Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

30.09.2022

Geschäftszahl

G315 2222245-1

Spruch


G315 2222245-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde des römisch 40 , geboren am römisch 40 , Staatsangehörigkeit: Türkei, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU GmbH), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.07.2019, Zahl römisch 40 , betreffend die Abweisung seines Antrages auf internationalen Schutz sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 09.05.2022, zu Recht:

A)           

römisch eins.           Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte römisch eins. bis römisch III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

römisch II.         Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte römisch IV. bis römisch VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und werden diese behoben. Es wird festgestellt, dass gemäß Paragraph 9, BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG 2005 wird römisch 40 eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)           Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei und reiste illegal und schlepperunterstützt am 17.11.2014 in das Bundesgebiet ein, wo er noch am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Ebenfalls am 17.11.2014 fand vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung des Beschwerdeführers statt.

2. Mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen römisch 40 vom römisch 40 2017 wurde über den Beschwerdeführer die Untersuchungshaft verhängt. Der Beschwerdeführer befand sich von römisch 40 2017 bis römisch 40 2017 in Haft.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen römisch 40 vom römisch 40 2017, Zahl: römisch 40 , wurde der Beschwerdeführer von der wider ihn erhobenen Anklage unter anderem wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels gemäß Paragraph 259, Ziffer 3, StPO freigesprochen.

3. In weiterer Folge entzog sich der Beschwerdeführer dem Asylverfahren und tauchte unter. Das Asylverfahren wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, gemäß Paragraph 24, Absatz eins, AsylG eingestellt und am 18.10.2017 gegen den Beschwerdeführer ein Festnahmeauftrag gemäß Paragraph 34, Absatz 5 und Paragraph 47, Absatz eins, BFA-VG erlassen.

Erst am 20.05.2019 konnte der Beschwerdeführer im Bundesgebiet festgenommen werden. Das Asylverfahren wurde daraufhin fortgesetzt.

4. Am 21.05.2019 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Türkisch einvernommen.

Nach der Einvernahme wurde der Beschwerdeführer aus der Festnahme entlassen.

5. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.07.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit
§ 2 Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit
§ 2 Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.) Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß Paragraph 46, FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG 2005 betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch VI.).

Das Bundesamt führte im angefochtenen Bescheid zusammengefasst begründend aus, dass nicht festgestellt haben werden können, dass der Beschwerdeführer die Türkei aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung – konkret seitens des türkischen Militärs und der PKK – verlassen habe. Dem Beschwerdeführer drohe bei einer Rückkehr in die Türkei auch keine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention und auch keine Gefahr, als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes ausgesetzt zu sein. Das Vorbringen bezogen zum bisher nicht geleisteten Wehrdienst werde seitens des Bundesamtes nicht als asylrelevantes Vorbringen gewürdigt. Der Wehrdienst sei eine Bürgerpflicht und lägen keine Hinweise dahingehend vor, dass die Sanktionen gegen Wehrdienstverweigerer unverhältnismäßig wären, zumal dies seitens des Beschwerdeführers nicht substanziiert vorgebracht worden sei. Es komme laut den Länderberichten bei der Ableistung des Wehrdienstes durch Angehörige der kurdischen Volksgruppe zu keinen systematischen Diskriminierungen, zumal der Beschwerdeführer diesbezüglich nur Mutmaßungen geäußert habe und keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür hervorgekommen sein, dass konkret der Beschwerdeführer wegen seiner kurdischen Herkunft zum Ziel einer absichtlichen Schlechterbehandlung werden würde. Außerdem habe der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus der Türkei bereits mindestens 14 Jahre den Wehrdienst verweigert und habe er in dieser Zeit deswegen keine Probleme gehabt, abgesehen davon, dass ihm die Ausstellung eines Reisepasses im Jahr 2010 verweigert worden sei. Eine Anhängerschaft des Beschwerdeführers zur PKK oder einer Nebenorganisation stehe nicht im Raum und bestünden alleine wegen der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur Volksgruppe der Kurden keine von Amts wegen aufzugreifenden Anhaltspunkte, dass gegenwärtig Angehörige der kurdischen Volksgruppe in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppen- und/oder Religionszugehörigkeit einer eine maßgebliche Intensität erreichenden Verfolgung oder staatlicher Repression unterworfen wären. Gründe, weshalb die türkischen Behörden gerade am Beschwerdeführer ein nachhaltiges Interesse haben sollten, habe er nicht glaubhaft vorgebracht. Die Eltern und die Geschwister des Beschwerdeführers würden zudem weiterhin ohne Probleme im Heimatort leben. Das Fluchtvorbringen erweise sich als widersprüchlich und könne der Beschwerdeführer weder beweisen, dass gegen ihn in der Türkei ein Haftbefehl vorliege, noch, dass gegen ihn ein Strafverfahren wegen unterstellter PKK-Unterstützung geführt werde. Eine Rückkehr in die Türkei sei ihm vor dem Hintergrund seines bisherigen Lebens und seinen vorhandenen familiären Bindungen zumutbar, zumal der Beschwerdeführer in Österreich über keinerlei maßgebliche persönlich Bindungen verfüge. In Österreich verfüge der Beschwerdeführer auch über keine familiären Bindungen. Zur Unterkunftgeberin/Unterstützerin des Beschwerdeführers bestehe kein Beziehungsverhältnis, sondern lediglich eine Wohn- und Zweckgemeinschaft. Abgesehen von einem Deutsch-Zertifikat des ÖSD auf Niveau A2 aus dem Jahr 2015 habe der Beschwerdeführer trotz seiner Aufenthaltsdauer von knapp fünf Jahren keinerlei Integrationsbemühungen an den Tag gelegt.

6. Mit Verfahrensanordnung vom 22.07.2019 wurde dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 52, Absatz eins, BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beigegeben.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz seiner damaligen bevollmächtigten Rechtsvertretung vom 05.08.2019, am selben Tag beim Bundesamt einlangend, fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen, der Beschwerde stattgeben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten oder allenfalls des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu Spruchpunkt römisch IV. (Rückkehrentscheidung) aufheben, feststellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8, EMRK erteilen; in eventu den angefochtenen Bescheid aufheben und das Verfahren an das Bundesamt zurückverweisen. Weiters wurde beantragt, ein fachärztliches Gutachten über den psychischen bzw. psychosomatischen Zustand des Beschwerdeführers einzuholen.

8. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 09.08.2019 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurden ursprünglich der Gerichtsabteilung L526 zugewiesen.

9. Per E-Mail vom 23.08.2019 erging seitens des Bundesverwaltungsgerichtes ein Auskunftsersuchen an die zuständige medizinische Abteilung des Polizeianhaltezentrums Hernalser Gürtel bezüglich der dort dem Beschwerdeführer verabreichten Medikamente.

Am 26.08.2019 lange ein entsprechendes Gutachten des zuständigen Amtsarztes beim Bundesverwaltungsgericht ein.

10. Mit Fax des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.09.2019 erging ein Auskunftsersuchen an die Justizanstalt römisch 40 mit dem Ersuchen um Übermittlung der medizinischen Unterlagen des Beschwerdeführers während seiner Zeit in Untersuchungshaft sowie einer Stellungnahme dazu binnen einer Frist von 14 Tagen.

Nach Urgenz des Bundesverwaltungsgerichtes langte am 30.09.2019 eine entsprechende Stellungnahme des psychiatrischen Dienstes der Justizanstalt römisch 40 vom 25.09.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

11. Am 19.11.2019 forderte das Bundesverwaltungsgericht die vom Beschwerdeführer im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesamt am 21.05.2019 vorgelegten Unterlagen, welche sich jedoch nicht im Verwaltungsakt befanden, an.

Die Unterlagen wurden am 20.11.2019 per E-Mail übermittelt.

12. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 25.11.2019 wurden dem Beschwerdeführer die beiden medizinischen Gutachten bzw. Stellungnahme des Amtsarztes bzw. des psychiatrischen Dienstes der Justizanstalt zur Stellungnahme binnen zwei Wochen übermittelt.

13. Am 06.12.2019 langte die mit 05.12.2019 datierte Stellungnahme zum Parteiengehör der ehemaligen bevollmächtigten Rechtsvertretung des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Unter einem wurden die nachfolgenden Unterlagen zur Vorlage gebracht:

-             je ein Empfehlungsschreiben der Mitbewohnerin des Beschwerdeführers und ihres Sohnes (jeweils vom 02.12.2019 (OZ 13);

-             Stellungnahme der Suchthilfe römisch 40 vom 02.12.2019 (OZ 13);

-             zwei handschriftliche Einstellungszusagen von zwei unterschiedlichen Gastronomiebetrieben als Kellner bzw. Küchenhilfe (OZ 13);

14. Mit Wirksamkeit vom 31.12.2020 legte die bisherige Rechtsvertretung des Beschwerdeführers ihre Vertretungsvollmacht nieder.

15. Am 19.01.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Vertretungsvollmacht der nunmehrigen bevollmächtigten Rechtsvertretung des Beschwerdeführers ein.

16. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L526 abgenommen und am 01.02.2021 der nunmehr zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.

17. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.09.2021 wurde der Beschwerdeführer zur Mitwirkung im Verfahren und zur Beantwortung konkret an ihn gerichteter Fragen binnen einer Frist von zwei Wochen aufgefordert und näher genannte Nachweise dem Gericht vorzulegen. Unter einem wurden dem Beschwerdeführer Länderberichte zur Türkei zur Stellungnahme ebenfalls binnen zwei Wochen übermittelt und der Beschwerdeführer weiters ersucht, binnen einer Woche die Zustimmung zu Ermittlungen zu seiner Person in der Türkei zu erteilen.

18. Am 30.09.2021 langte die mit 29.09.2021 datierte schriftliche Stellungnahme der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers ein.

Darin wurden diverse Länderberichte zur Lage von (unterstellten) Unterstützern der PKK und zu den Haftbedingungen für Kurden in der Türkei zitiert. Weiters wurde ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer aktuell nicht in Behandlung befinde und weder Medikamente noch Suchtmittel zu sich nehme. Er fühle sich dennoch depressiv und labil. Weiters leide der Beschwerdeführer an Konzentrationsstörungen und vergesse viele Dinge, die wesentlich seien. Aufgrund der COVID-19 Pandemie sei das Fortsetzen oder der Neubeginn einer Therapie jedoch nur schwer möglich. Die Zustimmungserklärung zu Ermittlungen im Herkunftsstaat werde nicht erteilt.

19. Mit Ladungen vom 29.03.2022 beraumte das Bundesverwaltungsgericht für den 09.05.2022 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung an und übermittelte dem Beschwerdeführer vorab zugleich eine Liste mit relevanten und aktuellen Länderinformationen zum Herkunftsland Türkei zusammen mit der Einladung zu einer Stellungnahme.

20. Am 02.05.2022 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine ebenfalls mit 02.05.2022 datierte ergänzende Stellungnahme der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers samt einer weiteren Vorlage von Unterlagen ein.

Es wurden nachfolgende Unterlagen vorgelegt:

-             Auszug aus dem Gewerbeinformationssystem vom 29.04.2022, wonach der Beschwerdeführer seit 07.04.2022 über ein freies Gewerbe „Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“ verfügt (OZ 21);

-             vier Empfehlungsschreiben (OZ 21);

21. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 09.05.2022 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung sowie eine Dolmetscherin für die Sprache Türkisch teilnahmen. Ein Vertreter des Bundesamtes blieb der Verhandlung unentschuldigt fern. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung konnte die als Zeugin stellig gemachte Lebensgefährtin des Beschwerdeführers aus Zeitmangel nicht einvernommen werden. Diesbezüglich wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, neben der Vorlage weiterer Unterlagen auch eine schriftliche Erklärung seiner Lebensgefährtin binnen 14 Tagen vorzulegen. Zusätzlich wurde dem Beschwerdeführer auch die Möglichkeit eingeräumt, binnen 14 Tagen aktuelle Gutachten über seinen gesundheitlichen oder psychischen Zustand vorzulegen.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde zudem der Rechtsvertretung seitens des Gerichtes ein Bericht zu aktuellen Ereignissen in der Türkei „ römisch 40 , Submission to the 132nd Session of the Human Rights Committee, TURKEY (Military service, conscientious objection and related issues)“ übergeben und dem Beschwerdeführer der wesentliche Inhalt durch die Dolmetscherin übersetzt.

Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß Paragraph 29, Absatz 3, VwGVG.

22. Am 23.05.2022 langte eine mit 19.05.2022 datierte ergänzende Stellungnahme der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Unter einem wurden nachfolgende Unterlagen vorgelegt:

-             Meldung der Eröffnung/des Beginns der selbstständigen Tätigkeit des Beschwerdeführers an das Finanzamt vom 07.04.2022 (OZ 24);

-             Gewerbeanmeldungen als Einzelunternehmer beim Magistrat der Stadt römisch 40 vom 07.04.2022 (OZ 24);

-             eidesstattliche Erklärung der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers samt Kopie ihres Personalausweises (OZ 24);

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Bindungen in der Türkei:

1.1.1. Der Beschwerdeführer führt die oben im Spruch angeführte Identität, ist türkischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und bekennt sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist „Zaza“ (Kurdisch), er spricht jedoch fließend Türkisch vergleiche Erstbefragung vom 17.11.2014, AS 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 39 ff; Kopie türkischer Nüfus, OZ 11; Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 3& 6).

Er ist in römisch 40 (nachfolgend: E.), römisch 40 (nachfolgend: P.) im Dorf römisch 40 (nachfolgend: O.) in der Türkei geboren und aufgewachsen. Er hat in O. fünf Jahre die Grundschule besucht, hat anschließend aber keinen Beruf erlernt und war zuletzt wie der Rest seiner Familienangehörigen als Schafhirte in den Bergen tätig. Zeitweise half er im örtlichen Dorflokal als Kellner aus vergleiche Erstbefragung vom 17.11.2014, AS 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 39 ff; Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 10).

1.1.2. Der Beschwerdeführer hat zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt in der Türkei eine serbische Staatsangehörige geheiratet, die anschließend aber wieder nach Serbien zurückkehrte. Seit 2007 oder 2008 hat der Beschwerdeführer keinerlei Kontakt zu ihr vergleiche Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 43; Feststellungen Landesgericht für Strafsachen römisch 40 im Urteil vom römisch 40 2017, AS 81; Personenstand im Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 23.09.2022; Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 6).

Der Beschwerdeführer hat keine Kinder vergleiche etwa Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 43; Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 6).

1.1.3. In der Türkei leben seine beiden Eltern sowie zumindest vier der fünf Brüder des Beschwerdeführers in einem Bauernhaus, jedoch ohne eigenen Grundbesitz. Die Familie verdient durch die Tätigkeit als Schafhirten für andere Landwirte ihren Lebensunterhalt. Es leben auch noch eine Tante, ein Onkel und eine Cousine in der Türkei. Zu den Familienangehörigen in der Türkei hat der Beschwerdeführer etwa seit etwa Mitte 2019 keinen Kontakt mehr vergleiche Erstbefragung vom 17.11.2014, AS 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 39 ff & 43; Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, 10 ff).

1.2. Zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer war bis etwa Anfang des Jahres 2020 suchtmittelabhängig vergleiche Erstbefragung vom 17.11.2014, AS 5; Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 39 & 51; Stellungnahme der Suchthilfe vom 02.12.2019, OZ 13; schriftliche Stellungnahme vom 29.09.2021, OZ 19).

Im Zuge der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers von römisch 40 2017 bis römisch 40 2017 wurde vom psychiatrischen Dienst der Justizanstalt beim Beschwerdeführer die Diagnose „rezidivierende depressive Störung, schwere Episode mit psychotischen Symptomen“ (IDC-10: F33.3) gestellt. Der Beschwerdeführer wurde während seines Aufenthalts antidepressiv und antipsychotisch behandelt. Trotz des verbesserten Zustandsbildes während der Behandlung brach der Beschwerdeführer diese jedoch wegen unerwünschter Nebenwirkungen von sich aus ab. Eine Fortsetzung der Therapie wurde jedoch empfohlen vergleiche Stellungnahme des psychiatrischen Dienstes der Justizanstalt vom 25.08.2019, OZ 6).

Zum Zeitpunkt der Anhaltung des Beschwerdeführers von 20.05.2019 auf 21.05.2019 im Polizeianhaltezentrum waren dem Beschwerdeführer vom Suchhilfeverein Dialog die Medikamente Codidol 120 mg (2-2-0-3) und Anxiolit 50 mg (0-0-0-1) verordnet worden. Die Medikamente können allgemein zu Verlangsamung und Müdigkeit führen. Der Beschwerdeführer zeigte bei der Untersuchung durch den Amtsarzt bzw. durch den Suchthilfeverein am 20.05.2019 Entzugssymptome in Form von Nasenrinnen und Übelkeit. Es konnte nicht festgestellt werden, ob und welche Medikamente oder Suchtmittel der Beschwerdeführer in zeitlicher Nähe zu seiner Einvernahme vor dem Bundesamt am 21.05.2019 um 10:30 Uhr eingenommen hat vergleiche Befund und Gutachten des Amtsarztes des Polizeianhaltezentrums römisch 40 vom 23.08.2019, OZ 3).

Zwischen römisch 40 2019 und römisch 40 2020 nahm der Beschwerdeführer in der sozialmedizinischen Drogenberatungsstelle der Suchthilfe römisch 40 psychotherapeutische Gespräche durchschnittlich einmal wöchentlich in Anspruch vergleiche Stellungnahme der Suchthilfe vom 02.12.2019, OZ 13; schriftliche Stellungnahme vom 29.09.2021, OZ 19).

Zum Entscheidungszeitpunkt ist der Beschwerdeführer nicht mehr suchtmittelabhängig. Er leidet weiters an keinen aktuellen Krankheiten oder sonstigen Leiden und Gebrechen. Er nimmt keine Medikamente oder Therapien in Anspruch und besteht zum Entscheidungszeitpunkt auch keine akute depressive Verstimmung oder psychotische Störung. Der Beschwerdeführer ist zum Entscheidungszeitpunkt gesund und arbeitsfähig. Er leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium, die in der Türkei nicht behandelbar wären vergleiche Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 4).

1.3. Zur Einreise des Beschwerdeführers in das Bundesgebiet:

Der Beschwerdeführer verließ die Türkei illegal und schlepperunterstützt von Istanbul aus am 14.11.2014 auf der Ladefläche eines LKW und reiste am 17.11.2014 rechtswidrig in das Bundesgebiet ein, wo er am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte vergleiche Erstbefragung vom 17.11.2014, AS 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 43).

1.4. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und zur Situation im Fall der Rückkehr:

1.4.1. Der Beschwerdefüher war bisher kein Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder bewaffneten Gruppierung. Der Beschwerdeführer entfaltete weder in der Türkei noch in Österreich ein nennenswertes (exil-)politisches Engagement vergleiche etwa Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 10).

Er gehörte weiters nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nach vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt. Er ist auch kein Mitglied der PKK.

Er hatte im Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer unterliegt bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht der Gefahr einer von staatlichen Organen oder von Privatpersonen ausgehenden individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie.

1.4.2. Er unterlag vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat keiner individuellen Gefährdung und war keiner psychischen und/oder physischen Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat einer solchen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.

Insbesondere konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei vor seiner Ausreise im November 2014 Probleme mit dem türkischen Militär bzw. dem türkischen Polizeiapparat wegen der (unterstellten) Hilfeleistung für ein PKK-Mitglied zu gewärtigen hatte.

Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aus sonstigen Gründen bedroht oder verfolgt worden wäre oder, dass die türkischen Sicherheitsbehörden nicht willens oder fähig wären, den Beschwerdeführer zu schützen.

1.4.3. Der Beschwerdeführer hat sich bisher der Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei entzogen und diesen bisher nicht geleistet vergleiche Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 43 & 47).

Vor dem Hintergrund des nunmehrigen Alters des Beschwerdeführers von inzwischen 42 Jahren und dem Umstand, dass die Wehrpflicht in der Türkei nur bis zum 01. Jänner des Jahres, indem man 41 Jahre alt wird, aufrecht bleibt, ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr wehrpflichtig ist und im Fall seiner Rückkehr in die Türkei daher auch keinen Wehrdienst mehr leisten muss.

Ob der Beschwerdeführer in der Vergangenheit jemals einen Einberufungsbefehl erhalten hat und ihm wegen der Verletzung der Stellungspflicht ohne gesetzlich vorgesehene Entschuldigung und dem Fernbleiben von seiner Einberufung ein behördliches Dokument oder eine Anordnung übermittelt worden ist oder ob ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer hat den Wehrdienst jedenfalls nicht aus Gewissensgründen verweigert vergleiche insbesondere Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 17).

Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder eine Generalmobilmachung stattfinden würde. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Rekruten systematischen Misshandlungen unterliegen bzw. der Beschwerdeführer im Zuge eines allfällig dennoch zu verrichtenden Militärdienstes solche mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer für die Weigerung der Ableistung seines Militärdienstes in der Vergangenheit eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.

1.4.4. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge in der Türkei.

1.4.5. Der Beschwerdeführer ist eine arbeitsfähige Person mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherten Existenzgrundlage. Der Beschwerdeführer verfügt über jahrelange Arbeitserfahrung als Viehhirte in der Landwirtschaft und auch als Kellner in einem örtlichen Gastronomiebetrieb. Dem Beschwerdeführer ist die (Wieder-)Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

Aufgrund der familiären Bindungen des Beschwerdeführers in der Türkei wird er auch auf familiäre Unterstützung, insbesondere durch eine Wohnmöglichkeit bei seinen Eltern im Heimatdort O. in E. zurückgreifen können.

Der Beschwerdeführer verfügt zudem zumindest über einen türkischen Personalausweis (Nüfus) vergleiche etwa OZ 11) als Identitätsdokument, dass er im Rahmen des gegenständlichen Verfahrens vor dem Bundesamt im Original in Vorlage brachte.

1.5. Zum Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet:

1.5.1. Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise in das Bundesgebiet am 17.11.2014 ununterbrochen im Bundesgebiet auf und verfügt hier über Hauptwohnsitzmeldungen in den Zeiträumen 02.12.2014 bis 22.12.2016, römisch 40 2017 bis römisch 40 2017 (Untersuchungshaft) und seit 23.05.2019 bis laufend vergleiche Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 23.09.2022).

Er hält sich seit seiner Asylantragstellung am 17.11.2014 als Asylwerber im Bundesgebiet auf und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel oder ein anderes Aufenthaltsrecht vergleiche Auszug aus dem Fremdenregister vom 23.09.2022).

1.5.2. Mit Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen römisch 40 vom römisch 40 2017 wurde über den Beschwerdeführer die Untersuchungshaft verhängt vergleiche aktenkundiger Beschluss, AS 33 ff).

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen römisch 40 vom römisch 40 2017, Zahl: römisch 40 , wurde der Beschwerdeführer von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei weiteren abgesondert verfolgten Mittätern in der Zeit von Mitte des Jahres 2015 bis Ende Juli 2016 in einer Vielzahl von mehrmals wöchentlichen Angriffen insgesamt ca. 5.100 Gramm Heroin brutto zu einem Preis von EUR 20,00 pro Gramm, wobei das Heroin ab Mitte Mai 2016 aus der abgeurteilten Straftat des Mitangeklagten stammte und daher einen durchschnittlichen Reinheitsgehalt von 3 % (Heroin) aufgewiesen habe und dadurch das Verbrechen des Suchtgifthandels nach Paragraph 28 a, Absatz eins, fünfter und sechster Fall, Absatz 4, Ziffer 3, SMG begangen, gemäß Paragraph 259, Ziffer 3, StPO freigesprochen vergleiche aktenkundiges Urteil, AS 77 ff).

Der Beschwerdeführer befand sich somit von 29.03.2017 (Tag der Festnahme) bis 31.07.2017 (Freispruch) unschuldig in Haft in der Justizanstalt römisch 40 vergleiche etwa Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 23.09.2022 in Verbindung mit Stellungnahme des psychiatrischen Dienstes der Justizanstalt vom 25.08.2019, OZ 6).

Der Beschwerdeführer erhielt wegen der zu Unrecht erlittenen Untersuchungshaft von der Finanzprokuratur eine Entschädigung in Höhe von EUR 5.550,00, wobei diese zur Gänze von seinem damaligen Rechtsvertreter zur pauschalen Abgeltung seiner Honorarforderung einbehalten wurden vergleiche aktenkundiges Schreiben der Finanzprokuratur vom 24.10.2017 sowie des damaligen Rechtsvertreters vom 27.10.2017, jeweils OZ 11).

Der Beschwerdeführer ist bis dato strafgerichtlich unbescholten vergleiche Strafregisterauszug vom 23.09.2022).

1.5.3. Nach der Haftentlassung entzog sich der Beschwerdeführer vorübergehend dem Asylverfahren und tauchte unter. Das Asylverfahren wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, gemäß Paragraph 24, Absatz eins, AsylG eingestellt und am 18.10.2017 gegen den Beschwerdeführer ein Festnahmeauftrag gemäß Paragraph 34, Absatz 5 und Paragraph 47, Absatz eins, BFA-VG erlassen vergleiche Festnahmeauftrag, AS 23 ff).

Erst am 20.05.2019 konnte der Beschwerdeführer im Bundesgebiet festgenommen werden vergleiche Anhalteprotokoll, AS 15 ff). Nach niederschriftlicher Einvernahme vor dem Bundesamt am römisch 40 2019 wurde der Beschwerdeführer wieder aus der Festnahme entlassen vergleiche Entlassungsschein, AS 55). Er kam der vom Bundesamt erteilten Aufforderung, einen Wohnsitzmeldung durchzuführen nach und meldete am römisch 40 2019 einen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet bei seiner Lebensgefährtin an vergleiche Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 23.09.2022).

1.5.4. Sein Aufenthalt war nie nach Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG 2005 geduldet. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurden nicht Opfer von Gewalt im Sinne der Paragraphen 382 b, oder 382e EO.

1.6. Zum Privat- und Familienleben in Österreich:

1.6.1. Der Beschwerdeführer bezog nur im Zeitraum seiner Asylantragstellung vom 17.11.2014 bis zu seinem Untertauchen am römisch 40 2016 Leistungen aus der Grundversorgung vergleiche Grundversorgungsdatenauszug vom 23.09.2022).

1.6.2. Er lebt mit Frau römisch 40 , geboren am römisch 40 , bulgarische Staatsangehörige, seit etwa Anfang August 2017 (nach der Haftentlassung des Beschwerdeführers) im gemeinsamen Haushalt und führt mit ihr eine Lebensgemeinschaft. Mit seiner Lebensgefährtin spricht der Beschwerdeführer Türkisch vergleiche etwa Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 6 ff; aktenkundige Kopie des bulgarischen Personalausweises der Lebensgefährtin, OZ 24). Seit römisch 40 2019 ist der Beschwerdeführer auch durchgehend mit ihr im gemeinsamen Haushalt an derselben Adresse mit Hauptwohnsitz gemeldet vergleiche Auszüge aus dem Zentralen Melderegister jeweils vom 23.09.2022). Er ist in das Familienleben der Angehörigen seiner Lebensgefährtin und deren Sohn bzw. Enkelkinder eingebettet vergleiche Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 20 f).

1.6.3. In Österreich leben keine Verwandten oder Familienangehörigen des Beschwerdeführers vergleiche Erstbefragung vom 17.11.2014, AS 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 21.05.2019, AS 39 ff; Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 4).

1.6.4. Er verfügt über ein ÖSD-Deutschzertifikat auf Niveau A2 vom 22.12.2015 vergleiche OZ 11). Er hat weiters zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt an einem Umweltseminar zu Abfalltrennung und Abfallvermeidung teilgenommen vergleiche OZ 11). Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer bisher keine weiteren Kurse oder Ausbildungen besucht und auch keine weiteren Deutschprüfungen absolviert. Der Beschwerdeführer verfügt aber über so gute Deutschkenntnisse, dass er nicht unwesentlichen Teilen der mündlichen Verhandlung auch auf Deutsch ohne Übersetzung folgen und auf Deutsch antworten konnte vergleiche etwa Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 5 ff).

1.6.5. Der Beschwerdeführer hat in Österreich schon vor dem Hintergrund seiner Aufenthaltsdauer inzwischen soziale Kontakte sowie Freund- und Bekanntschaften geknüpft vergleiche etwa Konvolut Empfehlungsschreiben, OZ 13 und OZ 21).

1.6.6. Seit römisch 40 2022 verfügt er über ein freies Gewerbe „Hausbetreuung, bestehend in der Durchführung einfacher Reinigungstätigkeiten einschließlich objektbezogener einfacher Wartungstätigkeiten“ sowie über das freie Gewerbe „Entrümpler (Räumung durch Entfernung wertlosen Gutes)“ vergleiche GISA-Auszug zur Zahl römisch 40 und römisch 40 jeweils vom 22.09.2022).

Er hat die Aufnahme seiner selbstständigen Beschäftigung am römisch 40 2022 auch dem Finanzamt gemeldet vergleiche Meldung der Eröffnung/des Beginns der selbstständigen Tätigkeit des Beschwerdeführers an das Finanzamt, OZ 24), ist Mitglied der Wirtschaftskammer und konnte im Mai 2022 zwei Reinigungsverträge abschließen vergleiche OZ 24).

Am 15.05.2022 hatte er einen Dienstnehmer geringfügig beschäftigt als Arbeiter zur Sozialversicherung angemeldet, dieser wurde jedoch bereits am 30.05.2022 wieder abgemeldet vergleiche OZ 24 in Verbindung mit dem Sozialversicherungsdatenauszug des Mitarbeiters vom 23.09.2022). Der Beschwerdeführer verfügt als Dienstgeber aktuell auch nicht mehr über eine Beitragskontonummer vergleiche entsprechende Abfragen aus dem Dachverband der Österreichischen Sozialversicherung vom 23.09.2022).

Hinsichtlich des Beschwerdeführers liegen in Österreich zudem nachfolgende Sozialversicherungszeiten vor vergleiche Sozialversicherungsdatenauszug vom 23.09.2022):

             17.11.2014 bis 22.12.2016 Asylwerberin bzw. Flüchtlinge

             07.04.2022 bis laufend gewerbl. selbstständig Erwerbstätiger

Seit 07.04.2022 ist der Beschwerdeführer als Gewerbetreibender gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer eins, GSVG ex lege pflichtversichert vergleiche Sozialversicherungsdatenauszug vom 23.09.2022).

Aktuelle sonstige Einstellungszusagen oder ein Arbeitsvertrag für eine allfällige (zusätzliche) unselbstständige Tätigkeit des Beschwerdeführers liegen nicht vor.

Die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers kam seit 2017 mit ihrem eigenen Einkommen für den Lebensunterhalt des Beschwerdeführers auf und hat dies auch für die Zukunft an Eides statt zugesichert, falls der Gewerbetrieb des Beschwerdeführers nicht erfolgreich sein sollte vergleiche etwa eidesstattliche Erklärung der Lebensgefährtin, OZ 24; Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 8).

Der Unterhalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet kann daher als gesichert angesehen werden.

1.6.7. In Österreich ist der Beschwerdeführer bisher keinerlei Hilfsarbeiten, ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten nachgegangen. Er war oder ist bisher auch kein Mitglied in einem Verein und absolvierte – abgesehen von einem Deutschkurs/einer Deutschsprachprüfung 2015 und einem Seminar zur Abfallvermeidung – auch keine Kurse oder Ausbildungen.

1.7. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der der abgekürzt zitierten und der Beschwerdeführerin offengelegten Quellen getroffen:

„Länderinformation der Staatendokumentation – Türkei zum 22.09.2022“

[…]

Länderspezifische Anmerkungen

Letzte Änderung: 19.09.2022

Zum Inhalt:

In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit ist, insbesondere was die COVID-19-Maßnahmen anlangt, das Datum der jeweiligen Quelle zu beachten, und nicht nur das Aktualisierungsdatum des Kapitels.

Nebst dem separaten Kapitel zur COVID-19-Situation, das eine aktuelle Momentaufnahme bzw. einen Überblick bietet, finden sich darüber hinaus spezifische Informationen zur COVID-19-Lage und deren Auswirkungen in eigenen Abschnitten folgender Kapitel bzw. Unter-Kapitel der vorliegenden Länderinformation:

-             Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

-             Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

-             Opposition

-             Haftbedingungen

-             Roma

-             Sexuelle Minderheiten

-             Flüchtlinge

Auf die Justizreformstrategie 2019-2023 wird nur dann Bezug genommen, wenn tatsächlich Reformen zumindest in Gesetzestexte gegossen werden.

Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung: In der Türkei wird seitens der staatlichen Vertreter und der breiten Öffentlichkeit die Abkürzung "FETÖ", mitunter die vollständige Bezeichnung "Fetullahçı Terör Örgütü" verwendet, in deutscher Übersetzung: "Fetullahistische Terror Organisation". Da die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung weder in Österreich noch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (auch nicht in den USA) als Terrororganisation eingestuft wird, was im gegenteiligen Fall unmittelbare Auswirkungen z. B. auf das Asylverfahren nach sich ziehen würde, wird von der Verwendung der Abkürzung "FETÖ" abgesehen, bzw. ist diese zu vermeiden. Die Abkürzung "FETÖ" tritt im Bericht lediglich dort in Erscheinung, wo aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass diese von Institutionen oder Vertretern des türkischen Staates verwendet wird.

Zur Form:

Wie in allen Länderinformationen wird bei staatlichen nationalen Institutionen in der Quellenangabe das Land in eckiger Klammer genannt. Aus Gründen der Stringenz geschieht dies auch, wenn aus dem Quellennamen das Land bereits eindeutig hervorgeht.

Bei einer Vielzahl von Autoren bzw. Herausgebern wird in der Quellenangabe deren Nennung in der Regel auf zwei bis drei limitiert und mit der Abkürzung "u. a." indiziert, dass es weitere gibt.

COVID-19-Pandemie

Letzte Änderung: 19.09.2022

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

Während der Covid-19-Pandemie wurde das staatliche Gesundheitssystem extrem belastet, konnte aber seine Aufgaben bisher weitgehend erfüllen. Es häufen sich Berichte über personelle Erschöpfung und beschränkte Behandlungsmöglichkeiten (AA 28.7.2022, Sitzung 21).

Mit Stand Ende August 2022 verzeichnete die Türkei offiziell rund 100.400 Menschen, die an den Folgen von COVID-19 verstarben (JHU 31.8.2022). Bereits Mitte April 2022 sah die türkische Ärztekammer (TTB) die Zahl der COVID-19-Toten nach zwei Jahren Pandemie allerdings bei geschätzten 274.000 im Widerspruch zu den rund 98.000 zu jenem Zeitpunkt Verstorbenen (bei insgesamt circa 14,78 Millionen Fällen), welche die Behörden vermeldeten. Die Berechnungen der Ärztekammer erfolgten anhand der Übersterblichkeitsrate (Ahval 14.4.2022). Angesichts der erneuten Sommerwelle im Juli 2022, zurückzuführen auf das Ende fast aller Maßnahmen, erneuerte die Ärztekammer den Vorwurf falscher COVID-19-Infektionszahlen. Die tatsächliche Infektionszahl wäre mit 235.000 demnach doppelt so hoch wie die vom Gesundheitsministerium angegebene (Ahval 16.7.2022).

Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).

Beginnend mit 1.6.2022 wurde das Tragen von Masken sowohl im Freien als auch in geschlossenen Räumen sowie im öffentlichen Verkehr aufgehoben. In Gesundheitseinrichtungen ist das Tragen von Masken aber noch vorgeschrieben. Per Dekret vom 1.6.2022 wurde bei Einreise in die Türkei die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests bzw. eines negativen Antigentests bei Nicht-Vorweis einer Impfung oder Genesung aufgehoben (WKO 21.7.2022).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 23.8.2022

-             Ahval (16.7.2022): Turkey's real COVID-19 figures twice the official numbers - top medical association, https://ahvalnews.com/pandemic/turkeys-real-covid-19-figures-twice-official-numbers-top-medical-association, Zugriff 12.8.2022

-             Ahval (14.4.2022): More than a quarter of a million Turks killed by COVID-19, medical group saysTurkey, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/more-quarter-million-turks-killed-covid-19-medical-group-says, Zugriff 15.4.2022

-             BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, COVID-19-Zahlen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 28.2.2022

-             DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 28.2.2022

-             JHU - Johns Hopkins University & Medicine (31.8.2022): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 31.8.2022

-             WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.7.2022): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 31.8.2022

Politische Lage

Letzte Änderung: 19.09.2022

Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).

Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident. Das seit 1950 bestehende Mehrparteiensystem ist in der Verfassung festgeschrieben (AA 28.7.2022, Sitzung 5; vergleiche DFAT 10.9.2020, Sitzung 14).

Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10f). Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022, Sitzung 43). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und sind die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, Sitzung 2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, Sitzung 20/Pt. 55; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u. a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10f).

Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Artikel ,). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, Sitzung 9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).

Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, Sitzung 20, Pt. 57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, Sitzung 18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, Sitzung 12).

Am 16.4.2017 stimmten 51,4 % der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vergleiche HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, Sitzung 1; vergleiche EP 19.5.2021, Sitzung 7-14).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Ende März 2022 wurde das Wahlgesetz geändert. Die Zehn-Prozent-Hürde für den Eintritt einer Partei ins Parlament, eingeführt von den Generälen nach dem Putsch von 1980, wurde auf sieben Prozent gesenkt. Diese Änderung wurde weithin einerseits als Versuch gewertet, die Opposition zu spalten, und andererseits der schwächelnden ultranationalistischen MHP, welche die AKP-Regierung stützt, den Wiedereinzug ins Parlament zu erleichtern. Anwendung findet das Gesetz nach einer Frist von einem Jahr (AM 4.4.2022; vergleiche AP 31.3.2022).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6 % der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6 % der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen "Volksbündnis" verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6 % bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10 % bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7 % und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).

Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vergleiche Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54 %. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45 % (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).

Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, Sitzung 11; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, Sitzung 9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, Sitzung 12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, Sitzung 11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, Sitzung 14).

Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vergleiche AAN 17.3.2021).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75 % der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).

Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, Sitzung 3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vergleiche ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, Sitzung 5).

Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, Sitzung 16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020, Sitzung 13).

Der Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats zeigte sich in seiner Resolution vom 23.3.2022 besorgt ob der "Weigerung der Wahlverwaltung der Provinzen, in Widerspruch zum Grundsatz der Fairness von Wahlen, mehreren Kandidaten, die in einigen Gemeinden im Südosten der Türkei die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, die erforderliche Wahlbescheinigung (mazbata) auszustellen, die Voraussetzung für das Antreten des Bürgermeisteramtes ist", und "[d]ie Regierung [...] weiterhin Bürgermeister / Bürgermeisterinnen [suspendiert], wenn gegen sie Strafermittlungen (Artikel 7.1) auf Grundlage einer übermäßig breiten Definition von "Terrorismus" im Antiterrorgesetz eingeleitet werden, und [...] sie durch nicht gewählte Beamte [ersetzt werden] (Artikel 3.2), wodurch die demokratische Entscheidung türkischer Bürger schwerwiegend unterminiert und das ordnungsgemäße Funktionieren der kommunalen Demokratie in der Türkei beeinträchtigt wird" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 4.a,b). Überdies forderte der Kongress, "die Praxis der Ernennung staatlicher Treuhänder in den Gemeinden einzustellen, in denen der Bürgermeister/die Bürgermeisterin suspendiert wurde", und "der Gemeinderat die Gelegenheit erhält, in Einklang mit der im ursprünglichen Gemeindegesetz von 2005 (Artikel 45,) diesbezüglich vorgesehenen Möglichkeit, und bis zur verfahrensrechtlichen Klärung der Situation des/der suspendierten Bürgermeisters/Bürgermeisterin, eine/n kommissarische/n oder geschäftsführende/n Bürgermeister/in aus seinen Reihen zu ernennen" (CoE-CLRA 23.3.2022, Pt. 5c).

Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, Sitzung 11).

