in diese Region für ihn mit einer ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben verbunden sein, weshalb ihm eine Rückkehr dorthin nicht möglich ist.
3.2.4. Gemäß Paragraph 8, Absatz 3, AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offensteht.
3.2.5. Paragraph 11, AsylG lautet:
„Innerstaatliche Fluchtalternative
Paragraph 11, (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins,) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.“
3.2.6. Für die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative sind zwei getrennte und selbständige Voraussetzungen zu prüfen. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und Schutz vor Bedingungen, die nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Das als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet muss zudem sicher und legal zu erreichen sein vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118). (Analyse der Relevanz). Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen (Analyse der Zumutbarkeit).
Ob dem Asylwerber ein Aufenthalt in einem bestimmten Gebiet des Herkunftsstaates zugemutet werden kann, hängt von mehreren Faktoren ab, insbesondere von persönlichen Umständen des Betroffenen, der Sicherheit, der Achtung der Menschenrechte und der Aussichten auf wirtschaftliches Überleben. Es muss möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute des Asylwerbers führen können. Ein voraussichtlich niedrigerer Lebensstandard oder eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation sind keine ausreichenden Gründe, um ein vorgeschlagenes Gebiet als unzumutbar abzulehnen. Die Verhältnisse in dem Gebiet müssen aber ein für das betreffende Land relativ normales Leben ermöglichen vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; VwGH vom 30.01.2018 Ra 2018/18/0001).
3.2.7. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mogadischu so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein. Mogadischu ist durch einen internationalen Flughafen über den Luftweg auch sicher und legal erreichbar. Damit liegt die erste Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative vor.
3.2.8. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat; es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härte zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001). Dabei handelt es sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss vergleiche VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118, mwN).
Fallgegenständlich muss neben der nach wie vor prekären Sicherheitslage in Süd-/Zentralsomalia sowie der prekären Menschenrechtslage in von Al-Shabaab kontrollierten Gebieten auch die aktuell angespannte Grundversorgungslage berücksichtigt werden. Aus den Länderberichten ergibt sich, wie beweiswürdigend bereits ausgeführt, dass sich insbesondere die ohnehin schon angespannte Ernährungssituation zuletzt noch einmal drastisch verschlechtert hat, es droht unter anderem in Mogadischu infolge mehrerer Dürreperioden und stark gestiegener Preise eine Hungersnot.
3.2.9. Der Beschwerdeführer, der nicht aus Mogadischu stammt, kann unter diesen Umständen nicht in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Somalias, insbesondere nach Mogadischu, verwiesen werden:
Gegen eine innerstaatliche Fluchtalternative spricht nicht nur die prekäre Versorgungs- und Sicherheitssituation in weiten Teilen des Landes, sondern auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer wie festgestellt in anderen Gebieten seines Herkunftsstaats, insbesondere in Mogadischu, keinerlei unterstützungsfähiges soziales oder familiäres Netzwerk hätte, welches ihm zumindest anfänglich bei der Sicherung seiner Grundbedürfnisse helfen könnte.
Für Rückkehrer ohne Netzwerk oder Geld gestaltet sich die Situation schwierig. Im herausfordernden Umfeld von Mogadischu sind entweder ein funktionierendes Netzwerk oder aber genügend Eigenressourcen notwendig, um ein Auslangen finden zu können. Mangels eines solchen Netzwerks würde der Beschwerdeführer Gefahr laufen, in ein IDP-Lager gehen zu müssen. In diesem Zusammenhang ergibt sich aus den Länderberichten, dass sich ein erheblicher Teil der Rückkehrer als IDPs wiederfindet und es vor allem in Mogadischu zu Vertreibung bzw. Zwangsräumungen von IDPs gekommen ist. IDPs gehören in Somalia generell zu den am meisten gefährdeten Personengruppen. Die Regierung und Regionalbehörden bieten nur unwesentlichen Schutz und Unterstützung. In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten. Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt. Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften. Auch wenn es in Mogadischu mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt als an anderen Orten Somalias, ist dennoch zu berücksichtigen, dass freie Arbeitsplätze häufig über die Verwandtschaft oder den Clan vergeben werden.
Den Länderberichten ist daher in ihrer Gesamtheit zu entnehmen, dass sich ein Rückkehrer, der in einer Stadt, insbesondere Mogadischu, weder über eine Kern- oder eine erweiterte Familie mit entsprechenden Ressourcen verfügt, noch auf Remissen zurückgreifen kann, in einem IDP-Lager wiederfinden und seinen Lebensunterhalt nicht sichern wird können.
In Hinblick auf die Länderberichte muss daher davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Somalia außerhalb seines Heimatortes derzeit ohne familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte nicht mit der nötigen Wahrscheinlichkeit seinen notdürftigsten Lebensunterhalt erwirtschaften und dadurch für ihn in kürzester Zeit eine existenzbedrohende Lage entstehen könnte, zumal derzeit auch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass er in Somalia sonst ausreichend finanziell unterstützt werden würde. Aufgrund der dargestellten Situation betreffend die unter anderem in Mogadischu drohende Hungersnot und unter Berücksichtigung der fehlenden Berufsausbildung und Arbeitserfahrung des Beschwerdeführers nicht von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in Mogadischu auszugehen.
Sohin kommt im Falle des Beschwerdeführers eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des Paragraph 11, AsylG 2005 nicht in Frage.
3.2.10. Ausschlussgründe nach Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 liegen nicht vor, weil sie einerseits nicht hervorgekommen sind (Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer eins und 2 AsylG) und der Beschwerdeführer andererseits strafrechtlich unbescholten ist (Ziffer 3, leg. cit).
3.2.11. Der Beschwerde war in diesem Spruchpunkt des angefochtenen Bescheides daher stattzugeben und dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Somalia zuzuerkennen.
3.3. Zur Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung:
3.3.1. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
3.3.2. Im gegenständlichen Fall war dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Somalia zuzuerkennen. Daher ist ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres zu erteilen (zur Festlegung der Gültigkeitsdauer siehe VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0281, Rn 41).
3.4. Zu den Spruchpunkten römisch III. bis römisch VII. des angefochtenen Bescheides:
Nachdem dem Beschwerdeführer mit dem vorliegenden Erkenntnis der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, waren auch die mit Spruchpunkt römisch IV. des angefochtenen Bescheides nach Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG erlassene Rückkehrentscheidung sowie die weiteren damit verbundenen Aussprüche zu beheben, da diese ihre rechtliche Grundlage verloren haben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
ECLI:AT:BVWG:2022:W261.2253430.1.00