Bundesverwaltungsgericht
04.10.2022
W261 2250419-1
W261 2250419-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 09.12.2021, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Somalias, stellte nach unregelmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 18.09.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 19.09.2021 fand seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer, dass sein Name römisch 40 sei und dass er in römisch 40 geboren sei. Er habe sich nach seiner Abschiebung aus römisch 40 für ca. zwei Wochen in Somalia aufgehalten und sei dann weiter legal in die Türkei gereist.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass es in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) so sei, dass man abgeschoben werde, wenn ein ausländischer Staatsangehöriger keinen Job habe oder nicht studiere und der Vater keine Arbeit habe, um die Familie zu ernähren. So sei es bei ihm gewesen. Die Lage in Somalia sei unsicher, es herrsche Bürgerkrieg. Sein Onkel sei vor kurzem von den islamischen radikalen Milizen umgebracht worden. Er fürchte, dass er auch von den islamistischen Radikalen umgebracht werde.
3. Am 25.11.2021 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, dass er gesund sei und keine Medikamente nehme. Seine Muttersprache sei somalisch und arabisch, er verstehe die arabische Dolmetscherin sehr gut. Er sei sunnitischer Muslim und gehöre der Volksgruppe der der Darood, dem Clan der Ogaden und dem Sub Clan der Reer Amer an. Er sei in römisch 40 geboren, wo er auch 12 Jahre lang die Grundschule besucht habe. Zuletzt habe er als Supervisor in einer Wäscherei sowie in einem Veranstaltungszentrum gearbeitet. Er sei professioneller Fußballspieler gewesen und habe gut leben können. Danach habe er nur zwei Wochen in römisch 40 gelebt. Da habe er nicht gearbeitet, er sei dann nach Mogadishu gegangen und nach einer Nacht sei er dann legal mit einem somalischen Pass in die Türkei gereist. Er habe den Militärdienst nie abgeleistet.
Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er bereits bei seiner Ausreise aus den VAE nach Somalia im Kopf gehabt habe, dass er in besseres Land auswandern werde. Er habe Angst gehabt nach Somalia zu kommen, weil sein Onkle kurz zuvor getötet worden sei. Er habe im Haus seines Onkels mit dessen Kindern, seinen Cousins gelebt. Es sei nicht einmal eine Woche vergangen, da hätten Al Shabaab begonnen, das Haus zu stürmen. Sie hätten ihnen gesagt, dass sie ihnen beitreten sollen, oder getötet werden würden. Sie hätten nicht gewollt, dass sie der Regierung beitreten würden, wie es der Onkel getan habe. Wäre der Beschwerdeführer der Gruppe beigetreten, dann wäre er bei Kampfhandlungen oder bei Selbstmordanschlägen getötet worden. Wenn er sich verweigert hätte, wäre er gleich getötet worden. Er habe dann mit seiner Familie gesprochen. Drei Tage lang habe er nicht schlafen können. Nach seiner Ausreise habe ihm seine Familie gesagt, dass Al Shabaab noch immer seine Familie bedrohe. Nachgefragt gab er an, dass er nicht von Angesicht zu Angesicht mit Al Shabaab gesprochen habe, er sei in einer Ecke gewesen und habe mitgehört. Dies sei der einzige Vorfall in Somalia gewesen. Der Beschwerdeführer legte bei der Verhandlung eine Kopie seines Reisepasses und eine Bestätigung einer Vertrauensperson vor.
4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 09.12.2021 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihm gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt römisch II.) und erteilte ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr (Spruchpunkt römisch III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer sein Herkunftsland aufgrund einer Verfolgung oder Furcht vor solcher verlassen habe. Seine Ausführungen in Bezug auf eine Verfolgung seiner Person durch Angehörige der Al Shabaab hätten nicht glaubhaft festgestellt werden können. Seine Angaben dazu seien aus näher dargestellten Gründen völlig vage, nicht lebensnah, teilweise widersprüchlich und auch nicht mit den amtsbekannten Verhältnissen in Somalia zu vereinbaren gewesen. Seine Behauptung über eine angeblich beabsichtigte Zwangsrekrutierung durch die Al Shabaab werde ihm nicht geglaubt. Er sei nach eigenen Angaben auch nie persönlich von Al Shabaab angesprochen worden. Aufgrund seiner Person sei im Falle einer Rückkehr nach Somalia auf Grund der gegenwärtigen Nahrungsmittelunsicherheit anzunehmen. Da die IPC-Stufe in Jubaland derzeit mit der Stufe „stressed“ bzw. „crisis“ bewertet werde, könne nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in Somalia sein Überleben über einen längeren Zeitraum hinweg sichern könnte, weshalb ihm eine Rückkehr in seine Heimat derzeit nicht zumutbar sei. Es sei daher zwar nicht der Status des Asylberechtigten, aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
5. Mit Eingabe vom 05.01.2022 erhob der Beschwerdeführer gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die belangte Behörde es verabsäumt habe, auf die speziellen Gefahren einzugehen, welche auf den Beschwerdeführer aufgrund seines jungen Alters, aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie und als Rückkehrer auf ihn zutreffen würden. Die belangte Behörde habe es verabsäumt, weitere Ermittlungen zu seinem Onkel durchzuführen, welcher aufgrund seiner Zugehörigkeit zum somalischen Militär getötet worden sei. Aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie sei der Beschwerdeführer einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, von den Al Shabaab rekrutiert bzw. falls er sich weigere, getötet und damit verfolgt zu werden. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft geblieben, der Beschwerdeführer falle unter mehrere Risikoprofile laut EASO Report: Targeted Profiles, September 2021. Die Beweiswürdigung sei mangelhaft geblieben, die belangte Behörde habe dort Mutmaßungen angestellt. Beim Beschwerdeführer liege eine Kumulation von Gefährdungsfaktoren vor, wobei bereits ein einziger Faktor zu einer erheblichen Gefahr der Verfolgung führen würde. Er sei in Gefahr wegen einer ihm unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie verfolgt zu werden. Es sei daher eine unrichtige rechtliche Beurteilung hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. erfolgt, dem Beschwerdeführer wäre der Status des international Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen.
6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 10.01.2022 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 11.01.2022 in der Gerichtsabteilung W205 einlangte.
7. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2022 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W205 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 25.04.2022 einlangte.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.05.2022 eine mündliche Verhandlung unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Somalisch durch. Der Beschwerdeführer gab an, dass er der somalischen Sprache nicht so gut mächtig sei und um Einvernahme mit einer/einem Dolmetscher/Dolmetscherin für die Sprache Arabisch ersuche. Diesem Ersuchen entsprechend wurde die mündliche Beschwerdeverhandlung vertagt.
9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 22.09.2022 eine weitere mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung in Arabisch zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle einer Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch 40 und wurde am römisch 40 in römisch 40 in den VAE geboren. Er ist somalischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Darood, dem Clan der Ogaden und dem Sub-Clan der Reer Amer an und ist sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Somalisch, er spricht jedoch besser Arabisch und Englisch.
Er ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wuchs in römisch 40 in den VAE auf, wo er 12 Jahre lang die Grundschule besuchte. Die Eltern, die vier Schwestern und vier Brüder des Beschwerdeführers leben noch immer in den VAE. Eine Schwester des Beschwerdeführers lebt in Deutschland. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seiner Familie in den VAE.
Die Familie des Beschwerdeführers stammt ursprünglich aus römisch 40 , in der Region Jubadda Hoose (Lower Jubba), wo die Cousins und weitere Familienmitglieder des Beschwerdeführers nach wie vor leben.
Der Beschwerdeführer arbeitete zuletzt in römisch 40 als Supervisor in einer Wäscherei und in einem Veranstaltungszentrum. Er war auch Profi-Fußballer. Zuletzt war der Beschwerdeführer arbeitslos. Nachdem sein Vater, welcher für ihn gebürgt hatte, entlassen wurde, hatte der Beschwerdeführer keinen Bürgen mehr.
Daher wurde ihm von den VAE ein Termin für die Ausreise aus den VAE gestellt, weswegen der Beschwerdeführer Ende Juni 2021 aus den VAE legal zuerst nach Kenia ausreisen musste. Von dort aus reiste er Anfang Juli 2021 legal nach Somalia ein.
Er begab sich zu seiner Familie väterlicherseits nach römisch 40 , wo er sich für ca. zwei Wochen aufhielt, bevor er ca. Mitte Juli 2021 von Mogadishu aus legal in die Türkei ausreiste.
In weiterer Folge reiste er über Griechenland, Albanien, den Kosovo, Serbien, Ungarn und die Slowakei nach Österreich, wo er am 17.09.2021 einreiste. Ursprünglich wollte er nach Deutschland weiterreisen, wo ihm die Einreise verweigert wurde. Er stellte am 18.09.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig und in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer wurde in Somalia nicht persönlich von den Al Shabaab bedroht.
Bei einer Rückkehr nach Somalia droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder von Al Shabaab oder durch andere Personen.
1.3. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia aus dem COI-CMS, Version 4 vom 27.07.2022 (LIB)
- EUAA-Leitlinien zu Somalia vom Juni 2022 (EUAA)
1.4.1. Politische Lage
1.4.1.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 22.07.2022
Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird. Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (LIB).
Staatlichkeit: Trotz massiver militärischer, diplomatischer und finanzieller Unterstützung hat die Regierung in Mogadischu kaum Fortschritte gemacht. Nach anderen Angaben hat Somalia in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert. Jedenfalls zeigt das Land trotz erzielter Fortschritte auch weiterhin alle Merkmale eines failed state . Laut einer anderen Quelle ist Somalia zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen, da sie nur wenige Gebiete kontrolliert. Zudem hängt die Existenz des somalischen Staates zum größten Teil von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ab. Dies gilt natürlich auch für die Umsetzung von Aktivitäten seitens der Regierung (LIB).
Aktuelle Politische Lage: Der neue Präsident hat von seinem Vorgänger eine politisierte, parteiische und unfähige Bürokratie geerbt. Die Nabad iyo Nolol (N&N, Friede und Leben), die Partei von Ex-Präsident Farmaajo, hat die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Verwaltung ohne Skrupel zu zentralisieren. Die Regierung unter Farmaajo und dem NISA-Chef Fahad Yasin wollte gemäß einer Quelle in Richtung von Verhandlungen mit al Shabaab und einer Talibanisierung Somalias. Dutzende ehemalige Dschihadisten wurden von ihnen in Schlüsselpositionen der Bundesverwaltung und der Sicherheitskräfte gehievt, politische Führungskräfte und Minister wurden auf Basis von Loyalität und nicht von Kompetenz ausgewählt. Jeder, der als Bedrohung wahrgenommen wurde, wurde angegriffen. Die Bundesregierung und regionale Führer haben alles getan, um zeitgerechte und glaubwürdige Wahlen zu verhindern. Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahlen zu manipulieren, führte das Land in politisches Chaos. Die Verzögerungen, Zusammenstöße und Ungewissheiten rund um die Wahlen haben außerdem zu einem fast vollständigen Zusammenbruch hinsichtlich der Erfüllung von Regierungsfunktionen geführt. Dies hat wiederum zur Spaltung aller Sektoren - auch des Sicherheitsapparats - beigetragen. Der mehr als ein Jahr andauernde Streit um die Wahlen hat nicht nur die Regierungsarbeit gelähmt, er hat es ermöglicht, dass al Shabaab den angeschlagenen Staat weiter ausgehöhlt hat (LIB).
Dahingegen ist Präsident Hassan Sheikh gemäß Angaben einer Quelle ein Demokrat. Er will die Staatsbildung im Konsens fortführen. Um aber den Einfluss von N&N zu tilgen und eine inklusive Politik umzusetzen, wird es Zeit brauchen. Gleichzeitig wird N&N alles daran setzen, von Hassan Sheikh vorangetriebene Reformen zu sabotieren - und zwar von innerhalb der Regierung. Folglich ist das Machtzentrum Somalias nach der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten paralysiert. Eine Elite im Wettstreit stehender islamistischer Fraktionen, die allesamt dem Föderalismus abgeneigt sind, versucht, Reformen zu hintertreiben oder rückgängig zu machen. Die N&N ist im Begriff, sich neu zu gruppieren. Der neue Präsident möchte dem mit einer Stärkung von Dam ul-Jadiid ["Partei" bzw. politisch-islamische Strömung des Präsidenten] entgegenwirken. Der Präsident ist moderat islamisch und keine Bedrohung für demokratische Werte. Insgesamt ist die Politik in Somalia zunehmend in der Hand von Eliten und fraktioniert. Clans üben weniger Macht aus, islamistische Fraktionen gewinnen an Macht und Einfluss (LIB).