[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

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-             AAN – Al Arabiya News (17.3.2021): Turkey’s parliament strips pro-Kurdish deputy of seat in blow to third largest party, https://english.alarabiya.net/News/middle-east/2021/03/17/Turkey-s-parliament-strips-pro-Kurdish-deputy-of-seat-in-blow-to-third-largest-party, Zugriff 10.2.2022

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-             BI - Balkan Insight (1.2.2022): Turkey Violated Pro-Kurdish MPs’ Rights, European Court Rules, https://balkaninsight.com/2022/02/01/turkey-violated-pro-kurdish-mps-rights-european-court-rules/, Zugriff 10.2.2022

-             BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022

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-             ZO – Zeit Online (22.12.2020): Menschenrechtshof fordert Freilassung von türkischem Oppositionellen, https://www.zeit.de/politik/2020-12/selahattin-demirtas-europaeischer-gerichtshof-menschenrechte-tuerkei, Zugriff 10.2.2022

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Sicherheitslage

Letzte Änderung: 19.09.2022

Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, Sitzung 18).

Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) (AA 28.7.2022, Sitzung 4) und durch weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (AA 3.6.2021, Sitzung 16) sowie durch Instabilität in den Nachbarstaaten Syrien und Irak. Staatliches repressives Handeln wird häufig mit der "Terrorbekämpfung" begründet, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch bei zivilgesellschaftlichem oder politischem Engagement ohne erkennbaren Terrorbezug (AA 28.7.2022, Sitzung 4).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren vermeintlichen Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016). Der Zusammenbruch des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK führte ab Juli 2015 zum erneuten Ausbruch massiver Gewalt im Südosten der Türkei. Hierdurch wiederum verschlechterte sich weiterhin die Bürgerrechtslage, insbesondere infolge eines sehr weit gefassten Anti-Terror-Gesetzes, insbesondere für die kurdische Bevölkerung in den südöstlichen Gebieten. Die neue Rechtslage diente als primäre Basis für Inhaftierungen und Einschränkungen von politischen Rechten. Es wurde zudem wiederholt von Folter und Vertreibungen von Kurden und Kurdinnen berichtet. Im Dezember 2016 warf Amnesty International der Türkei gar die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus dem Südosten des Landes sowie eine Unverhältnismäßigkeit im Kampf gegen die PKK vor (BICC 7.2022, Sitzung 33). Kritik gab es auch von den Institutionen der Europäischen Union am damaligen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. - Die Europäische Kommission zeigte sich besorgt ob der unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Eigentum und Infrastruktur durch schwere Artillerie, wie beispielsweise in Cizre (EC 9.11.2016, Sitzung 28). Im Frühjahr zuvor (2016) zeigte sich das Europäische Parlament "in höchstem Maße alarmiert angesichts der Lage in Cizre und Sur/Diyarbakır und verurteilt[e] die Tatsache, dass Zivilisten getötet und verwundet werden und ohne Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie ohne medizinische Versorgung auskommen müssen [...] sowie angesichts der Tatsache, dass rund 400.000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind" (EP 14.4.2016, Sitzung 11, Pt. 27).

Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 12; vergleiche HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, Sitzung 4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 20.6.2022), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).

Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat, auch wenn deren Zahl in den letzten Jahren stetig abnahm (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; 26). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, Sitzung 15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, können aber auch Zivilpersonen treffen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden (EDA 20.6.2022).

Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, Sitzung 9, İHD 18.5.2020a). Die International Crisis Group (ICG) zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015 rund 6.064 Tote (3.878 PKK-Kämpfer, 1.360 Sicherheitskräfte - in der Mehrzahl Soldaten, aber auch 302 Polizisten und 121 sog. Dorfschützer - 600 Zivilisten und 226 nicht-zuordenbare Personen) im Zeitraum Juli 2015 bis 18.7.2022. Betroffen waren insbesondere die Provinzen, Şırnak (1.003 Tote), Hakkâri (782 Tote), Diyarbakır (553 Tote), Mardin (398) und die zentralanatolische Provinz Tunceli/Dersim (286), wobei 1.182 Opfer in diesem Zeitrahmen auf irakischem Territorium vermerkt wurden. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert. Im Verlaufe des Jahres 2022 zählte die ICG (Stand 18.7.2022) 140 Tote (ICG 18.7.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, Sitzung 15). Hierzu betonte das Europäische Parlament im Juni 2022 "die Dringlichkeit der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses unter Einbindung aller betroffenen Parteien und demokratischen Kräfte mit dem Ziel der friedlichen Lösung der Kurdenfrage" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 30).

Im unmittelbaren Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, in den Provinzen Hatay, Gaziantep, Kilis, Şanlıurfa, Mardin, Şırnak, Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen (AA 7.9.2022). Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern, die den Zugang für Besucher und in einigen Fällen auch für Einwohner einschränkten. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli/Dersim blieben die meiste Zeit des Jahres (2021) "besondere Sicherheitszonen". Die Bewohner dieser Gebiete berichteten, dass sie gelegentlich nur sehr wenig Zeit hatten, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Sicherheitsoperationen gegen die PKK begannen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26).

Die Operationen der türkischen Sicherheitskräfte - einschließlich Drohnenangriffe - wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2022 im Nordirak, in Nordsyrien sowie in geringerem Umfang im Südosten der Türkei fortgesetzt (im April die sog. Operation "Claw Lock"). Ziele waren auch PKK-Führungskader (ICG 7.2022; vergleiche ICG 5.2022). Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich zu Jahresbeginn auf die ländlichen Gebiete der türkischen Provinzen Tunceli/Dersim, Mardin und Şanlıurfa und im März 2022 in den Provinzen Diyarbakır, Mardin, Hakkâri und Hatay (ICG 5.2022). Pro-kurdische, regierungskritische Medien berichteten im Juni 2022 von mehrtägigen Bombardements in ländlichen Gebirgsregionen der Provinz Tunceli/Dersim [Zentralanatolien] im Zuge des Anti-Terrorkampfes, wobei der Zugang zu einigen Dörfern gesperrt wurde und mehrere Hektar Nutzwald abbrannten (Bianet 14.6.2022). Bei einer bemerkenswerten Eskalation wurden am 20.7.2022 in der Provinz Duhok in der autonomen Region Kurdistan im Irak neun Touristen durch Artilleriebeschuss getötet und mehr als 20 verletzt. Die irakischen und kurdischen Regionalbehörden machten die Türkei für den Angriff verantwortlich und gaben scharfe und kritische Erklärungen ab, während Ankara diese Behauptungen zurückwies und die PKK dafür verantwortlich machte (ICG 7.2022). Im Zuge der Eskalation in Nordsyrien begann das türkische Militär mit Angriffen auf kurdisch geführte Kräfte, die sich zu Angriffen auf Armeeeinrichtungen in türkischen Grenzprovinzen bekannten, bei denen mehrere türkische Soldaten getötet wurden. Das Militär setzte auch seine Operationen gegen die PKK im Irak und im Südosten der Türkei fort. Im Nordirak wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums vom 27.8.2022 neun PKK-Kämpfer getötet. Im Südosten der Türkei startete das Militär am 8.8.2022 eine neue Anti-PKK-Operation in ländlichen Gebieten der Provinz Bitlis. Innenminister Süleyman Soylu erklärte am 19.8.2022, dass sich nur noch 124 PKK-Mitglieder innerhalb der Landesgrenzen aufhielten (ICG 8.2022). - Die Operationen der Sicherheitskräfte gegen Zellen/Akteure des sog. IS wurden intensiviert. Die Polizei nahm zumindest 125 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer (ICG 8.2022, 7.2022).

Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).

Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vergleiche Duvar 26.10.2021).

Quellen:

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GÜLEN- ODER HIZMET-BEWEGUNG

Letzte Änderung: 19.09.2022

Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016), und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).

Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Die Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt während des Verfassungsreferendums vom 12.9.2010, das die Zusammensetzung der Justizorgane veränderte und letztlich die säkularistische Kontrolle über die Justiz brach (Taş 16.5.2017, Sitzung 4). Die beiden, AKP und Gülenisten, kooperierten insbesondere bei den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen, die Hunderte von aktiven und pensionierten Militärs ins Gefängnis brachten, was die Befehlsgewalt des Militärs neu bestimmte (Taş 16.5.2017, Sitzung 4). Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und etliches mehr während der Ermittlungen bildeten nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet wurden (Qantara 30.9.2013). Die Ermittlungen wurden von einer kleinen Gruppe von Gülen-Anhängern bei der Polizei und in den unteren Rängen der Justiz durchgeführt, medial unterstützt von den Gülen-nahen Medien (Jenkins 15.4.2014; vergleiche Cagaptay 2021, Sitzung 31), welche gleichzeitig Regierungschef Erdoğan als einen Demokraten darstellten, der gegen die Eliten und einen ruchlosen "tiefen Staat" kämpft (Cagaptay 2021, Sitzung 31f). Der Gülen-Bewegung war es somit gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Sicherheitskräfte ebenso unterwanderte wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz, gedeckt von der regierenden AKP, stellte sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger, z. B. Manipulation von Beweisstücken in Verfahren zwecks Verfolgung politischer Gegner, ungesühnt blieben (Qantara 30.9.2013; vergleiche Jenkins 15.4.2014). Laut Türkei-Spezialisten, wie Gareth Jenkins, sind die Beweise - einschließlich Geständnissen - dafür, dass eine Komplottgruppe von Gülen-Anhängern hinter Fällen wie Ergenekon, Sledgehammer und dem Spionagering von Izmir steckte, inzwischen so umfassend, dass sie unwiderlegbar sind (Jenkins 15.4.2014).

Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, Sitzung 4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020, Sitzung 4).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vergleiche Sabah 17.6.2017).

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 28.7.2022, S.4; vergleiche UKHO 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vergleiche Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).

Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen (EC 6.10.2020, Sitzung 20; vergleiche SCF 5.10.2020). Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom Februar 2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt (SCF 4.3.2021). Mitte November berichtete der Innenminister, dass im Zeitraum vom 15.7.2016 bis 15.11.2021 rund 320.000 Personen verhaftet wurden und fast 100.000 weitere im Gefängnis landeten. Gegenwärtig (Stand 15.11.2021) befänden sich noch 22.340 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Gefängnis (SCF 22.11.2021).

Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der FETÖ "befreit" (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 28.7.2022, Sitzung 7; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.23 , EC 19.10.2021, Sitzung 45). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten (ÖB 30.11.2021, S.23). Laut Innenminister würde noch nach rund 25.000 Personen (Stand November 2021) wegen terroristischer Vergehen gefahndet (SCF 22.11.2021). Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei über 1.200 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (Anadolu 17.2.2022).

Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Herbst 2021 angeführt: Zwischen dem 6. und 10.9.2021 ordneten die Behörden die Inhaftierung von insgesamt 279 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung an. Am 8.9.2021 erließ die Staatsanwaltschaft in mehreren Städten 65 Haftbefehle gegen Militäroffiziere, Richter und Staatsanwälte sowie Rechtsanwälte und Lehrer. Einige der Verdächtigten werden beschuldigt, über Münztelefone mit ihren Kontakten in der Gülen-Bewegung kommuniziert zu haben, weitere werden verdächtigt, die Handy-Anwendung ByLock genutzt zu haben (BAMF 13.9.2021, Sitzung 16; vergleiche SDZ 7.9.2021). Bereits am 13.9.2021 wurden 33 entlassene und aktive Soldaten (Anadolu 13.9.2021), und am 24.9.2021 35 Personen, die Teil eines geheimen Netzwerks der Gülen-Bewegung innerhalb der türkischen Streitkräfte sein sollen, verhaftet (BAMF 27.9.2021, S.15). In der ersten Oktoberwoche 2021 wurden bei landesweiten Razzien über 100 Personen festgenommen. Bei den Verdächtigten handelt es sich hauptsächlich um Staatsbedienstete, darunter Angestellte des Militärs und der Luftwaffe, sowie derzeitige oder ehemalige Mitarbeiter des Petro-Chemie-Unternehmens "Petkim". Letztere sollen Konten bei der inzwischen geschlossenen Asya-Bank geführt haben (BAMF 11.10.2021, Sitzung 13; vergleiche DS 5.10.2021). Zudem wurden am 5.10.2021 durch den Rat der Richter- und Staatsanwälte (HSK) zehn Mitglieder der Staatsanwaltschaft und drei Mitglieder der Richterschaft ihres Amtes enthoben. Der HSK entschied, dass die Beschuldigten aufgrund ihrer mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung, nicht in der Lage seien, ihre Berufe auszuüben (BAMF 11.10.2021, Sitzung 13). Am 15.10.2021 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Ankara wegen mutmaßlicher Tätigkeiten für die Gülen-Bewegung Haftbefehle gegen 98 Personen innerhalb des Generalkommandos der Gendarmerie. Weitere 46 Personen wurden bei Polizeieinsätzen in 45 Provinzen festgenommen (BAMF 18.10.2021, Sitzung 14), und am 19.10.2021 haben türkische Sicherheitskräfte auf der Basis von 158 Haftbefehlen der Staatsanwaltschaft in Izmir mindestens 97 Personen bei gleichzeitigen Operationen in 41 Provinzen verhaftet, darunter sowohl aktive Soldaten als auch Militärschüler (Anadolu 19.10.2021). Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung wurden am 20.10.2021 Haftbefehle aufgrund eines geheimen Zeugen gegen 39 Frauen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung erlassen. Während Razzien in fünf Provinzen wurden 32 von ihnen festgenommen (BAMF 25.10.2021, S.15f; vergleiche DS 20.10.2021). Am 22.10.2021 wurde die landesweite Festnahme von 81 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern vermeldet, nebst Militärangehörigen auch Mitarbeiter des Außenministeriums (DS 22.10.2021). Anfang November 2021 wurden 40 vermeintliche Führungsmitglieder der Gülen-Bewegung, welchen die Infiltration der Gendarmerie vorgeworfen wurde, verhaftet (Anadolu 2.11.2021). Am 23.11.21 erklärte die Polizei, bei Razzien in mehreren Städten in der Türkei mindestens 132 Personen festgenommen zu haben, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Hierbei handelt es sich um entlassene Kadetten und Soldaten sowie Soldaten im aktiven Dienst wie auch Angestellte der Gendarmerie (BAMF 29.11.2021, S.16; vergleiche Anadolu 23.11.2021). In der Folgewoche wurden weitere rund 60 Personen verhaftet, unter dem Verdacht, das Generalkommando der Gendarmerie unterwandert zu haben (Anadolu 30.11.2021). Auch 2022 gingen die Verhaftungswellen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder weiter: Am 4.1.2022 wurden bei Razzien in zahlreichen Provinzen zunächst 80 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet, die meisten unter dem Verdacht, ein Netzwerk innerhalb der Gendarmerie aufgebaut zu haben (BAMF 10.1.2022, Sitzung 15; vergleiche DS 4.1.2022). Bereits am 11.1.2022 wurde die Verhaftung von 113 von insgesamt 185 gesuchten Gülen-Mitgliedern, insbesondere in den Reihen des Militärs, bei Razzien in über 40 Provinzen vermeldet (Anadolu 11.1.2022), gefolgt von über 50 Festnahmen am 14.1.2022 (BAMF 24.1.2022, Sitzung 14). In der zweiten Februarhälfte wurden in Ankara und Balıkesir 123 vermeintliche Gülen-Mitglieder verhaftet (Ahval 22.2.2022). Am 1.3.2022 wurden bei landesweiten Operationen gegen die Gülen-Bewegung 96 Verdächtigte festgenommen, wobei die Generalstaatsanwaltschaft 19 Personen einem mutmaßlichen Netzwerk der Gruppe unter dem Kommando der Luftstreitkräfte zuordnete (BAMF 7.3.2022, Sitzung 9; vergleiche DS 1.3.2022). Bereits eine Woche später wurden 105 von 127 gesuchten Verdächtigen in den Streitkräften in rund 50 Städten festgenommen (DS 8.3.2022). Der April 2022 sah mehrere Verhaftungswellen (DS 13.4.2022; DS 26.4.2022). Bei der größten Operation wurden 133 Personen, insbesondere in Izmir, festgenommen, darunter sowohl Beamte als auch ehemalige und aktive Mitglieder der Streitkräfte (DS 19.4.2022). Nachdem am 17.5.2022 35 Personen, darunter Lehr- und Krankenhauspersonal, festgenommen wurden (DS 17.5.2022; vergleiche BAMF 23.5.2022, Sitzung 13f.), wurden eine Woche später bei landesweiten Operationen, mit Schwerpunkten in Ankara und Izmir, 92 vermeintliche Gülen-Unterstützer verhaftet (DS 24.5.2022). Außerdem gab der Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) am 17.5.2022 bekannt, dass 15 Richter und Staatsanwälte, die der Gülen-Mitgliedschaft beschuldigt werden, dauerhaft von ihren Posten enthoben wurden (BAMF 23.5.2022, Sitzung 14). Im Juni 2022 vermeldeten die türkischen Medien am 14. des Monats die Festnahme von 53 und eine Woche später die Verhaftung von weiteren 44 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern, die vornämlich die Streitkräfte infiltriert hätten (DS 14.6.2022; DS 21.6.2022).

Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020; vergleiche ICJ 14.9.2020) [hierzu siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen].

Mit Stand 9.4.2021 waren laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu insgesamt 4.820 Putschverdächtige verurteilt. 1.626 hatten eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen erhalten, 1.373 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und 1.821 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vergleiche ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon sechs unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vergleiche AP 7.4.2021). Somit waren von den 289 Prozessen hernach noch 14 ausständig (DPA 7.4.2021).

Kriterien für die Verfolgung durch die Justiz

Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S.9). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 28.7.2022, Sitzung 7; vergleiche NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 38, JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 28.7.2022, Sitzung 7; vergleiche JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 28.7.2022, Sitzung 7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten (SCF 6.8.2019) noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule für eine Verurteilung ausreicht (AA 28.7.2022, Sitzung 7; vergleiche SCF 6.8.2019).

Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen. Zwar kann jeder mit einem Gülen-Hintergrund verfolgt werden, doch scheint eine Priorisierung nach Berufsgruppen zu bestehen, wonach Armee-, Polizei- und Angehörige des diplomatischen Corps, gefolgt von Juristen, stärker ins Visier genommen werden als beispielsweise Mitarbeiter im Medien- oder Bildungsbereich (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 38f.).

Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein. Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 41).

Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).

Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren. Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Infolge der Anfeindungen und der Stigmatisierung haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder Schwierigkeiten, in der türkischen Gesellschaft zu überleben. Arbeitgeber sind nicht geneigt, diese einzustellen, aus Angst, selbst als Unterstützer oder Mitglieder der Gülen-Bewegung angesehen zu werden. Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 43).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine "in flagranti"-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, Sitzung 14).

Das Kassationsgericht sprach am 21.6.2022, sechs Jahre nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei, 71 ehemalige Militärschüler frei, die wegen Beteiligung am Umsturzversuch zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren (Spiegel 23.6.2022; vergleiche Bianet 22.6.2022).

ByLock

ByLock ist eine Handy-Applikation zur verschlüsselten, sicheren Kommunikation. Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis darstellt, um die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung festzustellen. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Allerdings urteilte der Verfassungsgerichtshof im Juni 2020 anlässlich eines Beschwerdeverfahrens, dass die Benutzung von ByLock als ausreichender Beweis für die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gilt (Ahval 27.6.2020).

Laut Innenministerium wurden (Stand November 2021) mehr als 99.300 Nutzer von ByLock wegen Terrorismus angeklagt (SCF 22.11.2021). Auch 2021 und 2022 ist es zu Verhaftungen auf der Grundlage der Verwendung von ByLock gekommen. Beispielsweise ordnete die Staatsanwaltschaft von Konya im Jänner 2021 die Festnahme von 17 Verdächtigen in einem Untersuchungsverfahren wegen der Verwendung von ByLock an. 13 bereits Festgenommene sollen via ByLock Anordnungen von höher gestellten Mitgliedern der Gülen-Bewegung an niedere Ränge weitergeleitet haben (DS 26.1.2021). Im März erließ die Staatsanwaltschaft Ankara Haftbefehle gegen 15 Verdächtige (Anadolu 10.3.2021) und im Mai 2021 wurden neun vermeintliche Benutzer von ByLock festgenommen (Anadolu 25.5.2021). Am 10.2.2022 sind mindestens 21 Personen wegen der Nutzung der App ByLock als Beweis einer Verbindung zur Gülen-Bewegung festgenommen worden (BAMF 14.2.2022, Sitzung 18).

Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vergleiche UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).

Am 20.7.2021 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass sich der betroffene ehemalige Polizist, Tekin Akgün, zu Unrecht seit 2016 wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft befindet, und zwar, weil die Festnahme lediglich auf der Benutzung von ByLock fußt. Laut Urteil des EGMR verfügte das türkische Gericht nicht über ausreichende Informationen zu ByLock, um zu dem Schluss zu kommen, dass diese Messenger-Anwendung ausschließlich von Mitgliedern der Gülen-Bewegung zu Zwecken der internen Kommunikation verwendet wurde. In Ermangelung anderer Beweise oder Informationen könne das fragliche Dokument, in dem lediglich festgestellt werde, dass der Kläger ein Nutzer von ByLock sei, für sich genommen nicht darauf hindeuten, dass ein begründeter Verdacht bestehe, dass er ByLock tatsächlich in einer Weise nutzte, die den vorgeworfenen Straftaten gleichkommen könne. Der EGMR stellte dahingehend eine Verletzung von Artikel 5 Paragraph eins, (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Artikel 5 Paragraph 3, (Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Freilassung bis zur Gerichtsverfahren) und eine Verletzung von Artikel 5 Paragraph 4, (Recht auf eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Das Gericht entschied, dass die Türkei dem Kläger 12.000 Euro für den immateriellen Schaden und 1.000 Euro für Kosten und Auslagen zu ersetzen hat (ECHR 20.7.2021, Sitzung 1,6).

Asya Bank

Die von Gülen-Anhängern betriebene und getragene "Bank Asya" kam nach dem gescheiterten Putschversuch zunehmend unter Druck und wurde ab 22.7.2016 gänzlich unter Verwaltung des Staates gestellt. Mit dem Bankengesetz Nr. 5411 wurde der Bank die Betriebserlaubnis vollständig entzogen. Eine Kontoeröffnung ist seither nicht mehr möglich. Bis zum 22.7.2016 hatten neben Gülen nahestehenden Beamten vor allem Geschäftsleute und einige Privatpersonen Konten bei der Asya-Bank. In vielen Fällen reichte es, über ein Konto bei dieser Bank zu verfügen, um wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagt zu werden. Viele Angeklagte wurden jedoch nicht verurteilt, wenn keine weiteren Indizien vorlagen. Allerdings konnte die bloße Einzahlung von Geld bei der Asya-Bank nach dem 25.12.2013 zu einer Suspendierung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst führen (ÖB 30.11.2020, Sitzung 23).

Das Kassationsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt hatten, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018; vergleiche TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden der Bank Asya waren (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt wurden, die Messenger-App ByLock verwendet und gleichzeitig Geld in der Asya Katılım Bank deponiert zu haben (DS 18.9.2019). [Mehr zu Verurteilungen siehe Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen.]

Gülen-Schulen

Die Gülen-Bewegung betrieb einst Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Die Schließung der Schulen stellt die Gülen-Bewegung vor große Herausforderungen, da sie eine wichtige Rolle bei der Finanzierung und der Anwerbung neuer Anhänger spielten. Um den Zugang des türkischen Staates zu verhindern, erklärten sich viele Schulen nicht mehr als türkische, sondern als lokale Institutionen. Durch eine Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Anreizen hat die Türkei versucht, die Gastländer davon zu überzeugen, die Gülen-Schulen, Schülerwohnheime und Universitäten an die türkische Maarif-Stiftung zu übergeben (NZZ 14.2.2020), oder auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen bzw. anderen Eigentümern zu übertragen (SCF 5.2.2019; vergleiche DS 31.7.2018). Laut dem Leiter der Stiftung, Birol Akgün, wurden bis März 2021 216 Gülen-Schulen in 44 Ländern übernommen (TM 23.3.2021). Wann immer die Interventionen der türkischen Regierung, die Gülen-Schulen zu schließen, sich nicht als erfolgreich erweisen, strebt sie über die Maarif-Stiftung die Eröffnung eigener Schulen an. Bislang hat die Maarif-Stiftung etwa 100 Schulen selbst gegründet (NZZ 14.2.2020).

Verfolgung im Ausland: Auslieferungsanträge und Entführungen

Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (MİT) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018). Laut Justizminister Abdülhamit Gül waren es Ende März 2019 107 (Anadolu 27.3.2019). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019). Der türkische Nachrichtendienst MİT als Hauptakteur organisierte verdeckte Operationen, um hauptsächlich Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu entführen und in die Türkei zu bringen, manchmal in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden des Landes und in einigen anderen Fällen, ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, diese zu informieren. Etliche Regierungen unterstützten die türkische Seite, indem sie selbst die Verfolgung bzw. Auslieferung von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern in ihren jeweiligen Ländern durchführten (AST 9.2020). Zu Beginn des Jahres 2021 wurden mindestens 17 Staaten gezählt, an deren Spitze Saudi-Arabien, die seit 2016 Personen mit Verbindungen zur Gülen-Bewegung an die Türkei auslieferten (FT 14.1.2021). So lieferte die Ukraine Anfang Jänner 2021 zwei hochrangige Mitglieder der Gülen-Bewegung, die zuvor im Irak tätig waren, an Ankara aus (AM 6.1.2021). Mitte Februar 2021 wurden im Rahmen einer Operation des MİT in Usbekistan zwei angebliche Gülen-Mitglieder in die Türkei verbracht (DS 15.2.2021). Im Mai 2021 entführte der türkische Geheimdienst Selahaddin Gülen, einen Neffen von Fethullah Gülen, in Kenia. Die türkischen Behörden warfen dem Neffen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vor (DW 31.5.2021; vergleiche France24 31.5.2021). Im März 2022 wurde Selahaddin Gülen zu drei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt. Ursprünglich war er zu zwölf Jahren verurteilt worden. Seine Strafe wurde jedoch reduziert, nachdem das Richtergremium zu der Auffassung gelangt war, dass er von der Bestimmung über die wirksame Reue nach dem türkischen Strafgesetzbuch profitieren könnte, die ihm eine Teilamnestie gewährte, nachdem er zum Informanten geworden war (TP 22.3.2022; vergleiche TM 22.3.2022) und laut Medienberichten über 200 Namen vermeintlicher Gülen-Mitglieder genannt hatte (TM 22.3.2022). Das Europäische Parlament verurteilte im Juni 2022 (wie schon zuvor im Mai 2021) die Auslieferung durch Drittstaaten bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte (EP 7.6.2022, S.19, Pt.31).

Das Amt für Auslands-Türken (YTB) sowie die Türkische Agentur für Kooperation und Koordination (TİKA) sind ebenfalls aktiv an den verdeckten Geheimdienstoperationen in aller Welt beteiligt gewesen. Auch die Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) wirkt mit, unter Auslands-Türken Regierungskritiker ausfindig zu machen. Nicht zuletzt sammeln staatlich finanzierte private Denkfabriken und Organisationen wie die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) und die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) Informationen über Regierungskritiker [Anm.: nicht nur über Gülen-Mitglieder] (AST 9.2020).

Die Türkei hat nach dem Putschversuch von 2016 die Auslieferung von insgesamt 807 Putschverdächtigen aus 105 Ländern beantragt, doch keine dieser Nationen ist den Forderungen Ankaras nachgekommen (HDN 15.7.2020). Dem entgegengesetzt berichtete die regierungstreue Tageszeitung Daily Sabah zur gleichen Zeit, dass von den 807 nur 116 aus 27 Ländern an die Türkei ausgeliefert wurden (DS 13.7.2020). Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (INTERPOL) lehnte es laut dem Leiter der INTERPOL-Abteilung des türkischen Innenministeriums in 773 Fällen ab, eine sogenannte Red Notice für Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung auszustellen, nachdem INTERPOL diese Anträge als politisch eingestuft hatte (SCF 4.6.2021; vergleiche Ahval 5.6.2021).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 9.6.2021

-             Ahval (22.2.2022): Turkish police detain 123 over alleged Gülen links, https://ahvalnews.com/gulen-movement/turkish-police-detain-123-over-alleged-gulen-links, Zugriff 23.2.2022

-             Ahval (5.6.2021): Interpol rejected over 770 red notice requests by Turkey for alleged Gülenists, https://ahvalnews.com/gulen-movement/interpol-rejected-over-770-red-notice-requests-turkey-alleged-gulenists, Zugriff 11.2.2022

-             Ahval (27.6.2020): Turkey’s top court rules messaging app as evidence for terror links, https://ahvalnews.com/bylock/turkeys-top-court-rules-messaging-app-evidence-terror-links, Zugriff 11.2.2022

-             Ahval (10.4.2019): Turkey’s state institutions not fully purged of Gülenists, says Erdoğan, https://ahvalnews.com/gulen-movement/turkeys-state-institutions-not-fully-purged-gulenists-says-erdogan, Zugriff 11.2.2022

-             AM – Al Monitor (6.1.2021): Ukraine deports suspected Gulen supporters to Turkey, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2021/01/turkey-ukraine-deport-suspected-gulen-supporters-fidan-gure.html, Zugriff 11.2.2022

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-             SCF – Stockholm Center for Freedom (5.10.2020): 20,312 military personnel summarily dismissed from Turkish Armed Forces over alleged Gülen links, https://stockholmcf.org/20312-military-personnel-summarily-dismissed-from-turkish-armed-forces-over-alleged-gulen-links/, Zugriff 11.2.2022

-             SCF – Stockholm Center for Freedom (6.8.2019): Newspaper subscription, school enrollment not terrorist activity, says Turkey’s top appeals court, https://stockholmcf.org/newspaper-subscription-school-enrollment-not-terrorist-activity-says-turkeys-top-appeals-court/, Zugriff 11.2.2022

-             SCF – Stockholm Center for Freedom (5.2.2019): Erdoğan’s Maarif Foundation has taken over 191 Gülen-linked schools in 21 countries, says chair, https://stockholmcf.org/erdogans-maarif-foundation-has-taken-over-191-gulen-linked-schools-in-21-countries-says-chair/, Zugriff 11.2.2022

-             SCF – Stockholm Center for Freedom (16.7.2018): Turkish FM says over 100 members of Gülen movement abducted abroad and brought to Turkey, https://stockholmcf.org/turkish-fm-says-over-100-members-of-gulen-movement-abducted-abroad-and-brought-to-turkey/, Zugriff 11.2.2022

-             SDZ – Süddeutsche Zeitung (7.9.2021): Mutmaßliche Gülen-Anhänger festgenommen, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-mutmassliche-guelen-anhaenger-festgenommen-1.5403209, Zugriff 11.2.2022

-             Spiegel (23.6.2022): Türkisches Gericht ordnet Freilassung von 71 Militärschülern an, https://www.spiegel.de/ausland/putschversuch-in-der-tuerkei-gericht-ordnet-freilassung-von-71-militaerschuelern-an-a-eced3737-3768-4b4b-a8c7-8d5448e14c6a, Zugriff 28.6.2022

-             Standard – Der Standard (30.11.2017): EU sieht in Gülen-Bewegung keine Terrororganisation, https://derstandard.at/2000068784722/EU-sieht-in-Guelen-Bewegung-keine-Terrororganisation, Zugriff 11.2.2022

-             Standard – Der Standard (20.12.2014): Haftbefehl gegen Erdogan-Feind Gülen, https://derstandard.at/2000009628933/hTuerkischer-Zaman-Chefredakteur-unter-Auflagen-frei#, Zugriff 11.2.2022

-             Taş, Hakkı (16.5.2017): A history of Turkey’s AKP-Gülen conflict, in: Mediterranean Politics, https://www.academia.edu/33063001/A_History_of_Turkey_s_AKP_G%C3%BClen_Conflict?email_work_card=reading-history, Zugriff 23.6.2022

-             TM – Turkish Minute (22.3.2022): Teacher abducted from Kenya given 3-year prison sentence due to Gülen links, https://www.turkishminute.com/2022/03/22/her-abducted-from-kenya-given-3-year-prison-sentence-due-to-gulen-links/, Zugriff 23.3.2022

-             TM – Turkish Minute (21.5.2021): Gülen followers face accusations of spreading COVID-19, homosexuality in new wave of detentions, https://www.turkishminute.com/2021/05/21/gulen-followers-facing-accusations-of-spreading-covid-19-homosexuality-in-new-wave-of-detentions/, Zugriff 11.2.2022

-             TM – Turkish Minute (10.4.2021): Turkey hands down 4,820 prison sentences on coup charges since 2016, https://www.turkishminute.com/2021/04/10/turkey-handed-down-4820-prison-sentences-on-coup-charges-since-2016/, Zugriff 11.2.2022

-             TM – Turkish Minute (23.3.2021): Turkey’s Maarif Foundation took over 216 Gülen-linked schools in 44 countries, chairman says, https://www.turkishminute.com/2021/03/23/maarif-foundation-took-over-216-gulen-linked-schools-in-44-countries-chairman-says/, Zugriff 11.2.2022

-             TM – Turkish Minute (5.3.2021): FETOMETER: an extermination device, https://www.turkishminute.com/2021/03/05/extermination-device/, Zugriff 11.2.2022

-             TM – Turkish Minute (3.9.2020): 30 students detained over alleged Gulen links denied right to consult a lawyer, https://www.turkishminute.com/2020/09/03/30-students-detained-over-alleged-gulen-links-denied-right-to-consult-a-lawyer/, Zugriff 11.2.2022

-             TM –Turkish Minute (15.10.2019): UN working group on arbitrary detention says use of ByLock is freedom of expression, https://www.turkishminute.com/2019/10/15/un-working-group-on-arbitrary-detention-says-use-of-bylock-is-freedom-of-expression/, Zugriff 11.2.2022

-             TM – Turkish Minute (30.5.2018): Detention warrants issued for 59 Bank Asya customers over alleged Gülen links, https://www.turkishminute.com/2018/05/30/detention-warrants-issued-for-59-bank-asya-customers-over-alleged-gulen-links/, Zugriff 11.2.2022

-             TM – Turkish Minute (2.6.2016): United States: We do not consider Gülen movement 'terrorist organization', https://www.turkishminute.com/2016/06/02/united-states-not-consider-gulen-movement-terrorist-organization/, Zugriff 11.2.2022

-             TP – Turkey Purge (22.3.2022): Gulen-linked teacher gets 3 years in prison on "terror" charges: report, https://turkeypurge.com/gulen-linked-teacher-gets-3-years-in-prison-on-terror-charges-report, Zugriff 23.3.2022

-             TP – Turkey Purge (16.2.2019): Turkey's top appeal court says Bank Asya depositors 'terrorist', https://turkeypurge.com/turkeys-top-appeal-court-says-bank-asya-depositors-terrorist, Zugriff 11.2.2022

-             UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist Movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf, Zugriff 11.2.2022

-             UN-HRC – United Nations Human Rights Council Working Group on Arbitrary Detention (18.9.2019): Opinions adopted by the Working Group on Arbitrary Detention at its eighty-fifth session, 12–16 August 2019, Opinion No. 53/2019 concerning Melike Göksan and Mehmet Fatih Göksan (Turkey), https://arrestedlawyers.files.wordpress.com/2018/12/a_hrc_wgad_2019_53.pdf, Zugriff 11.2.2022

-             Welt (15.9.2019): Die Erdogan-Regierung soll im Ausland 31 Menschen entführt haben, https://www.welt.de/politik/ausland/article200235236/Erdogan-Regierung-soll-im-Ausland-31-Menschen-entfuehrt-haben.html, Zugriff 11.2.2022

-             ZO – Zeit Online (30.12.2020): Über 100 Soldaten nach Putschversuch verurteilt, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-12/tuerkei-putschversuch-soldaten-verurteilung-umsturz-lebenslange-haft-tayyib-erdogan, Zugriff 11.2.2022

TERRORISTISCHE GRUPPIERUNGEN: PKK – PARTIYA KARKERÊN KURDISTAN (ARBEITERPARTEI KURDISTANS)

Letzte Änderung: 19.09.2022

Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, Sitzung 21f). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIH 7.6.2022, Sitzung 259; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 21f). Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der PKK auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan respektive auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen (BMIH 7.6.2022, Sitzung 259).

Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 22).

2012 initiierte die Regierung den sog. "Lösungsprozess", bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2021, Sitzung 22). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2021, Sitzung 22).

Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.2.2022 3.717 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen „Adlerklaue“ und „Tigerkralle“ gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, Sitzung 261).

Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vergleiche Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).

Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vergleiche NaT 14.2.2022). Im Aprill 2022 nahmen die türkischen Behörden 46 Personen - von insgesamt 91 Verdächtigen - fest, darunter ehemalige lokale Funktionäre der HDP. Der Generalstaatsanwalt wirft ihnen vor, finanzielle Mittel im Namen PKK bereitgestellt zu haben und Teil der wirtschaftlichen Struktur der PKK zu sein, Geldwäsche zu betreiben und Anweisungen des PKK-Kommandeurs Murat Karayilan entgegengenommen zu haben (AP 12.4.2022).

In einem Interview mit dem türkischen Internetportal T24 am 18.7.2022 sagte Selahattin Demirtaş, ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP und seit November 2016 inhaftiert, dass die PKK ihre Waffen niederlegen sollte. Demirtaş dementierte zudem, dass die HDP ein verlängerter Arm, Sprecherin oder Unterstützerin der PKK sei. Allerdings sah Demirtaş auch zwei Hindernisse, die einen Friedensprozess blockieren: Einerseits das Beharren der türkischen Regierung auf Waffengewalt statt Verhandlungen, und andererseits die Isolationshaft des PKK-Chefs und -Gründers Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (BZ 18.7.2022; vergleiche T24 18.7.2022).

In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit "gefällt mir" markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 22).

Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)

Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK-KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, Sitzung 140f). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, Sitzung 261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkari 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neuen Monaten - und 17,5 Jahren - verurteilt (Bianet 4.10.2021, vergleiche WKI 5.10.2021). Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, wurde zu 17,5 Jahren verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vergleiche TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV 26.1.2022).

Quellen:

-             AP - Associated Press (12.4.2022): Turkey detains former Kurdish party officials for PKK links, https://apnews.com/article/europe-turkey-middle-east-58b177a97999db040e4691829cb40ef8, Zugriff 20.4.2022

-             Bianet (4.10.2021): All defendants sentenced to prison in the KCK Yüksekova case, https://bianet.org/english/print/251224-all-defendants-sentenced-to-prison-in-the-kck-yuksekova-case, Zugriff 14.2.2022

-             BMIH - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland] (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 9.6.2022

-             BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2021-06-verfassungsschutzbericht-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=8, Zugriff 9.6.2022

-             BMI-D – Bundesministerium des Innern/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2015.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 14.2.2022

-             BZ – Berliner Zeitung (18.7.2022): Ehemaliger HDP-Chef Demirtas fordert PKK zu Waffenniederlegung auf, https://prod.berliner-zeitung.de/news/tuerkei-ehemaliger-hdp-chef-selahattin-demirtas-fordert-kurdische-arbeiterpartei-pkk-zu-waffenniederlegung-auf-li.247820, Zugriff 16.8.2022

-             DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 14.2.2022

-             Duvar (15.2.2021): Turkey announces sweeping roundup of 718 people, including HDP officials, after Iraq killings, https://www.duvarenglish.com/turkey-announces-sweeping-roundup-of-718-people-including-hdp-officials-after-iraq-killings-news-56261, Zugriff 14.2.2022

-             DW – Deutsche Welle (15.2.2021): Türkei nimmt Hunderte wegen angeblicher PKK-Kontakte fest, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-nimmt-hunderte-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-fest/a-56575099, Zugriff 14.2.2022

-             ICG – International Crisis Group (3.2.2022): Turkey's PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer, Zugriff 14.2.2022

-             MedyaNews (14.2.2022): Mass arrests in Turkey before anniversary of PKK leader’s imprisonment, https://medyanews.net/mass-arrests-in-turkey-before-anniversary-of-pkk-leaders-imprisonment/, Zugriff 15.2.2022

-             NaT - News about Turkey (14.2.2022): Mass arrests in Turkey before anniversary of PKK leader’s imprisonment, https://newsaboutturkey.com/2022/02/14/mass-arrests-in-turkey-before-anniversary-of-pkk-leaders-imprisonment/, Zugriff 15.2.2022

-             NM – Nordic Monitor (11.4.2020): Over 12,000 killed or wounded during Turkey’s security operations in Kurdish areas in 2015-2016, https://www.nordicmonitor.com/2020/04/more-than-twelve-thousand-people-were-killed-or-wounded-during-turkeys-security-operations-in-2015-2016/, Zugriff 14.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022

-             Posch, Walter (2016): Die neue PKK - Zwischen Extremismus, politischer Gewalt und strategischen Herausforderungen (Teil 1) in: Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), 2016/2, https://www.oemz-online.at/download/attachments/43614606/C_P_16_2(1)_Posch.pdf, Zugriff 14.2.2022

-             Rudaw (3.10.2021): Turkey sentences deceased Kurdish politician to eight years in prison, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/03102021, Zugriff 14.2.2022

-             Standard – Der Standard (15.2.2021): Türkei ließ in prokurdischen Kreisen über 700 Menschen festnehmen, https://www.derstandard.at/story/2000124178508/tuerkische-menschenrechtsanwaeltin-eren-keskin-zu-langer-haft-verurteilt, Zugriff 14.2.2022

-             T24 (18.7.2022): Demirtaş: PKK’nin Türkiye’ye karşı silahlarını tümden susturmasını, bırakmasını isterim [Demirtaş: Ich möchte, dass die PKK vollständig schweigt und ihre Waffen gegen die Türkei niederlegt], https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/demirtas-pkk-nin-turkiye-ye-karsi-silahlarini-tumden-susturmasini-birakmasini-isterim,35996, Zugriff 16.8.2022

-             TİHV - Türkiye İnsan Hakları Vakfı/ HRFT - Human Rights Foundation Turkey (26.1.2022): 26 January 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/26-january-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/, Zugriff 3.2.2022

-             TM – Turkish Minute (2.10.2021): Former HDP mayor sentenced to 17 years in prison on terrorism charges, https://www.turkishminute.com/2021/10/02/rmer-hdp-mayor-sentenced-to-17-years-in-prison-on-terrorism-charges/, Zugriff 14.2.2022

-             WKI - Washington Kurdish Institute (5.10.2021): Kurdistan’s Weekly Brief October 5, 2021, https://dckurd.org/2021/10/05/kurdistans-weekly-brief-october-5-2021/, Zugriff 14.2.2022

TERRORISTISCHE GRUPPIERUNGEN: TAK – TEYRÊBAZÊN AZADIYA KURDISTAN (FREIHEITSFALKEN KURDISTANS)

Letzte Änderung: 19.09.2022

Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKK-Gründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war (CEP 3.6.2021; vergleiche SWP 16.12.2016). Für Rayk Hähnlein von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sind die TAK eine urbane Jugendorganisation, die vor allem benachteiligte und ideologisch leicht beeinflussbare kurdische Jugendliche in den Städten des Südostens anspricht, deren Idol Abdullah Öcalan ist. Das Durchschnittsalter liegt bei rund 25 Jahren. Keiner ihrer Selbstmordattentäter war älter als 30 Jahre. Der militärische Arm der PKK hatte damit einen radikalen und eigenständigen Stadtableger geschaffen, um das bis dahin vor allem auf den ländlichen Raum konzentrierte Netzwerk zu erweitern und für junge Städter attraktiv zu machen (SWP 16.12.2016).

Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab (CEP 3.6.2021; vergleiche SWP 16.12.2016). Zwischen 2010 und 2015 setzten die TAK ihre Anschläge aus, um die Annäherung und den Friedensprozess zwischen AKP-Regierung und PKK nicht zu gefährden. Erst nach dessen Scheitern im Sommer 2015 und den sich anschließenden militärischen Großoffensiven gegen die PKK in Cizre, Silopi und anderen Städten begabem sich die TAK wieder auf den Pfad der Gewalt (SWP 16.12.2016). Seit 2004 haben die TAK sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysen zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei (CEP 3.6.2021) und der EU als terroristische Organisation eingestuft (EU 4.2.2022; vergleiche CEP 3.6.2021). Während die PKK behauptet, nur Polizei und Militär anzugreifen, wird weithin angenommen, dass sie die TAK als Fassade benutzt, um Angriffe in Städten durchzuführen, in denen ein hohes Risiko für zivile Opfer besteht, um eine weitere internationale Verurteilung zu vermeiden (AM 20.4.2022). Im Juli 2020 wurden drei Mitglieder wegen des Anschlages in Istanbul vom 7.6.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen verurteilt (DS 13.7.2020).

Die TAK gelten als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).

Quellen:

-             AM – Al Monitor (20.4.2022): Bus bombing brings trauma of past terror back to Turkish cities, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/bus-bombing-brings-trauma-past-terror-back-turkish-cities, Zugriff 19.8.2022

-             AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkey-outlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html, Zugriff 14.2.2022

-             CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf, Zugriff 14.2.2022

-             CTC – Combating Terrorism Center [Gurcan, Metin] (CTC 7.2016): The Kurdistan Freedom Falcons: A Profile of the Arm's-Length Proxy of the Kurdistan Workers' Party, https://ctc.usma.edu/the-kurdistan-freedom-falcons-a-profile-of-the-arms-length-proxy-of-the-kurdistan-workers-party/, Zugriff 14.2.2022

-             DS – Daily Sabah (13.7.2020): 3 PKK terrorists sentenced to life over 2016 Istanbul bombing, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/3-pkk-terrorists-sentenced-to-life-over-2016-istanbul-bombing, Zugriff 14.2.2022

-             EU - Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152, Zugriff 9.2.2022

-             SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik [Hähnlein, Rayk] (16.12.2016): Kurden: Terrorakte der »Freiheitsfalken« schaden der PKK, https://www.swp-berlin.org/publikation/kurden-terrorakte-der-freiheitsfalken-schaden-der-pkk, Zugriff 19.8.2022

TERRORISTISCHE GRUPPIERUNGEN: MLKP – MARKSIST LENINIST KOMÜNIST PARTI (MARXISTISCH-LENINISTISCHE KOMMUNISTISCHE PARTEI)

Letzte Änderung: 19.09.2022

Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP), gegründet 1994, bekennt sich ideologisch zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Sie strebt in der Türkei die gewaltsame Zerschlagung der staatlichen Ordnung und die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems an. Nach eigenen Angaben versteht sich die MLKP als politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten. Zur Erreichung ihrer Ziele bedient sich die MLKP in der Türkei auch terroristischer Mittel. (BMIH 7.6.2022, Sitzung 265). "Die kommunistische Bewegung kämpft", laut MLKP, "für die Freiheit und Vereinigung der vier Teile Kurdistans." Denn die "Revolution des in Vier geteilten Kurdistans ist auch die Revolution der Türkei." Und auch die "Frauenrevolution ist eine Notwendigkeit zur Garantierung des endgültigen Sieges des revolutionären Proletariats" (MLKP 3.2019).

Die MLKP verfügt über einen bewaffneten Arm, die "Bewaffneten Kräfte der Armen und Unterdrückten" (FESK), die unter dem Kommando der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien von Kobanê bis Deir ez-Zour gemeinsam mit US-Truppen in Syrien gegen den sog. Islamischen Staat kämpften (TNA 17.5.2019), was bei der türkischen Regierung zu Irritationen führte (Anadolu 20.8.2019). Die MLKP bekämpft die türkischen Sicherheitskräfte auch im Irak (ANF 12.10.2021, HDN 20.7.2019, TNA 17.5.2019) und in Syrien (ANF 27.6.2021, TNA 17.5.2019, ANF 23.1.2018). In der Türkei selbst kämpfen die Mitglieder der MLKP zumal in den Reihen des bewaffneten Arms der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der Volksverteidigungskräfte (HPG) (TNA 17.5.2019), wovon Berichte der MLKP über ihre Gefallenen zeugen (MLKP 20.7.2019; vergleiche MLKP 1.9.2018). Die MLKP/FESK reklamierte im September 2019 u. a. ein Bombenattentat auf eine Polizeistation in Adana für sich (MLKP 27.9.2019).

Die türkischen Behörden nehmen vereinzelt vermeintliche Mitglieder der MLKP fest. Im September 2020 wurden beispielsweise bei Razzien in sieben Provinzen 14 (Anadolu 8.9.2020) und im Oktober 2020 in Istanbul 24 vermeintliche MLKP-Mitglieder verhaftet (Anadolu 7.10.2020). Auch im Jänner 2021 wurde die Verhaftung von MLKP-Mitgliedern vermeldet, ohne jedoch eine genaue Zahl anzugeben, als bei Razzien in zwölf Provinzen 48 Verdächtigte mehrer verbotener links-extremer Gruppen verhaftet wurden (DS 14.1.2021). Am 10.9.2021 wurden im Rahmen einer vom Büro für die Untersuchung von Terrorverbrechen eingeleiteten Untersuchung in Ankara 17 von insgesamt 23 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur MLKP verhaftet (BAMF 13.9.2021, Sitzung 16, vergleiche Anadolu 10.9.2021).

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP in Untersuchungshaft genommen bzw. vor Gericht gestellt. Bei den MLKP-Fällen handelt es sich um Fälle mit mehreren Angeklagten, bei denen Anwälte, Vertreter politischer Parteien, Gewerkschaftsmitglieder, Studenten und Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP gemeinsam vor Gericht stehen. Aussagen von Geheimzeugen werden in diesen Fällen häufig als Beweismittel gegen Journalisten verwendet. Betroffen waren beispielsweise Reporter und Redakteure der Nachrichtenagentur Etkin (ETHA), wobei die Anklageschriften ETHA von vornherein als Nachrichtenagentur, die im Namen der MLKP arbeitet, definierten (IPI/MLSA 3.2020).

Nach einem Terroranschlag auf einen Gefangenentransport in Bursa am 20.4.2022, bei dem ein Gefängniswärter umkam, und einem Anschlag am Folgetag auf das Büro der [als AKP-nahe geltenden] Türkischen Jugendstiftung (TÜGVA) in Istanbul (ohne Personenschaden) machte Innenminister Soylu die MLKP und die Partei der Revolutionären Kommunarden (DKP) für die Anschläge verantwortlich. Hierbei betonte der Innenminister die Verbindung von MLKP (und DKP) mit der PKK (HDN 22.4.2022; vergleiche Rudaw 22.4.2022).

Quellen:

-             Anadolu – Anadolu Agency (10.9.2021): 17 far-left terror suspects arrested in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/17-far-left-terror-suspects-arrested-in-turkey/2360890, Zugriff 14.2.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (7.10.2020): Police in Turkey arrest suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/police-in-turkey-arrest-suspected-leftist-terrorists/1998162, Zugriff 14.2.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (8.9.2020): Turkey: Police arrest 14 suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-police-arrest-14-suspected-leftist-terrorists/1966410, Zugriff 14.2.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (20.8.2019): US meets with far-left terror group in Syria: minister, https://www.aa.com.tr/en/turkey/us-meets-with-far-left-terror-group-in-syria-minister/1560965, Zugriff 14.2.2022

-             ANF - ANF News (12.10.2021): MLKP guerrilla: We will never allow Turkish occupation, https://anfenglish.com/kurdistan/mlkp-guerrilla-we-will-never-allow-turkish-occupation-55503, Zugriff 14.2.2022

-             ANF - ANF News (27.6.2021): MLKP pays tribute to martyr Zilan Destan, https://anfenglish.com/rojava-syria/mlkp-pays-tribute-to-martyr-zilan-destan-53069, Zugriff 9.2.2022

-             ANF - ANF News (23.1.2018): MLKP Rojava: Wir nehmen am Widerstand von Efrîn teil, https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/mlkp-rojava-wir-nehmen-am-widerstand-von-efrin-teil-1809, Zugriff 9.2.2022

-             BAMF (13.9.2021): Briefing Notes, KW 37, Verhaftung mutmaßlicher MLKP-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw37-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 14.2.2022

-             BMIH - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland] (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 9.6.2022

-             DS – Daily Sabah (14.1.2021): Turkish security forces detain 48 suspects in counterterrorism operation, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkish-security-forces-detain-48-suspects-in-counterterrorism-operation, Zugriff 14.2.2022

-             HDN - Hürriyet Daily News (22.4.2022): PKK affiliated group carried out attacks in Istanbul, Bursa: Soylu, https://www.hurriyetdailynews.com/pkk-affiliated-group-carried-out-attacks-in-istanbul-bursa-soylu-173207?utm_source=Facebook&utm_medium=post&utm_term=post, Zugriff 24.8.2022

-             HDN - Hürriyet Daily News (20.7.2019): Turkish army ‘neutralizes’ 3 PKK terrorists in N Iraq, https://www.hurriyetdailynews.com/turkish-army-neutralizes-3-pkk-terrorists-in-n-iraq-145104, Zugriff 14.2.2022

-             IPI/MLSA – International Press Institute / Media and Law Studies Association (3.2020): TURKEY FREE EXPRESSION TRIAL MONITORING REPORT - FINAL REPORT, https://www.mlsaturkey.com/wp content/uploads/2020/06/ENG_TMReport_0623.pdf, Zugriff 14.2.2022

-             MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (27.9.2019): Bomb Attack By FESK in Adana, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11372&Bomb_Attack_By_FESK_in_Adana, Zugriff 14.2.2022

-             MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (20.7.2019): MLKP/FESK Guerrillas Martyred In Turkish Airstrike In Dersim, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=11277&MLKP/FESK_Guerrillas_Martyred_In_Turkish_Airstrike_In_Dersim_, Zugriff 14.2.2022

-             MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (3.2019): Programm der MLKP, http://www.mlkp-info.org/index.php?icerik_id=11254&Programm_der_MLKP, Zugriff 24.8.2022

-             MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (1.9.2018): MLKP/FESK Rural Guerilla Units Fighter İrfan Çelik fell martyr, http://www.mlkp-info.org/?icerik_id=10678&MLKP/FESK_Rural_Guerilla_Units_Fighter_%C4%B0rfan_%C3%87elik_fell_martyr, Zugriff 14.2.2022

-             Rudaw (22.4.2022): PKK-affiliated groups behind recent attacks in Turkey: minister, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/220420221, Zugriff 24.8.2022

-             TNA – The New Arab (17.5.2019): 'Communist militants' among US partners in Syria, https://www.alaraby.co.uk/english/indepth/2019/5/17/communist-militants-among-us-partners-in-syria, Zugriff 14.2.2022

TERRORISTISCHE GRUPPIERUNGEN: DHKP-C – DEVRIMCI HALK KURTULUŞ PARTISI-CEPHESI (REVOLUTIONÄRE VOLKSBEFREIUNGSPARTEI-FRONT)

Letzte Änderung: 19.09.2022

Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), hervorgegangen aus der politisch-militärischen Organisation "Devrimci Sol" (kurz: "Dev-Sol", Revolutionäre Linke), strebt die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar durch die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Dies ist laut Parteiprogramm ausschließlich durch den "bewaffneten Volkskampf" unter der Führung der DHKP-C möglich. Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele hält die DHKP-C an der Durchführung von Terroranschlägen in der Türkei fest. Einrichtungen des türkischen Staates bleiben dabei vorrangige Angriffsziele. Organisatorisch untergliedert sich die DHKP-C in einen politischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) sowie in einen ihr nachgeordneten militärisch-propagandistischen Arm, die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC). Hauptfeinde sind die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und der "US-Imperialismus". Es gelingt der DHKP-C derzeit nicht mehr, an die Vielzahl der terroristischen Anschläge in den Jahren 2012 bis 2016 anzuknüpfen. Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIH 7.6.2022, Sitzung 245, 295; vergleiche CEP 21.4.2020; Sitzung 7). Die seit dem gescheiterten Militärputsch von 2016 verschärfte Sicherheitslage und die damit verbundenen umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden schränken die Handlungsfähigkeit der DHKP-C erheblich ein (BMIBH 15.6.2021, Sitzung 274).

Die Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Mitgliedern setzten sich fort. Im Februar 2021, beispielsweise, wurde Caferi Sadık Eroğlu, laut Behörden ein hochrangiges Mitglied der Gruppe, in Istanbul festgenommen (DS 12.2.2021). Am 29.3.2021 wurden zwei weitere operative Kader-Mitglieder in Istanbul verhaftet (HDN 30.3.2021). Mitte Oktober kam es zur Verhaftung von 54 Personen, welche laut Medienberichten Terroranschläge geplant hatten (BAMF 18.10.2021, S.14; vergleiche Anadolu 15.10.2021). Anfang Dezember 2021 wurden mindestens 25 Verdächtige in sieben Provinzen wegen angeblichen Verbindungen zur DHKP-C festgenommen (Anadolu 3.12.2021). Mitte Juni 2022 wurden bei gleichzeitigen Operationen in sieben Provinzen 22 Verdächtige verhaftet, denen eine Mitgliedschaft in der DHKP-C unterstellt wurde (TPE 15.6.2022; vergleiche Sabah 15.6.2022).

Die türkische Regierung verdächtigt auch die Musikgruppe "Grup Yorum", die für ihre Kritik an der Regierung von Präsident Erdoğan bekannt ist, Verbindungen zur DHKP/C zu haben. Im Jahr 2020 starben drei Bandmitglieder an den Folgen eines Hungerstreiks aus Protest gegen die Inhaftierung mehrerer Bandmitglieder, wiederholte Razzien im Kulturzentrum von Grup Yorum und gegen das Verbot von Konzerten der Band (NL-MFA 18.3.2021). Der deutsche Verfassungsschutz sieht eine eindeutige Verbindung zwischen DHKP-C und Grup Yorum. Die Konzertveranstaltungen der Grup Yorum dienen neben der Finanzierung der DHKP-C vor allem der Verbreitung ihrer Ideologie (BMIH 7.6.2022, Sitzung 247f.).

Quellen:

-             Anadolu Agency (3.12.2021): 25 suspects linked to far-left terror group DHKP-C nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/25-suspects-linked-to-far-left-terror-group-dhkp-c-nabbed-in-turkey/2437601, Zugriff 15.2.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (15.10.2021): Over 50 far-left terror suspects arrested in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/over-50-far-left-terror-suspects-arrested-in-turkey/2392752, Zugriff 15.2.2022

-             BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (18.10.2021): Briefing Notes KW 42/2021, Verhaftung von mutmaßlichen DHKP-C-Mitgliedern, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw42-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff 15.2.2022

-             BMIH - Bundesministerium des Innern und für Heimat [Deutschland] (7.6.2022): Verfassungsschutzbericht 2021, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 9.6.2022

-             BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [Deutschland] (15.6.2021): Verfassungsschutzbericht 2020, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2021-06-verfassungsschutzbericht-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=8, Zugriff 9.6.2022

-             CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf, Zugriff 15.2.2022

-             DS – Daily Sabah (12.2.2021) Turkish police nab wanted DHKP-C terrorist in Istanbul, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/turkish-police-nab-wanted-dhkp-c-terrorist-in-istanbul, Zugriff 15.2.2022

-             HDN – Hürriyet Daily News (30.3.2021): Turkey nabs senior far-left terror members, https://www.hurriyetdailynews.com/turkey-nabs-senior-far-left-terror-members-163536, Zugriff 15.2.2022

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report

-             Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 15.2.2022

-             Sabah (15.6.2022): Balıkesir merkezli DHKP/C operasyonunda 22 şüpheli ele geçirildi [22 Verdächtige bei einer Operation der DHKP/C in Balıkesir festgenommen], https://www.sabah.com.tr/gundem/2022/06/15/balikesir-merkezli-dhkpc-operasyonunda-22-supheli-ele-gecirildi, Zugriff 20.6.2022

-             TPE - Turkey Posts English (15.6.2022): 22 suspects captured in Balikesir-based DHKP/C operation, https://turkey.postsen.com/news/27764/22-suspects-captured-in-Balikesir-based-DHKPC-operation.html, Zugriff 20.6.2022

TERRORISTISCHE GRUPPIERUNGEN: SOG. IS – ISLAMISCHER STAAT (ALIAS DAESH)

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die Türkei ist ein Herkunfts- und Transitland für ausländische (terroristische) Kämpfer, sogenannte "Foreign Terrorist Fighters" (FTF), die sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS, ISIS, Daesh) und anderen terroristischen Gruppen anschließen wollen und in Syrien und im Irak kämpfen, bzw. auch solche, welche die beiden Länder zu verlassen trachten (USDOS 16.12.2021). Die Türkei hat den sog. IS im Jahr 2013 als terroristische Organisation eingestuft, doch wird sie seit Langem beschuldigt, als "Dschihad-Highway" zu dienen, da die türkischen Sicherheitskräfte wegschauen, wenn Tausende von ausländischen Kämpfern und türkischen Staatsbürgern illegal über die 911 Kilometer lange, durchlässige Grenze nach Syrien strömen (AM 25.8.2020). Seit 2013 war die Türkei eine führende Quelle von Rekrutierungen für den sog. IS und eine Drehscheibe für den Schmuggel von Waffen, anderen Lieferungen und Menschen über die türkisch-syrische Grenze (ICG 29.6.2020, Sitzung 1). Der sog. IS nutzt weiterhin die Türkei als logistische Drehscheibe, um Gelder in den und aus dem Irak und Syrien zu verschieben. So sammelt und schickt der sog. IS häufig Gelder an Mittelsmänner in der Türkei, die das Geld nach Syrien schmuggeln (USDOT-OIG 4.1.2021, Sitzung 3).

Aus einem geleakten Bericht des MASAK (eng.: Financial Crimes Investigation Board) einer dem türkischen Finanzministerium unterstellten Behörde, vom 8.3.2021 geht hervor, dass IS-Mitglieder mit Hilfe von in der Türkei ansässigen Unternehmen Ausrüstung und Teile zur Herstellung von Drohnen und improvisierten Sprengsätzen erworben und Wechselstuben, Juweliergeschäfte, Postämter und Banken für Geldtransfers genutzt haben. Darüber hinaus hätten einige der untersuchten IS-nahen Personen die türkische Staatsbürgerschaft angenommen. Türkische Mitglieder der Gruppe waren laut Bericht aktiv an den Bemühungen des IS beteiligt, Geld zu beschaffen, um die Flucht von Mitkämpfern und ihren Angehörigen aus dem Lager al-Hol in Nordsyrien zu unterstützen (AM 15.2.2022).

Die Türkei leistet einen aktiven Beitrag in internationalen Foren zur Terrorismusbekämpfung. Nach Angaben des Innenministeriums hat die Türkei von 2015 bis Dezember 2020 8.143 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zum Terrorismus abgeschoben, wobei die türkische "Einreiseverbotsliste" Berichten zufolge rund 100.000 Namen enthält. Öffentlichen Angaben zufolge hatten die türkischen Behörden bis Ende 2020 2.343 mutmaßliche IS-Anhänger zwecks Verhörs festgenommen und gegen 333 von ihnen Anklage erhoben (USDOS 16.12.2021). Bis April 2017 haben nach offiziellen Zählungen der Regierung etwa 2.100 Türken das Land verlassen, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, meist beim sog. IS (CEP 3.6.2021, Sitzung 7). Andere, regierungsunabhängige Schätzungen gehen von einer weit höheren Zahl von 5.000 bis 9.000 aus (ICG 29.6.2020, Sitzung 1, FN 2). Es wird angenommen, dass inzwischen mehr als 600 Personen in die Türkei zurückgekehrt sind (CEP 3.6.2021, Sitzung 7). Laut den Prozessakten von Kasım Güler, der angeblich der Türkei-Beauftragte des IS war, hätte IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi vor seiner Ermordung angeordnet, dass die Türkei als Rückzugsgebiet zum Wiederaufbau des IS dienen sollte. Gülers Aussagen zufolge hätte der IS Waffen und Munition vergraben, und zwar in den Provinzen: Istanbul, Izmir, Mersin, Denizli, Van und Adana, um später Anschläge in Europa zu verüben. Zudem hätten sich IS-Gruppen in zwölf Provinzen (Adana, Hatay, Osmaniye, Gaziantep, Şanlıurfa, Elazığ, Antalya, Kayseri, Adıyaman, Ankara, Konya und Istanbul) organisiert (DW 2.2.2022; vergleiche Bianet 23.8.2022). Das regierungskritische Internet-Portal Bianet nennt unter Berufung auf Prozessakte und öffentlich zugängliche Quellen zusätzlich die Provinzen Antakya, Batman, Bursa, Diyarbakır, Kırşehir, Yalova und Yozgat, an denen infolgedessen Antiterrormaßnahmen gegen den IS durchgeführt wurden (Bianet 23.8.2022).

Das Verständnis der türkischen Behörden für die IS-Gefahr hat sich weiterentwickelt. Zunächst unterschätzten sie die Bedrohung, die von Rückkehrern ausgehen könnte, und blieben 2014-2015 weitgehend zwiespältig gegenüber der Rekrutierung durch den sog. IS. Diese Wahrnehmung begann sich im Laufe des Jahres 2016 zu verlagern, insbesondere nach dem ersten IS-Angriff im Mai 2016 auf eine staatliche Institution, der Polizeizentrale in Gaziantep (ICG 29.6.2020, Sitzung 2). Laut offiziellen Angaben gab es in der Türkei bislang mindestens zehn Selbstmordattentate, sieben Bombenanschläge und vier bewaffnete Angriffe, bei denen 315 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt wurden (TurkishPress 2.11.2020). Die türkischen Behörden machen den sog. IS seit Mitte 2015 für mehrere große Terroranschläge innerhalb des Landes verantwortlich. Im Juli 2015 starben bei einem Selbstmordattentat in Suruç 32 Menschen, und im Oktober desselben Jahres kamen ebenfalls durch ein Selbstmordattentat bei einer Friedenskundgebung in Ankara 102 Menschen ums Leben. Die türkischen Behörden brachten den sog. IS auch in Verbindung mit einem Selbstmordanschlag vom August 2016 auf eine Hochzeit in Gaziantep, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen. Der sog. IS bekannte sich zum Angriff auf den Istanbuler Nachtclub Reina am Morgen des 1.1.2017, der 39 Tote und Dutzende weitere Verletzte zur Folge hatte (CEP 3.6.2021, Sitzung 4). Seitdem haben die Sicherheitsbehörden den IS in Schach gehalten, indem sie Anschläge durch Überwachung, Verhaftung und strengere Grenzsicherung vereitelt haben. Aber die Bedrohung ist nicht völlig verschwunden, wie türkische Beamte selbst zugeben (ICG 29.6.2020; S.i; vergleiche CGRS-CEDOCA 5.10.2020). Ende Jänner 2021 nahmen die türkischen Behörden bei landesweiten Operationen 126 Personen fest, die verdächtigt wurden, Verbindungen zum sog. IS zu haben oder die Gruppe zu finanzieren. Dabei wurden auch Waffen, Dokumente, Pläne für Geldüberweisungen sowie größere Geldbeträge konfisziert (Anadolu 27.1.2021). Ende Juni 2021 wurden 26 Personen mit vermeintlichen IS-Verbindungen festgenommen, der überwiegende Teil Iraker. Dies bestätigt die Befürchtungen, dass der sog. IS weiterhin die Fähigkeit besitzt, innerhalb und nahe dem türkischen Territorium zu operieren (AM 28.6.2021). Die Polizei hat im Laufe des Oktobers 2021 bei landesweiten Razzien mehr als 130 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen festgenommen (ICG 5.2022). Anfang November 2021 wurden in Kayseri 17 (DS 2.11.2021) und Mitte Dezember 14 Personen bei Razzien in Istanbul mit vermeintlichen IS-Verbindungen festgenommen, die u. a. beschuldigt wurden, Anschläge geplant zu haben (BAMF 20.12.2021, S.12, vergleiche Anadolu 16.12.2021). Kurz vor Jahresende 2021 nahm die Polizei 16 Personen fest, nachdem Demonstranten mit Stöcken und Steinen gegen Sicherheitskräfte vorgegangen waren, die versuchten, einen nicht lizenzierten religiösen Buchladen in Bingöl, einer Stadt im Südosten des Landes, zu schließen, welcher laut Gouverneursamt Aktivitäten des sog. IS in der Türkei unterstützte (Reuters 28.12.2021). In der ersten Jahreshälfte 2022 nahm die Polizei mehr als 130 Personen mit angeblichen IS-Verbindungen fest, zumeist Ausländer. So nahm die Polizei am 16.5.2022 in der südöstlichen Provinz Şanlıurfa drei Syrer fest, von denen einer angeblich einen Selbstmordanschlag plante, und am 17.5.2022 wurde in der westlichen Provinz Bursa ein Ausländer festgenommen, der angeblich einen Selbstmordanschlag plante (ICG 5.2022). Am 24.5.2022 haben Sicherheitskräfte bei Anti-Terror-Operationen im ganzen Land, darunter in Yozgat, Istanbul und Kocaeli, mindestens 21 Verdächtige mit Verbindungen zum sog. IS festgenommen (DS 24.5.2022).

Was IS-Rückkehrer, z. B. aus Syrien, anbelangt, so werden diese, wenn überhaupt - weniger als 10 % oder etwa 450 türkische Staatsbürger der geschätzten tausenden Rückkehrer sind inhaftiert - wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für drei oder vier Jahre ins Gefängnis gesteckt. Hunderte werden demnächst entlassen. Gleichzeitig haben die staatlichen Institutionen der Türkei erst vor Kurzem damit begonnen, über sogenannte Deradikalisierungsmaßnahmen nachzudenken (ICG 29.6.2020).

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) berichtete, dass nach der Gefängnisrevolte in Ghuwayran bei Hassakah in Syrien und den anschließenden Kämpfen (Jänner 2022) einige IS-Mitglieder in die Türkei und in Gebiete unter türkischer Kontrolle im Osten und Nordosten von Aleppo geflohen seien (SOHR 6.2.2022).

Quellen:

-             AM – Al Monitor (15.2.2022): Islamic State collaborators received Turkish citizenship, official report shows, https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/islamic-state-collaborators-received-turkish-citizenship-official-report-shows, Zugriff 24.2.2022

-             AM – Al Monitor (28.6.2021): Turkey arrests 26 in raids against Islamic State, https://www.al-monitor.com/originals/2021/06/turkey-arrests-26-raids-against-islamic-state, Zugriff 15.2.2022

-             AM – Al Monitor (25.8.2020): Islamic State operative planning 'sensational' attack nabbed in Istanbul, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-islamic-state-attack-istanbul-syria-gaziantep.html, Zugriff 15.2.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (16.12.2021): At least 14 Daesh/ISIS suspects caught in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/at-least-14-daesh-isis-suspects-caught-in-turkey/2448832, Zugriff 15.2.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (27.1.2021): At least 126 Daesh/ISIS suspects nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/at-least-126-daesh-isis-suspects-nabbed-in-turkey/2124900, Zugriff 15.2.2022

-             BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.12.2021): Briefing Notes, KW 51, Verhaftungen mutmaßlicher IS-Mitglieder, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw51-2021.html, Zugriff 15.2.2022

-             Bianet (23.8.2022): ISIS members continue to shelter in Türkiye, some with Êzidî captives, https://m.bianet.org/english/toplum/266193-isis-members-continue-to-shelter-in-turkiye-some-with-ezidi-captives?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+2022-08-26, Zugriff 30.8.2022

-             CGRS-CEDOCA – Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien], COI unit (5.10.2020): Turquie; Situation sécuritaire, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038786/coi_focus_turquie._situation_securitaire_20201005.pdf, Zugriff 15.2.2022

-             CEP – Counter Extremism Project (3.6.2021): Turkey: Extremism & Counter-Extremism, https://www.counterextremism.com/node/13523/printable/pdf, Zugriff 15.2.2022

-             DS - Daily Sabah (24.5.2022): Turkey detains 21 Daesh-linked suspects in nationwide operations, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkey-detains-21-daesh-linked-suspects-in-nationwide-operations, Zugriff 24.5.2022

-             DS - Daily Sabah (2.11.2021): 17 Daesh terror suspects arrested in central Turkey's Kayseri, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/17-daesh-terror-suspects-arrested-in-central-turkeys-kayseri, Zugriff 15.2.2022

-             DW – Deutsche Welle (2.2.2022): "IŞİD Türkiye'de altı kente silah gömdü" ["Der IS hat in sechs türkischen Städten Waffen vergraben"], https://www.dw.com/tr/i%CC%87tiraf%C3%A7%C4%B1-kas%C4%B1m-g%C3%Bcler-i%C5%9Fi%CC%87d-t%C3%Bcrkiyede-alt%C4%B1-kente-silah-g%C3%B6md%C3%BC/a-60633354?maca=tr-Twitter-sharing, Zugriff 30.8.2022

-             ICG – International Crisis Group (5.2022): Crisiswatch - Tracking Conflict Worldwide, Turkey, October 2021, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/print?page=2&location%5B0%5D=58&date_ran=&t=CrisisWatch+Database+Filter, Zugriff 20.6.2022

-             ICG – International Crisis Group (29.6.2020): Calibrating the Response: Turkey's ISIS Returnees, https://d2071andvip0wj.cloudfront.net/258-calibrating-the-response.pdf, Zugriff 15.2.2022

-             Reuters (28.12.2021): Turkey detains 16 accused of links to Islamic State after bookshop clash, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-detains-16-accused-links-islamic-state-after-bookshop-clash-2021-12-28/, Zugriff 15.2.2022

-             SOHR - Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (6.2.2022): ISIS escapees | Hundreds of ISIS prisoners fled from Ghuwayran prison to Turkey and faction-held areas, others hide in SDF-held areas, https://www.syriahr.com/en/238255/, Zugriff 15.2.2022

-             TurkishPress (2.11.2020): Turkey dealt major blow to Daesh/ISIS terror in October, https://turkishpress.com/turkey-dealt-major-blow-to-daesh-isis-terror-in-october/, Zugriff 15.2.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (16.12.2021): Country Report on Terrorism 2020 – Chapter 1 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2065362.html, Zugriff 15.2.2022

-             USDOT-OIG - US Department of Treasury - Office of the Inspector General (4.1.2021): MEMORANDUM FOR DEPARTMENT OF DEFENSE LEAD INSPECTOR GENERAL [OIG-CA-21-021], Operation Inherent Resolve - Summary of Work Performed by the Department of the Treasury Related to Terrorist Financing, ISIS, and Anti-Money Laundering for Second Quarter Fiscal Year 2021, https://oig.treasury.gov/sites/oig/files/2021-01/OIG-CA-21-012.pdf, Zugriff 15.2.2022

Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen

Letzte Änderung: 20.09.2022

2022 zeigte sich das Europäische Parlament in einer Entschließung "weiterhin besorgt über die fortgesetzte Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, die mit der abschreckenden Wirkung der von der Regierung in den vergangenen Jahren vorgenommenen Massenentlassungen sowie öffentlichen Stellungnahmen von Personen in führender Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren verbunden sind, wodurch die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die allgemeine Fähigkeit der Justiz, bei Menschenrechtsverletzungen wirksam Abhilfe zu schaffen, geschwächt werden" (EP 7.6.2022, Sitzung 11, Pt. 15; vergleiche HRW 13.1.2022, BS 23.2.2022, Sitzung 3) und "stellt mit Bedauern fest, dass diese grundlegenden Mängel bei den Justizreformen nicht in Angriff genommen werden" (EP 7.6.2022, Sitzung 11, Pt. 15; vergleiche AI 29.3.2022), trotz des neuen Aktionsplans für Menschenrechte und zweier vom Justizministerium ausgearbeiteten Justizreformpaketen (AI 29.3.2022). Nicht nur die Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch die Situation in der Justizverwaltung hat sich merkbar verschlechtert (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2, 14f.; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 21, CoE-CommDH 19.2.2020; Sitzung 4, 28f).

Der Abschied der Türkei von der parlamentarischen Demokratie und der Übergang zu einem Präsidialsystem im Jahr 2018 haben den Autokratisierungsprozess des Landes beschleunigt. - Die Exekutive ist somit der größte antidemokratische Akteur. Die wenigen verbliebenen liberal-demokratischen Akteure und Reformer in der Türkei haben nicht genügend Macht, um die derzeitige Autokratisierung der Landes, die von einem demokratisch gewählten Präsidenten geführt wird, umzukehren (BS 23.2.2022, Sitzung 36). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, Sitzung 2, 21; vergleiche CoEU 14.12.2021, Sitzung 16, Pt. 34). Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA vom Juni 2021 ergab, dass 64 % der Befragten kein Vertrauen in das Justizsystem haben. Unter den Befragten mit kurdischem Hintergrund lag der Wert gar bei 85 % (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15).

Faires Verfahren

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, Sitzung 11).

Bereits im Juni 2020 wies der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S.12, Pt.16).

Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 28.7.2022, Sitzung 12; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 8, AI 26.10.2020, HRW 10.4.2019). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 8). Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Untersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019).

Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (Turkish Tribunal 2.2021, Sitzung 41; vergleiche HRW 13.1.2021). Das EP zeigte sich entsetzt "wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen vertreten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird" (EP 7.6.2022, Sitzung 12, Pt. 15). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben (AI 26.10.2020).

Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung

Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, Sitzung 16, Pt. 34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6). Das Europäische Parlament (EP) "betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 29) "unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, Sitzung 9, Pt. 14).

Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, Sitzung 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, Sitzung 19, Pt. 31). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, Sitzung 44). [Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Beleidigung des Präsidenten als Strafbestand

"[E]ntsetzt über den grob missbräuchlichen Rückgriff auf Artikel 299 des Strafgesetzbuchs der Türkei über Beleidigungen des Präsidenten, die eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren nach sich ziehen können", forderte das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 7.6.2021, "das Gesetz über die Beleidigung des Staatspräsidenten gemäß den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ändern" (EP 7.6.2022, Sitzung 10, Pt. 13). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt (DW 9.2.2022; vergleiche Article19 8.4.2022). 106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden (Article19 8.4.2022). Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022).

Politisierung der Justiz

Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richter (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.) (ÖB 10.2019, Sitzung 17).

Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des EGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, Sitzung 10, Pt. 19).

Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 139) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).

Gemäß Artikel 138, der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, ein in der Verfassung verankertes Grundrecht. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, Sitzung 6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, Sitzung 5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).

Mehr als 4.200 Richter und Staatsanwälte wurden seit 2016 abgesetzt und durch regierungstreue Personen ersetzt. Staatsanwälte und Richter sind oft auf der Linie der Regierung. Richter, die gegen die Wünsche der Regierung entscheiden, werden abberufen und ersetzt (FH 28.2.2022, F1). Laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission waren es 3.968 Richter und Staatsanwälte, die seit dem Putschversuch 2016, wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung, entlassen wurden. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, Sitzung 4f, 23f).

Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgehaltenen Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, Sitzung 23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, Sitzung 6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignorierten (EC 19.10.2021, Sitzung 23).

Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7f; vergleiche SCF 3.2021, Sitzung 46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7f).

Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglie­der des Verfassungsgerichts ihre Er­nen­nung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das da­mals noch demokratisch agie­rende Parla­ment gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, Sitzung 3). Dennoch hat das Verfassungsgericht in den letzten Jahren eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt und ausgewählte politische Urteile aufgehoben (FH 28.2.2022, F1). Siehe hierzu Beispiele in diversen Kapiteln!

Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 8).

Aufbau des Justizsystems

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung das Verfassungsgericht (Verfassungsgerichtshof bzw. Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6).

2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und als ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten ist für einen bestimmten Katalog von Straftaten bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, Sitzung 24).

Rolle des Verfassungsgerichts

Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht (AA 28.7.2022, Sitzung 6), eingeführt u. a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5 % seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).

Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100 % (ÖB 30.11.2021, Sitzung 7).

Untergeordnete Gerichte ignorieren oder verzögern die Umsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitunter erheblich, wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).

Zur neuesten Rechtssprechung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch das Kapitel Meinungs- und Pressefreiheit / Internet.

Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen gewisse Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).

Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft

Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, Sitzung 9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, Sitzung 31).