1.4.1.1.1. Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba) - Letzte Änderung: 25.07.2022
Jubaland wurde im Jahr 2013 gebildet, damals wurde auch Ahmed Mohamed Islam 'Madobe' zum Präsidenten gewählt. Bei der Präsidentenwahl im Jahr 2019 hat die Bundesregierung versucht, Madobe durch einen loyalen Präsidenten abzulösen. Dieser Versuch scheiterte und Ahmed Madobe wurde - bei einer umstrittenen Wahl - als Präsident bestätigt. Er konnte u.a. mit Unterstützung des kenianischen AMISOM-Kontingents seine Position verteidigen. Die Bundesregierung hat daraufhin versucht, Madobe als Präsidenten zu delegitimieren; sie hat seine Präsidentschaft erst im Juni 2020 anerkannt. Angesichts des Konflikts mit der Bundesregierung hat Präsident Madobe versucht, sich mit seinen politischen Rivalen in Jubaland zu versöhnen. Während die Bundesregierung jeden unterstützt, der in Opposition zu Präsident Madobe steht, hat dieser im April 2020 mit seinen Erzfeinden ein Abkommen zur Machtteilung abgeschlossen (LIB).
Die Bundesregierung hat sich nämlich mit militärischer Macht der Region Gedo bemächtigt, obwohl die Verwaltung von Gedo laut Verfassung eigentlich der Regierung von Jubaland zukommt. Die Bundesregierung hat dort Hunderte in der Türkei ausgebildete Soldaten und Polizisten der Gorgor- und Haramcad-Einheiten stationiert. Die Lokalverwaltung von Gedo wurde vertrieben und mit gegenüber der Bundesregierung loyalen Personen ersetzt. Nun verfügt Jubaland in Gedo nur noch über schwachen Einfluss. Mit Hinblick auf die neue Bundesregierung wird sich dies in den nächsten Monaten vermutlich ändern. Zudem sind die in Gedo relevanten Marehan in unterschiedliche, teils Madobe nahestehende Lager gespalten (LIB).
In Kismayo hat sich die Verwaltung durch Jubaland gefestigt und diese funktioniert. Dies gilt auch für die Kooperation mit anderen Clans und deren Beteiligung an Regierungsaufgaben. Kenia hat enge Beziehungen zur Regierung von Jubaland aufgebaut und kooperiert mit den dortigen Sicherheitskräften. Dies ist mit ein Grund für die in Kismayo gegebene, relative Stabilität (LIB).
1.4.2. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten – Letzte Änderung: 25.07.2022
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen. Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIB).
1.4.2.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 25.07.2022
Die Sicherheitslage bleibt instabil bzw. volatil, mit durchschnittlich 236 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto von al Shabaab. Die Angriffe der Gruppe richten sich in erster Linie gegen somalische Sicherheitskräfte und AMISOM. Dabei werden Angriffe vorwiegend mit improvisierten Sprengsätzen und sogenannten hit-and-run-Angriffen durchgeführt. Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt, während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (LIB).
AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Allerdings konnten trotz internationaler Unterstützung kaum weitere territoriale Gewinne verzeichnet werden. Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren. Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS - aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen. Wenn ATMIS abzieht, würde Mogadischu rasch fallen. An dieser Situation wird sich in den nächsten Jahren nichts ändern. Zudem ist die Regierung zum eigenen Überleben schon alleine deswegen auf ausländische Truppen und Hilfe angewiesen, weil sie nicht in der Lage ist, aus eigenen Mitteln Polizisten und Soldaten zu bezahlen (LIB).
Trend: Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten. Der Kampf gegen al Shabaab stagniert seit mehreren Jahren. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hat die vergangenen vier Jahre damit zugebracht, einen Krieg gegen den Föderalismus, politischen Pluralismus und demokratische Normen zu führen – aber nicht gegen al Shabaab. Die Gruppe ist heute stärker denn je und hat 2021 aggressiv expandiert. Dabei sah sich al Shabaab schon zuvor durch den Abzug der USA und einen Teilabzug äthiopischer Kräfte gestärkt. Danach hat sie die große politische Unsicherheit und die damit verbundenen Spannungen genutzt, um das Tempo ihrer Aktivitäten in Mogadischu und in den Bundesstaaten auch mittel- und langfristig aufrechterhalten zu können. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hatte den Kampf gegen al Shabaab aufgeben, und immer mehr Gebiete gingen an die Gruppe verloren. Al Shabaab gewinnt an Boden und konnte im Jahr 2021 in Gebiete vordringen, die bis dahin als geschützt gegolten hatten - etwa in den Nordwesten von Galmudug und in die zuvor friedliche Küstenzone nordwestlich von Mogadischu in Middle Shabelle. Insgesamt konnte al Shabaab unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS-Geländegewinne erzielen (LIB).
Auch der Konflikt zwischen der Bundesregierung und einzelnen Bundesstaaten wurde immer wieder gewaltsam ausgetragen. Im April 2021 ist es in Mogadischu zu Kampfhandlungen gekommen. Auch im September 2021 war die Situation in Mogadischu höchst angespannt. Der Zusammenhalt von Bundesregierung und Bundesstaaten wäre notwendig, weil al Shabaab die Fähigkeit besitzt, Brüche zwischen Bundes- und Regionalregierungen auszunutzen (LIB).
Die Operation Badbaado – 2019 zur Sicherung der westlichen Zugänge zu Mogadischu begonnen - hat sich totgelaufen und wurde nach der Einnahme von Janaale im März 2020 nicht weiterverfolgt. Sie hat lediglich einige unzusammenhängende Vorposten zwischen Mogadischu und Janaale hinterlassen, deren Zwischengebiete von al Shabaab kontrolliert werden. Die als Folgeoperation geplante Operation Badbaado römisch II in Middle Shabelle ist de facto nie angelaufe). Seit Badbaado ist es zu keinem geplanten offensiven Vorgehen gegen al Shabaab mehr gekommen. Ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch ATMIS kann ohne Beteiligung der Truppen der Bundesregierung nicht erwartet werde). Die Fähigkeit, mittlerweile auch die am sichersten eingestuften Ziele angreifen zu können, verdeutlicht dies umso mehr. Die Bundesarmee ist teils nicht in der Lage, FOBs (Forward Operating Base) zu halten. Mehrfach hat al Shabaab erfolgreich FOBs der Bundesarmee angegriffen und überwältigt. Derartige Operationen sind mittlerweile für al Shabaab die wichtigste Quelle an militärischem Nachschub (LIB).