Die Untersuchungshaft kann gemäß Artikel 102, (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Artikel 102, (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 9).

Beschwerdekommission zu den Notstandsmaßnahmen (OHAL)

Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, Sitzung 15).

Die mittels Präsidentendekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission [türkische Abk.: OHAL] begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 30.11.2021, S.15). Mit Ende Mai 2022 waren laut Kommission die Klassifizierung, Registrierung und Archivierung von insgesamt fast einer halben Million Akten, darunter Personalakten, die von ihren Institutionen übernommen wurden, Gerichtsakten und frühere Bewerbungen, abgeschlossen. Bis zum 27.5.2022 waren 127.130 Anträge gestellt worden. Davon hat die Untersuchungskommission 124.235 bearbeitet, wobei lediglich 17.265 positiv gelöst wurden. 2.895 Fälle waren Ende Mai 2022 noch anhängig. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen (ICSEM 27.5.2022). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 19.10.2021; Sitzung 20). Am 21.1.2022 wurde die Funktionsdauer der Kommission mittels Präsidentendekret um ein Jahr verlängert (Ahval 23.1.2022).

Die Beschwerdekommission steht in der internationalen Kritik, da es ihr an genuiner institutioneller Unabhängigkeit mangelt. Sämtliche Mitglieder werden von der Regierung ernannt (ÖB 30.11.2021, S.15). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 30.11.2021, Sitzung 15; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 20). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 15).

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-             Turkish Tribunal [Perilli, Luca] (2.2021): Judicial Independence & Access to Justice, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/Report_Luca_Perilli_-Independence_Access_to_Justice_f.pdf, Zugriff 2.8.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 20.4.2022

-             WJP – World Justice Project (29.10.2021): Rule of Law Index – Turkey, https://worldjusticeproject.org/rule-of-law-index/country/2021/Turkey/, Zugriff 21.2.2022

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1, ÖB 30.11.2021, Sitzung 16). Das Militär trägt die Gesamtverantwortung für die Bewachung der Grenzen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 7.2022, Sitzung 2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.100 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 16; vergleiche BICC 7.2022, Sitzung 26). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 7.2022, Sitzung 17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 7.2022, Sitzung 18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 7.2022, Sitzung 19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen (AA 28.7.2022, Sitzung 6).

Die 2008 abgeschaffte "Nachtwache" (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vergleiche Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; Sitzung 19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum ausgebildet sein (AA 28.7.2022, Sitzung 6; vergleiche BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020). Im August 2021 wurden drei Journalisten von Mitgliedern der Nachtwache attackiert, weil sie über das nächtliche Verschwinden eines, später tot aufgefundenen, Kleinkindes im Istanbuler Ortsteil Beylikdüzü berichteten (SCF 19.8.2021). Im Mai 2022 wurde angeblich eine 16-Jährige durch Angehörige der Nachtwache in Istanbul verhaftet und sexuell belästigt (SCF 11.5.2022). Und Mitte Juli 2022 wurden drei Transfrauen in der westtürkischen Provinz Izmir von Mitgliedern der Nachtwache im Rahmen einer Ausweiskontrolle mit Tränengas besprüht, geschlagen und in Handschellen auf die Polizeistation gebracht (Duvar 18.7.2022).

Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18).

Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vergleiche FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, Sitzung 15).

Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vergleiche Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, Sitzung 15, Pt. 38).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022

-             Ahval (7.1.2021): Turkish police and intelligence allowed to use military weapons domestically, https://ahvalnews.com/police-violence/turkish-police-and-intelligence-allowed-use-military-weapons-domestically, Zugriff 15.2.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 15.2.2022

-             BI – Balkan Insight (10.6.2020): Turkey Opposition Condemns Move to Arm Night Watchmen, https://balkaninsight.com/2020/06/10/turkey-opposition-condemns-move-to-arm-night-watchmen/, Zugriff 15.2.2022

-             BICC - Internationales Konversionszentrum Bonn/ Bonn International Center for Conversion (7.2022): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2022_Tuerkei.pdf, Zugriff 26.7.2022

-             Duvar (18.7.2022): Turkish watchmen batter trans women in western İzmir, https://www.duvarenglish.com/turkish-watchmen-batter-trans-women-in-western-izmir-news-61038, Zugriff 11.8.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 15.2.2022

-             EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf, Zugriff 15.2.2022

-             FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 15.2.2022

-             Guardian – The Guardian (8.6.2020): Alarm at Turkish plan to expand powers of nightwatchmen, https://www.theguardian.com/world/2020/jun/08/alarm-at-turkish-plan-to-expand-powers-of-nightwatchmen, Zugriff 15.2.2022

-             HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 15.2.2022

-             HRW – Human Rights Watch (29.7.2020): Turkey: Police, Watchmen Involved in Torture, Ill-Treatment, https://www.hrw.org/news/2020/07/29/turkey-police-watchmen-involved-torture-ill-treatment, Zugriff 15.2.2022

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report

-             Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 11.6.2021

-             NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712, Zugriff 15.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022

-             SCF – Stockholm Center for Freedom (11.5.2022): Neighborhood watchmen allegedly harass 16-year-old girl in Istanbul, https://stockholmcf.org/neighborhood-watchmen-allegedly-harass-16-year-old-girl-in-istanbul/, Zugriff 20.5.2022

-             SCF – Stockholm Center for Freedom (19.8.2021): Watchmen attack journalists reporting on missing toddler in İstanbul, https://stockholmcf.org/watchmen-attack-journalists-reporting-on-missing-toddler-in-istanbul/, Zugriff 20.5.2022

-             SCF – Stockholm Center for Freedom (8.1.2021): Turkish police and intelligence agency authorized to use military weaponry in event of civil unrest, https://stockholmcf.org/turkish-police-and-intelligence-agency-authorized-to-use-military-weaponry-in-event-of-civil-unrest/, Zugriff 15.2.2022

-             Spiegel (9.6.2020): Erdogans Parallel-Polizei, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-nachbarschaftswache-recep-tayyip-erdogans-parallel-polizei-a-ece122d1-5df6-4fb9-bd24-fa44b687e5fd, Zugriff 15.2.2022

-             TM – Turkish Minute (28.11.2020): Erdoğan's army, https://www.turkishminute.com/2020/11/28/erdogans-army/, Zugriff 30.11.2020

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 20.4.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html, Zugriff 15.2.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 15.2.2022

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 28.7.2022, Sitzung 16). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 31).

Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, Sitzung 31). Immer noch kommen Folter und Misshandlung in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 34; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 16; İHD 4.10.2021, Sitzung 11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit misshandelt, missbraucht oder möglicherweise gefoltert werden. Zudem sind derartige Übergriffe seitens der Polizei im Süd-Osten des Landes häufiger (USDOS 12.4.2022, Sitzung 4f.). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, Sitzung 31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß von Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, Sitzung 11; vergleiche TİHV 6.2021, Sitzung 13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vergleiche İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) "seine Besorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe umzusetzen" und "fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen" (EP 7.6.2022, S.19, Pt.32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022).

Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).

Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudsstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Artikel 9, des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vergleiche EC 29.5.2019).

Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).

Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).

Beispiele:

Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vergleiche WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022

-             ABA/HRD – Ankara Bar Association Center For Attorney Rights / Penal Institution Board And Center For Human Rights (26.5.2019): Report Regarding Claims Of Torture In Ankara Provincial Police Headquarters Investigation Department Of Financial Crimes. In: HRD – Human Rights Defenders (29.5.2019): Bar Association Report: Former diplomats sexually abused with batons and tortured, https://humanrights-ev.com/bar-association-report-former-diplomats-sexually-abused-with-batons-and-tortured/, Zugriff 21.2.2022

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-             AM – Al Monitor (8.7.2020): Complaints of torture on rise in Turkey's Kurdish southeast, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/07/turkey-torture-complaints-in-kurdish-southeast-are-on-rise.html, Zugriff 21.2.2022

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-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 20.4.2022

-             WE – Washington Examiner (3.6.2019): A new phase in Turkey's crackdown: Torturing diplomats, https://www.washingtonexaminer.com/opinion/op-eds/a-new-phase-in-turkeys-crackdown-as-recep-tayyip-erdogan-tortures-diplomats, Zugriff 21.2.2022

ENTFÜHRUNGEN UND VERSCHWINDENLASSEN IM IN- UND AUSLAND

Letzte Änderung: 20.09.2022

Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen in der Türkei selbst und jenen türkischer Staatsbürger im Ausland, um sie in ihr Heimatland zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (Turkey Tribunal 7.2021, Sitzung 2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z. B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (Turkey Tribunal 7.2021, Sitzung 2; vergleiche FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Im September 2021 wurde beispielsweise bekannt, dass sich Hüseyin Galip Küçüközyiğit, der neun Monate lang vermisst worden war, im Gefängnis von Ankara befand. Wo er sich all die Zeit befand, ist bislang unbekannt. Die Behörden hatten bestritten, dass sich der ehemalige Rechtsberater des Ministerpräsidenten, dem Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden, in Gewahrsam befand (AI 29.3.2022; vergleiche Duvar 14.9.2021). - Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022).

Gemeinsame Recherchen des ZDFs und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vergleiche Correctiv 11.12.2018, Ha'aretz 11.12.2018). Laut Menschenrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern gab es seit 2016 Dutzende mutmaßliche Fälle von Entführungen und des „gewaltsamen Verschwindenlassens“ (EC 19.10.2021, S.31; vergleiche FR 15.2.2021, AM 17.9.2021) durch Sicherheits- oder Geheimdienste in mehreren Provinzen, ohne dass angemessene Ermittlungen durchgeführt wurden (EC 19.10.2021, Sitzung 31; vergleiche AM 17.9.2021, NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 35), untermauert durch Aussagen von Augenzeugen, Familienmitglieder, wieder aufgetauchten Entführten sowie vereinzelt durch Videoaufnahmen (Turkey Tribunal 7.2021, Sitzung 3; vergleiche HRW 29.4.2020).

Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet (EC 19.10.2021, Sitzung 17). Laut der "UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen" (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand 2020 von fast 250 Fällen, die seit 1980 registriert wurden, noch immer fast 90 als ungelöst (OHCHR 4.8.2021, Sitzung 12, 24). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei „verschwunden“ sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vergleiche TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AM 17.9.2021; vergleiche Turkey Tribunal 7.2021, Sitzung 50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AM 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AM 17.9.2021; vergleiche Turkey Tribunal 7.2021, Sitzung 2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshandlung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (Turkey Tribunal 7.2021, Sitzung 2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Trotz mehrerer Anfragen von Abgeordneten der Opposition und Journalisten hat sich bisher kein Regierungsvertreter öffentlich zu den Entführungsvorwürfen geäußert (FR 15.2.2021; vergleiche AM 17.9.2021). Laut Gülseren Yoleri vom türkischen Menschenrechtsverband İHD habe Letztere in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AM 17.9.2021). Die türkischen Behörden haben laut Human Rights Watch noch keinen einzigen Fall wirksam untersucht, sodass mehrere Familien sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt haben (HRW 29.4.2020).

Entführungen und Verschwindenlassen im Ausland

Was die Entführungen türkischer Staatsbürger aus dem Ausland betrifft, so zeigte sich die UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen zutiefst besorgt darüber, dass eine Reihe von Staaten, namentlich auch die Türkei weiterhin extra-territoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit rechtfertigen. Die Situation in der Türkei sei besonders besorgniserregend, da mindestens 100 türkische Staatsangehörige aus zahlreichen Staaten in die Türkei zwangsrückgeführt worden sein sollen, weil sie im Verdacht stehen, Mitglieder einer angeblichen terroristischen Organisation zu sein oder mit ihr zu sympathisieren (OHCHR 7.8.2020, Sitzung 16). 40 von den 100 entführten Personen verschwanden unter Gewaltanwendung, meist von der Straße, oder sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen in der ganzen Welt entführt, in mehreren Fällen zusammen mit ihren Kindern (OHCHR 5.5.2020, Sitzung 2). In seiner Entschließung vom Juni 2022 verurteilt das Europäischen Parlament "aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt" (EP 7.6.2022, Sitzung 19, Pt. 31).

Wenn es den türkischen Behörden nicht gelingt, die Auslieferung auf legalem Wege zu erwirken, greifen sie in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden von Drittländern, einschließlich Geheimdiensten und Polizei, auf verdeckte Operationen zurück. Dazu gehören in erster Linie rasche illegale Aktionen, um gefährdete Personen dem Schutz des Gesetzes zu entziehen und sie anschließend zu überstellen (OHCHR 5.5.2020, Sitzung 3; vergleiche FH 2.2021 ,S. 10). In einigen Fällen haben diese Handlungen direkt gegen gerichtliche Anordnungen gegen illegale Abschiebungen verstoßen. Angesichts des zunehmenden Drucks seitens der Türkei führen die Aufnahmestaaten eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch, gefolgt von Hausdurchsuchungen und willkürlichen Verhaftungen in verdeckten Operationen. Die Namen der Personen werden mit vorbereiteten Listen abgeglichen, bevor sie gewaltsam zu nicht gekennzeichneten Fahrzeugen gebracht werden. Sie bleiben bis zu mehreren Wochen in geheimer oder Isolationshaft verschwunden, bevor sie in die Türkei abgeschoben werden. Während dieser Zeit sind sie häufig Zwang, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, um ihre Zustimmung zu einer freiwilligen Rückkehr zu erlangen und Geständnisse zu erpressen, die bei der Ankunft in der Türkei zur Strafverfolgung dienen sollen. In dieser Phase wird den Betroffenen der Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand verwehrt, und sie können die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht vor einem zuständigen Gericht anfechten, sodass sie de facto außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen. Ihre Familienangehörigen sind über ihr Schicksal und ihren Verbleib nicht informiert. Den Zeugenaussagen zufolge haben die Opfer dieser Operationen von unverminderten Misshandlungen durch Geheimdienstmitarbeiter berichtet, die vor allem darauf abzielen, ein Geständnis zu erzwingen. Zu den gängigsten Formen der Folter gehören Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge, Waterboarding und Elektroschocks (OHCHR 5.5.2020, Sitzung 3). Was die Entführungen außerhalb des Hoheitsgebiets betrifft, so hat die Türkei durch mehrere ihrer höchsten Vertreter, inklusive Staatspräsident Erdoğan, die Verantwortung dafür übernommen (Turkey Tribunal 7.2021, Sitzung 50; vergleiche FH 2.2021, Sitzung 39f) und hierbei insbesondere die Rolle des Geheimdienstes MİT hervorgestrichen, beispielsweise anlässlich der Entführung von sechs Lehrern aus dem Kosovo (FH 2.2021, Sitzung 39f). Die Entführungen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden beispielsweise in Handschellen öffentlich präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden (DF 22.6.2021).

Die UN-Arbeitsgruppe wiederholte 2021 ihre Besorgnis über die fortgesetzte Rechtfertigung von extra-territorialen Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit. In diesem Zusammenhang fordert die Arbeitsgruppe die türkische Regierung auf, das gewaltsame Verschwindenlassen zu unterbinden bzw. zu beenden, wie es in Artikel 2 der Erklärung über den Schutz aller Personen vor dem gewaltsamen Verschwindenlassen vorgesehen ist (OHCHR 4.8.2021, Sitzung 26).

Vergleiche hierzu auch das Kapitel zu: Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Quellen:

-             AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html, Zugriff 30.3.2022

-             AM – Al Monitor (17.9.2021): Turkish civic groups protest abductions, forced disappearances, https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-civic-groups-protest-abductions-forced-disappearances, Zugriff 21.2.2022

-             Corrective – Recherchen für die Gesellschaft (11.12.2018): BlackSitesTurkey, https://correctiv.org/top-stories/2018/12/06/black-sites/, Zugriff 21.2.2022

-             DF – Deutschlandfunk (22.6.2021): Türkei entführt systematisch Oppositionelle aus dem Ausland, https://www.deutschlandfunk.de/der-lange-arm-ankaras-tuerkei-entfuehrt-systematisch.795.de.html?dram:article_id=499152, Zugriff 21.2.2022

-             Duvar (14.9.2021): Turkish man missing since December 2020 turns up in Ankara prison, https://www.duvarenglish.com/turkish-man-missing-since-december-2020-turns-up-in-ankara-prison-news-58810, Zugriff 30.3.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 21.2.2022

-             EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf, Zugriff 26.8.2022

-             FH – Freedom House (2.2021): Out of Sight, not out of Reach: the Global Scale and Scope of Transnational Repression, https://freedomhouse.org/sites/default/files/2021-02/Complete_FH_TransnationalRepressionReport2021_rev020221.pdf, Zugriff 21.2.2022

-             FR – Frankfurter Rundschau (15.2.2021): Mysteriöse Vermisstenfälle in der Türkei: Was hat Erdoğans Regierung damit zu tun?, https://www.fr.de/politik/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-vermisste-gewaltsames-verschwindenlassen-putsch-90204396.html, Zugriff 21.2.2022

-             Ha'aretz (11.12.2018): Kidnapped, Escaped, and Survived to Tell the Tale: How Erdogan's Regime Tried to Make Us Disappear, https://www.haaretz.com/middle-east-news/turkey/.premium.MAGAZINE-how-erdogan-s-loyalists-try-to-make-us-disappear-1.6729331, Zugriff 21.2.2022

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-             Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 21.2.20221

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-             OHCHR (7.8.2020): 2020 report of the Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances, https://undocs.org/A/HRC/45/13, Zugriff 21.2.2022

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-             TM – Turkish Minute (10.9.2021): Turkish couple in exile protests enforced disappearances in front of European rights court, https://www.turkishminute.com/2021/09/10/kishcouple-in-exile-protests-enforced-disappearances-in-front-of-european-rights-court/, Zugriff 21.2.2022

-             Turkish Tribunal [Heymans Johan] (7.2021): Abductions in Turkey Today, https://turkeytribunal.org/wp-content/uploads/2021/11/AbductionsinTurkey_Turkey-Tribunal-Report_FINAL.pdf, Zugriff 21.2.2022

-             ZDF – Zweiten Deutsches Fernsehen (11.12.2018): Kidnapping im Auftrag Erdogans, https://www.zdf.de/politik/frontal-21/die-verschleppten-100.html, Zugriff 21.2.2022

Korruption

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020).

Nichtsdestotrotz ist Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet (EP 19.5.2021, Sitzung 16, Pt. 43; vergleiche BACP 6.2020, DFAT 10.9.2020), auch auf den höchsten Ebenen der Regierung (FH 28.2.2022, C2). Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).

Es bestehen keine Anzeichen für Fortschritte bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung (EP 19.5.2021, Sitzung 16, Pt. 43). Ein grundlegendes Problem ist das Fehlen einer unabhängigen und präventiven Korruptionsbekämpfungsstelle sowie einer interinstitutionellen Koordinierung der Korruptionsbekämpfung (BS 23.2.2022, Sitzung 35). Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die vorhandenen türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 28.2.2022, C2; vergleiche BACP 6.2020). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und die Ombudsperson veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020).

Sorge besteht hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 63; vergleiche BACP 6.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst (BACP 6.2020). So haben beispielsweise die neuen CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara Korruptionsermittlungen gegen die früheren lokalen AKP-Regierungen eingeleitet und eine Reihe von Änderungen vorgenommen, um die Transparenz in der kommunalen Verwaltung zu fördern. Das eigentliche Hindernis für die Versuche der Oppositionsbürgermeister, Korruptionsermittlungen einzuleiten, bleibt jedoch die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz (BS 23.2.2022, Sitzung 13).

Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den durch das Business Anti-Corruption Portal (BACP) befragten Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfindet Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko (BACP 6.2020).

Laut Europäischer Kommission macht die Korruptionsbekämpfung keine Fortschritte. Dem Land fehle es nach wie vor an präventiv agierenden Antikorruptionsbehörden. Die Mängel des gesetzlichen Rahmens und der institutionellen Architektur ermöglichten eine ungebührliche politische Einflussnahme in der Ermittlungs- und Verfolgungsphase von Korruptionsfällen. Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Institutionen müssen, so die Kommission, verbessert werden. Das Fehlen einer Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans deute auf den mangelnden politischen Willen hin, Korruption entschieden zu bekämpfen. Insgesamt ist Korruption weit verbreitet. Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 19.10.2021, Sitzung 5, 25). GRECO bemängelte insbesondere, dass innert zehn Jahren nur eine von neun Empfehlungen in Bezug auf die Transparenz der politischen Finanzierung, auch im Zusammenhang mit Wahlen, umgesetzt wurde (CoE-GRECO 18.3.2021).

Eine Handvoll Holdinggesellschaften erhält einen großen Teil der öffentlichen Ausschreibungen, auch für Erdoğans Megaprojekte, und dieselben Unternehmen kontrollieren ebenso die meisten türkischen Mediennetzwerke. Darüber hinaus hat die Regierung seit 2016 Hunderte von Unternehmen und NGOs beschlagnahmt und Treuhänder für die Verwaltung von Vermögenswerten in Milliardenhöhe ernannt (FH 28.2.2022, C2).

Die Schattenwirtschaft bleibt eine zentrale Herausforderung für die Türkei (EC 19.10.2021, Sitzung 95). Die Schattenwirtschaft soll in den letzten Jahren enorm expandiert sein. Der Anstieg der illegalen Einnahmen stammt nicht nur aus dem Untergrundsektor wie Prostitution, Drogenhandel und Kraftstoffschmuggel, sondern auch aus der Einflussnahme durch Bestechung bei öffentlichen Ausschreibungen und Schmiergeldzahlungen ausländischer Unternehmen, die in der Türkei Geschäfte machen wollen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 ist der Fluss illegaler Gelder um einen weiteren Aspekt erweitert worden. Im Rahmen der Säuberungsaktionen wurden Unternehmen, die sich im Besitz von Gülenisten befanden, beschlagnahmt und dann verkauft, meist an AKP-Kumpane. Wie sich später herausstellte, zahlten viele Geschäftsleute, denen Verbindungen zu den Gülenisten nachgesagt wurden, hohe Bestechungsgelder, um einer Untersuchung oder einem Prozess zu entgehen (AM 21.5.2021).

Die Regierung bestraft Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass Erstere dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten. Journalisten, denen vorgeworfen wird, die Korruptionsvorwürfe veröffentlicht zu haben, werden ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehrat (RTÜK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 12.4.2022, Sitzung 63f.).

Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2021 mit einem Punktewert von 38 von 100 (bester Wert) auf Platz 96 von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein (TI 25.1.2022), was einer Verschlechterung, verglichen zum Vorjahr, um zehn Ränge bzw. zwei Basispunkte entsprach (TI 2021).

Quellen:

-             AM - Al Monitor (21.5.2021): Erdogan in hot spot as Turks question 'mafiazation' of politics, https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/erdogan-hot-spot-turks-question-mafiazation-politics, Zugriff 21.2.2022

-             BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2020): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/, Zugriff 5.11.2020

-             BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022

-             CoE-GRECO – Council of Europe – Group of States Against Corruption (18.3.2021): Third Evaluation Round, Second Addendum to the Second Compliance Report on Turkey - ”Incriminations (ETS 173 and 191, GPC 2)”, ”Transparency of Party Funding” [GrecoRC3 (2020)5], https://rm.coe.int/third-evaluation-round-second-addendum-to-the-second-compliance-report/1680a1cac1, Zugriff 21.2.2022

-             DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 21.2.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 21.2.2022

-             EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf, Zugriff 21.2.2022

-             FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068831.html, Zugriff am 24.8.2022

-             FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html, Zugriff 21.2.2022

-             TI – Transparency International (25.1.2022): Corruption Perceptions Index 2021, https://www.transparency.org/en/countries/turkey, Zugriff 21.2.2022

-             TI – Transparency International (2021): Corruption Perceptions Index 2020, https://www.transparency.org/en/cpi/2020/index/tur, Zugriff 21.2.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 20.4.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 21.2.2022

Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Letzte Änderung: 20.09.2022

Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Oktober 2021 gab es über 121.920 Vereine und 5.906 Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen (ICNL 20.11.2021).

Die Beteiligung der Zivilgesellschaft am politischen Prozess ist weiter zurückgegangen, und die die Zivilgesellschaft betreffenden Rechtsvorschriften wurden in den letzten Jahren immer restriktiver. Während die Ressourcen, die Aktivitäten und die Sichtbarkeit regierungsfreundlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen weiter zugenommen haben, sind regierungskritische NGOs, insbesondere Menschenrechtsorganisationen und demokratiefördernde NGOs, systematischen Einschüchterungen ausgesetzt. Sie wurden mitunter zur Schließung gezwungen und ihre Mitglieder verhaftet. Sowohl nationale als auch internationale NGOs leiden unter restriktiven Einschränkungen. Im Allgemeinen sind kritische NGOs von einer echten Konsultation zur Gesetzgebung ausgeschlossen. Insgesamt ist die zivilgesellschaftliche Kultur in der Türkei nach wie vor schwach, und die Abhängigkeit vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen von ausländischer Finanzierung macht sie zur Zielscheibe für von der Regierung geförderte Verschwörungstheorien (BS 23.2.2022, Sitzung 16, 37).

Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit Langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, Sitzung 11). Seit 2016 hat die Regierung mehr als 1.500 Stiftungen und Vereine geschlossen. Im Dezember 2021 fror die Regierung das Vermögen von 770 NGOs mit der Begründung der Terrorismusfinanzierung ein. Leiter von NGOs - insbesondere diejenigen, die sich mit Menschenrechten befassen - sind wegen der Ausübung ihrer Tätigkeit mit Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlicher Verfolgung konfrontiert (FH 28.2.2022, E2). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 28.7.2022, Sitzung 6).

Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Juli 2021 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,22 % (1.488 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 20.11.2021).

Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt. Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021).

Menschenrechtsorganisationen können gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 28.7.2022; Sitzung 6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).

Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll (AP 27.12.2020, vergleiche DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Gesetz Nr. 7262 war offiziell geschaffen worden, um konkreten Empfehlungen der Financial Action Task Force (FATF) nachzukommen, einer internationalen Organisation zum Monitoring von Geldwäsche und Terrorfinanzierung, deren Mitglied die Türkei ist (FNS 17.5.2022). Dieses erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vergleiche DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen, und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, Sitzung 36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, Sitzung 36). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira erhöht (Independent 27.12.2020). Die Einschätzung, dass es sich beim Gesetz Nr. 7262 in erster Linie um eine Maßnahme zur Einschränkung der Zivilgesellschaft handelt, teilt auch die FATF. Sie setzte die Türkei 2021 auf eine "graue Liste" und ermahnte sie, legitim arbeitende zivilgesellschaftliche Organisationen nicht unter dem Vorwand der Bekämpfung von Terrorfinanzierung unverhältnismäßig zu beschränken (FNS 17.5.2022).

Inzwischen wurde das Gesetz Nr. 7262 um einen Artikel zur Risikoanalyse in Organisationen erweitert. Seit März 2022 erhielten etliche NGOs Briefe vom "Generaldirektorat für die Beziehungen mit der Zivilgesellschaft", die sie zu zusätzlichen Maßnahmen der Selbstkontrolle aufforderten. Die Schreiben gingen an Organisationen, de facto vor allem an jene im Menschenrechtsbereich, denen nach unbekannten Kriterien ein "mittleres" oder "hohes Risiko" zugeschrieben wird. Die NGOs werden gedrängt, innerhalb einer vorgegebenen Frist "notwendige" Untersuchungen zu ihren Finanzierungsquellen, ihren Mitarbeitern und ihren institutionellen Partnern durchzuführen, um ihren sog. Risikostatus festzustellen (FNS 17.5.2022).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022

-             AP – Associated Press (27.12.2020):Turkish lawmakers pass bill monitoring civil society groups, https://apnews.com/article/turkey-recep-tayyip-erdogan-terrorism-bills-europe-d4e48ebdbba76911dc6fb2a94b201ffd, Zugriff 2.2.2021

-             BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022

-             CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 21.2.2022

-             DW – Deutsche Welle (27.12.2020): Umstrittenes NGO-Gesetz in der Türkei beschlossen, https://www.dw.com/de/umstrittenes-ngo-gesetz-in-der-t%C3%BCrkei-beschlossen/a-56068756, Zugriff 21.2.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 21.2.2022

-             FIDH/ OMCT/ İHD - International Federation for Human Rights/ World Organisation Against Torture/ İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (5.2021): TURKEY PART römisch II - Turkey’s Civil Society on the Line: A Shrinking Space for Freedom of Association, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/05/OBS-%C4%B0HD-TURKEY.pdf, Zugriff 7.2.2022

-             FH - Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068831.html, Zugriff am 24.8.2022

-             FNS - Friedrich Naumann Stiftung (17.5.2022): Zivilgesellschaft unter Druck, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/zivilgesellschaft-unter-druck, Zugriff 30.5.2022

-             ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (20.11.2021): Civic Freedom Monitor: Turkey, https://www.icnl.org/resources/civic-freedom-monitor/turkey#resources, Zugriff 4.2.2022

-             Independent (27.12.2020): Turkish human rights groups face being shut down as Erdogan passes law stifling NGOs, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkey-oversight-law-ngos-b1779231.html, Zugriff 21.2.2022

-             NZZ – Neue Zürcher Zeitung (30.12.2020): Neues Gesetz alarmiert türkische Zivilgesellschaft, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-neues-gesetz-alarmiert-die-zivilgesellschaft-ld.1594276, Zugriff 21.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 4.2.2022

Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung

Letzte Änderung: 20.09.2022

Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık), das organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OI o.D.).

Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, die die Grundrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson ist immer noch nicht befugt, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen zu intervenieren (EC 19.10.2021, Sitzung 12). Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 19.10.2021, Sitzung 29), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 66).

Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 28.7.2022, Sitzung 6). Einige HREI-Mitglieder zeigten eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, Sitzung 29).

Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt und sie entspricht nicht der Empfehlung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Standards für Gleichbehandlungsstellen. Beide Institutionen zeigten sich hinsichtlich ihrer Effektivität bei der Behandlung von Anträgen als begrenzt (EC 19.10.2021, Sitzung 29).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 3.11.2021

-             OI - Ombudsman Institution of the Republic of Turkey (o.D.): About The Institution, https://www.ombudsman.gov.tr/English/about-the-institution, Zugriff 7.2.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 27.4.2022

Wehrdienst

Letzte Änderung: 20.09.2022

In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (MFA-NL 11.7.2019). Im Ausland lebende türkische/doppelte Staatsangehörige sind vom 20. Lebensjahr bis zum Ende des 35. Lebensjahres verpflichtet, den Wehrdienst abzuleisten oder diesen mittels Antrag beim zuständigen türkischen Konsulat bis zum Ende des 35. Lebensjahres aufschieben zu lassen (Artikel 38). Sie haben auch die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von der Wehrpflicht frei zu kaufen. Sie müssen dann lediglich eine Fernausbildung absolvieren (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 21). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).

Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt. Es sieht die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst für alle Wehrpflichtigen vor (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe beläuft sich mit Stand November 2021 auf rund 3.900 Euro (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahren im Ausland arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 30.11.2021, Sitzung 19). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (DFAT 10.9.2020) sind u. a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 30.11.2021, Sitzung 20).

Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 30.11.2021, Sitzung 36; vergleiche EC 6.10.2020, Sitzung 40). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 36; vergleiche AA 28.7.2022, Sitzung 13).

Einige Wehrpflichtige sind Berichten zufolge schweren Schikanen, körperlichen Misshandlungen und Folter ausgesetzt, die mitunter zum Tod oder Selbstmord führen. Menschenrechtsgruppen berichten über verdächtige Todesfälle beim Militär, insbesondere unter Wehrpflichtigen, die der alevitischen und kurdischen Minderheit angehören. Die Regierung hat solche Vorfälle nicht systematisch untersucht und gibt auch keine Daten darüber heraus. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) und die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) meldeten für die ersten elf Monate des Jahres 2021 mindestens 13 Todesfälle, entweder durch Unfälle oder infolge dubioser Umstände (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6f.).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022

-             DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 22.2.2022

-             EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 22.2.2022

-             HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 22.2.2022

-             MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 27.4.2022

KURDISCH-STÄMMIGE REKRUTEN IN DER ARMEE

Letzte Änderung: 10.03.2022

Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen (MFA-NL 11.7.2019).

Nach vorliegenden Informationen besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär, weder der kurdischen noch der alevitischen. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 30.11.2021, S.21). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig, zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele für Misshandlungen von Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. Bei einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MFA-NL 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Mezopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019; vergleiche K24 10.5.2018).

Quellen:

-             K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army 'lynched' for singing in Kurdish, MPs say, https://web.archive.org/web/20190203005959/http://www.kurdistan24.net:80/en/culture/e9b13521-081d-402b-9ea4-20f41eea9bb5, Zugriff 22.2.2022 [Der Originallink ist nicht mehr verfügbar.]

-             Mezopotamya (14.9.2020): Kurdish soldier attacked at military post: römisch eins have no life safety, http://mezopotamyaajansi35.com/en/search/content/view/109378?page=1&key=3b84e1dcd1d3fd2e3c8d8d7731ad0653, Zugriff 22.2.2022

-             MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022

-             SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (16.9.2020): Türkei: Situation von kurdischen Personen im Militärdienst, https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Europa/Tuerkei/200915_TUR_Kurden_im_Militaerdienst.pdf, Zugriff 22.2.2022

-             UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt, Zugriff am 22.2.2022

WEHRERSATZDIENST / WEHRDIENSTVERWEIGERUNG / DESERTION

Letzte Änderung: 20.09.2022

Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (AA 28.7.2022, Sitzung 13, vergleiche MFA-NL 11.7.2019, DFAT 10.9.2020), trotz deutlicher Mahnungen des Ministerkomitees des Europarats (AA 28.7.2022, Sitzung 13). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019). Seit Änderung von Artikel 63, des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 28.7.2022, Sitzung 13; vergleiche DFAT 10.9.2020). Ein diesbezüglich publik gewordener Fall ist jener des ehemaligen Leiters der Zweigstelle Siirt des türkischen Menschenrechtsvereins İHD, Zana Aksu. Im September 2021 verurteilte das erstinstanzliche Strafgericht von Eruh (Provinz Siirt) den Militärdienstverweigerer wegen "Desertion" sogar zu 18 Monaten Haft und einer Geldstrafe von 10.000 Lira (ca. 700 Euro) (Ende 2021 war der Fall noch vor dem regionalen Berufungsgericht in Diyarbakır anhängig), obwohl Aksu bereits 2018 in diesem Anklagepunkt für schuldig befunden und 2020 in einem gesonderten Verfahren wegen nicht zulässiger Doppelbestrafung freigesprochen worden war (AI 29.3.2022; vergleiche KTVU 20.9.2021). Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt bis zu acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Artikel 26, dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden können (AA 28.7.2022, Sitzung 13).

Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 18). Der Europarat, insbesondere dessen Ministerkomitee kritisiert die wiederholten Verurteilungen und Inhaftierungen von Kriegsdienstverweigerern wegen Verweigerung des Wehrdienstes; das Fehlen eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens zur Feststellung des Status als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und das Fehlen einer Alternative zum obligatorischen Militärdienst in der Türkei (CoE 27.9.2021, Sitzung 3).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 24.8.2022

-             AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html, Zugriff 30.3.2022

-             CoE - Council of Europe (Department For The Execution Of Judgments Of The European Court Of Human Rights) (27.9.2021): Turkey - main issues before the Committee of Ministers - ongoing supervision, https://rm.coe.int/mi-turkey-eng/1680a23cae#page=1&zoom=auto,-275,848, Zugriff 22.2.2022

-             DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 22.2.2022

-             KTVU - Keep The Volume Up - For Human Rights Defenders (20.9.2021): Zana Aksu, https://www.sessizkalma.org/en/defender/zana-aksu/, Zugriff 30.3.2022

-             MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 20.09.2022

Das Jahr 2021 war durch eine weitere Verschlechterung der Menschenrechtslage und der Grundfreiheiten in der Türkei gekennzeichnet. Weitreichende Beschränkungen für die Tätigkeit von Journalisten, Schriftstellern, Rechtsanwälten, Akademikern, Menschenrechtsverteidigern und kritischen Stimmen wirkten sich weiterhin negativ auf die Ausübung ihrer Freiheiten aus und führten zu Selbstzensur. Die Weigerung der Türkei, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umzusetzen, insbesondere in den Fällen Selahattin Demirtaş und Osman Kavala, verstärkte die Bedenken hinsichtlich der Einhaltung internationaler und europäischer Standards durch die Justiz. Die Verbreitung oppositioneller Stimmen und das Recht auf freie Meinungsäußerung wurden durch den zunehmenden Druck und die restriktiven Maßnahmen negativ beeinflusst. Es kam zu Rückschritten im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgeldern und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten (EU 30.3.2022, Sitzung 16f.; vergleiche AI 29.3.2022). Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam nebst den bereits genannten Rückschritten, überdies zu solchen in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Wahrung von Verfahrensrechten sowie der Verletzung des Rechts auf Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, Sitzung 18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 4, 13, AI 29.3.2022). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, Sitzung 16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, Sitzung 29f). Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, Sitzung 16, Pt.34). Zuletzt zeigte sich Anfang Mai 2022 das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und Grundfreiheiten sowie der Lage der Rechtsstaatlichkeit" und "fordert[e] die Staatsorgane der Türkei auf, der gerichtlichen Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern, Wissenschaftlern, Journalisten, geistlichen Führern und Rechtsanwälten ein Ende zu setzen" (EP 5.5.2022, Pt.4).

Regierungsmitglieder haben Mitglieder sexueller Minderheiten offen mit homophoben Äußerungen angegriffen. Vor dem Hintergrund einer zunehmend flüchtlingsfeindlichen Rhetorik haben tätliche Angriffe auf Flüchtlinge und Migranten zugenommen (AI 29.3.2022). Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet aber nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 31).

Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlaments vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, Sitzung 17, Pt.45).

Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z. B. Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).

Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, Sitzung 5). Obgleich die EMRK aufgrund Artikel 90, der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 28.7.2022, Sitzung 16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, Sitzung 10).

Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; Sitzung 20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Artikel 18, EMRK festgestellt und die Freilassung gefordert (AA 28.7.2022, S.16). Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; Sitzung 16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022). Schlussendlich wurde Kavala am 25.4.2022 im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 wegen "Umsturzversuches" zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Neben Kavala wurden sieben weitere Angeklagte wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zu 18 Jahren Haft verurteilt (FR 25.4.2022; vergleiche DW 25.4.2022). Weil die Türkei das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2019 zur sofortigen Freilassung Kavalas jedoch missachtet hatte, verurteilte der EGMR Mitte Juli 2022 die Türkei zu einer Geldstrafe von 7.500 Euro, zu zahlen an Kavala, und das vom Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren läuft weiter (DW 11.7.2022).

Anfang Juli 2022 hat das türkische Verfassungsgericht den Antrag im Zusammenhang mit dem Tod mehrerer Menschen abgelehnt, die während der 2015 und 2016 verhängten Ausgangssperren im Bezirk Cizre in der mehrheitlich kurdisch bewohnten südöstlichen Provinz Şırnak ums Leben kamen. Das Verfassungsgericht erklärte, dass Artikel 17 der Verfassung über das "Recht auf Leben" nicht verletzt worden sei. Die Betroffenen werden vor den EGMR ziehen (Duvar 8.7.2022).

Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4 % aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1 % aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, Sitzung 28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 25.8.2022

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 28.2.2022

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 28.2.2022

-             AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Türkei 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070315.html, Zugriff 30.3.2022

-             CoE - Council of Europe (3.2.2022): Committee of Ministers refers Kavala v. Turkey case to the European Court of Human Rights, https://www.coe.int/en/web/portal/-/committee-of-ministers-refers-kavala-v-turkey-case-to-the-european-court-of-human-rights, 28.2.2022

-             CoE - Council of Europe (3.12.2021): Implementing ECHR judgments: Council of Europe ministers serve formal notice on Turkey in the Kavala case [Ref. DC 224(2021)], https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a4c19d, Zugriff 21.1.2022

-             CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 28.2.2022

-             Duvar (8.7.2022): Top Turkish court finds no rights violation in death of Cizre curfew victims, https://www.duvarenglish.com/top-turkish-court-finds-no-rights-violation-in-death-of-cizre-curfew-victims-news-61010, Zugriff 11.8.2022

-             DW - Deutsche Welle (11.7.2022):Europäischer Gerichtshof verurteilt Türkei wegen Haft von Osman Kavala, https://www.dw.com/de/europ%C3%A4ischer-gerichtshof-verurteilt-t%C3%BCrkei-wegen-haft-von-osman-kavala/a-62437290, Zugriff 11.8.2022

-             DW - Deutsche Welle (25.4.2022): Türkischer Kulturförderer Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkischer-kulturf%C3%B6rderer-osman-kavala-zu-lebenslanger-haft-verurteilt/a-59870684, Zugriff 26.4.2022

-             DW - Deutsche Welle (17.1.2022): Türkei ignoriert Frist zur Freilassung von Kavala, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-ignoriert-frist-zur-freilassung-von-kavala/a-60455412, Zugriff 21.1.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 28.2.2022

-             EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 28.2.2022

-             ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2021): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/11/2021, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2021_BIL.PDF, Zugriff 21.1.2022

-             ECHR – European Court of Human Rights (17.2.2021): Violations by Article and by State, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2020_ENG.pdf, Zugriff 21.1.2022

-             ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2020): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/11/2020, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2020_BIL.PDF, Zugriff 21.1.2022

-             EP - Europäisches Parlament (5.5.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. Mai 2022 zu dem Fall von Osman Kavala in der Türkei (2022/2656(RSP)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0199_DE.pdf, Zugriff 6.5.2022

-             EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf, Zugriff 28.2.2022

-             EP - European Parliament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience [(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0028_EN.pdf, Zugriff 28.2.2022

-             EU - European Union (30.3.2022): EU ANNUAL REPORT ON HUMAN RIGHTS AND DEMOCRACY IN THE WORLD

-             2021 COUNTRY UPDATES - Turkey, https://www.eeas.europa.eu/sites/default/files/documents/220323%202021%20EU%20Annual%20Human%20Rights%20and%20Democracy%20Country%20Reports.docx.pdf, Zugriff 22.8.2022

-             EU-Rat - Rat der Europäischen Union (14.12.2021): Schlussfolgerungen des Rates zur Erweiterung sowie zum Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess [15033/21], https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15033-2021-INIT/de/pdf, Zugriff 21.1.2022

-             FR - Frankfurter Rundschau (25.4.2022): Türkei: Lebenslange Haft für Kulturförderer Kavala, https://www.fr.de/politik/tuerkei-lebenslange-haft-fuer-kulturfoerderer-kavala-zr-91500881.html, Zugriff 26.4.2022

-             HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html, Zugriff 7.2.2022

-             HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043511.html, Zugriff 7.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022

Meinungs- und Pressefreiheit / Internet

Letzte Änderung: 20.09.2022

Medien- und Pressefreiheit

Alle großen landesweiten Nachrichtenagenturen stehen der Regierungspartei nahe. 90 % der türkischen Medien (Print, Rundfunk, Fernsehen) sind personell und/oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Die restlichen 10 % werden finanziell ausgehungert, indem ihnen staatliche Werbeanzeigen entzogen werden (AA 28.7.2022, Sitzung 9; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 33, USDOS 12.4.2022, Sitzung 31, FH 28.2.2022, D1). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen. Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormen politischen Druck, werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 28.2.2022, D1; vergleiche HRW 13.1.2022, BS 23.2.2022, Sitzung 10) oder deren Inhalte werden entfernt. Dies gilt insbesondere bei Nachrichten, die sich kritisch über hochrangige Regierungsmitglieder und Mitglieder der Familie von Präsident Erdoğan äußern, oder die nach dem äußerst restriktiven Anti-Terror-Gesetz als strafbar gelten (HRW 13.1.2022). Der Druck auf Journalisten dauert an. Sie sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche jedoch oftmals nicht geahndet werden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 33; vergleiche BS 23.2.2022; Sitzung 10, USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f.).

Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), eine Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom Parlament ernannt und sind fast ausschließlich Mitglieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) oder ihres politischen Verbündeten, der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) (FH 3.3.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich 2021 "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und der staatlichen Werbeagentur (BİK), die als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, Sitzung 12, Pt. 27; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 33).

Im Juni 2022 forderte das EP den Vorsitzenden des RTÜK auf, "die übermäßige Verhängung von Geldbußen und Sendeverboten, mit denen die legitime Meinungsfreiheit von Journalisten und Rundfunksender aus der Türkei eingeschränkt wird, einzustellen" (EP 7.6.2022, Sitzung 11, Pt. 14). Beispielsweise belegte der RTÜK Ende Mai 2022 vier Fernsehsender (Tele1, KRT, Flash und Halk TV) mit einer Geldstrafe im Ausmaß von 3 % ihrer Jahreseinnahmen, weil sie die Rede des Vorsitzenden der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, ausgestrahlt hatten, in der er behauptete, Präsident Erdoğan bereite sich darauf vor, im Falle einer Wahlniederlage mit seinen Familienangehörigen aus der Türkei zu fliehen (Duvar 30.5.2022). Der Pressewerberat (BİK), der staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Präsidialdirektion für Kommunikation (CIB), die Presseausweise ausstellt, wenden eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021). Von Dezember 2018 bis Dezember 2020 wurden z. B. 1.239 Pressekarten türkischer Journalisten annulliert. Ausländische Journalisten, die jährlich eine neue Pressekarte beantragen müssen, warten zum Teil mehrere Monate auf deren Ausstellung (ÖB 30.11.2021, Sitzung 34).

Das Verfassungsgericht, allerdings, das mehrere Klagen der Zeitungen Sözcü, Cumhuriyet, BirGün und Evrensel bewertete, entschied in seinem Piloturteil vom August 2022, dass die von der öffentlichen Werbeagentur (BİK) verhängten Strafen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen. Den betroffenen Zeitungen müssen jeweils 10.000 Lira [ca. 550 Euro] Entschädigung gezahlt werden. Das Verfassungsgericht stellte zudem fest, dass die Verhängung von Geldstrafen für Werbung durch erstinstanzliche Gerichte ein systematisches Problem darstelle, und forderte infolgedessen das Parlament auf, sich mit dem entsprechenden Gesetzesartikel zu befassen, um dieses grundlegende Problem zu lösen (EI 13.8.2022).

Die unverhältnismäßige Umsetzung der restriktiven Maßnahmen wirkt sich weiterhin negativ auf die freie Meinungsäußerung und die Verbreitung der Stimmen der Opposition aus. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen nach wie vor gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere internationale Standards und weichen von der Rechtsprechung des EGMR ab. Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Schriftstellern und Nutzern sozialer Medien finden weiterhin statt (EC 19.10.2021, S.5, 32; vergleiche PACE 3.1.2020). Die Staatsanwälte klagen Journalisten am häufigsten wegen terroristischer Verbindungen oder Aktivitäten an (USDOS 12.4.2022, S.31). Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62% die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S.28f.). Die Türkei verbesserte sich im World Press Freedom Index 2022 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] relativ innerhalb der Rangordnung der angeführten 180 Länder um vier Plätze, von Rang 153 auf 149. Allerdings verschlechterte sich der absolute Wert von 50,21 auf 41,25 [100 ist der beste, statistisch zu erreichende Wert] (RSF 3.5.2022).

Der EGMR hat am 13.4.2021 im Sinne zweier prominenter Journalisten, Ahmet Altan und Murat Aksoy, entschieden, dass deren Inhaftierung unter anderem einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Sicherheit darstelle, und die Türkei beiden Männern eine Entschädigung zahlen müsse, denn in beiden Fällen habe es keine konkreten Beweise für die zur Last gelegten Straftaten gegeben (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Das Gericht stellte im Falle Aksoy, der nach dem Putschversuch wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung bis 2017 - bzw. neuerlich bis Jänner 2019 - in Haft saß, fest, dass es keine plausiblen Gründe für die Inhaftierung gegeben hätte. Altan wurde hingegen wegen Unterstützung des Putschversuches zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem Freispruch durch das Oberste Berufungsgericht (Kassationsgericht) wurde er 2019 wegen "Unterstützung einer Terrorgruppe" zu zehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (DW 13.4.2021; vergleiche bianet 13.4.2021). Der EGMR stellte in seinem Urteil fest, dass kein "hinreichender Verdacht" vorlag, dass Altan vom Putschversuch im Vorhinein wusste, weshalb dessen Inhaftierung unbegründet war (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Bereits tags darauf, am 14.4.2021 wurde Altan freigelassen, da das Kassationsgericht die bestehende Verurteilung mit der Begründung aufhob, dass Artikel 220/7 des Strafgesetzbuches, der eine Strafminderung vorsieht, ignoriert wurde bzw. die bereits verbüßte Haft ausreiche (Duvar 14.4.2021; vergleiche SDZ 14.4.2021). Zudem hätte es für die Altan zur Last gelegten Straftaten wie Terrorunterstützung keine Beweise gegeben (DW 14.4.2021).

Strafverfahren gegen Journalisten werden oft mit Beleidigung des Staatspräsidenten und der türkischen Nation, mit Terrorpropaganda oder "provokativen Inhalten" begründet. Darüber hinaus gibt es Druck insbesondere gegen Journalistinnen und Journalisten, die etwa negativ über nationalistische Gruppieren recherchieren oder (AA 28.7.2022, Sitzung 9) oder zu Korruption berichten (AA 28.7.2022, Sitzung 9; vergleiche FH 28.2.2022, D1). Journalisten wurden auch wegen der Berichterstattung über Proteste strafrechtlich verfolgt (FH 28.2.2022, D1). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 12.4.2022, Sitzung 30; vergleiche BS 23.2.2022, Sitzung 10). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als terrorismusbezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 13.1.2022; vergleiche IPI 30.11.2020). - Human Rights Watch zählte Anfang 2022 58 Journalisten und Medienmitarbeiter, welche wegen ihrer journalistischen Arbeit in Untersuchungshaft waren oder Strafen wegen Terrorismusdelikten verbüßten (HRW 13.1.2022). - Hinzukommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020). Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020). (Befristete) Publikationsverbote mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" treffen, mitunter wiederholt, vor allem kurdische Zeitungen oder solche des linken politischen Spektrums (AA 28.7.2022, Sitzung 9). Mehr als ein Jahr vor dem Prozess im Gefängnis zu verbringen, ist die neue Norm, und lange Gefängnisstrafen sind üblich, in einigen Fällen bis zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung (RSF 2020). Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022).

Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staat dienten - z. B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die z. B. über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020). Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, "den Staat und die Regierung zu verunglimpfen". Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, Sitzung 12; vergleiche Independent 13.12.2021).

Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (PACE 22.4.2021, Sitzung 4; vergleiche CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des Letzteren, die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021). Das Urteil könnte laut Aussagen von Juristen für mehr als zehn Medien positive rechtliche Konsequenzen haben, nicht jedoch für jene Medienhäuser, denen meist ein Naheverhältnis zur Gülen-Bewegung unterstellt wurde, die namentlich im Dekret genannt werden (TM 8.4.2021).

Meinungsfreiheit

Das Europäische Parlament (EP) bekräftigte im Mai 2022 seine ernste Besorgnis über die unverhältnismäßigen und willkürlichen Maßnahmen die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken (EP 7.6.2022, Sitzung 10, Pt.13). In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft (USDOS 12.4.2022, Sitzung 30). Im Jahr 2021 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 76 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 1.2022).

Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (ÖB 30.11.2021, Sitzung 32). Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und das Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, Sitzung 33). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, Sitzung 9). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung. Letztere stimmt nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) überein (PACE 22.4.2021, Sitzung 3). Zwar stellt nunmehr Artikel 7, Absatz 2, des Antiterrorgesetzes klar, dass Meinungsäußerungen, welche die Grenze der Berichterstattung nicht überschreiten, keine Straftat darstellen, doch dies hat die politische Verfolgung unliebsamer Äußerungen in der Praxis nicht eingeschränkt (AA 28.7.2022, Sitzung 9).

Eines der prominentesten Beispiele war die Verurteilung von vier Menschenrechtsverteidigern, darunter der ehemalige Vorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation im Juli 2020 (FH 3.3.2021). Die Behörden hatten Kilic im Juni 2017 unter dem Vorwurf festgenommen, Verbindungen zu Fethullah Gülen zu unterhalten. Der EGMR entschied Ende Mai 2022 einstimmig (inklusive des türkischen Richters), dass die Türkei bei der Inhaftierung von Kılıç rechtswidrig gehandelt hatte. Das Gericht fand keine Beweise dafür, dass Kilic eine Straftat begangen hat. Das Gericht entschied außerdem, dass seine spätere Verurteilung wegen anderer Anschuldigungen in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehe und sein Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigt werde (DW 31.5.2022; vergleiche AP 31.5.2022).

Die Behörden klagen Bürger, darunter auch Minderjährige, wegen Beleidigung der Staatsführung und Verunglimpfung des "Türkentums" an. Fürsprecher der Meinungsfreiheit wiesen darauf hin, dass führende Politiker und Abgeordnete von Oppositionsparteien zwar regelmäßig mehrfach wegen solcher Beleidigungen angeklagt wurden, im umgekehrten Falle (Beleidigung von Oppositionellen) AKP-Mitglieder und Regierungsbeamte nur selten strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 36). Jüngstes Beispiel einer Verurteilung einer Journalistin wegen Präsidentenbeleidigung ereignete sich im März 2022. - Ein Istanbuler Gericht sprach Sedef Kabas wegen Präsidentenbeleidigung schuldig und verurteilte sie zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. Die Journalistin hatte während einer Fernsehsendung unter anderem das harte Vorgehen der türkischen Regierung gegen Kritiker angeprangert. Dort und später auf Twitter zitierte sie ein Sprichwort: "Wenn ein Ochse in einen Palast geht, wird er kein König, sondern der Palast wird zum Stall." (DW 11.3.2022; vergleiche Ahval 11.3.2022).

Auch gegen Rechtsanwälte wird vorgegangen. - Im Jänner 2021 erteilte das Justizministerium die Genehmigung zur Einleitung von Ermittlungen gegen zwölf Mitglieder der Anwaltskammer von Ankara. Die Anwälte wurden der "Beleidigung eines Amtsträgers" beschuldigt, weil sie homophobe und diskriminierende Äußerungen des Präsidenten der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, geäußert während eines Freitagsgebets, kritisiert hatten. Im April 2021 akzeptierte das zuständige Gericht in Ankara die Anklage. Im Juli 2021 wurden auch Ermittlungen gegen Mitglieder der Anwaltskammern von Istanbul und Izmir wegen "Beleidigung religiöser Werte" genehmigt (AI 29.3.2022).

Soziale Medien

Alles, vom banalen Teilen bis hin zum Liken von Inhalten in sozialen Medien, die von anderen, z. B. auf Facebook, geteilt werden, kann zu strafrechtlichen Ermittlungen und/oder einer Strafverfolgung etwa wegen Beleidigung des Präsidenten führen (Article19 8.4.2022). Die Internetfreiheit hat weiter abgenommen. Hunderte von Websites wurden gesperrt, in einigen Fällen aufgrund eines neuen Gesetzes über soziale Medien. Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen wurden, wurden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5). Die Sperrung und Löschung von Online-Inhalten ohne gerichtliche Anordnung aus einer unangemessen breiten Palette von Gründen, die sich auf das Internetgesetz und den allgemeinen Rechtsrahmen stützen, wurde fortgesetzt. Die derzeitige Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten sowie das Strafgesetzbuch behindern die Meinungsfreiheit und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, Sitzung 32f).

Die Generaldirektion für Sicherheit teilte mit, dass im Jahr 2021 insgesamt 106.000 Social-Media-Konten in der Türkei aufgrund von Beiträgen untersucht wurden, die von den Behörden als problematisch eingestuft wurden. Die behördlichen Untersuchungen der Accounts richteten sich gegen Beleidigungen des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda oder Aufstachelung zu Feindschaft und Hass unter der Bevölkerung, wobei diesbezüglich 46.646 Nutzer identifiziert wurden (TM 15.3.2022). Anderen Angaben des Innenministeriums zufolge verdoppelten sich 2021 die Zahlen der untersuchten Konten sowie der Verfahren verglichen mit 2020. - 146.167 Konten in sozialen Medien wurden untersucht und rechtliche Schritte gegen 60.051 Personen eingeleitet. In der Folge wurden 1.911 Personen festgenommen und 73 inhaftiert (Article 19 8.4.2022).

Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).

Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vergleiche AM 13.12.2021).

Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 32). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK wird die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet sein, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz durchaus begrüßenswerter Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 30.11.2021, Sitzung 32). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020).

Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, Sitzung 101-104; vergleiche LoC 7.1.2022).

Die Generalversammlung des Verfassungsgerichts stellte allerdings am 7.1.2022 fest, dass die Regierung das verfassungsmäßige Recht auf freie Meinungsäußerung und das verfassungsmäßige Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffend die Sperrung des Zugangs zu Online-Nachrichten-Webseiten durch untergeordnete Gerichte verletzt hatte. Das Verfassungsgericht konsolidierte neun Fälle, in denen insgesamt 129 URL-Adressen durch Entscheidungen von Friedensrichtern gemäß Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 gesperrt worden waren. In allen neun Fällen hatten die Richter den Zugang zu den betreffenden Nachrichtenartikeln aufgrund von Beschwerden jener Personen gesperrt, die Gegenstand der Nachrichtenartikel waren und die geltend machten, dass bestimmte Aussagen in den Nachrichtenartikeln ihren Ruf und ihr Ansehen unrechtmäßig schädigten. - Die Problematik des Artikels 9, u. a. von der Venedig Kommission des Europarates beanstandet, liegt darin, dass eine diesbezügliche Sperrung durch den Spruch eines Friedensrichters, zeitlich unbegrenzt und ohne Anhörung, erfolgt, nur auf Einspruch hin von einem anderen Friedensrichter überprüft, jedoch nicht bei höheren Gerichten angefochten werden kann. Der einzige Rechtsbehelf ist eine Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgericht (LoC 7.1.2022). In seinem Urteil stellte das Verfassungsgericht nicht nur einen offensichtlichen Eingriff in die durch Artikel 26 und 28 der Verfassung geschützte Meinungs- und Pressefreiheit durch die Sperrung des Zugangs zu den betroffenen Nachrichtenseiten fest, sondern auch die unverhältnismäßige und unbegründete Blockierung der Inhalte auf unbestimmte Zeit sowie die Nicht-Beachtung der verfassungsrechtlichen Grundsätze durch die Vorinstanzen. Außerdem beklagte das Verfassungsgericht den Mangel an Rechtsmitteln. In Anbetracht der Tatsache, so das Verfassungsgericht, dass die Entscheidungen der untergeordneten Gerichte auf das Vorhandensein eines systematischen Problems hinweisen, das unmittelbar durch eine gesetzliche Bestimmung verursacht wurde, ist es offensichtlich, dass das derzeitige System überdacht werden muss, um ähnliche Verstöße zu verhindern. Deshalb wurde seitens des Gerichts ein sogenanntes Pilotverfahren (pilot judgment) beschlossen (CCRT 7.1.2022). - Das Verfahren wird angewandt, wenn das Gericht feststellt, dass die Verletzung eines Grundrechts in einem bestimmten Fall auf ein strukturelles Problem zurückzuführen ist, das bereits zu anderen Anträgen geführt hat und von dem zu erwarten ist, dass es in Zukunft zu weiteren Anträgen führen wird. Wenn das Gericht beschließt, über einen Antrag im Rahmen des Piloturteilsverfahrens zu entscheiden, kann es alle anderen bei ihm anhängigen Verfahren, die dasselbe strukturelle Problem betreffen, aussetzen. Sobald ein Piloturteil ergangen ist, müssen die Verwaltungsbehörden das Urteil in den entsprechenden Anträgen, die bei ihnen eingereicht werden, anwenden, oder bei Fällen, die das Verfassungsgericht erreichen, kann das Gericht die Fälle zusammenfassen und im Einklang mit dem Piloturteil entscheiden (LoC 7.1.2022).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht, die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (AM 24.3.2020) und der RTÜK Bußgelder gegen Medien verhängte, die den Umgang der Regierung mit der Pandemie kritisiert hatten (BS 23.2.2022, Sitzung 11). So teilte das türkische Innenministerium am 21.5.2020 mit, dass in den 65 Tagen zuvor 510 Personen wegen "haltloser" und "provokativer" Beiträge im Netz, betreffend COVID-19, festgenommen worden wären. 10.111 Social Media Accounts wären überprüft, und dabei 1.105 Verdächtige identifiziert worden. Von diesen wären wiederum 510 festgenommen worden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 32). Zu den Betroffenen gehörten auch Mediziner, die in ihren Beiträgen die Bürger über grundlegende Gesundheitsvorkehrungen informierten, und vor der Unzulänglichkeit staatlich empfohlener Maßnahmen warnten (POMED 17.4.2020).

Im Herbst 2020 standen medizinische Vereinigungen, wie die Türkische Ärztekammer (TTB), im Schussfeld der Kritik seitens der Staatsspitze, da sie die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Corona-Krise ebenso kritisierten, wie etwa die mangelnde Daten-Transparenz des Gesundheitsministeriums. Mitte Oktober 2020 verlangte Staatspräsident Erdoğan den Einfluss der Ärztekammer und anderer Berufsverbände gesetzlich einzuschränken, da diese seiner Meinung nach in einem unerträglichen Ausmaß gegen die Verfassung handelten. Überdies warf der Staatspräsident der Spitze der Ärztekammer die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Der Vorsitzende der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Regierungspartner der AKP, Davlet Bahçeli, beschuldigte die Ärztekammer, "den Terrorismus zu preisen" (AM 15.10.2020; vergleiche BI 14.10.2020).

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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. In der Praxis sind diese Rechte jedoch stark beschränkt. Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 28.7.2022, Sitzung 8; vergleiche DFAT 10.9.2020, Sitzung 16, 27). Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).

Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, Sitzung 5; vergleiche EP 7.6.2022, Sitzung 9, Pt. 12). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020). Beispielsweise wurden, laut einem Bericht der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei - CHP, alleine im April 2022 bei Polizeiinterventionen gegen 45 Demonstrationen 288 Personen festgenommen. Im selben Monat wurden in den kurdisch-dominierten Städten Mardin, Van und Hakkari, im Südosten des Landes alle Demonstrationen verboten (Duvar 16.5.2022).

Polizeiliche Gewalt richtet sich gegen unterschiedliche Gruppen. Einige Beispiele der letzten Monate: Ende September 2021 schritt die Polizei gewaltsam gegen friedliche Proteste von Studenten gegen hohe Studentenheimgebühren und Mieten in den Istanbuler Stadtteilen Kadıköy und in İzmir ein. 50 Studenten in Istanbul und 30 in Izmir wurden zum Teil verprügelt und temporär festgenommen (Bianet 28.9.2021). Als mehrere Tausend Menschen, vor allem Frauen, Ende November 2021 im Stadtzentrum Istanbuls gegen Gewalt gegen Frauen protestierten, wobei einige "Regierung zurücktreten" skandierten, feuerte die Polizei Pfeffergas ab und lieferte sich ein Handgemenge mit den DemonstrantInnen (Reuters 25.11.2021). Die Polizeigewalt setzte sich auch 2022 fort. So setzte die Polizei in der südlichen Provinz Adana im März 2022 Schlagstöcke, Plastikgeschosse und Pfefferspray ein, um die Mitglieder der regierungskritischen, religiösen Furkan-Stiftung von einer friedlichen Demonstration abzuhalten. Hunderte von Mitgliedern der Gruppe hatten sich versammelt, um eine Presseerklärung abzugeben und gegen die fortgesetzte Untersuchungshaft gegen acht Mitglieder zu protestieren (TM 21.3.2022; vergleiche Ahval 21.3.2022). Die Türkische Rechtsanwaltskammer (TTB) sah das verfassungsmäßige Versammlungsrecht verletzt und kündigte rechtliche Schritte gegen die beteiligten Polizisten an (Ahval 21.3.2022). Bei Demonstrationen anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes, Newroz, vermeldeten pro-kurdische Medien, dass die Polizei in Diyarbakır über 650 Personen festgenommen hatte, darunter viele Kinder, wobei es zur Anwendung von Gewalt sowohl bei den Festnahmen als auch in Polizeigewahrsam kam (Medya News 22.3.2022; vergleiche Rudaw 22.3.2022). Empfindlich reagieren die Behörden bei Demonstrationen für den sich seit 1999 in Isolation befindlichen Führer der PKK, Abdullah Öcalan. - So wurden Mitte Juni 2022 zahlreiche politische Aktivisten in Istanbul festgenommen, als die Polizei versuchte, einen Marsch zum westtürkischen Hafen Gemlik zu behindern, um gegen die strenge Isolierung Öcalans zu protestieren. Ersten Berichten zufolge wurden etwa 20 Personen festgenommen (Medya News 12.6.2022). Im selben Zusammenhang wurden am 16.6.2022 neun (gemäß einer zweiten Quelle zehn) Personen, darunter Mitglieder und Führungskräfte der HDP, bei Hausdurchsuchungen in Istanbul vorübergehend festgenommen (TİHV 20.6.2022; vergleiche TM 16.6.2022).

Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch bekanntermaßen friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2021, Sitzung 34; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 16, 37). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2021 in Kraft. Das ganze Jahr 2021 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46). Im Jahr 2020 wurden 253 Mal pauschale und 115 Mal gezielte Versammlungsverbote verhängt (EC 19.10.2021, Sitzung 37).

In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 28.7.2022, Sitzung 8). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten. Die Stadt Ankara schränkte 2021 Feierlichkeiten zum 1. Mai ebenso ein wie Studentenproteste (FH 2.2022, E1). Versammlungen von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition wurden ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021, E1; vergleiche BS 23.2.2022, Sitzung 10). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI-Personen und Minderheiten (ÖB 30.11.2021, Sitzung 34; vergleiche FH 2.2022, E1, BS 23.2.2022, Sitzung 10). Auch Proteste für politische und sozio-ökonomische Rechte wurden in mehreren Provinzen immer wieder verboten. Demonstrationen entlassener Beamter, die ihre Wiedereinstellung forderten, und von Arbeitnehmern, die für ihre Gesundheitsrechte demonstrierten, wurden unterbunden (EC 19.10.2021, Sitzung 36). Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020, Sitzung 37).

Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 6.770 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.171 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 4.10.2021, Sitzung 28). Unabhängigen Angaben zufolge nahmen die Behörden bei mindestens 320 friedlichen Versammlungen mindestens 2.123 Demonstranten wegen des Verdachts der "Aufstachelung zum Hass", des "Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz" und des "Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen" fest (EC 19.10.2021, Sitzung 34).

Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei, nicht nur gefärbtes Wasser zur späteren Identifikation von Demonstranten anzuwenden, sondern auch Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 43).

Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, Sitzung 12; vergleiche BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022). Im Mai 2022 wies die Verwaltungskammer des Staatsrates letztendlich den Einspruch des Innenministeriums und der Generaldirektion für Sicherheit gegen die Entscheidung des Staatsrates, den Vollzug des Rundschreibens auszusetzen, zurück (MLSA 10.5.2022).

Die extensive Auslegung des unklar formulierten Artikel 220, des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 28.7.2022).

Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, Sitzung 37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, Sitzung 16f; vergleiche TM 8.9.2021).

Ein türkisches Gericht in der östlichen Provinz Erzincan hat im Oktober 2021 15 Angeklagte zu insgesamt 93 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen von 2013, den sogenannten Gezi-Protesten, teilgenommen hatten. Die Angeklagten bekamen Haftstrafen zwischen sechs Jahren und acht Monaten und zweieinhalb Jahren wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration, Widerstand gegen einen diensthabenden Polizeibeamten und Beschädigung öffentlichen Eigentums (Ahval 27.10.2021)

[Anm.: Zum Thema Versammlungsfreiheit siehe auch die Kapitel "Frauen" sowie "Sexuelle Minderheiten"]

Vereinigungsfreiheit

Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).

Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, Sitzung 15). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, Sitzung 44).

Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, Sitzung 26).

Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurde (ICSEM 31.12.2021b, Sitzung 9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).

Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 2.2022, E3; vergleiche EP 7.6.2022, Sitzung 21, Pt. 34). Das Gesetz verlangt von den Gewerkschaften zudem, dass sie ihre Versammlungen oder Kundgebungen, die in offiziell ausgewiesenen Bereichen stattfinden müssen, bei der Regierung anmelden, und erlaubt es Regierungsvertretern, Gewerkschaftsversammlungen beizuwohnen und deren Verlauf aufzuzeichnen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 87).

Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).

Siehe auch Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs)

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Pandemie-bedingte Regeln zur sozialen Abstandsregelung sind oft selektiv angewandt worden, um die Auflösung von nicht genehmigten Demonstrationen im Jahr 2020 zu rechtfertigen (FH 3.3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021, Sitzung 41). So haben, unter dem Vorwand von Covid-19, Provinzgouverneure friedliche Proteste von Frauenrechtsaktivisten, Studenten, Arbeitern, Oppositionsparteien, und Vertretern sexueller Minderheiten verboten (HRW 13.1.2022).

Quellen:

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-             Ahval (21.3.2022): Police brutality against opposition Islamist group in southern Turkey sparks ire, https://ahvalnews.com/furkan-foundation/police-brutality-against-opposition-islamist-group-southern-turkey-sparks-ire, Zugriff 28.3.2022

-             Ahval (27.10.2021): Eight-year-long Gezi trial ends in 93 year sentence for 15 defendants, https://ahvalnews.com/gezi-protests/eight-year-long-gezi-trial-ends-93-year-sentence-15-defendants, Zugriff 1.3.2022

-             Anadolu – Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 1.3.2022

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-             BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (3.5.2021): Briefing Notes KW 18, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw18-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 1.3.2022

-             Bianet (28.9.2021): Police violence against students protesting for affordable housing in İstanbul, İzmir, https://m.bianet.org/english/human-rights/250956-police-violence-against-students-protesting-for-affordable-housing-in-istanbul-izmir, Zugriff 28.3.2022

-             BI - Balkan Insight (30.4.2021): Turkey Bans Citizens From Filming Police at Protests, https://balkaninsight.com/2021/04/30/turkey-bans-citizens-from-filming-police-at-protests/, Zugriff 1.3.2022

-             BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022

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-             TM – Turkish Minute (8.9.2021): Turkey’s top court rules blanket ban violated rights of protestors, https://www.turkishminute.com/2021/09/08/urkeystop-court-rules-blanket-ban-violated-rights-of-protestors/, Zugriff 1.3.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 2.5.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 1.3.2022

OPPOSITION

Letzte Änderung: 20.09.2022

Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein. Unter anderem werden die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre eingeschränkt. Dies geschieht auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 58). Das Europäische Parlament zeigte sich wie schon im Juli 2021 (EP 8.7.2021; Pt. 1) auch in einer Entschließung vom 7.6.2022 "zutiefst besorgt über die anhaltenden Übergriffe auf die Oppositionsparteien, insbesondere auf die [...] HDP und andere Parteien, einschließlich der [...] CHP, indem etwa Druck auf sie ausgeübt, ihre Auflösung erzwungen und ihre Mitglieder inhaftiert werden, wodurch das ordnungsgemäße Funktionieren des demokratischen Systems untergraben wird" (EP 7.6.2022, Sitzung 16f., Pt. 22).

Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, haben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe erlebt. Auch Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und aus dem Parlament verwiesen und deren Parteivorsitzender wurde bei Kundgebungen tätlich angegriffen. Im August 2021 wurde die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, während einer politischen Kundgebung in Sivas attackiert (FH 2.2022, B1). Die Justiz geht auch systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 19.10.2021, Sitzung 11; vergleiche BI 1.2.2022). Am 4.1.2021 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vergleiche HDN 4.1.2022).

Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP). Seit 2016 wurden 88 % der gewählten HDP-Vertreter entfernt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 62). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben. Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Region Izmir wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 19.10.2021, Sitzung 13).

Fallweise werden auch andere (parlamentarische) Oppositionsparteien - als die HDP - sowie deren Vertreter in die Nähe des Terrorismus gerückt und mitunter verfolgt. So bezeichnete Staatspräsident Erdoğan am 5.11.2021 in einer öffentlichen Rede sowohl die größte Oppositionspartei CHP und ihren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als auch die rechts-konservative oppositionelle İYİ-Partei als Unterstützer der PKK (Duvar 5.11.2021). Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017 (ZO 23.6.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Zudem wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Am 12.5.2022 bestätigte der Kassationsgerichtshof die Verurteilung in drei Anklagepunkten - "Beleidigung eines Beamten", "Beleidigung des Präsidenten" und "Beleidigung des türkischen Staates" - die zu einer Haftstrafe von vier Jahren, elf Monaten und 20 Tagen führten. Anklagen wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung wurden jedoch fallen gelassen (Ahval 12.5.2022; vergleiche BAMF 16.5.2022, Sitzung 12f.). Als Reaktion demonstrierten in Istanbul Tausende Menschen am 21.5.2022 gegen das Urteil (ZO 22.5.2022). Kaftancıoğlu wurde am 31.5.2022 ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul gebracht, jedoch noch am selben Tage wieder freigelassen. Sie darf jedoch bei den kommenden Wahlen nicht antreten (FAZ 1.6.2022; vergleiche MEE 31.5.2022). Ein anderes Beispiel ist der Oppositionspolitiker Metin Gürcan. Gürcan, Mitbegründers der oppositionellen Demokratie- und Fortschrittspartei (DEVA), ist am 13.5.2022, einen Tag nach seiner Freilassung, wegen Spionagevorwürfen erneut verhaftet worden. Ihm drohen bis zu 35 Jahre Haft. Dem Politiker und Militäranalysten wird vorgeworfen, mutmaßlich geheime Informationen an ausländische Diplomaten verkauft zu haben (BAMF 16.5.2022, Sitzung 12f.).

Vorgehen gegen die HDP

Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terrorist (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).

Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 8.12.2021; vergleiche DS 24.1.2021). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten laut Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, Sitzung 69). Das Europäische Parlament "fordert[e] die türkischen Staatsorgane auf, davon Abstand zu nehmen, zur Aufwiegelung gegen die HDP weiter anzustacheln" (EP 8.7.2021, Pt. 5).

Mehr als 15.000 HDP-Mitglieder wurden inhaftiert und etwa 5.000 befinden sich noch immer in Haft (MedyaNews 3.7.2022, vergleiche NL-MFA 2.3.2022, Sitzung 46, AA 28.7.2022, Sitzung 8). Demnach sitzen rund 12 % aller HDP-Mitglieder im Gefängnis, denn laut offiziellen Zahlen des Kassationsgerichtes hatte die HDP mit Stand 4.10.2021 genau 41.022 Mitglieder (NL-MFA 2.3.2022, Sitzung 46f.) Davon abgesehen leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021; vergleiche MedyaNews 3.7.2022).

Siehe auch die Kapitel: Haftbedingungen und Kurden

Vorgehen gegen einfache HDP-Mitglieder und deren Umfeld

Eine Mitgliedschaft in der HDP allein ist jedoch kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen. Die Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungen ist immer einzelfallabhängig (AA 28.7.2022, Sitzung 8; vergleiche NL-MFA 2.3.2022, S.47). Die Entscheidung, allerdings, welche HDP-Mitglieder verhaftet und inhaftiert werden und welche nicht, wird demzufolge zufällig und willkürlich getroffen. Diese Willkür diene laut Quellen wahrscheinlich dem Zweck, Angst und Unsicherheit zu verbreiten und die Menschen davon abzuhalten, aktiv für die HDP zu arbeiten. Aus vertraulichen Quellen des niederländischen Außenministeriums geht hervor, dass eine Reihe von Umständen und Aktivitäten in der Praxis eine Rolle bei Festnahmen, Inhaftierungen, strafrechtlichen Ermittlungen und Verurteilungen spielen können. Dies bedeutet nicht, dass diese Umstände und Aktivitäten bei allen HDP-Mitgliedern, Mitarbeitern, Aktivisten und/oder Sympathisanten zu persönlichen Problemen mit den türkischen Behörden führen. Faktoren, die zu negativer Aufmerksamkeit seitens der türkischen Behörden führen können (Die Liste ist keineswegs als erschöpfend anzusehen): die HDP-Mitgliedschaft an sich; die Wahlbeobachtungen; die Teilnahme an HDP-Demonstrationen, an HDP-Pressekonferenzen, an HDP-Wahlkampagnen, an HDP-Versammlungen; das Posten und Teilen von Pro-HDP-Posts in sozialen Medien (z. B. das Posten von Bildern des inhaftierten HDP-Vorsitzenden Demirtaş); der Besitz und die Verteilung von HDP-Pamphleten; der Besitz bestimmter Arten von Literatur (z. B. Bücher über "Konföderalismus", d. h., das Streben nach Selbstverwaltung und Autonomie für die Kurden). Zum Vorgehen seitens der türkischen Behörden gehören auch nächtliche, mit unter gewaltsame Razzien am Wohnort (NL-MFA 2.3.2022, Sitzung 447).

Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, ein Bankkonto, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren bzw. keinen bekommen, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 2.3.2022, Sitzung 49). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, Sitzung 20).

Behördliches Vorgehen gegen gewählte HDP-Mandatare auf lokaler Ebene

Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 28.7.2022, S.7f.). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vergleiche AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).

Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vergleiche DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in Mardin, Van, Diyarbakır und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020). Fälle polizeilicher Gewaltanwendung gegenüber Mitgliedern und Funktionären der HDP kommen weiterhin vor. So griff die Polizei in die von der HDP und dem Demokratischen Volkskongress (HDK) organisierte Presseerklärung am 18.4.2022 im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu zum bevorstehenden 1. Mai ein und nahm 26 Personen, darunter die Ko-Vorsitzende der HDP und die Ko-Sprecher des HDK, unter Anwendung körperlicher Gewalt fest (Die festgenommenen Personen wurden noch am selben Tag wieder freigelassen). Zudem wandte die Polizei körperliche Gewalt gegenüber Journalisten an, um diese Vorort zu vertreiben (TİHV 19.4.2022).

In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020).

Der Kobanê-Massenprozess

Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobanê einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobanê zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vergleiche HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vergleiche SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022). Am 12.4.2022 ordneten die Behörden die Verhaftung von weiteren 91 Personen im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten an, darunter auch Mitglieder der HDP. Sie wurden beschuldigt an der finanziellen Organisierung der Vorfälle beteiligt gewesen zu sein und den Familien von toten oder verletzten PKK-Mitgliedern finanzielle Unterstützung zukommen gelassen zu haben (BI 12.4.2022).

Aktuelle Beispiele für Verhaftungen und Verurteilungen von HDP-Funktionären und einfachen HDP-Mitgliedern

Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vergleiche Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vergleiche KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022). Am 19.5.2022 wurden 13 Personen, darunter HDP-Führungskräfte und Mitglieder der HDP-Jugendorganisation, bei Hausdurchsuchungen in Diyarbakır festgenommen. Zehn von ihnen wurden per Gerichtsentscheid inhaftiert, die restlichen bedingt freigelassen (TİHV 23.5.2022). Anfang Juni erließ die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 42 Personen im Umfeld der HDP, darunter befanden sich u.a. die HDP-Provinzchefs von Istanbul, Bingöl und Edirne (Duvar 3.6.2022). Mitte desselben Monats wurden im Zuge einer Polizeirazzia zehn Mitglieder der HDP in Istanbul festgenommen (Ahval 16.6.2022).

Aktuelle Beispiele für Entscheidungen des Europäische Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vergleiche Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Nach 2021 forderte auch das Europäische Parlament (EP) im Juni 2022 neuerlich auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 7.6.2022, Sitzung 16, Pt. 23, EP 19.5.2021, Sitzung 13, Pt. 33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, Sitzung 13, Pt. 33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).

Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Artikel 5, EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Artikel 10, EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vergleiche BAMF 20.9.2021, Sitzung 14f).