Noch im Mai und Juni 2021 hatte die Bundesarmee bei einer Offensive in Middle Shabelle bewiesen, dass sie zu einer ausschließlich auf eigenen Kräften beruhenden Initiative kaum in der Lage war. Die Operation endete unter großen Verlusten im Fiasko. Mit Antritt von Präsident Hassan Sheikh Mohamud im Mai 2022 haben somalische Kräfte plötzlich mehrere größere Erfolge gegen al Shabaab einfahren können. Einerseits konnte die Spezialeinheit Danab Ende Juni al Shabaab in HirShabelle mit einer Offensive überraschen und mehrere Stützpunkte der Gruppe zwischen Matabaan und Jowhar einnehmen. Andererseits wurden bei einem Zusammenspiel von Macawiisley und Ahlu Sunna Wal Jama'a in Galmudug dutzende Kämpfer der al Shabaab getötet. Dies waren die größten Verluste der Islamisten in den vergangenen fünf Jahren (LIB).
Al Shabaab führt nach wie vor einen Guerillakrieg mit gewalttätigen, extremistischen Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Die Gruppe ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte hit-and-run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Insgesamt verfolgt al Shabaab eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus. Die Präsenz von al Shabaab im ländlichen Raum hat 2021 zugenommen (LIB).
Im Zuge der Wahlen hat al Shabaab ihre Anschläge verstärkt. In Bevölkerungszentren - etwa Mogadischu, Kismayo und Baidoa - greift al Shabaab vorwiegend sogenannte "weiche" Ziele an. Damit sollen psychologische und hinsichtlich medialer Reichweite "sensationelle" Effekte erzielt werden, womit die Gruppe ihre Fähigkeiten zeigt und die Menschen einschüchtern möchte. Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (LIB).
Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab. Die Kriegsführung von al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn. Am meisten betroffen waren davon zuletzt Mogadischu, Lower Shabelle und Bay. Generell sind insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle betroffen. Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (LIB).
Innerhalb der von al Shabaab gehaltenen Gebiete führen Bundesarmee und AMISOM kaum Operationen durch. Es kommt dort lediglich zu sporadischen Luftschlägen der USA. Die größte Einzeloffensive der Bundesregierung der vergangenen Jahre richtete sich im Oktober 2021 gegen ASWJ in Guri Ceel. Dabei wurden 120 Menschen getötet und hunderte verwundet. Dies war die blutigste Schlacht in Somalia seit dem Angriff der al Shabaab auf den kenianischen Stützpunkt in Ceel Cadde (Gedo) Anfang 2016 (LIB).
Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt. Während AMISOM (bzw. als deren Nachfolgerin die ATMIS) und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen. Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen und hat Gebiete gefestigt, wo die Gruppe zuvor unter Druck von Regierungskräften gestanden ist. Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen. Nach anderen Angaben besitzt die Bundesregierung kaum Legitimität und kontrolliert lediglich Mogadischu - und das nicht zur Gänze. In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen. Gleichzeitig erhöht al Shabaab mit der Einnahme von Wegzöllen das eigene Budget. Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (LIB).
Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind
1. das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;
2. Jamaame und Badhaade in Lower Juba;
3. größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;
4. Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;
5. der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor; sowie Rab Dhuure;
6. weites Gebiet rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;
7. sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (LIB).
Die Regierung kontrolliert Städte und Orte nur punktuell als Inseln inmitten umstrittener und umkämpfter Gebiete. Selbst in diesen Städten und Orten wird die Regierung von Rebellen unterwandert. In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden – insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (BMLV 19.7.2022). Immer wieder gelingt es al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Matabaan - einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (LIB).
Andere Akteure: Über drei Jahrzehnte gewaltsamer Konflikte haben die sozialen Brüche größer werden lassen. Kämpfe zwischen Clanmilizen und gewaltsame Auseinandersetzungen in Bundesstaaten und zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung kennzeichnen den anhaltenden Konflikt um Macht und Ressourcen. Diese Konflikte um z.B. Land und Wasser führen regelmäßig zu Gewalt. Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie ASWJ. Solche Kämpfe zwischen (Sub-)Clans - vorrangig um Land und Wasser, aber auch um Macht - haben im Jahr 2021 zugenommen. Bei Zusammenstößen in Galmudug, Jubaland und dem SWS kam es dabei zu Toten und massiven Vertreibungen. Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten. Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer – generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter – Gewalt verbunden sein. Das Expertenpanel der UN hat im Zeitraum Jänner bis August 2021 118 Vorfälle von Clankonflikten registriert. Dabei handelte es sich v.a. um Rachemorde und Entführungen. Insgesamt starben dabei 80 Menschen, 170 wurden verletzt; 22 Personen wurden entführt, um Blutgeld für vorhergehende Morde zu erpressen (LIB).
Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (LIB).
Im Zeitraum Feber-Mai 2022 verübte der sogenannte Islamische Staat zwei Sprengstoffanschläge auf einen Polizisten und einen Beamten sowie einen Handgranatenanschlag auf einen Checkpoint der Polizei. Alle diese Vorfälle, bei denen zwei Zivilisten und drei Angehörige der Sicherheitskräfte verletzt wurden, ereigneten sich in Mogadischu (LIB).
Zivile Opfer: Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten. Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an. Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu ATMIS und somalischen Sicherheitskräften. Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIB).
Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von AMISOM bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28% der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20% (LIB).
Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:9367 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen] (LIB).
Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v. a. durch die USA. Im Jahr 2017 führten die USA 35 Luftschläge in Somalia durch, 2018 waren es 47 und 2019 63. Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 51 gesunken. Im Jahr 2021 bestätigten die USA lediglich 11 Luftangriffe, insgesamt sollen es aber 16 gewesen sein. Die Luftangriffe auf al Shabaab und den IS, bei denen seit 2017 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden sind konzentrierten sich vor allem auf die Regionen Lower Shabelle, Lower Juba, Middle Juba, Gedo und Bari. Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z.B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (LIB).
1.4.2.1.1. Jubaland, insbesondere Lower Juba - Letzte Änderung: 25.07.2022
Al Shabaab kontrolliert größere Teile von Jubaland, nämlich nicht nur die gesamte Region Middle Juba, sondern auch einen großen Teil von Lower Juba und Teile von Gedo. Dahingegen ist die Regierung von Jubaland auf Teile von Lower Juba - darunter Kismayo - beschränkt (LIB).
Der Kampf gegen al Shabaab ist in Jubaland zum Stillstand gekommen, da Jubaland und die Bundesregierung ihre militärischen Kräfte gegeneinander einsetzen (siehe unten) anstatt gegen al Shabaab. Unterdessen hat al Shabaab die Konflikte zwischen Jubaland und der Bundesregierung genutzt. Der Konflikt zwischen ihren Gegnern öffnete al Shabaab neue Räume und hat auch zu einem Anstieg an Aktivitäten der Gruppe geführt. Al Shabaab ist allerdings weniger in Jubaland, als vielmehr im benachbarten Osten Kenias aktiv (LIB).
Lower Juba (Jubadda Hoose): Die Region steht unter Kontrolle von AMISOM, kenianischer Armee, Kräften von Jubaland; und al Shabaab. Die Städte Kismayo, Afmadow und Dhobley sowie die Orte Bilis Qooqaani, Dif und Kolbiyow werden von Regierungskräften und AMISOM kontrolliert. Jamaame steht unter Kontrolle von al Shabaab; dies gilt auch für den nördlichen Teil Lower Jubas. Auch Badhaade und das Umland in Richtung Norden werden von al Shabaab kontrolliert. Dhobley ist relativ frei von al Shabaab und wird als sicher erachtet. Die Städte Kismayo, Afmadow und Dhobley sowie der Orte Bilis Qooqaani können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (LIB).
Vorfälle: In den Regionen Lower Juba, Middle Juba und Gedo lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 1,36 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 34 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie violence against civilians). Bei 21 dieser 34 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es ebenfalls 34 derartige Vorfälle (davon 20 mit je einem Toten) (LIB).
1.4.3. Al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022
Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz. Zuletzt hat al Shabaab an Macht gewonnen. Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen. Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia. Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah. Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (LIB).
Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit. römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben. Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (LIB).
Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen. Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten. Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung. Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei. Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (LIB).
Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität. Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (LIB).
Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung. Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (LIB).
Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiterbestehen. Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen. Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattet letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (LIB).
Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft. Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel. Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (LIB).
Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk. Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer, jedenfalls mindestens 10.000 Mann an permanent verfügbarer Kampftruppe; mit einer Hinzunahme diverser Dorfmilizen ist diese Zahl vervielfachbar. Eine Quelle vom Mai 2021 spricht von 5.000-10.000 (bewaffneten) Angehörigen der al Shabaab. Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln. Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk. Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann. Der Amniyad ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyad ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig. Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen. Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (LIB).
Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen. Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (LIB).
Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern. Gemäß einer Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus. Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen. In den meisten Städten verfügt die Gruppe zudem über Schattenverwaltungen. "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt"; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (LIB).
Kapazitäten: Al Shabaab hat insgesamt an Stärke gewonnen - auch hinsichtlich personeller und materieller Kapazitäten. Die Gruppe weitet ihren Einfluss ständig aus – nicht nur in den eigenen Gebieten, sondern auch in den nominell unter Kontrolle der Regierung befindlichen Landesteilen. Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z.B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (LIB).
Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen. Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen. In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (LIB).
Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat. Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel. So wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (LIB).
Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen US-Dollar generieren. Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh; sowie auf manche Dienstleistungen. Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird. Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (LIB).
1.4.4. Rechtsschutz, Justizwesen – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022
Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden. Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (LIB).
Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtsprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen. Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (LIB).
Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere, und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene. Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit. Diese wird von al Shabaab etwa durch die Einhebung von Steuern und die Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte untergraben. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen. Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (LIB).
Formelle Justiz - Kapazität: De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem. Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten. In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet. Generell sind Gerichte aber nur in größeren Städten verfügbar. Der Verfassungsgerichtshof ist immer noch nicht eingerichtet worden. An allen Gerichten mangelt es dem Personal an Ausbildung. Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt. Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes. Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt. Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt, v. a. außerhalb urbaner Zentren nicht vorhanden. Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig. Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (LIB).
Formelle Justiz - Qualität und Unabhängigkeit: Eine landesweite Implementierung und einheitliche Anwendung der von der somalischen Bundesregierung vorgegebenen Bestimmungen ist nicht gesichert. In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt, und nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz. Außerdem werden Urteile durch Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst. Die meisten der in der Verfassung vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nicht angewendet. Nationales oder internationales Recht werden bei Fest- oder Ingewahrsamnahme sowie beim Vorgerichtstellen von Tatverdächtigen nur selten eingehalten. Verfahren dauern sehr lang (LIB).
Die somalische Justiz ist zudem von Korruption geprägt. Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren. Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder. In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten. Zusätzlich halten sich Behörden oft selbst nicht an gerichtliche Anordnungen). In anderen Worten ist [Zitat] 'die soalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden'. Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen. Insgesamt stehen Zivilisten also ernsten Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (LIB).
Formelle Justiz – Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig. Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen, bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren. Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (LIB).
Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller. Auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist Xeer von Bedeutung. Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung eine Policy zu traditioneller Konfliktlösung verabschiedet. Damit sollte die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert (LIB).
Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert. Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen. Jedenfalls dient diese Art der Justiz im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten. Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet. Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität. Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück, in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer. Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIB).
Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen. Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan. Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (LIB).
Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei. Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen. Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt. Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (LIB).
Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle, denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden. Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (LIB).
Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler. Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen. Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren. Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv usammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z. B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (LIB).
In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält. Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (LIB).
Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten. Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen. Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (LIB).
Recht bei al Shabaab: In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten wird das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt. Dort ersetzt islamisches Recht auch Xeer; nach anderen Angaben kommt Xeer fallweise zum Einsatz. Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem. Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (, es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LIB).
Al Shabaab unterhält in den von ihr kontrollierten Gebieten ständige, von Geistlichen geführte Gerichte, welche ein breites Spektrum an straf- und zivilrechtlichen Fällen abhandeln. Zusätzlich gibt es auch mobile Gerichte. Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch. Al Shabaab wendet eine zum Teil extreme Sichtweise und Auslegung der Scharia an. In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch. Al Shabaab inhaftiert Personen für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören, den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes, unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs. Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LIB).
Die Gerichte der al Shabaab werden als gut funktionierend, effektiv, weniger korrupt, schnell und im Vergleich fairer beschrieben – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung. Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden. Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt, bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – selbst Personen aus von der Regierung kontrollierten. So begeben sich z. B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen. Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz. Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren. So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen. Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt. Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch, mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (LIB).
Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage. Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIB).
Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen. Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (LIB).
1.4.5. Sicherheitsbehörden – Süd-/Zentralsomalia, Puntland
1.4.5.1. Ausländische Kräfte - Letzte Änderung: 26.07.2022
Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde. AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv. Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024. Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident. Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (LIB).
Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten. ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab. Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung, die in großem Maße von den Kräften der AMISOM abhängig ist (LIB).
AMISOM hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann. Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert. Bis Ende 2022 ist ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (LIB).
AMISOM wird maßgeblich von der EU finanziert. Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren während die UN für logistische Unterstützung sorgt. Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (LIB).
Neben den fünf Armeen der AMISOM-Truppenstellerstaaten sind in Somalia noch Militärberater aus zahlreichen anderen Staaten aktiv. Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von AMISOM ausgestattet. Eine Quelle berichtet von vermutlich drei (teils verstärkten) Bataillonen und insgesamt geschätzten 2.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug. Bereits abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (LIB).
1.4.5.2. Wehrdienst und Rekrutierungen (durch den Staat und Dritte) – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022
Die somalische Armee ist eine Freiwilligenarmee. Es gibt keinen verpflichtenden Militärdienst. Allerdings rekrutieren Clans regelmäßig – und teils unter Androhung von Zwangsmaßnahmen für die Familie – junge Männer zum Dienst in einer Miliz, bei den staatlichen Sicherheitskräften oder bei al Shabaab. Dadurch soll für den eigenen Clan oder Subclan Schutz erlangt werden (LIB).
1.4.5.2.1. (Zwangs-)Rekrutierungen – Letzte Änderung: 26.07.2022
(Zwangs-)Rekrutierung:
Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia. Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert. Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool. Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten. Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (LIB).
Die Rekrutierung durch Al-Shabaab fand ursprünglich in urbanen Zentren statt. Seit Al-Shabaab in den urbanen Zentren 2012 und 2015 Territorium verloren hat, hat die Rekrutierung in ländlichen Gebieten begonnen. Es wurde berichtet, dass Al-Shabaab seine Stärke aktiver Kämpfer von geschätzten 2.000–3.000 im Jahr 2017 auf 5.000–7.000 im Jahr 2020 erhöht hat. Obwohl Al-Shabaab überwiegend aus Gebieten unter seiner Kontrolle rekrutiert, gab es auch solche Berichte über Rekrutierungen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten, insbesondere aus Mogadischu. Die Rekrutierung außerhalb des eigenen Territoriums von Al-Shabaab beinhaltet häufig Aspekte von Nötigung. Auch in von der Gruppe kontrollierten Gebieten wurde über Zwangsrekrutierung berichtet (EUAA).
Al-Shabaab rekrutiert in der Regel an Orten mit mehreren Clans und baut ihre Rekrutierungsstrategie auf Clan-Konflikten auf. Bis zu 40 % der einfachen Mitglieder werden aus den Regionen Bay und Bakool rekrutiert. In der Region Gedo erleichtern hohe Arbeitslosigkeit und Armut die Fähigkeit von Al-Shabaab, junge Männer als Kämpfer zu rekrutieren, indem sie stark aus dem Marehan-Clan rekrutieren und aus den Beschwerden der Marehan-Subclans Kapital schlagen, die von stärkeren Subclans an den Rand gedrängt werden. In Hirshabelle nutzt Al-Shabaab Beschwerden gegen die wahrgenommene Hawadle-Dominanz aus, indem sie erfolgreich aus den Clans Gaaljeel, Jajele und Baadi Adde rekrutiert Die Mirifle-Clan-Gruppe stellt die Hauptquelle für Fußsoldaten für Al-Shabaab dar, während in der Region Middle Shabelle die Mehrheit der Fußsoldaten von Al-Shabaab aus Gruppen mit niedrigem Status wie den Bantu/Jareer rekrutiert wurden (EUAA).
Die Rekrutierung umfasst sowohl Männer als auch Frauen und findet in allen Altersgruppen statt. Der Zweck der Rekrutierung wird durch Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund und frühere Berufe beeinflusst. Al-Shabaab rekrutiert nicht nur Kämpfer, sondern auch Verwaltungspersonal, Finanziers, Logistikpersonal, Richter, Lehrer und Gesundheitspersonal. Sie ist auch auf Unterstützer und Sympathisanten angewiesen. Informanten werden in Gebieten rekrutiert, die nicht unter der Kontrolle von Al-Shabaab stehen. Die Organisation kann sich auf ein sehr starkes Geheimdienstnetzwerk in Mogadischu verlassen, wo Informanten einfache Studenten, Beamte, Sicherheitskräfte usw. sein können. Einige Rekruten arbeiten in Teilzeit für die Gruppe und gehen ihren täglichen Aufgaben wie der Landwirtschaft oder Geschäftstätigkeit nach (EUAA).
Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet, jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen. Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z. B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung. Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen. Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren. Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss. Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen. Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM oder die Regierung äußern (LIB).
Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan. Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (LIB).
Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt. Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlenden religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle. Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle. Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden. Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 %. Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen. Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent. Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (LIB).
Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer. Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans. Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern. Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet. So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (LIB).
Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (LIB).
Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (LIB).
Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat. Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird. Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (LIB).
Menschen, die Rekrutierungsanträge abgelehnt haben, einschließlich lokaler Gemeindemitglieder, die sich geweigert haben, jüngere Familienmitglieder für die Organisation bereitzustellen, wurden bedroht und als Ungläubige bezeichnet, die den Islam und die Scharia ablehnen, und einige wurden getötet, um andere zu warnen. In anderen Fällen verlässt sich Al-Shabaab auf Älteste, die sich angesichts der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen, Angriffen, Verhaftungen und Zwangsvertreibungen im Falle einer Weigerung nicht weigern können, Dutzende oder sogar Hunderte junger Menschen aus ihrem Clan an die Organisation auszuliefern (EUAA).
1.4.6. Religionsfreiheit – Letzte Änderung: 26.07.2022
Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam. Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an. Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche. Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (LIB).
1.4.6.1. Gebiete unter Regierungskontrolle – Letzte Änderung: 26.07.2022
Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist. Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt, alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (LIB).
Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände. Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen. Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten. Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit. Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (LIB).
Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet. Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (LIB).
1.4.6.2. Gebiete von al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022
In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt. Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch. Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten. Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren. Auf Apostasie steht die Todesstrafe. Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (LIB).