Am 22.3.2022 wies das Verfassungsgericht den Antrag der HDP-Abgeordneten Semra Güzel ab, die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität wegen Terrorvorwürfen rückgängig zu machen. Güzel wurde wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in zwei Fällen angeklagt, nachdem Fotos in den Medien erschienen waren, auf denen sie mit einem PKK-Mitglied mutmaßlich in einem Lager der Gruppe posierte (BAMF 28.3.2022, Sitzung 9; vergleiche Ahval 24.3.2022). Der 75-jährige, ehemalige Abgeordnete der HDP, Halil Aksoy, wurde in einem Fall, in dem er vor 13 Jahren freigesprochen worden war, am 26.4.2022 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Entgegen dem damaligen Freispruch verurteilte dasselbe 11. Hohe Strafgericht Gericht in Istanbul Aksoy wegen Propaganda für eine terroristische Organisation. Das Gericht lehnte auch einen Aufschub seiner Strafe ab (Mezopotamya 27.4.2022). Entlassen hingegen wurde nach fünf Jahren Anfang Jänner 2022 der ehemalige HDP-Abgeordnete Abdullah Zeydan, nachdem das Oberste Berufungsgericht die Haftstrafe von acht Jahren und 45 Tagen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verbreitung terroristischer Propaganda aufgehoben hatte (BAMF 10.1.2022, Sitzung 15; vergleiche Ahval 6.1.2022).

Siehe auch das Kapitel: Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)

Verbotsverfahren gegen die HDP

Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichtes, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; Sitzung 3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u. a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vergleiche Duvar 18.3.2021).

In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).

Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vergleiche AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vergleiche Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift namentlich aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Bei der Erörterung des Antrags der HDP auf Verlängerung der Verteidigungsfrist beschloss das Verfassungsgericht Mitte Februar 2022 der Partei weitere 60 Tage zu gewähren. Nach Ablauf der 60-Tage-Frist muss die Verteidigung in der Sache abgeschlossen und dem Gericht vorgelegt werden (247NewsBulletin 16.2.2022). Wie bereits im Juli 2021 (EP 8.7.2021, Pt. 2) verurteilte das Europäische Parlament "aufs Schärfste die vom Generalstaatsanwalt des Kassationshofs der Türkei eingereichte und vom Verfassungsgericht der Türkei im Juni 2021 einstimmig angenommene Anklageschrift, mit der die Auflösung der Partei HDP und der Ausschluss von 451 Personen vom politischen Leben, darunter die meisten derzeitigen Mitglieder der Führungsebene der HDP, angestrebt werden und durch die die betroffenen Personen daran gehindert werden, in den nächsten fünf Jahren irgendeiner politischen Tätigkeit nachzugehen" (EP 7.6.2022, Sitzung 16, Pt. 23).

Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vergleiche 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Ver­stöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unter­­stützung im Rahmen der staat­lichen Parteienfinanzierung teilweise oder voll­ständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich poli­tisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, Sitzung 4).

Gewaltakte nicht-staatlicher Akteure gegen die HDP und ihre Vertreter

In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni 2021 ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende Mithat Sancar sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte. Der Angriff kam kurz vor einem möglichen Verbotsverfahren gegen die HDP (AM 17.6.2021, vergleiche ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vergleiche AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vergleiche Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotowcocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Am 27.3.2022 gab es einen bewaffneten Angriff auf das Büro der HDP im Bezirk Erdemli in Mersin von einer oder mehreren unbekannten Personen, der Sachschaden im Büro verursachte (TİHV 28.3.2022). Am 17.4.2022 wurde von Unbekannten ein Anschlag auf das HDP-Büro im Bezirk Çukurova in Adana verübt, bei dem Sachschaden entstand (TİHV 18.4.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Die türkische Regierung nutzte die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung verbietet weiterhin selektiv, auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie, regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen. So wurden mehr als 200 Demonstranten, vor allem in Istanbul, unter Verweis auf die Verletzung der Ausgangsbeschränkungen im Zuge der COVID-19-Pandemie, am 1.5.2021 festgenommen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 45).

Quellen:

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-             HDN - Hürriyet Daily News (10.6.2021): Prosecutor demands 451 HDP members to be banned from politics, https://www.hurriyetdailynews.com/prosecutor-demands-451-hdp-members-to-be-banned-from-politics-165436, Zugriff 2.3.2022

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-             HDP - People's Democratic Party (17.2.2021): More detentions against HDP members and executives, https://hdpeurope.eu/2021/02/more-detentions-against-hdp-members-and-executives/, Zugriff 2.3.2022

-             HDP – People's Democratic Party (18.11.2019): We urge Turkey's larger political opposition and the international democratic community to lose no time in acting against appointed trustees coup, https://www.hdp.org.tr/en/we-urge-turkeys-larger-political-opposition-and-the-international-democratic-community-to-lose-no-time-in-acting-against-appointed-trustees-coup/13722/, Zugriff 2.3.2022

-             HRW – Human Rights Watch (2.10.2020): Turkey: Politicians and Activists Detained, https://www.ecoi.net/de/dokument/2038516.html, Zugriff 2.3.2022

-             KN - Koerdisch Nieuws (12.10.2021): HDP-co-burgemeester veroordeeld tot 8 jaar en 6 maanden gevangenisstraf – Noord-Koerdistan, https://koerdischnieuws.nl/hdp-co-burgemeester-veroordeeld-tot-8-jaar-en-6-maanden-gevangenisstraf-noord-koerdistan/, Zugriff 2.3.2022

-             MEE – Middle East Eye (31.5.2022): Turkey: Leading opposition figure jailed and then freed for insulting Erdogan, https://www.middleeasteye.net/news/turkey-leading-opposition-figure-jailed-insulting-erdogan, Zugriff 3.6.2022

-             MEE – Middle East Eye (19.8.2019): Three pro-Kurdish mayors replaced in southeastern Turkey, https://www.middleeasteye.net/news/three-pro-kurdish-mayors-replaced-southeastern-turkey, Zugriff 2.3.2022

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-             Mezopotamya (21.1.2022): 160 detained in 3 months with 'anonymous witness' statements in Şırnak, http://mezopotamyaajansi35.com/en/ALL-NEWS/content/view/159336, Zugriff 2.3.2022

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-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report

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-             NZZ – Neue Züricher Zeitung (7.1.2016): Erdogan verschärft den Ton gegenüber der HDP, https://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/erdogan-verschaerft-den-ton-gegenueber-hdp-abgeordneten-1.18673099, Zugriff 2.3.2022

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-             TİHV - Türkiye İnsan Hakları Vakfı/ HRFT - Human Rights Foundation Turkey (19.4.2022): 19 April 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/19-april-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/, Zugriff 4.8.2022

-             TİHV - Türkiye İnsan Hakları Vakfı/ HRFT - Human Rights Foundation Turkey (18.4.2022): 16 – 18 April 2022 HRFT Documentation Center Daily Human Rights Report, https://en.tihv.org.tr/documentation/16-18-april-2022-hrft-documentation-center-daily-human-rights-report/, Zugriff 4.8.2022

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-             TM – Turkish Minute (26.11.2020): Turkey has removed 151 mayors on 'terror charges' since 2014: Interior Ministry, https://www.turkishminute.com/2020/11/26/turkey-has-removed-151-mayors-on-terror-charges-since-2014-interior-ministry/, Zugriff 2.3.2022

-             UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (1.10.2019): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPORT_2019.odt, Zugriff 2.3.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 20.4.2022

-             WKI – Washington Kurdish Institute (12.10.2021): Kurdistan’s Weekly Brief October 12, 2021, https://dckurd.org/2021/10/12/kurdistans-weekly-brief-october-12-2021/, Zugriff 2.3.2022

-             WKI – Washington Kurdish Institute (28.9.2021): Kurdistan’s Weekly Brief September 28, 2021 – Turkey, https://dckurd.org/2021/09/28/kurdistans-weekly-brief-september-28-2021/, Zugriff 25.3.2022

-             ZO – Zeit Online (22.5.2022): Tausende Türken protestieren gegen Hafturteil für Oppositionelle, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-05/tuerkei-protest-canan-kaftancioglu-opposition-urteil, Zugriff 24.5.2022

-             ZO – Zeit Online (17.6.2021): Eine Tote bei Angriff auf Büro der pro-kurdischen HDP, https://www.zeit.de/politik/2021-06/tuerkei-hdp-kurdisch-oppositionspartei-angriff-tote, Zugriff 25.3.2022

-             ZO – Zeit Online (31.3.2021): Türkei: Verfassungsgericht gibt HDP-Verbotsklage zurück, https://www.zeit.de/news/2021-03/31/tuerkei-verfassungsgericht-gibt-hdp-verbotsklage-zurueck, Zugriff 2.3.2022

-             ZO - Zeit Online (28.12.2021): Zwei Verletzte bei Angriff auf Büro der HDP in Istanbul, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-12/tuerkei-istanbul-hdp-buero-angriff, Zugriff 25.3.2022

-             ZO – Zeit Online (23.6.2020): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Oppositionspolitikerin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/canan-kaftancioglu-tuerkei-oppositionspolitikerin-chp-haststrafe-gericht-bestaetigung-urteil, Zugriff 2.3.2022

-             ZO – Zeit Online (24.3.2020): Acht Bürgermeister der prokurdischen HDP abgesetzt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/tuerkei-buergermeister-hdp-pro-kurdisch-terrorvorwuerfe-razzien, Zugriff 2.3.2022

-             ZO – Zeit Online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdoğan setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkei-buergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition, Zugriff 2.3.2022

Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland

Letzte Änderung: 20.09.2022

Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichte Mitte September 2020 einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, wonach letztere Informationen erhielt, die darauf hindeuten, dass syrische Staatsangehörige, darunter auch Frauen, die von der (pro-türkischen) Syrischen Nationalarmee (SNA) in der Region Ra's al-'Ayn festgenommen wurden, anschließend von türkischen Streitkräften in die Türkei überstellt, und dort nach türkischem Strafrecht wegen vermeintlicher Verbrechen in der syrischen Region Ra's al-'Ayn angeklagt wurden, unter anderem wegen Mordes oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Überstellung von Syrern, die von der SNA inhaftiert wurden, auf türkisches Hoheitsgebiet dem Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation geschützter Personen gleichkommen kann (UN-HRC 14.8.2020). Sowohl Araber als auch Kurden wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 im Nordosten Syriens festgenommen, nachdem die Türkei nach ihrem Einmarsch in Nordsyrien die effektive Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte (HRW 3.2.2021). Die Verhaftungen erfolgten hauptsächlich in den Vororten von Tell Abiad und Ra's al-'Ayn. Bei den Betroffenen handelte es sich auch um Personen, die für die Institutionen der Autonomieverwaltung arbeiteten, und andere, die keinerlei militärische oder politische Verbindungen zu dieser hatten. Unter den in die Türkei Überstellten befanden sich auch Kämpfer der Volksschutzeinheiten (YPG) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (SfDJ 10.7.2020; vergleiche AM 14.5.2020). Die Gefangenen wurden in das Hochsicherheitsgefängnis in Hilvan in der türkischen Provinz Şanlıurfa transferiert (AM 14.5.2020; vergleiche HRW 3.2.2021). Bereits Ende April 2020, anlässlich der Überstellung von 90 festgenommenen Syrern in die Türkei, richteten 41 Organisationen einen Appell an den UN-Generalsekretär und an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, u. a. willkürliche Gerichtsverfahren zu verhindern und die Freilassung bzw. Rückkehr der Gefangenen zu erwirken (SfDJ 10.7.2020). Human Rights Watch geht davon aus, dass (Stand Jahresbeginn 2021) bis zu 200 Syrer in Syrien festgenommen und in die Türkei verbracht wurden. Im Oktober 2020 wurden 63 Syrer vom Schwurgericht in Şanlıurfa verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit auf Begnadigung (HRW 3.2.2021). Ähnliche Urteile folgten 2021. So wurde am 23.3.2021 ein weibliches Mitglied der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Dozgin Temmo, bekannt als Cicek Kobani, von einem türkischen Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (NPA 24.3.2021). Im Juni 2021 wurden drei Mitglieder des sog. Militärrats der Suryoye (MFS), einer christlichen, assyrischen-aramäischen Miliz der SDF, die 2019 von pro-türkischen Kämpfern in Nordsyrien festgenommen worden waren, von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt (Rudaw 30.6.2021). Laut Aussagen des Vorsitzenden der Menschenrechtsvereinigung (İHD) in Urfa kommt es weiterhin zu Misshandlungen und Folter von syrischen Kurden, welche illegal in die Türkei verbracht und verurteilt wurden. Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber nach Angaben von İHD und Anwälten befinden sich insgesamt 128 Gefangene in den Gefängnissen von Urfa und Hatay. Neben dem Besuchsrecht haben Häftlinge normalerweise das Recht, zehn Minuten pro Tag zu telefonieren. Die Gefangenen aus Nordostsyrien können jedoch keines dieser Rechte in Anspruch nehmen (MedyaNews 24.3.2022).

Das Europäische Parlament verurteilt in einer Entschließung vom März 2021, "dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden" (EP 11.3.2021, Pt. 7). Im Juni 2022 verurteilte das EP, "dass die Türkei syrische Staatsangehörige weiterhin illegal in die Türkei verbringt, um sie dort wegen Terrorismus anzuklagen, was eine lebenslange Haftstrafe zur Folge haben kann" (EP 7.6.2022, Sitzung 27, Pt. 46).

Quellen:

-             AM – Al Monitor (14.5.2020): Syrians held in Turkish prison 'in breach of international law,' advocates say, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/syria-turkey-detainees-prison-breach-international-law.html, Zugriff 28.2.2022

-             EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf, Zugriff 29.8.2022

-             EP – Europäisches Parlament (11.3.2021): Der Konflikt in Syrien: 10 Jahre nach dem Aufstand - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2021 zu dem Konflikt in Syrien zehn Jahre nach dem Aufstand (2021/2576(RSP)) [P9_TA(2021)0088], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0088_DE.pdf, Zugriff 3.3.2022

-             HRW – Human Rights Watch (3.2.2021): Illegal Transfers of Syrians to Turkey, https://www.hrw.org/news/2021/02/03/illegal-transfers-syrians-turkey, Zugriff 28.2.2022

-             MedyaNews (24.3.2022): What happened to Afrin Kurds Imprisoned in Turkey? https://medyanews.net/what-happened-to-afrin-kurds-imprisoned-in-turkey/, Zugriff 30.5.2022

-             NPA – North Press Agency (24.3.2021): Turkey sentences Syrian Kurdish SDF member to life imprisonment, https://npasyria.com/en/56509/, Zugriff 28.2.2022

-             Rudaw (30.6.2021): Three Syriac fighters from Rojava sentenced to life terms in Turkey, https://www.rudaw.net/english/middleeast/30062021, Zugriff 28.2.2022

-             SfTJ – Syrians for Truth and Justice (10.7.2020): https://stj-sy.org/en/illegal-transfer-of-dozens-of-syrian-detainees-into-turkey-following-operation-peace-spring/#_ftnref11, Zugriff 28.2.2022

-             UN-HRC – United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_31_E.pdf, Zugriff 28.2.2022

Haftbedingungen

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Die Haftbedingungen sind, abhängig vom Alter, Typ und Größe usw. unterschiedlich. In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen. Bei Überbelegung einzelner Haftanstalten kann es zu Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung sowie der Infrastruktur der Haftanstalt kommen (AA 28.7.2022, Sitzung 18; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund von Überbelegung, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u. a. die Einrichtungen in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa (ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinaus gehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 30.11.2021, Sitzung 11). Die Regierung gestattet es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 12.4.2022, S.9; vergleiche OMCT 2022). NGOs wie die World Organisation Against Torture (OMCT) orten ein Fehlen einer unabhängigen Überwachung der türkischen Gefängnisse, wodurch die Situation in diesen Gefängnissen verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die verfügbaren nationalen Mechanismen wie die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (HREI bzw. TİHEK), die die Türkei als nationalen Präventionsmechanismus im Rahmen des OPCAT eingerichtet hatte, und die 2011 eingerichteten Gefängnisüberwachungsausschüsse, aufgrund der Mängel bei den Nominierungsverfahren der Mitglieder und des Mangels an politischer Unabhängigkeit sowie einer soliden Methodik, unwirksam sind (OMCT 2022). Auch die Europäische Kommission charakterisierte die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen als weitgehend wirkungslos und speziell die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung als nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt (EC 6.10.2020, Sitzung 32).

In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, Sitzung 38). Zum 1.8.2022 gab es insgesamt 384 Strafvollzugsanstalten, darunter 269 geschlossene und 86 offene Strafvollzugsanstalten, vier Kindererziehungszentren, zehn geschlossene und sieben offene Frauenvollzugsanstalten, und acht geschlossene Kindervollzugsanstalten. Die Kapazität dieser Anstalten betrug 275.843 Personen (ABC-TGM 1.8.2022). Die tatsächliche Zahl der Insassen betrug laut Justizministerium rund 314.500 (Stand Ende März 2022), davon waren 12,3 % Untersuchungshäftlinge (ICPR 2022). In der Gesamtzahl der Gefängnisinsassen für März 2022 sind die 426.647 Bewährungshäftlinge nicht enthalten. Das bedeutet, dass insgesamt 741.149 Menschen in Haft oder auf Bewährung waren (OMCT 2022). Die türkische Regierung hat 8,7 Mrd. Lira für den Bau von 36 neuen Gefängnissen in den nächsten vier Jahren bereitgestellt (SCF 15.3.2022). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13 % der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020, Sitzung 31f). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 Sitzung 4f; Sitzung 32 Tab.). Mit März 2022 wurden 374 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner gezählt [zum Vergleich: Österreich: 93; Deutschland: 67] (ICPR 2022). Die Belegung war (Februar 2022) mit 108,3 % ebenfalls überproportional. Innert zehn Jahren nahm die Zahl der Häftlinge in der Türkei um 89 % zu (UNILCRIM/CoE 6.4.2022).

Das Europäische Parlament zeigte sich im Juni 2022 "zutiefst besorgt über die Lage in den überfüllten Gefängnissen der Türkei, wodurch sich die ernste Bedrohung, die die COVID-19-Pandemie für das Leben der Gefangenen darstellt, weiter verschärft". Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EP 7.6.2022, Sitzung 19f., Pt. 32; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 31, DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBT-Personen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, Sitzung 1). Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben (EC 6.10.2020, Sitzung 32).

Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, Sitzung 1). Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020, Sitzung 32).

Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7; vergleiche DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z. B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, Sitzung 29). Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter Übergriffen, darunter lange Einzelhaft, unnötige Entkleidungen und Leibesvisitationen, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung. Berichten zufolge waren auch Besucher von Häftlingen mit Terrorismusbezug Übergriffen, wie Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 20). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, Sitzung 19), zuletzt z. B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).

Ein Problem bei der strafrechtlichen Prüfung von Verdachtsfällen bleibt die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Menschenrechtsorganisationen zufolge wird Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert, sodass eine unabhängige Überprüfung nur schwer möglich ist (AA 28.7.2022, Sitzung 17). Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 8).

Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft (CoE-CPT 5.8.2020), denn seit Januar 2004 gilt die Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen (AA 28.7.2022, Sitzung 17). Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei Weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden zu sein (CoE-CPT 5.8.2020).

Laut der Menschenrechtsvereinigung (İHD) ist eines der größten Probleme in den türkischen Gefängnissen die Verletzung der Rechte kranker Gefangener. Die İHD konnte mit Stand Ende April 2022 1.517 kranke Gefangene dokumentieren. 651 von ihnen sollen sich in einem schlechten Zustand befunden haben. Und 2021 starben mindestens 52 Personen in Haft (İHD 6.2022, Sitzung 10, 13).

Kurdische Häftlinge

Mit Beginn des Ausnahmezustands (2016) wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten, und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, Sitzung 16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, Sitzung 30, 68; vergleiche İHD 6.2022, Sitzung 23). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, Sitzung 30; 68) sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, Sitzung 30; 68; vergleiche İHD 23.10.2020, Sitzung 7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novellen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen Kurdisch-Türkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, Sitzung 55). Ende August 2021 wurde die ehemalige HDP-Abgeordnete, Leyla Güven, mit Disziplinarmaßnahmen belegt, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde deswegen ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ein einmonatiges Verbot von Telefongesprächen und Familienbesuchen verhängt (Duvar 30.8.2021).

Hochsicherheitsgefängnisse

In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-Typ-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, Sitzung 11-13). Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, Sitzung 4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, Sitzung 70). Viele Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) oder deren hochrangige Persönlichkeiten befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, Sitzung 36).

Isolationshaft

Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist, und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, Sitzung 26). Zur vermehrten Verhängung der Einzelhaft kommt es in den 14 F-Typ-, 13 Hochsicherheits- und fünf S-Typ-Gefängnissen (İHD 6.2022, Sitzung 21). Bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11 % aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut der türkischen NGO CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren läuft, welches eine erschwerte lebenslängliche Haftstrafe nach sich zieht. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, Sitzung 26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem zufolge sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, Sitzung 25.) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihren Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, Sitzung 48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3.000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019). Im Mai 2021 forderte das Europäische Parlament "die Türkei auf, alle Isolationshaft und die Inhaftierung in inoffiziellen Haftanstalten zu beenden" (EP 19.5.2021).

Frauen

[…]

Kinder und Minderjährige

[…]

Angehörige sexueller Minderheiten (LGBTIQ+)

[…]

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Die Covid-19-Pandemie hat die Situation in den Gefängnissen verschärft, da die Überbelegung es schwierig macht, die Infektionen unter den auf engem Raum lebenden Gefangenen zu kontrollieren. Nach Angaben der türkischen Generaldirektion für Gefängnisse und Haftanstalten haben 55 von 372 Gefängnissen Covid-19-Fälle gemeldet (OMCT 2022).

Im Jahr 2021 starben mindestens 175 Gefangene an den Folgen von COVID-19. Aus den eingelangten Ansuchen schloss die Menschenrechtsvereinigung İHD, dass die Haftbedingungen für die Pandemie nicht geeignet sind und keine hygienischen und gesunden Bedingungen für die Gefangenen geschaffen wurden. Darüber hinaus führten die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie zu einer Entrechtung der Inhaftierten. Regelmäßige Untersuchungen und Behandlungen kranker Gefangener, einschließlich solcher in kritischem Zustand, wurden unterbrochen. Gefangene, die in regelmäßigen Abständen einen Arzt aufsuchen oder regelmäßig Medikamente einnehmen müssten, stehen vor ernsthaften Problemen (İHD 6.2022, Sitzung 27). Erschwerend komme laut Menschenrechtsverteidigern hinzu, dass wegen der Pandemie keine externen Kontrollen, etwa des Wachpersonals, in den Gefängnissen durchgeführt werden können (DW 17.3.2021).

Die türkische NGO CİSST verzeichnete seit Beginn der COVID-19-Pandemie Beschwerden aus 179 Haftanstalten unterschiedlichen Typus' (Stand: Ende November 2021). Die engen Verhältnisse, auch infolge der Überbelegung, sowohl in den Zellen als auch in den Speisesälen, stellen ein grundlegendes Problem hinsichtlich der COVID-19-Pandemie dar. Was die Hygienemaßnahmen anlangt, so wurden zu Beginn der Epidemie die Gefängnisse regelmäßig desinfiziert. Die diesbezügliche Frequenz hat jedoch abgenommen. Es kam zu etlichen Klagen über schmutzige Bettwäsche, Toiletten und Trinkwasser. In einigen Gefängnissen kann auch infolge der Überbelegung keine Frischluft zirkulieren. In einigen Gefängnissen führen die Gefängnisbeamten vermehrt Leibesvisitationen und Inspektionen durch, ohne die Regeln des Social Distancing einzuhalten bzw. ohne Masken zu tragen. Während der Zelleninspektionen werden die Gefangenen nicht mit Masken ausgestattet. Seifen, Bleich- und Desinfektionsmittel werden nur in einigen Gefängnissen kostenlos verteilt. Obwohl einige Gefangene glaubten, die Symptome von COVID-19 zu haben, wurden ihre Bitten, getestet zu werden, nicht erfüllt. Die Minimierung der Anzahl der Treffen mit den Familien hat die Isolationsbedingungen für die Gefangenen, die allein untergebracht sind, noch verschärft (CİSST 30.11.2021).

Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen profitierten mit Stand Juli 2020 von dieser neuen Bestimmung. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020, Sitzung 32; vergleiche DFAT 10.9.2020, ÖB 30.11.2021, Sitzung 11).

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Todesstrafe

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d. h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 12).

Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vergleiche FIDH 13.10.2020). Und Ende Juni 2022 meinte der Justizminister, dass die Türkei die Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur Abschaffung der Todesstrafe überdenken würde, nachdem Präsident Erdoğan die Todesstrafe im Zusammenhang mit absichtlich gelegten Waldbränden ins Spiel brachte (Reuters 25.6.2022).

Quellen:

-             Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkish-parliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/, Zugriff 23.2.2022

-             EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 23.2.2022

-             FIDH - International Federation for Human Rights 813.10.2020): Death Penalty Cannot be Reinstated in Turkey, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/turkey/death-penalty-cannot-be-reinstated-in-turkey, Zugriff 3.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022

-             OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper 2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf, Zugriff 23.2.2022

-             Reuters (25.6.2022): Turkey re-evaluates death penalty after Erdogan's wildfires comment, https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-wildfire-under-control-after-4500-hectares-scorched-government-2022-06-25/, Zugriff 10.8.2022

Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 2.6.2022), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23; vergleiche BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).

Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 2.6.2022; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 23f; vergleiche DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgruppen können sich ebenfalls, wenn sie die verwaltungsrechtlichen Vorgaben erfüllen, als Stiftung oder als Verein organisieren (AA 28.7.2022, Sitzung 11).

Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 2.6.2022). Formal seit den Zwanziger-Jahren verboten, als etwa 1925 alle Derwischhäuser geschlossen wurden, organisieren sich die Anhänger des Sufismus in Vereinen und geben ihr Wissen legal, beispielsweise an Universitäten, weiter. An der staatlichen Universität Istanbul etwa besteht ein eigener Lehrstuhl samt Master-Studienlehrgang für Sufismus (DF 19.2.2018).

In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, Sitzung 10). Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit schließt das Recht ein, die eigene Religion oder Weltanschauung zu verbreiten. Aktivitäten, die darauf abzielen, die eigene Religion zu verbreiten, werden allerdings oft mit Misstrauen betrachtet. Sie werden schnell als "missionarische Aktivitäten" bezeichnet und fallen als solche nicht in den Geltungsbereich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit (NHC-FBI 19.4.2022, Sitzung 37).

Blasphemie ist nach dem Strafgesetzbuch verboten, das die "Erregung von Hass und Feindseligkeit" unter Strafe stellt, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschädigung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 2.6.2022). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter von Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).

Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 2.6.2022). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99 % der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 78 % davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2 % der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31 % der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 6 % der Bevölkerung ausmachen. 4 % der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 2.6.2022; vergleiche BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 12.000-16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 2.6.2022).

Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). 3 % bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1 % - und 2 % als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vergleiche USDOS 2.6.2022). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55 % auf 51 %, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99 % steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60 % als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).

Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u. a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, Sitzung 39).

Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, Sitzung 24). Hierzu stellte das Europäische Parlament im Juni 2022 "mit Besorgnis fest, dass noch immer Hetze und Hassverbrechen gegen religiöse Minderheiten, hauptsächlich Aleviten, Christen und Juden, gemeldet werden und dass die einschlägigen Ermittlungen ergebnislos bleiben" (EP 7.6.2022, Sitzung 13, Pt. 19).

Im Jahr 2021 waren die Bedingungen für die Religionsfreiheit in der Türkei nach wie vor schlecht, ohne dass sich die Situation im Vergleich zum Vorjahr verbessert hätte. Viele Religionsgemeinschaften sahen sich weiterhin mit bürokratischen Hindernissen konfrontiert, die die Ausübung ihrer Religion verhinderten oder ernsthaft einschränkten. Insbesondere weigerte sich die Regierung weiterhin, religiösen Gruppen die Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Ebenso unternahm die Regierung keine Schritte zur Wiedereröffnung der Theologischen Schule von Halki (Chalki-Seminar), einem Seminar des Ökumenischen Patriarchats der Ostorthodoxen Kirche. Durch die Nachlässigkeit der Regierung gegenüber Vandalismus und sogenannte "Schatzsucher" wurden religiöse Stätten ernsthaft beschädigt oder zerstört (USCIRF 4.2021, Sitzung 62f.).

Es kommt immer wieder zu Hassverbrechen, inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (BMZ 10.2020), die sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiöse/spirituelle Führer und Mitglieder richten, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, Sitzung 37; vergleiche EC 19.10.2021, Sitzung 40).

Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an (USDOS 12.4.2022, Sitzung 79), wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USCIRF 12.2021, Sitzung 1, 4). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, Sitzung 68).

Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht, wobei sich die Regierung auch mit Ende 2021 weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 2.6.2022). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 2.6.2022).

Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte. Zwar hatte das türkische Erstgericht unter Berufung auf innerstaatliches und internationales Recht bereits vor 13 Jahren zugunsten der klagenden, alevitischen Eltern entschieden, doch hob der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] das Urteil aufgrund der Berufung des Bildungsministeriums wieder auf. Schließlich landete der Fall 2014 auf dem Schreibtisch des Verfassungsgerichts (AM 12.4.2022; vergleiche Bianet 11.4.2022).

Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vergleiche AA 28.7.2022, Sitzung 11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 26; vergleiche BS 23.2.2022, Sitzung 27). Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 26).

Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 28.7.2022, Sitzung 11; vergleiche BMZ 10.2020) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 28.7.2022, Sitzung 11).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022

-             AM – Al Monitor (12.4.2022): Turkey’s top court rules compulsory religion courses violate rights, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkeys-top-court-rules-compulsory-religion-courses-violate-rights, Zugriff 19.4.2022

-             AM – Al Monitor (9.1.2019): Turks losing trust in religion under AKP, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/01/turkey-becoming-less-religious-under-akp.html, Zugriff 1.3.2022

-             BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2410402/9e394a9928461b6c4ac0d4368b7a26af/201028-zweiter-bericht-der-bundesregierung-zur-weltweiten-lage-der-religionsfreiheit-data.pdf, Zugriff 3.5.2022

-             Bianet (11.4.2022): Compulsory religion class violates ECHR, Constitutional Court rules, https://bianet.org/english/law/260286-turkey-s-compulsory-religion-class-violates-echr-constitutional-court-rules, Zugriff 19.4.2022

-             BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022

-             DF - Deutschlandfunk (19.2.2018): Mystik in der Türkei - Eine Frau leitet einen Sufi-Orden, https://www.deutschlandfunk.de/mystik-in-der-tuerkei-eine-frau-leitet-einen-sufi-orden-100.html, Zugriff 11.5.2022

-             DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 1.3.2022

-             DW – Deutsche Welle (9.1.2019): Zahl der Atheisten in Erdogans Türkei steigt, https://www.dw.com/de/zahl-der-atheisten-in-erdogans-t%C3%BCrkei-steigt/a-46992921, Zugriff 1.3.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 1.3.2022

-             EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 1.3.2022

-             EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf, Zugriff 29.6.2022

-             FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022, Zugriff 1.3.2022

-             NHC-FBI - Norwegian Helsinki Committee’s Freedom of Belief Initiative [Yıldırım, Mine] (19.4.2022): An Appeal to Move Forward from Aspirations to Actions - Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey, https://inancozgurlugugirisimi.org/wp-content/uploads/2022/04/iog-monitoring-report-on-forb-2022-en.pdf, 9.5.2022

-             NHC – Norwegian Helsinki Committee (11.9.2020): Pursuing Rights and Equality: Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey, https://www.nhc.no/content/uploads/2020/09/Report_Turkey_ENG_web.pdf, Zugriff 1.3.2022

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 1.3.2022

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 1.3.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (4.2022): Annual Report 2022, https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2022-04/2022%20USCIRF%20Annual%20Report_1.pdf, Zugriff 9.5.2022

-             USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (12.2021): Update: Turkey; Religious Freedom in Turkey in 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069569/2021+Turkey+Country+Update.pdf, Zugriff 27.4.2022

-             USDOS – US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom: Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2074011.html, Zugriff 13.6.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 27.4.2022

-             USDOS – US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2051585.html, Zugriff 1.3.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 1.3.2022

Ethnische Minderheiten

Letzte Änderung: 21.09.2022

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei, primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Apostolische und Griechisch-Orthodoxen Christen sowie der Juden. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 12.4.2022, Sitzung 73).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber [ohne Flüchtlinge] (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren (rund 50.000) und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 28.7.2022, Sitzung 10). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und ein kleinerer Teil hiervon (3.000) im Südosten (MRGI 6.2018b).

Trotz der Tatsache, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Bürgerrechte haben und obwohl jegliche Diskriminierung aufgrund kultureller, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit geächtet ist, herrschen weitverbreitete negative Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen (BS 23.2.2022, Sitzung 7). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahin gehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Im Juni 2022 verurteilte das Europäische Parlament "die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten, wozu auch das Verbot der gemäß der Verfassung der Türkei nicht als "Muttersprache" eingestuften Sprachen von Gruppen wie der kurdischen Gemeinschaft in der Bildung und in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zählt" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 30).

Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 73f.).

Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem (EC 19.10.2021, Sitzung 40). Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020, Sitzung 40). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).

Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 2.2022, D2; vergleiche USCIRF 12.2021, Sitzung 4). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Das armenische Patriarchat hat anonyme Drohungen rund um den Tag des armenischen Gedenkens erhalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 75).

Die Regierung hat die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Gesetzliche Beschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in Grund- und weiterführenden Schulen blieben in Kraft. Im April 2021 erklärte der Bildungsminister, dass türkischen Bürgern an keiner Bildungseinrichtung eine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache unterrichtet werden darf. An den staatlichen Schulen werden fakultative Kurse in Kurdisch angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Im März 2021 gab das Ministerium Quoten für die Einstellung von Lehrkräften bekannt, jedoch wurden nur drei Lehrkräfte für kurdische Wahlfächer in der gesamten Türkei zugewiesen. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur haben sich weiterhin negativ auf Kunst und Kultur der Minderheiten ausgewirkt, die bereits durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt wurden (EC 19.10.2021, Sitzung 41).

Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 30.11.2021; Sitzung 28).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022

-             bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12, Zugriff 25.2.2022

-             BS – Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): BTI 2022 Country Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069612/country_report_2022_TUR.pdf, Zugriff 21.3.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 25.2.2022

-             EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 25.2.2022

-             EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf, Zugriff 29.6.2022

-             FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022, Zugriff 28.2.2022

-             HDF – Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and Discriminatory Discourse in Media 2019 Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speech-and-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf, Zugriff 25.2.2022

-             MRGI – Minority Rights Group International (6.2018b): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/, Zugriff 25.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             USCIRF – US Commission on International Religious Freedom: Country [USA] (12.2021): Update: Turkey; Religious Freedom in Turkey in 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069569/2021+Turkey+Country+Update.pdf, Zugriff 27.4.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 27.4.2022

KURDEN

Letzte Änderung: 21.09.2022

Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, Sitzung 20).

Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 27). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).

Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. Die Behörden verhängten Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Gebieten und ordneten in einigen Gebieten "besondere Sicherheitszonen" an, um Operationen zur Bekämpfung der PKK zu erleichtern, wodurch der Zugang für Besucher und in einigen Fällen sogar für Einwohner eingeschränkt wurde. Teile der Provinz Hakkari und ländliche Teile der Provinz Tunceli blieben die meiste Zeit des Jahres 2021 "besondere Sicherheitszonen" (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26, 73). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 19.10.2021, Sitzung 4). [Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage" und Unterkapitel "Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)"]

Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 7.6.2022 "über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte, der Meinungsfreiheit und der politischen Teilhabe; [und war] besonders besorgt über zahlreiche Berichte darüber, dass Strafverfolgungsbeamte, als Reaktion auf mutmaßliche und vermeintliche Sicherheitsbedrohungen im Südosten der Türkei, Häftlinge foltern und misshandeln; [und] verurteilt[e], dass im Südosten der Türkei prominente zivilgesellschaftliche Akteure und Oppositionelle in Polizeigewahrsam genommen wurden" (EP 7.6.2022, Sitzung 18, Pt. 30). Im Jahr davor zeigte sich das EP zudem besorgt "über die Einschränkungen der Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, sowie über den anhaltenden Druck auf kurdische Medien, Kultur- und Sprachinstitutionen und Ausdrucksformen im ganzen Land, der eine weitere Beschneidung der kulturellen Rechte zur Folge hat", und, "dass diskriminierende Hetze und Drohungen gegen Bürger kurdischer Herkunft nach wie vor ein ernstes Problem ist" (EP 10.5.2021, Sitzung 16f, Pt. 44). Laut EP ist insbesondere die anhaltende Benachteiligung kurdischer Frauen besorgniserregend, die zusätzlich durch Vorurteile aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Identität verstärkt wird, wodurch sie in der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Rechte noch stärker eingeschränkt werden (EP 10.5.2021, Sitzung 17, Pt. 44).

Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 73) und die meisten blieben es auch (EC 19.10.2021, Sitzung 16). Im April 2021 hob das Verfassungsgericht jedoch eine Bestimmung des Notstandsdekrets auf, das die Grundlage für die Schließung von Medien mit der Begründung bildete, dass letztere eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit" darstellten (2016). Das Verfassungsgericht hob auch eine Bestimmung auf, die den Weg für die Beschlagnahmung des Eigentums der geschlossenen Medien ebnete (EC 19.10.2021, Sitzung 16; vergleiche CCRT 8.4.2021)

Die sehr weit gefasste Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus und die zunehmenden Einschränkungen der Rechte von Journalisten, politischen Gegnern, Anwaltskammern und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der kurdischen Frage befassen, geben laut Europäischer Kommission wiederholt Anlass zur Sorge (EC 19.10.2021, Sitzung 16). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). So wurden beispielsweise am 16.6.2022 16 kurdischen Journalistinnen und Journalisten, die eine Woche zuvor in Diyarbakır festgenommen worden waren, nach Gerichtsbeschluss in ein Gefängnis gebracht, vier weitere wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Medienschaffenden wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der verbotenen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) [Dachorganisation der PKK] sowie Terrorpropaganda verhaftet. Ihnen wird vorgehalten, Sendungen für kurdische Fernsehsender im Ausland produziert sowie Interviews mit der KCK-Führung genutzt zu haben, um Anweisungen von diesen zu verbreiten (BAMF 20.6.2022, Sitzung 11; vergleiche VOA 11.6.2022). Im Gegensatz hierzu entschied das Verfassungsgericht im Juli 2021, dass die Schließung der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem per Notstandsdekret im Zuge des Putsches vom Sommer 2016 das verfassungsmäßige Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzte. Ein türkisches Gericht hatte am 16.8.2016 die Schließung der Tageszeitung mit der Begründung angeordnet, dass diese eine Propagandaquelle der PKK sei (Ahval 4.7.2021). Kurdisch-sprachige Medien sind seit Ende des Friedensprozesses 2015 bzw. nach dem Putschversuch 2016 vermehrt staatlichem Druck ausgesetzt. Zahlreiche kurdischsprachige Medien wurden verboten (AA 28.7.2022, Sitzung 10).

Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik und Proteste gegen die Ernennung von Treuhändern (anstelle gewählter kurdischer Bürgermeister) werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 19.10.2021, Sitzung 36f). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit Langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 28.7.2022, Sitzung 9). Festnahmen von kurdischen Aktivisten und Aktivistinnen geschehen regelmäßig, so auch 2022, anlässlich der Demonstrationen bzw. Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag (WKI 22.3.2022), zum kurdischen Neujahrsfest Newroz (Rudaw 22.3.2022) und am 1. Mai (WKI 3.5.2022).

Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, Sitzung 21).

Übergriffe

Während beispielsweise das niederländische Außenministerium davon spricht, dass vereinzelte gewalttätige Übergriffe mit einer anti-kurdischen Dimension ohne politischen Kontext immer wieder vorkommen (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 47f), veröffentlichten 15 Rechtsanwaltskammern im Juli 2021 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie die rassistischen Zwischenfälle gegen Kurden verurteilten und eine dringende und effektive Untersuchung der Vorfälle forderten. Solche Fälle würden zunehmen und seien keinesfalls isolierte Fälle, sondern würden durch die Rhetorik der Politiker angefeuert (ÖB 30.11.2021, Sitzung 27; vergleiche Bianet 22.7.2021).