In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt. Al Shabaab verbietet dort generell „un-islamisches Verhalten“ - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung. Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (LIB).
1.4.7. Minderheiten und Clans – Letzte Änderung: 26.07.2022
Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen. Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben. Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt. In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz und für ökonomische sowie politische Partizipation. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten. Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (LIB).
Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel. Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten. (LIB).
1.4.7.1. Bevölkerungsstruktur – Letzte Änderung: 26.07.2022
Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen. Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar. Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft. Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist. Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden. Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren. Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB).
Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern. Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB).
Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden:
o Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.
o Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.
o Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).
o Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.
o Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie. Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (LIB).
Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern. In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (LIB).
1.4.8. Relevante Bevölkerungsgruppen
1.4.8.1. Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und andere terroristische Gruppen – Letzte Änderung: 27.07.2022
Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:
o Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS;
o nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter;
o Angehörige der Sicherheitskräfte;
o Regierungsangehörige, Parlamentarier und Offizielle; al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen;
o mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten;
o Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen;
o Wirtschaftstreibende, insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen
o Älteste und Gemeindeführer;
o Wahldelegierte und deren Angehörige; dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich. Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen;
o Angehörige diplomatischer Missionen;
o prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten;
o religiöse Führer;
o Journalisten und Mitarbeiter von Medien;
o Telekommunikationsarbeiter;
o mutmaßliche Kollaborateure und Spione;
o Deserteure;
o als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten);
o (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS; den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (LIB).
Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (LIB).
Kollaboration: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden. Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird. Z. B. wurde im Feber 2022 in Buulo Fulay (Bay) ein Mann hingerichtet, dem Spionage für die äthiopischen Streitkräfte und die Kräfte des SWS vorgeworfen wurde. Alleine im Zeitraum Mai-Juli 2021 wurden von al Shabaab 19 Zivilisten öffentlich hingerichtet – 18 davon wegen vorgeblicher Spionage und eine Person wegen Mordes (LIB).
Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten. Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt. So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an. Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden. So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet. Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (LIB).
Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein „Angebot“ von al Shabaab abzulehnen (LIB).
Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und AMISOM [nunmehr ATMIS]. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (LIB).
Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden. So greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden. Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann. Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (LIB).
Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet. Nach Angaben eines Journalisten wiederum kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecke). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (LIB).
Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (LIB).
Der sogenannte Islamische Staat (IS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des IS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v.a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (LIB).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben vor vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Clan- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinen Familienangehörigen, seinem Familienstand, seinem Aufwachsen in römisch 40 , seiner Schulbildung, seiner Arbeitserfahrung und seiner Ausreise gründen sich auf die diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben vor der Behörde und in der mündlichen Verhandlung. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren in etwa gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.
Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vergleiche Niederschrift vom 22.09.2022, Sitzung 3). Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit beruht auf einem Auszug aus dem Strafregister vom 21.09.2022.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
2.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach Paragraph 15, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt vergleiche VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
2.2.2. Der Beschwerdeführer konnte sein Fluchtvorbringen, er sei von den Al Shbaab bedroht worden und laufe Gefahr, von diesen rekrutiert zu werden, nicht glaubhaft machen. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen. Insbesondere weisen seine Angaben eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten auf, die er nicht plausibel auflösen konnte. Sein Vorbringen blieb auch ausgesprochen oberflächlich und vage und erwies sich vor dem Hintergrund der Länderberichte als nicht plausibel.
In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer diesen Fluchtgrund betreffend vor, dass er aus den VAE abgeschoben worden sei. Die Lage in Somalia sei unsicher. Es herrsche dort Bürgerkrieg und vor kurzem sei sein Onkel von den islamistischen radikalen Milizen umgebracht worden vergleiche AS 15).
In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer diesen Fluchtgrund betreffend zusammengefasst vor, dass er bereits zu dem Zeitpunkt, als er die VAE verlassen habe müssen im Kopf gehabt habe, in ein besseres Land auszuwandern, weil er Angst gehabt habe, nach Somalia zu kommen, weil kurz zuvor sein Onkel getötet worden sei. Er habe sich noch nicht einmal eine Woche im Haus seines Onkels aufgehalten, als die Al Shabaab begonnen habe, das Haus zu stürmen. Sie hätten an die Haustür geklopft und die Cousins hätten aufgemacht. Sie hätten gesagt, sie hätten die richtige Religion, wenn sie so weiterleben würden, wie sie jetzt leben würden, dann seien alle Ungläubige. Dann hätten sie gesagt, dass sie sich entscheiden müssten, entweder der Al Shabaab beitreten, oder getötet zu werden. Sie hätten nicht persönlich mit dem Beschwerdeführer gesprochen, es seien aber alle im Haus gemeint gewesen vergleiche AS 66f).
In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 22.09.2022 brachte der Beschwerdeführer diesen Fluchtgrund betreffend zusammengefasst vor, dass er aus den VAE habe ausreisen müssen, wobei ihm von Anfang an bewusst gewesen sei, dass er in Somalia nicht leben könne. Er sei im Haus seines Onkels angekommen und ca. sieben Tage danach, es sei der 07.07.2021 gegen 19:00 Uhr gewesen, hätten die Terroristen in deren Viertel versucht, Jugendliche anzuwerben, es ihnen schön zu reden. Als Al Shabaab an die Türe geklopft hätten, hätten seine Cousins geöffnet. Der Beschwerdeführer habe aus Neugier wissen wollen, wer da an die Tür geklopft habe. Er habe sich dann weiter weg versteckt und beobachtet. Sie hätten einfach nur gewollt, dass man sich nicht der anderen Seite anschließe. Jeder, der sich der Regierung anschließe werde von den Terroristen sofort getötet. Sie hätten zu seinen Cousins gesagt, dass alle Jugendlichen sich diesen anschließen sollten. Es seien dabei nicht seine Cousins und er im Speziellen gemeint gewesen, sondern alle Jugendliche im Viertel. Er wisse nicht wie sein Onkel ums Leben gekommen sei. Er persönlich sei nicht angesprochen worden. Al Shabaab habe nicht gewusst, wer der Beschwerdeführer sei. Er könne nicht nach Somalia zurückkehren, weil er dort weder arbeiten noch sesshaft werden könne. Die Regierung könne ihn nicht beschützen, sie würden einfach zulassen, dass Terroristen Menschen abschlachten. Er habe auf der Flucht alles riskiert, weil sein Herkunftsstaat nicht sicher sei vergleiche Niederschrift vom 22.09.2022, Sitzung 7f).