Beispiele: Im Mai 2020 wurde ein zwanzigjähriger Kurde in einem Park in Ankara erstochen, vermeintlich weil er kurdische Musik spielte (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 47f.). Anfang September 2020 wurde eine Gruppe von 16 kurdisch-stämmigen Saisonarbeitern aus Mardin bei der Haselnussernte gefilmt, wie sie von acht Männern tätlich angegriffen wurden (France24 15.9.2021; vergleiche NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 48). Entgegen den Betroffenen haben die türkischen Behörden einen ethnischen Kontext der Vorfälle bestritten (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 47f.; France24 15.9.2021). Regierungskritiker verzeichneten im Juli 2021 innerhalb von zwei Wochen vier Übergriffe auf kurdische Familien und Arbeiter, inklusive eines Toten bei einem Vorfall in Konya (Duvar 22.7.2021). So wurden laut der HDP-Abgeordneten, Ayşe Sürücü, eine Gruppe kurdischer Landarbeiter in der Provinz Afyonkarahisar von einem nationalistischen Mob physisch angegriffen, weil sie kurdisch sprachen. Sieben Personen, darunter zwei Frauen, mussten in Folge ins Krankenhaus (HDP 21.7.2021; vergleiche TP 20.7.2021). Im September wurde das Haus von kurdischen Landarbeitern in Düzce von einem Mob umstellt, der ein Fenster einschlug und die Kurden aufforderte, zu gehen, da hier keine Kurden geduldet seien. Nach Angaben der Opfer stellte sich die Polizei auf die Seite der Angreifer und schloss den Fall ab (WKI 28.9.2021). Im Februar 2022 brachte die HDP den Vorfall einer vermeintlich rassistischen Attacke einer Gruppe von 30 Personen auf drei kurdische Studenten auf dem Campus der Akdeniz-Universität in der Provinz Antalya auf die Tagesordnung des Parlaments (Duvar 23.2.2022).

Verwendung der kurdischen Sprache

Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18 % der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch (Kurmanci und Zazaki). Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte. Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure und die willkürliche Zensur wirkten sich jedoch weiterhin negativ auf Kunst und Kultur aus. Frühere Bemühungen der entmachteten HDP-Gemeinden, die Schaffung von Sprach- und Kultureinrichtungen in diesen Provinzen zu fördern, wurden weiter unterminiert (EC 19.10.2021; Sitzung 41). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an Kurdisch-Lehrern (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28) - So wurden 2019 lediglich 59 Kurdisch-Lehrer an staatliche Schulen eingestellt (Bianet 21.2.2022) - sowie deren Verteilung, oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28). Außerdem können Schüler erst ab der fünften bis einschließlich der achten Klasse einen Kurdischkurs wählen, der zwei Stunden pro Woche umfasst (Bianet 21.2.2022). Privater Unterricht in kurdischer Sprache ist auf dem Papier erlaubt. In der Praxis sind jedoch die meisten, wenn nicht alle privaten Bildungseinrichtungen, die Unterricht in kurdischer Sprache anbieten, auf Anordnung der türkischen Behörden geschlossen (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 46). Dennoch startete die HDP 2021 eine neue Kampagne zur Förderung des Erlernens der kurdischen Sprache (AM 9.11.2021). Im Schuljahr 2021-2022 haben 20.265 Schülerinnen und Schüler einen kurdischen Wahlpflichtkurs gewählt, teilte das Bildungsministerium in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Im Rahmen des Kurses "Lebendige Sprachen und Dialekte" werden die Schüler in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zazaki unterrichtet (Bianet 21.2.2022). Auch angesichts der nahenden Wahlen 2023 wurde die Kampagne selbst von kurdischen und nicht-kurdischen Führungskräften der AKP und überraschenderweise vom Gouverneur von Diyarbakır, von dem man erwartet, dass er in solchen Fragen neutral bleibt, da er die staatliche Bürokratie vertritt, nachdrücklich unterstützt (SWP 19.4.2022).

Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 30.11.2021, Sitzung 28). Allerdings wurden mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 viele Vereine, private Theater, Kunstwerkstätten und ähnliche Einrichtungen, die im Bereich der kurdischen Kultur und Kunst tätig sind, geschlossen (İBV 7.2021, Sitzung 8.), bzw. wurden ihnen Restriktionen hinsichtlich der Verwendung des Kurdischen auferlegt (K24 10.4.2022). Beispiele von Konzertabsagen wegen geplanter Musikstücke in kurdischer Sprache sind ebenso belegt wie das behördliche Vorladen kurdischer Hochzeitssänger zum Verhör, weil sie angeblich "terroristische Lieder" sangen. - So wurde das Konzert von Pervin Chakar, eine weltweit bekannte, kurdische Sopranistin von der Universität in ihrer Heimatstadt Mardin abgesagt, weil die Sängerin ein Stück in kurdischer Sprache in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Aus dem gleichen Grund wurde ein Konzert der weltberühmten kurdischen Sängerin Aynur Dogan in der Stadt Derince in der Westtürkei im Mai 2022 von der dort regierenden AKP abgesagt. Und der kurdische Folksänger Mem Ararat konnte Ende Mai 2022 in Bursa nicht auftreten, nachdem das Büro des Gouverneurs sein Konzert mit der Begründung gestrichen hatte, es würde die "öffentliche Sicherheit" gefährden (AM 10.8.2022). Im Bezirk Mersin Akdeniz wurde im April 2022 ein Lehrer von der Schule verwiesen, weil er mit seinen Schülern Kurdisch und Arabisch sprach und sie ermutigte, sich für kurdische Wahlkurse anzumelden (K24 10.4.2022). Infolgedessen wurde er nicht nur strafversetzt, sondern auch von der Schulaufsichtsbehörde mit einer Geldbuße belangt (Duvar 30.4.2022).

Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 21; vergleiche TM 17.9.2020).

Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 28.7.2022, Sitzung 10). So kündigte die türkische Regierung 2013 im Rahmen einer Reihe von Reformen an, dass sie das Verbot des kurdischen Alphabets aufheben und kurdische Namen offiziell zulassen würde. Doch ist die Verwendung spezieller kurdischer Buchstaben (römisch zehn, Q, W, Î, Û, Ê) weiterhin nicht erlaubt, wodurch Kindern nicht der korrekte kurdische Name gegeben werden kann (Duvar 2.2.2022). Das Verfassungsgericht sah im diesbezüglichen Verbot durch ein lokales Gericht jedoch keine Verletzung der Rechte der Betroffenen (Duvar 25.4.2022).

Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, Sitzung 71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2021 immer wieder von Gewaltakten, mitunter mit Todesfolge, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 30.11.2021, Sitzung 27).

In einem politisierten Kontext kann die Verwendung des Kurdischen zu Schwierigkeiten führen. So wurde die ehemalige Abgeordnete der pro-kurdischen HDP, Leyla Güven, disziplinarisch bestraft, weil sie zusammen mit acht anderen Insassinnen im Elazığ-Frauengefängnis ein kurdisches Lied gesungen und einen traditionellen kurdischen Tanz aufgeführt hatte. Gegen die neun Insassinnen wurde wegen des kurdischen Liedes und Tanzes ein einmonatiges Verbot von Telefonaten und Familienbesuchen verhängt. Laut Güvens Tochter wurden die Insassinnen bestraft, weil sie in einer unverständlichen Sprache gesungen und getanzt hätten (Durvar 30.8.2021). Auch außerhalb von Haftanstalten kann das Singen kurdischer Lieder zu Problemen mit den Behörden führen. - Ende Jänner 2022 wurden vier junge Straßenmusiker in Istanbul von der Polizei wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet und laut Medienberichten in Polizeigewahrsam misshandelt. Meral Danış Beştaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, sang während einer Pressekonferenz im Parlament dasselbe Lied wie die Straßenmusiker aus Protest gegen das Verbot kurdischer Lieder durch die Polizei (TM 1.2.2022). Und im April nahm die Polizei in Van einen Bürger fest, nachdem sie ihn beim Singen auf Kurdisch ertappt hatte. Nachdem der Mann sich geweigert hatte, der Polizei seinen Personalausweis auszuhändigen, wurde er schwer geschlagen und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt (Duvar 26.4.2022).

Siehe auch das Unterkapitel: "Opposition" und bezüglich kurdischer Gefängnisinsassen das Kapitel: "Haftbedingungen"

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 23.8.2022

-             Ahval (4.7.2021): Pro-Kurdish newspaper closure violated constitutional rights, says Turkey's top court, https://ahvalnews.com/ozgur-gundem/pro-kurdish-newspaper-closure-violated-constitutional-rights-says-turkeys-top-court, Zugriff 25.2.2022

-             AI – Amnesty International: Weathering the storm (26.4.2019): Defending human rights in Turkey's climate of fear [EUR 44/8200/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1430738/1226_1524726749_eur4482002018english.PDF, Zugriff 25.2.2022

-             AM – Al Monitor (10.8.2022): Kurdish diva brokenhearted but resolute in face of language discrimination in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2022/08/kurdish-diva-brokenhearted-resolute-face-language-discrimination-turkey, Zugriff 23.8.2022

-             AM – Al Monitor (9.11.2021): Turkey’s Kurds revive fight for language rights, https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/turkeys-kurds-revive-fight-language-rights, Zugriff 20.4.2022

-             BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.6.2022): Briefing Notes, KW 25, Verhaftungen von Journalistinnen und Journalisten, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw25-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff 22.6.2022

-             Bianet (21.2.2022): More than 20,000 students choose Kurdish language classes in Turkey, https://bianet.org/english/education/258034-more-than-20-000-students-choose-kurdish-language-classes-in-turkey, Zugriff 20.4.2022

-             Bianet (22.7.2021): 15 bar associations condemn racist attacks against Kurds in Turkey, https://m.bianet.org/english/human-rights/247531-15-bar-associations-condemn-racist-attacks-against-kurds-in-turkey, Zugriff 8.2.2022

-             CCRT – The Constitutional Court of the Republic of Turkey [Türkei] (8.4.2021): Constitutionality Review - Press Release concerning the Decision Annulling the Provision Enabling the Closure of Media Outlets Associated with Organisations Found Established to Pose a Threat to the National Security, https://www.anayasa.gov.tr/en/news/constitutionality-review/press-release-concerning-the-decision-annulling-the-provision-enabling-the-closure-of-media-outlets-associated-with-organisations-found-established-to-pose-a-threat-to-the-national-security/, Zugriff 25.2.2022

-             DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 25.2.2022

-             Duvar (30.4.2022): Turkey's Education Ministry fines teacher for speaking Kurdish, Arabic with students, https://www.duvarenglish.com/turkeys-education-ministry-fines-teacher-for-speaking-kurdish-arabic-with-students-news-60833, Zugriff 23.8.2022

-             Duvar (26.4.2022): Turkish police detain citizen for singing in Kurdish in eastern Van, https://www.duvarenglish.com/turkish-police-detain-citizen-for-singing-in-kurdish-in-eastern-van-news-60825, Zugriff 23.8.2022

-             Duvar (25.4.2022): Turkish top court finds no violation in banning letter 'w' from Kurdish names, https://www.duvarenglish.com/turkish-top-court-finds-no-violation-in-banning-letter-w-from-kurdish-names-news-60823, Zugriff 26.4.2022

-             Duvar (23.2.2022): Racist mob attacks Kurdish students at university premises in southern Turkey, https://www.duvarenglish.com/racist-mob-attacks-kurdish-students-at-university-premises-in-southern-turkey-news-60447, Zugriff 25.2.2022

-             Duvar (2.2.2022): Ban on Kurdish alphabet leads to problems for people bearing Kurdish names in Turkey, https://www.duvarenglish.com/ban-on-kurdish-alphabet-leads-to-problems-for-people-bearing-kurdish-names-in-turkey-news-60279, Zugriff 25.2.2022

-             Duvar (30.8.2021): Imprisoned former HDP deputy, eight others given disciplinary penalty for Kurdish song, https://www.duvarenglish.com/imprisoned-former-hdp-deputy-eight-others-given-disciplinary-penalty-for-kurdish-song-news-58657, Zugriff 25.2.2022

-             Duvar (22.7.2021): Four racist attacks on Kurds reported in Turkey over two weeks, https://www.duvarenglish.com/four-racist-attacks-on-kurds-reported-in-turkey-over-two-weeks-news-58262, Zugriff 25.2.2022

-             EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 25.2.2022

-             EP – Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf, Zugriff 29.6.2022

-             EP – Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf, Zugriff 25.2.2022

-             France24 (15.9.2020): Attacks on Kurdish seasonal workers in Turkey highlight continued racism, https://observers.france24.com/en/20200915-attacks-kurdish-seasonal-workers-turkey-highlight-continued-racism, Zugriff 25.2.2022

-             HDP – Peoples' Democratic Party – Representation in Europe (21.7.2021): HDP blames government for racist attack on Kurdish seasonal workers, https://hdpeurope.eu/2021/07/hdp-blames-government-for-racist-attack-on-kurdish-seasonal-workers/, Zugriff 25.2.2022

-             HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022684.html, Zugriff 25.2.2022

-             İBV – İsmail Beşikçi Foundation (7.2021): Me Di Dil Da Heye Narek Ku Disojit Seqerê/ Monitoring Work on Rights Violations against Kurdish Artists specific to Musicians, https://www.ismailbesikcivakfi.org/uploads/files/KURDISHARTISTS_ENG.pdf.pdf, Zugriff 23.8.2022

-             K24 – Kurdistan 24 (10.4.2022): Teacher expelled for speaking Kurdish in Turkey, https://www.kurdistan24.net/en/story/27935-Teacher-expelled-for-speaking-Kurdish-in-Turkey, Zugriff 23.8.2022

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report

-             Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 25.2.2022

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 25.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             Rudaw (22.3.2022): Hundreds of Kurds arrested in Iran, Turkey during Newroz celebrations, https://www.rudaw.net/english/middleeast/22032022?fbclid=IwAR11yAYHEAYZ1t1EQTpCA0Y4FlJJfwUP93FS0j7znYHnYEUQrPGSdjQ6VYE, Zugriff 8.8.2022

-             SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik [Yeğen, Mesut] (19.4.2022): Erdoğan and the Turkish Opposition Revisit the Kurdish Question, https://www.cats-network.eu/publication/erdogan-and-the-turkish-opposition-revisit-the-kurdish-question, Zugriff 20.4.2022

-             TM – Turkish Minute (1.2.2022): Police ban on Kurdish music in İstanbul street sparks Kurdish music frenzy, https://www.turkishminute.com/2022/02/01/ice-ban-on-kurdish-music-in-istanbul-street-sparks-kurdish-music-frenzy/, Zugriff 10.8.2022

-             TM – Turkish Minute (17.9.2020): Turkey removes signs in Kurdish as racist attacks on Kurds surge, https://www.turkishminute.com/2020/09/17/turkey-removes-signs-in-kurdish-as-racist-attacks-on-kurds-surge/, Zugriff 25.2.2022

-             TP – Turkish Purge (20.7.2021): Nationalist mob attacks agricultural workers for speaking Kurdish in public, https://turkeypurge.com/nationalist-mob-attack-agricultural-workers-for-speaking-kurdish-in-public, Zugriff 25.2.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 26.4.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 25.2.2022

-             VOA – Voice of America (11.6.2022): Police Detain 20 Kurdish Journalists in Turkey Over Alleged Terror Links, https://www.voanews.com/a/police-detain-20-kurdish-journalists-in-turkey-over-alleged-terror-links-/6613073.html, Zugriff 11.8.2022

-             WKI – Washington Kurdish Institute (3.5.2022): Kurdistan’s Weekly Brief May 3, 2022, https://dckurd.org/2022/05/03/kurdistans-weekly-brief-may-3-2022/, Zugriff 8.8.2022

-             WKI - Washington Kurdish Institute (22.3.2022): Kurdistan’s Weekly Brief March 22, 2022,https://dckurd.org/2022/03/22/kurdistans-weekly-brief-march-22-2022/, Zugriff 8.8.2022

-             WKI – Washington Kurdish Institute (28.9.2021): Kurdistan’s Weekly Brief September 28, 2021 – Turkey, https://dckurd.org/2021/09/28/kurdistans-weekly-brief-september-28-2021/, Zugriff 25.2.2022

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 22.09.2022

Artikel 23, der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern (ÖB 30.11.2021, Sitzung 10; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 48). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, Sitzung 27f). Es ist zudem gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2021, Sitzung 10). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert werden. 55 befänden sich wegen "Terror"-Vorwürfen in Haft, gegen 49 weitere sei eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022).

Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, Sitzung 27f).

Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48f.).

Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vergleiche USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021, Sitzung 45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, Sitzung 45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).

Allerdings entschied das Verfassungsgericht Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).

Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 28.7.2022, Sitzung 23, 26).

Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2021, Sitzung 6; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 49).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022

-             Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256, Zugriff 8.2.2022

-             FR – Frankfurter Rundschau (11.6.2022): Gefangen in der Türkei: Mehr als 100 Deutsche dürfen nicht ausreisen, https://www.fr.de/politik/gefangen-erdogan-tuerkei-viele-deutsche-duerfen-nicht-zurueck-deutschland-pkk-91604026.html, Zugriff 11.8.2022

-             HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000, Zugriff 16.10.2019

-             MFA-NL – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 16.11.2021

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/, Zugriff 11.12.2020

-             TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/, Zugriff 16.10.2019

-             TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/, Zugriff 16.10.2019

-             TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/, Zugriff 16.10.2019

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 4.5.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 12.4.2021

-             USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 16.10.2019

Grundversorgung / Wirtschaft

Letzte Änderung: 22.09.2022

Das starke Wachstum von 11 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2021 dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 2,7 % abschwächen (GTAI 1.6.2022). Die Weltbank geht sogar, nicht zuletzt infolge des Ukraine-Krieges, nur noch von 1,4 % Wirtschaftswachstum im Jahr 2022 aus (WB 19.4.2022). Die türkische Regierung strebt mit einer Niedrigzinspolitik ein starkes, kurzfristiges Wachstum an, das mit hohen Finanz- und Wirtschaftsrisiken einhergeht. Die Teuerung ist horrend und die Landeswährung hat stark an Wert verloren (GTAI 1.6.2022). Seit einem Jahr hat sich in der Türkei eine Inflation von rund 80 % festgesetzt. Unabhängige Experten gehen sogar von mehr als 120 % aus. Vor allem Lebensmittelpreise steigen fast täglich. Die türkische Lira verliert stetig an Wert. Bekam man 2021 im Sommer noch für neun Lira einen Euro, muss man schon (Stand Sommer 2022) 18 Lira für einen Euro zahlen (Standard 25.7.2022). Die Auslandsschulden sowohl der Unternehmen als auch des Staates geben Anlass zur Sorge. Die Währungsreserven sind niedrig und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 1.6.2022).

Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch (GTAI 1.6.2022). Die Gesamtbeschäftigung und die Erwerbsquote haben im Jahr 2021 das Niveau von vor der Pandemie übertroffen. Die Erholung verlief jedoch ungleichmäßig, wobei die informellen Arbeitsverhältnisse noch immer zurückliegen. Andererseits war die diesbezügliche Erholung bei Frauen schneller als bei Männern. Zwischen Dezember 2020 und Dezember 2021 stieg die Erwerbsbeteiligung der Frauen um 14 % gegenüber 6 % bei den Männern - obwohl die Frauenerwerbsquote der Türkei immer noch die niedrigste unter den OECD-Ländern ist. Auch die Jugendbeschäftigung hat sich erholt, aber 20,1 % der Jugendlichen sind immer noch arbeitslos (WB 19.4.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73 % "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).

Laut einer in den türkischen Medien zitierten Studie des internationalen Meinungsforschungsinstituts IPSOS befanden sich im Juni 2022 90 % der Einwohner in einer Wirtschaftskrise bzw. kämpften darum, über die Runden zu kommen, da sich die Lebensmittel- und Treibstoffpreise in den letzten Monaten mehr als verdoppelt hatten. Alleinig 37 % gaben an, dass sie "sehr schwer" über die Runden kommen (TM 8.6.2022). Unter Berufung auf das Welternährungsprogramm (World Food Programme- WFP) der Vereinten Nationen berichteten Medien ebenfalls Anfang Juni 2022, dass 14,8 der 82,3 Millionen Einwohner der Türkei unter unzureichender Nahrungsmittelversorgung litten, wobei allein innerhalb der letzten drei Monate zusätzlich 410.000 Personen hinzukamen, welche hiervon betroffen waren (GCT 8.6.2022; vergleiche Duvar 7.6.2022, TM 7.6.2022).

Nachdem im Februar 2022 die Mehrwertsteuer für Güter des täglichen Bedarfs von 8 % auf 1 % gesenkt wurde, erfolgte Ende März die Reduktion der Mehrwertsteuer auf zahlreiche weitere Konsumprodukte von 18 % auf 8 %, um die Auswirkungen der Inflation, die offiziell im Februar 2022 54,4 % betrug, zu bekämpfen (DS 28.3.2022). Selbige Reduktion erfolgte Anfang März bereits auf die Stromrechnungen für Privathaushalte sowie bei den Kosten für Bewässerung in der Landwirtschaft (Duvar 1.3.2022).

Einer der größten Gewerkschaftsverbände, Türk-İş, veröffentlichte im März 2022 seine periodische Umfrage zur Hunger- und Armutsgrenze. Demnach sind die monatlichen Mindestausgaben einer vierköpfigen Familie für eine angemessene Ernährung (Hungergrenze) auf 4.928 Türkische Lira (ca. 300 Euro) gestiegen und lagen damit 675 Lira (ca. 41 Euro) über dem Mindestlohn. Die Ausgaben einer vierköpfigen Familie für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Transport, Bildung, Gesundheitsversorgung usw. (Armutsgrenze) beliefen sich auf 16.052 Lira (ca. 980 Euro), was fast dem Vierfachen des Mindestlohns entsprach, der mit Stand März 2022 bei 4.253 Lira (260 Euro) lag. Die Lebenshaltungskosten eines alleinstehenden Arbeitnehmers sind auf 6.473 Türkische Lira (ca. 395 Euro) gestiegen, was den Mindestlohn um 2.200 Lira (ca. 135 Euro) überschritt (Bianet 28.3.2022). Mit Wirkung vom 1.7.2022 wurde der Mindestlohn auf 5.500 Lira [rund 300 Euro] pro Monat festgelegt. Allerdings erhalten nach Angaben der Sozialversicherungsanstalt (SGK) mehr als 40 % aller Arbeitnehmer nur den Mindestlohn (DS 1.7.2022).

Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5 % aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Unter den OECD-Staaten hat die Türkei einen der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20 % des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13 %. Die Türkei hat u. a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).

In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1 % des BIP (ÖB 30.11.2021, Sitzung 39). In Zeiten wirtschaftlicher Not wird die Großfamilie zur wichtigsten Auffangstation. Gerade die Angehörigen der ärmeren Schichten, die zuletzt aus ihren Dörfern in die Großstädte zogen, reaktivieren nun ihre Beziehungen in ihren Herkunftsdörfern. In den dreimonatigen Sommerferien kehren sie in ihre Dörfer zurück, wo zumeist ein Teil der Familie eine kleine Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten hat (Standard 25.7.2022).

Quellen:

-             AM – Al Monitor (27.1.2021): COVID-19 pandemic expands poverty in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-pandemic-pandemic-expands-poverty-high-inflation.html, Zugriff 24.2.2022

-             Bianet (28.3.2022): Starvation line tops the minimum wage by 675 lira in Turkey, https://bianet.org/english/human-rights/259711-starvation-line-tops-the-minimum-wage-by-675-lira-in-turkey, Zugriff 29.3.2022

-             DS – Daily Sabah (1.7.2022): Turkey announces 30% raise in midyear minimum wage hike, https://www.dailysabah.com/business/economy/turkey-announces-30-raise-in-midyear-minimum-wage-hike, Zugriff 16.8.2022

-             DS - Daily Sabah (28.3.2022): Turkey slashes taxes on several products in bid to curb inflation, https://www.dailysabah.com/business/economy/turkey-slashes-taxes-on-several-products-in-bid-to-curb-inflation, Zugriff 25.5.2022

-             Duvar (7.6.2022): 14.8 million people in Turkey suffer from undernourishment: UN report, https://www.duvarenglish.com/148-million-people-in-turkey-suffer-from-undernourishment-un-report-news-60908, Zugriff 15.6.2022

-             Duvar (1.3.2022): Turkey cuts VAT on electricity to 8 percent to combat inflation, https://www.duvarenglish.com/turkey-cuts-vat-on-electricity-to-8-percent-to-combat-inflation-news-60486, Zugriff 25.5.2022

-             GCT – Greek City Times (8.6.2022): Malnutrition in Turkey explodes as Erdoğan escalates war rhetoric against Greece, https://greekcitytimes.com/2022/06/08/malnutrition-in-turkey-erdogan/, Zugriff 15.6.2022

-             GTAI – Germany Trade and Invest (1.6.2022): Die Risiken für die türkische Wirtschaft nehmen zu, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuerkische-wirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908, Zugriff 16.8.2022

-             KAS – Konrad-Adenauer-Stiftung (15.2.2022): Jugendstudie Türkei 2021, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/jugendstudie-tuerkei-2021-2, Zugriff 24.2.2022

-             OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0, Zugriff 24.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             Standard (25.7.2022): Türkei lernt, mit Inflationsraten jenseits der 100 Prozent zu leben, https://www.derstandard.at/story/2000137723848/tuerkei-lernt-mit-inflationsraten-jenseits-der-100-prozent-zu-leben?ref=loginwall_articleredirect, Zugriff 16.8.2022

-             TM – Turkish Minute (8.6.2022): 90 percent of Turks struggling to make ends meet amid economic crisis: poll, https://www.turkishminute.com/2022/06/08/rcent-of-turks-struggling-to-make-ends-meet-amid-economic-crisis-poll/, Zugriff 15.6.2022

-             TM – Turkish Minute (7.6.2022): 14.8 million Turks suffer from insufficient food consumption, UN data show, https://www.turkishminute.com/2022/06/07/illion-turks-suffer-from-insufficient-food-consumption-un-data-show/, Zugriff 15.6.2022

-             WB – World Bank (19.4.2022): The World Bank in Türkiye - Overview - Recent Economic Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3, Zugriff 12.9.2022

-             WKO – Wirtschaftskammer Österreich (10.5.2022): Die türkische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tuerkische-wirtschaft.html#heading_wirtschaftslage, Zugriff 24.2.2022

SOZIALBEIHILFEN / -VERSICHERUNG

Letzte Änderung: 22.09.2022

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 28.7.2022, Sitzung 21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 28.7.2022, Sitzung 21).

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z. B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50 % sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75 % des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 40).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2 %; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9 % und der Arbeitgeberanteil auf 11 %. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5 % und für die Arbeitgeber 7,5 % (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1 % vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2 %, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1 % des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vergleiche SSA 9.2018).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische, Zugriff 24.2.2022

-             SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system, Zugriff 24.2.2022

-             SSA – Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html, Zugriff 28.6.2022

ARBEITSLOSENUNTERSTÜTZUNG

Letzte Änderung: 22.09.2022

Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40 % des Durchschnittslohns der letzten vier Monate, maximal jedoch 80 % des Bruttomindestlohns. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (İŞKUR 2022; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 39). - Anfang Juli 2022 kündigte Präsident Erdoğan die Erhöhung des Mindestlohns um 30 % auf 5.550 Türkische Lira [rund 300 Euro] an (HDN 1.7.2022). - Auf das Arbeitslosengeld werden keine Steuern oder Abzüge erhoben, mit Ausnahme der Stempelsteuer (İŞKUR 2022). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 39, İŞKUR 2022).

Quellen:

-             HDN - Hürriyet Daily News (1.7.2022): Türkiye raises minimum wage by 30%, https://www.hurriyetdailynews.com/turkiye-raises-minimum-wage-by-25-175023, Zugriff 16.8.2022

-             IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             IOM – International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             İŞKUR - Türkiye İş Kurumu (2022): Unemployment Benefit, https://www.iskur.gov.tr/en/job-seeker/unemployment-insurance/unemployment-benefit/, Zugriff 16.8.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

PENSION

Letzte Änderung: 22.09.2022

Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.

Berechtigung:

Staatsbürger über 18 Jahre

Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)

Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.

Voraussetzungen:

Anmelden bei der Sozialversicherung SGK

Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden

Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr

Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 2021).

Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2 % für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90 %. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).

Obwohl die staatliche Mindestpension zu Beginn des Jahres 2022 von 1.500 auf 2.500 Lira gestiegen ist, blieb sie hinter dem Mindestlohn zurück, der im Dezember 2021 um 50 % auf 4.250 Lira angehoben wurde. Und dies angesichts einer offiziellen Inflationsrate von rund 40 %, die von unabhängigen Instituten auf über 80 % im Jahr 2021 geschätzt wurde. Etwa 1,3 Millionen der 13,4 Millionen türkischen Sozialhilfeempfänger erhalten den niedrigsten Satz der staatlichen Pension (AM 19.1.2022; vergleiche Bianet 4.1.2022). Die übrigen Pensionen wurden um 25-30 % erhöht (Bianet 4.1.2022). Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22 % des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 Sitzung 56f).

Quellen:

-             AM – Al Monitor (19.1.2022): Inflation crisis hits Turkey's retirees hardest of all, https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/inflation-crisis-hits-turkeys-retirees-hardest-all, Zugriff 9.2.2022

-             Bianet (4.1.2022): Turkey raises lowest pension by 66 percent, https://bianet.org/english/labor/255697-turkey-raises-lowest-pension-by-66-percent, Zugriff 9.2.2022

-             ILO – International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020–22: Social Protection at the Crossroads – in Pursuit of a Better Future, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_817572.pdf, Zugriff 9.2.2022

-             IOM – Internationale Organisation für Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             SSA – Social Security Administration [USA] (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html, Zugriff 28.6.2022

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 22.09.2022

Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc.. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Pensionisten ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10 % tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90 % der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei der Geburt um 70 %, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel. Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, beträgt der freiwillige Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3 % des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 40).

Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).

Erklärtes Ziel der Regierung ist es, das Gesundheitsversorgungswesen neu zu organisieren, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden (MPI-SR 3.2021). Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen (MPI-SR 20.6.2020). Mit Stand März waren 13 Stadtkrankenhäuser in Betrieb. Die Finanzierung ist in der Öffentlichkeit nach wie vor sehr umstritten, da sie auf öffentlich-privaten Partnerschaften beruht, es insbesondere an Transparenz fehlt und die Staatskasse durch dieses Vorhaben enorm belastet wird (MPI-SR 3.2021). Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020). Die neuen Stadtkrankenhäuser leisten mit ihren Kapazitäten einen großen Beitrag in der Corona-Krise. In einigen davon wurden sogenannte Corona-Zentren eingerichtet (MPI-SR 3.2021).

Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung sind dagegen verbesserungswürdig. In den großen Städten sind Universitätskrankenhäuser und große Spitäler nach dem neusten Stand eingerichtet. Mangelhaft bleibt das Angebot für die psychische Gesundheit (ÖB 30.11.2021, Sitzung 40). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 28.7.2022, Sitzung 21). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmend private Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 45 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser in Ankara und Bursa unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDS-Behandlung kann in 93 staatlichen Hospitälern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 28.7.2022, Sitzung 22).

Der Gesundheitssektor gehört zu den Branchen, welche am stärksten von der Abwanderung ins Ausland betroffen sind. Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes (TTB) ist die Zahl der abwandernden Mediziner besonders in den letzten vier Jahren explodiert. Während im Jahr 2012 insgesamt nur 59 von ihnen ins Ausland gingen, kehrten zwischen 2017 und 2021 fast 4.400 Ärzte dem Land den Rücken (FNS 31.3.2022a). TTB-Generalsekretär Vedat Bulut erklärte, dass im Jahr 2021 1.405 Ärzte ins Ausland gingen, während diese Zahl 2022 voraussichtlich auf 2.500 steigen wird. Etwa 55 % von ihnen sind Fachärzte (Duvar 23.5.2022). Eine der Hauptursachen für die Abwanderung, nebst der Wirtschaftskrise, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen und Ärzten. Die türkische Ärztekammer meldete im Jahr 2020 insgesamt fast 12.000 Fälle von Gewalt gegen medizinischem Fachpersonal, darunter auch mehrere Todesfälle (FNS 31.3.2022a).

Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises (IOM 2021). 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind (MPI-SR 3.2021, Sitzung 15).

Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2021).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022

-             Duvar (23.5.2022): Top Turkish medical group: Seven doctors going abroad every day, https://www.duvarenglish.com/no-monkeypox-cases-detected-in-turkey-health-ministry-news-60868, Zugriff 25.5.2022

-             FNS – Friedrich-Naumann-Stiftung (31.3.2022a): Brain-Drain: Die Abwanderung türkischer Ärztinnen und Ärzte, https://www.freiheit.org/de/tuerkei/brain-drain-die-abwanderung-turkischer-aerztinnen-und-aerzte?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=Newsletter+2021-12-08T17%3A03%3A25%2B01%3A00, Zugriff 6.4.2022

-             IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             MedCOI (18.2.2020): BMA 13335, Zugriff 24.2.2022 [Das Dokument liegt in der Staatendokumentation auf.]

-             MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (3.2021): Social Law Report No. 4/2021 - Sozialrechtliche Entwicklungen in der Türkei Berichtszeitraum: April 2020 – März 2021, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_4_2021__T%C3%BCrkei.pdf, Zugriff 9.2.2022

-             MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April 2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialrecht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C3%BCrkei__final.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016c): Universal Health Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_health_ins, Zugriff 12.9.2022 [Link ist z.Z. nicht verfügbar. Die Daten sind bei Bedarf bei der Staatendokumentation einsehbar.]

Behandlung nach Rückkehr

Letzte Änderung: 20.09.2022

Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, Sitzung 49).

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, Sitzung 27).

Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).

Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z. B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 28.7.2022, Sitzung 15). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, Sitzung 52; vergleiche AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vergleiche Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).

Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen "Präsidentenbeleidigung" oder der "Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation" riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).

Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, Sitzung 10).

Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, Sitzung 37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50; vergleiche ÖB 30.11.2021, Sitzung 38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraph 3, des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, Sitzung 42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50; vergleiche NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 71).

Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt (VB 1.3.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 22). Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d. h., wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).

Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:

Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com

Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org, http://bruecke-istanbul.com/

TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB 30.11.2021, Sitzung 39).

Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung

Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Artikel 4, des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Artikel 9, des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Artikel 16, sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50).

Gemäß Artikel 8, des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Artikel 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Artikel 9,) (ÖB 30.11.2021, Sitzung 38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Artikel 9, Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, Sitzung 50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Artikel 11, (1)). Artikel 13, des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, Sitzung 38).

Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d. h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Artikel 19, des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).

Quellen:

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.7.2022): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2078231/Deutschland_Ausw%C3%A4rtiges_Amt_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2022%29_28.07.2022.pdf, Zugriff am 29.8.2022

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.2.2022) [gültig seit 8.10.2021]: Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962, 24.2.2022

-             AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             EU – Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152, Zugriff 24.2.2022

-             Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1, Zugriff 24.2.2022 (Übersetzung mittels webtran.de)

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 24.2.2022

-             ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022

-             SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/, Zugriff 24.2.2022

-             TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa, Zugriff 24.2.2022

-             USDOS – United States Department of State [USA] (12.4.2022): Country Report on Human Rights Practices 2021 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/03/313615_TURKEY-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 4.5.2022

-             VB – Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (1.3.2022): Auskunft des VB, per Mail“

2. Beweiswürdigung:

2.1. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakten unter zentraler Zugrundelegung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, der im Gefolge seiner Einvernahmen sowie im Beschwerdeverfahren in Vorlage gebrachten Unterlagen sowie des Inhalts der gegen den angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerde und den im Rechtsmittelverfahren eingebrachten Stellungnahmen und den durch Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat, die dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht und ihm dazu die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt wurde. Dabei handelt es sich um folgende Berichte:

-             Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei vom 10.03.2022 (generiert aus dem COI-CMS) (https://www.ecoi.net/de/laender/tuerkei/coi-cms)

-             Berichte des British Home Office zur Lage in der Türkei (www.gov.uk)

o             Gesundheit:

             Medical and healthcare provision, April 2021

o             Politische und sonstige Situation:

             People’s Democratic Party (HDP), März 2020

             Kurds, Turkey, Februar 2020

             Kurdistan Wokers’s Party (PKK), Turkey, Februar 2020

             Turkey: fact finding report on Kurds, the HDP and the PKK, Oktober 2019

             Military Service, September 2018

             Background note, Turkey, Juni 2021

             Alevis, Turkey, August 2017

-             Länderinformationsblatt von IOM betreffend die Situation für freiwillige Rückkehrer, 2018 (https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf)

-             Conscience and Peace Tax International (CPTI) – Submission to the 132nd Session of the Human Rights Commitee – Turkey (Military service, conscientious objection and related issues), April 2021

Es wird darauf hingewiesen, dass das Bundesverwaltungsgericht dem gegenständlichen Verfahren die aktuellste Version (Version 6) der Länderinformationen der Staatendokumentation zur Türkei aus dem COI-CMS mit Stand 22.09.2022 zugrunde legt. Diesbezüglich wird festgehalten, dass sich in Bezug auf den Beschwerdeführer, seine konkrete Situation und die in den aktuellen Länderberichten dokumentierten allgemeinen Lage in der Türkei im Vergleich zu der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und der davor zur Stellungnahme übermittelten Version der Länderberichte (Version 5) dargestellten Lage keine relevanten Änderungen ergeben haben.

Neben dem Antrag auf Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde in der gegenständlichen Beschwerde zudem die Einholung eines fachärztlichen Gutachtens über den psychischen bzw. psychosomatischen Zustand des Beschwerdeführers beantragt. Dazu ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht entsprechend der Antragsbegründung in der Beschwerde sowohl eine medizinische Stellungnahme des psychiatrischen Dienstes der Justizanstalt, in welcher der Beschwerdeführer von März bis Juli 2017 (zu Unrecht) in Untersuchungshaft saß, als auch eine Stellungnahme des Amtsarztes des Polizeianhaltezentrums anlässlich der Anhaltung des Beschwerdeführers von 20.05.2019 auf 21.05.2019 einholte. Beide Stellungnahmen wurden dem Beschwerdeführer im Rahmen des Parteiengehörs übermittelt. Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer aktuell aber in der mündlichen Beschwerde angab, er fühle sich gesund, er besuche seit über zwei Jahren keine Therapie, konsumiere keine Suchtmittel und nehme keine Medikamente mehr ein und er weiters von der ihm vom Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingeräumten Möglichkeit, binnen 14 Tagen ein aktuelles Gutachten über seinen Gesundheits- oder psychischen Zustand vorzulegen, keinen Gebrauch machte, sah das Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Fall keine aktuelle Veranlassung, dem Antrag zu entsprechen und ein fachärztliches Gutachten einzuholen, zumal der diesbezügliche Antrag nach dem Wechsel der Rechtsvertretung zum 01.01.2021 weder in den nachfolgenden schriftlichen Stellungnahmen noch in der mündlichen Beschwerdeverhandlung wiederholt wurde.

2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt der vorgelegten Verfahrensakten der belangten Behörde und des Gerichtsaktes.

Die Feststellungen zur Person, der Herkunft, der Volksgruppen und Religionszugehörigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus den diesbezüglichen Angaben in den bislang geführten Verfahren.

Zur Feststellung betreffend die Identität und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers ist zudem festzuhalten, der Beschwerdeführer bereits vor dem Bundesamt einen türkischen Personalausweis (Nüfus) im Original vorgelegt hat und dieses die Identität des Beschwerdeführers geprüft hat. Eine Kopie des Personalausweises liegt zudem im Gerichtsakt ein.