2.2.3. Aus diesen Angaben des Beschwerdeführers ergibt sich, dass dieser keinen oder sehr wenig Bezug zu seinem Heimatstaat hat. Er wurde als Kind somalischer Eltern, welche einem der Mehrheitsclans angehören, in römisch 40 geboren und ist auch dort aufgewachsen. Nachdem er arbeitslos geworden war und sein Vater nicht mehr in der Lage gewesen ist, für ihn zu bürgen, musste er die VAE Ende Juni 2021 verlassen. Die Familie väterlicherseits des Beschwerdeführers lebt in römisch 40 , das ist ein Ort in der Region Lower Jubba, welche im Einfluss der Al Shabaab steht. Ca. eineinhalb Monate vor seiner Einreise nach Somalia starb sein Onkle vs. Aus den Aussagen des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde aber auch vor dem Bundesverwaltungsgericht ergibt sich eindeutig, dass der Beschwerdeführer nie vorhatte, sich lange in Somalia aufzuhalten.
Dies zeigt sich in folgenden Aussagen des Beschwerdeführers, welche jeweils im Zusammenhang mit der Schilderung seines Fluchtvorbringens in freier Erzählung getroffen wurden:
So gab er bei seiner Ersteinvernahme Folgendes an:
„VP: Al sich von den VAR nach Somalia gegangen bin, hatte ich bereits im Kopf, in ein besseres Land auszuwandern. …“ vergleiche AS 66)
Bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 22.09.2022 führte der Beschwerdeführer Folgendes aus:
BF: „…. Mir war von Anfang an bewusst, dass ich in Somalia leben kann. …“ vergleiche Niederschrift vom 22.09.2022, Sitzung 7).
Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer immer geplant hatte, nicht auf Dauer in Somalia zu leben.
Die weiteren Schilderungen des Beschwerdeführers, wonach Al Shabaab in römisch 40 in jenem Viertel, in welchem die Familie des Beschwerdeführers lebt, gekommen sind, und dort versuchten Jugendliche zu überreden, sich ihnen anzuschließen, decken sich grundsätzlich mit den zitierten Länderinformationen, wonach Al Shabaab versuchen, auch mit Überzeugungsarbeit in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu rekrutieren. Dies besagt jedoch noch nicht, dass ein derartiger Vorfall auch stattgefunden hat.
Sowohl vor der belangten Behörde vergleiche AS 67) als auch bei seiner Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht vergleiche Niederschrift vom 22.09.2022, S.9) gab der Beschwerdeführer an, dass er nicht von den Al Shabaab angesprochen wurde. Al Shabaab weiß auch nicht, wer der Beschwerdeführer ist vergleiche Niederschrift vom 22.09.2022, Sitzung 9 „RI: Wussten die Al Shabaab Mitglieder, wer Sie sind? BF: Nein.“)
Daraus folgt wiederum, dass der Beschwerdeführer persönlich und individuell nicht ins Visier der Al Shabaab geraten ist. Er wurde demgemäß auch nie persönlich als Individuum bedroht oder persönlich aufgefordert, sich den Al Shabaab unter Zwang anzuschließen.
Das Ermittlungsverfahren ergab auch – entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers in seiner Beschwerde – keinerlei Hinweise darauf, dass dieser aufgrund des Umstandes, dass er ein Mitglied der Familie seines Onkels vs. ist, ins Visier der Al Shabaab geraten ist.
Vielmehr war der Beschwerdeführer - sofern dieser Vorfall überhaupt stattgefunden hat - zufällig an einem Ort anwesend, welcher unter Kontrolle der Al Shabaab steht, und in welchem deren Mitglieder versuchten, Jugendliche zu überzeugen, sich diesen anzuschließen. Es ist dem Beschwerdeführer jedenfalls nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass die Al Shabaab Zwang anwandten, um dieses Vorhaben durchzusetzen. Vielmehr sind die Mitglieder der Al Shabaab, nachdem sie die Cousins versuchten einzuschüchtern, wieder gegangen vergleiche Niederschrift vom 22.09.2022, Sitzung 8).
Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung, welche ca. zwei Monate nach seiner Ausreise aus Somalia, und damit auch ca. zwei Monate nach dem behaupteten Vorfall erfolgte, mit keinem Wort einen Vorfall mit den Al Shabaab erwähnte vergleiche AS 15). Vielmehr gab er dort an, dass die Lage in Somalia unsicher sei, dort Bürgerkrieg herrsche und vor kurzem sein Onkel von den islamistisch radikalen Milizen umgebracht worden sei.
In einer Gesamtschau dieser beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere den Ausführungen des Beschwerdeführers selbst und seinen vagen und detailarmen Schilderung der Vorkommnisse, konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen, dass er persönlich und individuell in den Fokus von Al-Shabaab geraten und von Al-Shabaab-Mitgliedern aufgefordert worden sei, für diese Gruppe zu arbeiten.
Vielmehr wollte sich der Beschwerdeführer wegen der allgemeinen schlechten Sicherheits- und Versorgungslage nie lange in Somalia aufhalten und hat die nächste Gelegenheit zur Weiterreise nach Europa genutzt, wobei er ursprünglich nach Deutschland reisen wollte, wo auch eine seiner Schwestern lebt.
Daraus ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer auch bei einer Rückkehr nach Somalia individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Al-Shabaab oder andere Personen droht.
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia aktuell.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.3. Da der Beschwerdeführer nie direkt von den Al Shabaab angesprochen oder gar bedroht wurde, droht dem Beschwerdeführer aus diesem Grund auch keine Gefahr bei einer Rückkehr nach Somalia. Das Ermittlungsverfahren ergab keine Hinweise darauf, dass ihm als Mitglied der sozialen Gruppe der Familie seines Onkels eine oppositionelle politische Gesinnung durch die Al Shabaab unterstellt wurde. Es liegt beim Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund vor.
3.1.4. Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.
3.1.6. Im Ergebnis droht dem Beschwerdeführer aus den von ihm ins Treffen geführten oder sonstigen Gründen im Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung.
3.1.7. Die Beschwerde war daher betreffend Spruchpunkt römisch eins. und somit – da sie sich ausdrücklich nur gegen diesen richtete – zur Gänze als unbegründet abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
ECLI:AT:BVWG:2022:W261.2250419.1.00