Das Bundesverwaltungsgericht nahm weiters hinsichtlich des Beschwerdeführers Einsicht in das Fremdenregister, das Strafregister, das Zentrale Melderegister sowie die Grundversorgungs-, Sozialversicherungs- und Gewerberegisterdaten und holte die aktenkundigen Auszüge ein. Auch hinsichtlich der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers nahm das Bundesverwaltungsgericht Einsicht in das Zentrale Melderegister.

Aufgrund der diesbezüglich gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt und dem Bundesverwaltungsgericht sowie des Umstandes, dass sich keine anderen tragfähigen und konkreten Hinweise dahingehend ergeben haben, war trotz der Feststellung des Landesgerichtes für Strafsachen römisch 40 im Urteil vom römisch 40 2017, mit dem der Beschwerdeführer freigesprochen worden war, dass er für zwei Kinder sorgepflichtig sei vergleiche dazu AS 81) festzustellen, dass der Beschwerdeführer tatsächlich keine Kinder hat.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergeben sich aus den jeweils in Klammer angeführten Beweismitteln, insbesondere der Stellungnahme des psychiatrischen Dienstes der Justizanstalt vom 25.08.2019 (OZ 6), Befund und Gutachten des Amtsarztes des Polizeianhaltezentrums römisch 40 vom 23.08.2019 (OZ 3), der Stellungnahme der Suchthilfe vom 02.12.2019 (OZ 13) sowie den aktuell eigenen Angaben des Beschwerdeführers im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung, wonach er zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr suchtmittelabhängig ist, an keinen aktuellen Krankheiten oder sonstigen Leiden und Gebrechen leidet, keine Medikamente und Therapien in Anspruch nimmt und zum Entscheidungszeitpunkt weder eine akute depressive Verstimmung oder eine psychotische Störung vorliegt. Der Beschwerdeführer hat weiters erst im April 2022 ein Einzelunternehmen als Hausbesorger und Entrümpler gegründet. Es ergeben sich daher aktuell keine Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer nicht gesund und arbeitsfähig wäre und an einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium leiden würde, die in der Türkei nicht behandelbar wäre.

Das Beweisverfahren hat auch ergeben, dass der Beschwerdeführer in der Türkei weiterhin über ein familiäres Netzwerk verfügt, von welchem er unterstützt werden kann. Als türkischer Staatsbürger verfügt der Beschwerdeführer auch über einen Zugang zum Gesundheits- sowie Sozialsystem.

Im Zuge des gegenständlichen Verfahrens und den nachfolgenden Stellungnahmen wurde auch kein Vorbringen erstattet, aus welchem abzuleiten wäre, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich einer möglichen Infektion mit dem Corona-Virus einer Risikogruppe angehören würde oder warum sonst davon auszugehen wäre, dass konkret der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr mit einer Gesundheitsgefährdung zu rechnen hätten, zumal er selbst keinerlei, hinsichtlich einer COVID-19-Erkrankung relevante, Erkrankungen vorgebracht hat. Es kann nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführer durch eine Rückkehr in die Türkei einem höheren Risiko ausgesetzt wäre, an COVID-19 zu erkranken, als in Österreich.

Im Hinblick auf die zur Zeit vorherrschende Pandemie wegen des Corona-Virus und der daraus resultierenden Krankheit COVID-19 – statistische Daten über die Infektionslage in der Türkei sowie Berichte über die dort getroffenen Maßnahmen sind für die Allgemeinheit über das Netz leicht zugänglich – und der Situation in der Türkei kann aufgrund der Zahl der Infektionen sowie des typischen Krankheitsverlaufes und der persönlichen Situation des Beschwerdeführers (aus den Altersangaben und den Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Gesundheitszustand kann nicht geschlossen werden, dass dieser zur Gruppe der von COVID-19 besonders Gefährdeten gehört) und des Umstandes, dass der türkische Staat auf die Situation bisher angemessen reagierte, konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Artikel 2, bzw. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls kann dies nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, bzw. sich in Quarantäne zu begeben, abgeleitet werden, zumal derlei Verpflichtungen seit Juni 2022 aktuell nicht mehr bestehen.

Der Umstand, dass nicht festgestellt werden konnte, dass der Beschwerdeführer in Österreich bisher Hilfsarbeiten, ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten nachgegangen wäre oder abgesehen von den festgestellten Kursen eine Ausbildung oder weitere Kurse absolviert hat, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren diesbezüglich keinerlei Vorbringen erstattete und vielmehr angab, er habe sich bisher in Österreich was sein Sozialleben betrifft, relativ bedeckt gehalten. Es haben sich auch sonst keinerlei Hinweise dahingehend ergeben.

Die übrigen Feststellungen hinsichtlich den Sprachkenntnissen, Lebensumständen und familiären Bindungen des Beschwerdeführers ergeben sich aus den im Verwaltungs- bzw. Gerichtsakt einliegenden Beweismitteln und insbesondere den im gesamten Verfahren vom Beschwerdeführer gemachten Angaben, welche jeweils in Klammer zitiert und vom Beschwerdeführer zu keiner Zeit bestritten wurden. Auf die bei den Feststellungen jeweils angegebenen Beweismittel wird ausdrücklich verwiesen.

2.3. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und den geäußerten Rückkehrbefürchtungen:

2.3.1. Zu seinen Fluchtgründen befragt, brachte der Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung vor, er sei in seinem Heimatdorf Hirte gewesen. PKK-Kämpfer wären immer wieder auf seine Weide gekommen und hätten verlangt, dass der Beschwerdeführer sie mit Lebensmitteln unterstütze, was er auch getan habe. Etwa zehn Tage vor seiner Ausreise seien sechs bis sieben „Guerillas“ zu ihm gekommen. Einer der Männer sei verletzt gewesen und hätte die Gruppe den Verletzten beim Beschwerdeführer zurücklassen und ihn auf dem Rückweg wieder mitnehmen wollen. Der Beschwerdeführer habe nicht ablehnen können und hätten ihm die Kämpfer mit dem Umbringen gedroht, falls dem Verletzen etwas passieren würde. Ein oder zwei Stunden später habe der Beschwerdeführer mit dem Verletzten und seinen Schafen in das Dorf zurückkehren wollen, als die Gendarmerie gekommen sei. Er habe den Verletzten und die Schafe zurückgelassen und sei davongelaufen. Hinter ihm seien Schüsse gefallen, es sei ihm aber gelungen, durch ein Waldstück und einen Bach zu entkommen. Er sei zwei Tage zu Fuß bis ins Stadtzentrum von E. gegangen und habe sich dort sofort zu seiner Tante mütterlicherseits begeben. Dort habe er erfahren, dass die Gendarmen bzw. die Spezialeinheiten das Haus gestürmt und seinen Vater mitgenommen hätten. Zwei Tage später sei er nach Istanbul gefahren und habe nach einer Ausreisegelegenheit gesucht. Er werde in der Türkei von türkischen Soldaten gesucht. Nach einem Telefonat hab er erfahren, dass sein Vater nach einer Vernehmung wieder freigelassen worden sei. Im Falle einer Rückkehr werde er einerseits vom türkischen Staat gesucht, andererseits aber auch von der PKK, die ihn für die Festnahme des Verletzten verantwortlich machen werde. Konkret zur Ausreise befragt, gab der Beschwerdeführer an, er sei etwa zehn Tage vor seiner Abreise von seiner Heimatstadt nach Istanbul gefahren, wo er bei einem Bekannten übernachtet habe, der ihm dann einen Schlepper vermittelt habe. Der Schlepper habe den Beschwerdeführer dann am 14.11.2014 zu einem LKW-Parkplatz gebracht, wo er auf die Ladefläche eines türkischen Sattelschleppers gestiegen sei und sich im vorderen Teil hinter Kartons versteckt habe. Die Ladefläche habe er nicht verlassen, er habe seine Notdurft in einen Plastiksack verrichten müssen. Am 17.11.2014 habe der Fahrer den Beschwerdeführer in Österreich in einer ihm unbekannten Stadt aussteigen lassen und sei er mit dem Taxi in die Innenstadt von römisch 40 gefahren, habe in einem türkischen Lokal etwas gegessen und dort gefragt, wo er einen Asylantrag stellen könne. Er sei dann mit dem Taxi von römisch 40 nach römisch 40 gefahren und habe den gegenständlichen Antrag gestellt.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt am 21.05.2019 brachte er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen vor, er habe auf den Bergen als Hirte gelebt und so seinen Lebensunterhalt bestritten. Dann sei eine Gruppe PKK-Kämpfer gekommen, die auf dem Weg zu einer Operation in römisch 40 (nachfolgend: T.) gewesen seien. Es sei ein Mann mit schweren Beinverletzungen dabei gewesen, den die Gruppe unmöglich hätte mitnehmen können. Sie hätten den Beschwerdeführer dazu verpflichtet, sich um den Verletzten zu kümmern und in Aussicht gestellt, diesen drei Tage später wieder abzuholen. Weiters hätten sie ihm gedroht, ihn zu finden und zu bestrafen, wenn der Verletzte festgenommen werde. Schon zwei oder drei Stunden später seien türkische Soldaten gekommen. Der Beschwerdeführer habe diese schon von Weitem gesehen und es dem verletzten PKK-Kämpfer gesagt. Dieser habe sofort nach seinem Gewehr gegriffen, der Beschwerdeführer habe gesagt, er wolle keine Probleme und in den Wald gelaufen. Die Soldaten hätten ihn gesehen und auf ihn geschossen, obwohl er nicht wisse, wer konkret auf wen geschossen habe. Die Schafe und den PKK-Kämpfer habe er zurücklassen müssen. Die Eigentümer der Schafe hätten den Beschwerdeführer verraten und den türkischen Behörden seine ganzen Daten bekanntgegeben. Er fürchte sich vor den Türken und den Kurden gleichermaßen und könne sich auch in Österreich nicht an kurdische oder türkische Vereine wenden. Er gelte sowohl für den türkischen Staat als auch die Kurden als Verräter, weil er einen Kämpfer im Stich gelassen habe. Außerdem könne er nicht zurück in die Türkei, weil er den Wehrdienst seit fast 20 Jahren verweigere. Er selbst sei kein PKK-Mitglied. Von seinen Eltern habe er damals telefonische erfahren, dass die Polizei ihn überall suchen würde. Ob ein Haftbefehl bestehe, wisse er nicht, er vermute aber schon. In Istanbul lebe ein Onkel, der habe dem Beschwerdeführer den Schlepper organisiert. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei würde ihn die Polizei oder Gendarmerie entweder umbringen oder ihn jedenfalls foltern. Vor allem die Antiterroreinheit sei darauf spezialisiert. Menschen die keine Beziehungen hätten, würden gefoltert werden und dann einfach verschwinden. Zumindest würde er aber eine zwanzigjährige Haftstrafe erhalten. An Demonstrationen habe er weder in der Türkei noch in Österreich teilgenommen. Er fürchte sich vor den Kurden genauso wie vor dem türkischen Staat.

2.3.2. Beweiswürdigend führte das Bundesamt bezogen auf die vom Beschwerdeführer dargelegten Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen im angefochtenen Bescheid aus, dass es dem Beschwerdeführer nicht gelungen sei, die von ihm vorgebrachten Fluchtgründe glaubhaft und in sich schlüssig darzulegen.

Hinsichtlich des zu leistenden Militärdienstes sei die Aussage des Beschwerdeführers, diesen nicht leisten zu wollen, eine Wunschäußerung und könne nicht als asylrelevantes Vorbringen gewürdigt werden. Der Militärdienst stelle allgemein eine Bürgerpflicht dar, es sei denn, es bestünden besonders berücksichtigungswürdige Gründe diesen nicht zu versehen. Den Militärdienst einfach nicht leisten zu wollen, sei kein solcher Grund. Weder aus den Länderberichten noch dem Vorbringen des Beschwerdeführers sei fundiert zu entnehmen, dass die Sanktionen gegen Wehrdienstverweigerer aus Gründen, die in der GFK liegen würden, differieren oder, dass die Sanktionen grundsätzlich jeder Verhältnismäßigkeit entbehren würden. Aus den Länderberichten würden sich hinsichtlich der Ableistung des Wehrdienstes für Angehörige der kurdischen Volksgruppe keine systematischen Diskriminierungen ergeben, wenngleich es Hinweise auf eine gewisse Selbstmordrate unter allen Rekruten des türkischen Heeres geben würde und davon überproportional Angehörige der kurdischen Volksgruppe betroffen wären. Im Verhältnis zur Gesamtgröße des türkischen Heeres und der kleinen Anzahl von Betroffenen könne jedoch nicht abgeleitet werden, dass der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer diskriminierenden Behandlung oder gravierenden Übergriffen zu rechnen hätte. Auch vier der fünf Brüder des Beschwerdeführers hätten den Wehrdienst geleistet und bestehe kein Grund, warum gerade der Beschwerdeführer diesen nicht leisten könne. Auch habe der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Ausreise bereits zumindest 14 Jahre den Wehrdienst verweigert und diesbezüglich keine Probleme mit Behörden gehabt, abgesehen von der Verweigerung der Ausstellung eines neuen Reisepasses im Jahr 2010. Der Beschwerdeführer sei aber weder verhaftet noch eingezogen worden.

Eine Anhängerschaft des Beschwerdeführers zur PKK stehe nicht im Raum. Aus den Länderberichten würde sich darüber hinaus für Angehörige der kurdischen Ethnie keine systematische und derart schwerwiegende Diskriminierung ergeben, die von Amts wegen aufzugreifen wäre. Eine maßgebliche Eingriffsintensität wäre nicht gegeben, zumal Eltern und Geschwister nach wie vor im Heimatort leben würden.

Bezüglich des konkret vorgebrachten fluchtauslösenden Ereignisses seien zwischen Erstbefragung und asylrechtlicher Einvernahme Widersprüche aufgetreten, die berechtigte Zweifel an seinem Vorbringen aufkommen lassen würden. So habe der Beschwerdeführer etwa einmal vorgebracht, in Istanbul bei Bekannten und einmal bei seinem Onkel übernachtet zu haben. Einmal sei ein oder zwei Stunden nach dem Weggang der übrigen PKK Kämpfer die Gendarmerie gekommen und habe der verletzte PKK-Kämpfer den Beschwerdeführer und diese verraten. Das andere Mal wären zwei bis drei Stunden vergangen und es wären Soldaten gekommen, weil der Eigentümer der vom Beschwerdeführer gehüteten Schafe ihn verraten hätte. Die Angaben des Beschwerdeführers zur Aufenthaltsdauer in E. und zu einem Anruf bei seiner Familie würden nicht übereinstimmen. Da die gesamte Familie des Beschwerdeführers unbehelligt weiterhin in der Türkei lebe, sei die vom Beschwerdeführer vorgebrachte unterstellte PKK-Zugehörigkeit unglaubwürdig. Auch liege gegen den Beschwerdeführer kein Haftbefehl vor und habe er ein mögliches Strafverfahren gegen ihn – etwa durch einen Ausdruck aus dem römisch 40 – nicht nachweisen können.

2.3.3. Im Zuge der Beschwerde wurde im Wesentlichen vorgebracht, der Beschwerdeführer habe in der Türkei als Hirte gearbeitet und als solcher PKK-Kämpfer immer wieder mit Lebensmitteln unterstützt. Etwa zehn Tage vor der Ausreise des Beschwerdeführers aus der Türkei hätten die PKK-Kämpfer von ihm verlangt, auf einen verletzten Kämpfer aufzupassen. Wenige Stunden danach sei das Militär gekommen und habe der Beschwerdeführer keine andere Möglichkeit gesehen, als seine Schafe und den Verletzten zurückzulassen und zu fliehen. Der Beschwerdeführer befürchte daher Verfolgung aufgrund einer ihm zumindest unterstellten politischen Gesinnung. Die türkischen Behörden würden ihm unterstellen, die PKK zu unterstützen. Ferner verweigere der Beschwerdeführer seit fast 20 Jahren den Militärdienst. Er fürchte daher im Falle einer Rückkehr in die Türkei eine Freiheitsstrafe. In Zusammenschau mit der unterstellten Nähe zur PKK fürchte er somit staatliche Verfolgung. Nach Ansicht des Beschwerdeführers wären die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen mangelhaft und würden sich nur am Rande mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers befassen. Dazu wurden in weiterer Folge Berichte von USDOS aus dem Jahr 2017 sowie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom August 2016 und August 2015 zitiert. Zudem habe das Bundesamt in Hinblick auf den gesundheitlichen Zustand des Beschwerdeführers ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, obwohl ein solches indiziert gewesen wäre. So habe der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme am 21.05.2019 angegeben, dass er aufgrund seiner Drogensucht regelmäßig Medikamente einnehmen müsse und es ihm schlecht gehe. Hätte das Bundesamt nachgefragt, hätte der Beschwerdeführer erläutern können, dass er regelmäßig zur Suchthilfe gehe und dort seine Medikamente erhalten. Diese habe er auch im Polizeianhaltezentrum während seiner Festnahme erhalten. Es sei nicht geklärt, welche Auswirkungen die Medikamente auf die Einvernahmefähigkeit und Aussagefähigkeit des Beschwerdeführers gehabt hätten. Es sei zumindest denkbar, dass er dadurch beeinträchtigt gewesen sei, was seine teilweise widersprüchlichen Aussagen erklären könne. Es werde daher beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge beim Polizeianhaltezentrum Erfahrung bringen, welche Medikamente der Beschwerdeführer erhalten habe. Weiters sei vom Bundesamt nicht geklärt worden, an welchen psychologischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen der Beschwerdeführer leide, obwohl er mehrmals in der Einvernahme darauf hingewiesen habe. Es werde daher beantragt, ein fachärztliches Gutachten über den psychischen bzw. psychosomatischen Zustand des Beschwerdeführers einzuholen. Unter näheren Ausführungen wurde zudem vorgebracht, die Beweiswürdigung des Bundesamtes sei unschlüssig und basiere auf mangelhaften Sachverhaltsfeststellungen. Dem Beschwerdeführer drohe insgesamt wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden, wegen seiner (zumindest unterstellten) oppositionellen politischen Gesinnung sowie der Wehrdienstverweigerung in der Türkei von staatlicher Seite persönliche Verfolgung. Darüber hinaus drohe ihm auch seitens der PKK asylrelevante Verfolgung ohne staatlichen Schutz, da er den in seiner Obhut befindlichen PKK-Kämpfer im Stich gelassen habe. Zudem habe der Beschwerdeführer in Österreich ein schützenswertes Privatleben aufgebaut. Trotz seiner psychologischen Probleme habe er bereits eine Deutsch-Prüfung auf Niveau A2 positiv absolviert und sei bereits viereinhalb Jahre als Asylwerber in Österreich aufhältig.

Im Rahmen der schriftlichen Stellungnahme vom 02.05.2022 wurde zusammengefasst vorgebracht, dass unter Zitierung einzelner konkreter Passagen des übermittelten Länderinformationsblattes zur Türkei zum Stand 10.03.2022 in der Türkei für den Beschwerdeführer kein rechtsstaatliches Verfahren geben würde, um der vorgebrachten Unterstellung der oppositionellen Gesinnung bzw. den Anschuldigungen, der Beschwerdeführer hätte die PKK unterstützt oder würde diese weiterhin unterstützen, angemessen und unter Wahrung seiner grundlegenden Verfahrensgarantien entgegentreten zu können. Im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei drohe ihm eine Gefangennahme aufgrund Unterstellung einer politischen Nähe zur PKK und damit einhergehend die Verletzung seiner Menschenrechte durch Misshandlungen bzw. Folter in der Haft. Diesbezüglich werde auf die Länderberichte zu den Haftbedingungen und weiters auch auf zu den asylrelevanten Diskriminierungen gegen die kurdische Minderheit in der Türkei verwiesen. Auch würden die aktuellen Länderberichte festhalten, dass es nach wie vor zu einer erheblichen Anzahl an Übergriffen auf kurdische Wehrdienstpflichtige während der Ableistung des Wehrdienstes komme. Wehrdienstentzug werde mit Haftstrafen geahndet, ein Wehrersatzdienst sei nicht vorgesehen. Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, würden dem Innenministerium gemeldet werden und könnten festgenommen werden. Zusammengefasst würden die herangezogenen Berichte davon ausgehen, dass Angehörigen der kurdischen Volksgruppe, welchen Verbindungen zur verbotenen kurdischen PKK unterstellt würden, in Betrachtung der Umstände des Einzelfalles höchstwahrscheinlich asylrelevanter staatlicher Verfolgung bzw. Gefangenschaft und damit im Zusammenhang auch höchstwahrscheinlich unmenschliche Behandlung drohe. Ein rechtsstaatliches Verfahren zur Klärung der Frage, ob eine Person tatsächlich Verbindungen zur PKK aufweise bzw. diese unterstütze, sei in der Türkei nicht eingerichtet und auch nicht zugänglich. Angehörige der kurdischen Volksgruppe würden in der Türkei darüber hinaus in erheblicher Weise sozial diskriminiert werden.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt zusammengefasst vor, er sei 2014 mit seinen Tieren als Hirte auf einem Berg gewesen. Dann seien fünf bis sieben PKK-Kämpfer („Guerilla“) gekommen und hätten einen Verletzten dabeigehabt. Sie wollten den Verletzten beim Beschwerdeführer lassen, er hätte in verstecken und pflegen sollen. Einige Tage später würden sie ihn wieder abholen. Etwa zwei bis drei Stunden später sei die Gendarmerie gekommen. Er habe es bemerkt, dem Verletzten Bescheid gesagt und habe dieser dann sein Gewehr in die Hand genommen. Daraufhin sei der Beschwerdeführer aus Angst davongelaufen. Die Gendarmerie habe den flüchtenden Beschwerdeführer bemerkt. Die Distanz zwischen ihm und den Beamten habe etwa 200 bis 300 Meter betragen. Während er geflüchtet sei, habe er bemerkt, dass hinter ihm Schüsse gefallen seien, habe jedoch nicht gewusst, wer geschossen hat und sei ohne zurückzuschauen geflüchtet. Er sei zu Fuß ins Zentrum von E. zu seiner Tante geflüchtet. Das habe etwa ein oder zwei Tage gedauert. Dort habe er erfahren, dass die Gendarmerie nach ihm gesucht habe und bei seinen Eltern gewesen sei. Er habe sich ein etwa drei oder vier Tage bei seiner Tante versteckt und sei von dort aus mit dem Bus nach römisch 40 gefahren. Die Reise habe einen Tag gedauert. In römisch 40 habe er seine Eltern angerufen. Dabei habe erfahren, dass ein Vater festgenommen, inzwischen aber wieder freigelassen worden sei und dass man den Beschwerdeführer noch immer suche. Sein Onkel habe dem Beschwerdeführer die Nummer eines Schleppers gegeben, den er dann angerufen habe. Wo der Beschwerdeführer sich in römisch 40 aufgehalten habe, wisse er nicht mehr, er sei drei Tage dort geblieben in einer vom Schlepper organisierten Unterkunft gemeinsam mit anderen Flüchtenden und dann am dritten Tag schlepperunterstützt ausgereist. Der Schlepper sei ein Bekannter seines Onkels gewesen, deswegen habe er in der Erstbefragung angegeben, er habe bei einem Bekannten in römisch 40 übernachtet. In Österreich würden sich auch PKK-Gruppen aufhalten und auch Türken. Deswegen habe er die Einvernahmeprotokolle von niemandem übersetzen lassen, da die eine Seite ihn beschuldigen würde zur PKK zu gehören und die PKK würde behaupten, dass er ein Verräter sei. Es würde in Österreich auch kurdische Vereine geben, die ihn immer wieder einladen würden, aber er habe Angst. Nicht einmal seiner Freundin erzähle er etwas darüber, damit sie nicht aus Versehen etwas weitererzählen würde. Keine türkische Behörde würde wissen, dass er in Österreich sei. Er habe sich nie bei türkischen Vertretungsbehörden gemeldet. Er wisse nicht, ob er von der PKK nach wie vor verfolgt werden würde. Er hoffe, sie hätten ihn in Anbetracht der inzwischen verstrichenen Zeit von acht Jahren vergessen. Militärangehörige würden etwa alle zwei oder drei Monate bei seinen Eltern erscheinen und nach dem Beschwerdeführer fragen. Das wisse er von seiner Familie. Dann habe er den Kontakt abgebrochen. Ob das aktuell auch noch der Fall ist, wisse er nicht, es sei schon lange her, dass das Militär ihn wegen seiner Wehrdienstverweigerung gesucht habe. Behördliche Dokumente, Haftbefehle oder Bescheide habe er keine. Er habe auch nichts unternommen, um herauszufinden, ob das der Fall ist oder nicht. Auf die Frage der erkennenden Richterin, weshalb sich der Beschwerdeführer nun vor dem Wehrdienst fürchte, wo er inzwischen ein Alter habe, wo er nicht mehr wehrpflichtig sei, gab der Beschwerdeführer an, er habe vor dem Militärdienst überhaupt keine Angst. Letztlich werde er ihn so oder so leisten müssen. Er fürchte sich aber bei einer Rückkehr vom Militär als Terrorist eingestuft und behandelt zu werden. Es gebe keine Belege für die Behauptung, er werde als Deserteur gesucht. Auch einen Freikauf bei türkischen Behörden habe er nicht versucht. Er wisse nicht, was passieren werde, wenn er zurückkehrt. Wenn er wüsste, dass ihm nichts zustoße, dann würde er freiwillig zurückgehen. Er lebe in Österreich seit acht Jahren in Angst. Er sei unschuldig in Haft gewesen und psychologisch behandelt worden. Er werde nicht verfolgt, weil er ethnischer Kurde sei, sondern wegen des geschilderten Vorfalls. Auch sei sein jüngster Bruder im Zuge der Suche nach dem Beschwerdeführer von der Gendarmerie gefoltert worden. Dieser spreche nun nicht mehr mit dem Beschwerdeführer und habe ebenfalls die Türkei verlassen müssen. Die letzten Telefonate würden etwa zwei oder drei Jahre zurückliegen, hätten aber nach der Einvernahme vor dem Bundesamt im Mai 2019 stattgefunden.

In der schriftlichen Stellungnahme vom 23.05.2022 brachte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung zum in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgelegten Bericht über die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen zusammengefasst vor, dass durch die anhaltende Wehrdienstverweigerung der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt sei, im Falle einer Rückkehr militärgerichtlich inhaftiert zu werden. Die Haftbedingungen wären insbesondere für kurdisch-stämmige Türken sehr prekär und werde diesbezüglich von Menschenrechtsverletzungen berichtet. Selbst wenn der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nicht festgenommen werde, müsse er sich weiter versteckt aufhalten, was ihm nicht zugemutet werden könne. Dem Beschwerdeführer wäre daher zumindest der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

2.3.4. Zusammengefasst macht der Beschwerdeführer daher einerseits geltend, er hätte die Türkei verlassen, weil er auf einen Verletzten der PKK-Kämpfer hätte aufpassen sollen, dabei jedoch vom Militär fast erwischt worden sei und deswegen flüchten habe müssen. Nunmehr würde einerseits die PKK den Beschwerdeführer suchen, weil er einen Kämpfer im Stich gelassen habe, andererseits würde dem Beschwerdeführer vom türkischen Staat PKK-Unterstützung unterstellt und er deswegen strafrechtlich verfolgt werden. Weiters habe er bisher den Wehrdienst nicht geleistet und fürchte eine entsprechend unverhältnismäßige Strafe im Fall der Rückkehr.

2.3.4.1. Bevor auf das vorstehend skizzierte Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen ist, ist in Anbetracht der in der Beschwerde vorgetragenen Beanstandung des Ermittlungsverfahrens hinsichtlich des gesundheitlichen Zustandes des Beschwerdeführers festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht keine diesbezügliche Mangelhaftigkeit des vom Bundesamt geführten Verfahrens erkennen kann.

Die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt wurde in Anwesenheit eines geeigneten Dolmetschers sowie unter Beachtung der verfahrensrechtlichen Vorschriften durchgeführt. Der Beschwerdeführer wurde vor dem Bundesamt zu seinem aktuellen Gesundheitszustand befragt und gab er dabei an, dass er gesund sei. Er sei gerade beim Arzt gewesen und habe einen Zettel mitbekommen, wo die ihm verschriebenen Medikamente vermerkt seien, die er regelmäßig wegen seines Suchtgiftkonsums einnehmen müsse. Auf die Frage, ob er sich körperlich und geistig in der Lage fühle, der Einvernahme zu folgen, antwortete der Beschwerdeführer: „Ja“ vergleiche AS 39). Im Verlauf der weiteren Einvernahme vor dem Bundesamt machte der Beschwerdeführer genaue Angaben zu seinem Lebenslauf und seinen Familienangehörigen (vollständige Namen und das ungefähre Alter), die auch mit seinen Angaben im Zuge der Erstbefragung übereinstimmten vergleiche dazu etwa AS 1 und AS 5 zu den Familienangehörigen). Der Beschwerdeführer machte auch erstmals sein Vorbringen hinsichtlich der Verweigerung seines Wehrdienstes in der Einvernahme vor dem Bundesamt geltend.

Aus dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten amtsärztlichen Gutachten zum Zustand des Beschwerdeführers bei der Festnahme am römisch 40 2019 vom römisch 40 2019 vergleiche OZ 3), ergibt sich zudem, dass nicht bekannt ist, ob der Beschwerdeführer Medikamente zum Zeitpunkt der Einvernahme vor dem Bundesamt eingenommen hat. Auch über die Einnahme von Suchtmitteln in zeitlicher Nähe zur Einvernahme könne keine Aussage getroffen werden und habe sich der Beschwerdeführer bei der Untersuchung durch den Amtsarzt entzügig mit Nasenrinnen und Übelkeit gezeigt. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass dies auch zum Zeitpunkt der Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt am römisch 40 2019 noch der Fall gewesen ist.

Insgesamt sind daher aus der – dem Beschwerdeführer auch rückübersetzten – mängelfreien Niederschrift keine Hinweise auf Unregelmäßigkeiten ersichtlich. Insbesondere ergibt sich aus der Niederschrift nicht, dass das Bundesamt im Zuge der Einvernahme etwa mehrfach hätte nachfragen müssen, weil der Beschwerdeführer die Fragestellung offensichtlich nicht verstanden oder unpassende bzw. unzusammenhängende Antworten gegeben hätte; im Gegenteil, der BF sogar, wie oben erwähnt, sehr detaillierte Angaben getätigt, die mit früheren Angaben übereinstimmen und die er später auch nicht beanstandet hat. Entgegen den diesbezüglichen Vorhaltungen in der Beschwerde wurde zudem vom Bundesamt bezüglich der vom Beschwerdeführer eingangs der Vernehmung erwähnten Suchtmittelerkrankung sehr wohl nachgefragt vergleiche AS 51). Der Beschwerdeführer gab dabei sinngemäß an, er habe nicht gewusst, was Suchtmittel seien und erst während seines Aufenthaltes in der Justizanstalt während der Untersuchungshaft [von März bis Juli 2017, Anm.] habe man ihm das beigebracht. Es habe mit Tabletten begonnen und sei er jetzt süchtig. Er nehme die Tabletten regelmäßig und habe bisher keine professionelle Hilfe bezüglich seines Suchtproblems erhalten, weil er sich damit nicht auskenne. Daraufhin wurde dem Beschwerdeführer sogar die Adresse eines Suchtzentrums von der belangten Behörde mitgegeben vergleiche abermals AS 51).

Sofern dazu in der Beschwerde weiters ausgeführt wird, dass das Bundesamt im Zuge der Einvernahme am 21.05.2019 bei genauerer Nachfrage erfahren hätte, dass der Beschwerdeführer regelmäßig die Suchthilfe römisch 40 besuche und dort die ihm verschriebenen Medikamente erhalte vergleiche AS 188 f), so muss diesen Angaben einerseits entgegengehalten werden, dass der Beschwerdeführer – wie bereits ausgeführt – sehr wohl dazu befragt wurde und eine Therapie zum Einvernahmezeitpunkt verneinte vergleiche AS 51) und sich überdies aus der vom Beschwerdeführer vorgelegten Stellungnahme der Suchthilfe römisch 40 vom 02.12.2019 vergleiche OZ 13) ergibt, dass der Beschwerdeführer dort erst seit römisch 40 2019, somit rund vier Monate nach der gegenständlichen Einvernahme, in Behandlung war.

Der Beschwerdeführer gab im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesamt an, er habe die Tabletten kurz vor der Einvernahme vor dem Bundesamt genommen, sich dann anfangs normal gefühlt, aber nach etwa 20 bis 30 Minuten sei er sehr müde geworden und sei es ihm dann schlecht gegangen vergleiche Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 8 f). In diesem Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, dass nicht nachvollziehbar ist, weshalb der Beschwerdeführer diesen Umstand nicht im Zuge der Einvernahme angegeben hat, zumal diese von 10:30 Uhr bis 13:00 Uhr gedauert hat. Dass das einvernehmende Organ über eine derartige Meldung hinweggegangen wäre, hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht und sind auch sonst keine Hinweise darauf hervorgekommen.

Auch hat der Beschwerdeführer bis zum Schluss seiner Einvernahme oder zu irgendeinem Zeitpunkt danach – bis zur gegenständlichen Beschwerde – nicht geltend gemacht, dass er nicht mehr wissen würde, was er konkret vor dem Bundesamt angegeben hat. In der mündlichen Verhandlung verhielt sich der Beschwerdeführer auf Vorhalt, dass er erstmals in der Beschwerde angab, er wisse mehr, was er gesagt habe und dass er sich seitdem offenbar nicht die Mühe gemacht habe, dies festzustellen und herauszufinden, ob das Festgehaltene nun der Wahrheit entspricht oder nicht, zunächst sehr ausweichend und gab schließlich an, er habe die Niederschrift nicht übersetzten lassen, weil er immer alles geheim halten möchte (Verhandlungsprotokoll Sitzung 11). Selbst wenn man glauben möchte, dass der Beschwerdefüher während des damals schon über sieben Jahre langen Aufenthaltes in Österreich keinen Übersetzer oder eine Übersetzerin gefunden hat, dem oder der er vertrauen konnte, so ist doch nicht verständlich, weshalb er nicht seine ehemalige oder die jetzige Rechtsvertretung um Hilfe gebeten hat, zumal diese Organisation nicht nur über Kontakte zu Übersetzern verfügt – die aus Sicht der Rechtsberatung wohl vertrauenswürdig sind – sondern es der Rechtsberatung darüberhinaus auch möglich gewesen wäre, diesen eine anonymisierte Version des Protokolles zu übergeben.

Insgesamt ist eine maßgebliche und berücksichtigungswürdige Beeinträchtigung des Beschwerdeführers im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesamt am 21.05.2019 weder hervorgekommen noch ist das nachträgliche Vorbringen nachvollziehbar. Das diesbezügliche Vorbringen erweist sich nach Ansicht der erkennenden Richterin als Schutzbehauptung. Schlussendlich hat der Beschwerdeführer auch bestätigt, dass alles richtig protokolliert worden sei und er den Dolmetscher einwandfrei verstanden habe.

Die Niederschrift über die Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt liefert daher vollen Beweis über den Verlauf und den Gegenstand der Amtshandlung (Paragraph 15, AVG) und konnte demnach der Beweiswürdigung zu Grunde gelegt werden.

Ausgehend davon kann das Bundesverwaltungsgericht auch den in der Beschwerde erhobenen Vorwurf, das Bundesamt habe es verabsäumt, sich (inhaltlich) ausreichend mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen, nicht nachvollziehen. Wohl hat die die belangte Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen (Paragraph 18, AsylG 2005). Aus dieser Gesetzesstelle kann jedoch keine Verpflichtung abgeleitet werden, Umstände ermitteln zu müssen, die ein Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0202). Ferner zieht Paragraph 18, AsylG 2005 nicht die Pflicht nach sich, ohne entsprechendes Vorbringen des Asylwerbers oder ohne sich aus den Angaben konkret ergebende Anhaltspunkte jegliche nur denkbaren Lebenssachverhalte ergründen zu müssen (VwGH 15.10.2018, Ra 2018/14/0143).

Der Beschwerdeführer wurde auch während und im Zuge der Beendigung der Einvernahme noch nach weiteren Fluchtgründen – sogar unter Verweis auf das Neuerungsverbot vergleiche etwa AS 47 und AS 51) – gefragt oder ob er noch etwas ergänzen wolle, was der Beschwerdeführer auch gemacht hat. Beweisanträge oder als solche zu wertende Ausführungen wurden nicht erstattet. Für eine mangelhafte Ermittlungstätigkeit besteht sohin kein Anhaltspunkt. Insbesondere kann keine Verpflichtung des Bundesamtes erkannt werden, den Beschwerdeführer zu seinem Standpunkt dienlichen Angaben durch zielgerichtete Befragung gleichsam anzuleiten.

2.4.4.2. Dem Bundesamt ist grundsätzlich darin zu folgen, wenn ausgeführt wird, dass das vom Beschwerdeführer erstattete Vorbringen in Bezug auf die Rückkehrbefürchtungen nicht glaubhaft ist und auch sonst keine Hinweise auf eine Verfolgung bzw. Gefährdung im Rückkehrfall hervorgekommen sind. Auch mit seinen Stellungnahmen und nach persönlicher Anhörung in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vermochte der Beschwerdeführer seine Rückkehrbefürchtungen nicht glaubhaft darzutun, zumal er diesbezüglich auch keinen persönlich glaubwürdigen Eindruck in der mündlichen Verhandlung hinterließ. Das Vorbringen des Beschwerdeführers erweist sich als äußerst vage, zudem auch widersprüchlich und in wesentlichen Teilen als grundsätzlich nicht nachvollziehbar.

Während der Beschwerdeführer etwa im Zuge der Erstbefragung angab, er seien etwa zehn Tage vor seiner Ausreise am 14.11.2014 (daher etwa gegen 04.11.2014) sechs oder sieben „Guerillas“ der PKK gekommen und hätten einen Verletzten bei ihm zurückgelassen, den sie auf dem Rückweg wieder mitnehmen hätten wollen und um den er sich hätte kümmern sollen. Es sei etwa ein oder zwei Stunden später, als sich der Beschwerdeführer mit seinen Schafen und dem Verletzten auf dem Rückweg ins Dorf bei E. befunden habe, die Gendarmerie gekommen, so gab er in der Einvernahme an, es wäre eine Gruppe von PKK-Kämpfern [unbestimmter Anzahl und Größe, Anm.] zu ihm gekommen. Sie hätten einen ihrer Kämpfer mit schweren Beinverletzungen beim Beschwerdeführer gelassen, damit er sich um diesen kümmere und hätten ihn drei Tage später wieder abholen wollen. Etwa zwei oder drei Stunden später seien dann türkische Soldaten gekommen. Es stimmt daher weder der zeitliche Zusammenhang in dieser Schilderung überein, noch der Ablauf der Ereignisse, da der Beschwerdeführer einmal angab, er wäre bereits auf dem Rückweg ins Dorf mit dem Verletzten gewesen, als die Gendarmerie gekommen sei und einmal hat er sich offenbar noch auf der Bergweide befunden und – so aus dem Zusammenhang seiner Schilderung entnehmbar – dort auch bis zur Rückkehr der PKK-Kämpfer etwa drei Tage später bleiben wollen, als Soldaten gekommen seien.

In der Erstbefragung gab er an, er sei sofort durch ein Waldstück und einen Bach entkommen, und habe hinter ihm Schüsse fallen hören. Er habe etwa zwei Tage zu Fuß bis ins Stadtzentrum von E. gebraucht, wo er sich zu einer Tante mütterlicherseits begeben habe. Dort habe er sich zwei Tage aufgehalten und erfahren, die Gendarmen bzw. die Spezialeinheiten das Haus gestürmt und seinen Vater mitgenommen hätten. Vor dem Bundesamt und auch vor dem Bundesverwaltungsgericht gab an, er habe die Soldaten bereits von Weitem gesehen, dies dem PKK-Kämpfer gesagt, welcher dann nach dessen Gewehr gegriffen habe. Der Beschwerdeführer habe gesagt, er wolle keine Probleme und sei in den Wald gelaufen. Die Soldaten hätten ihn weglaufen sehen und geschossen. Er könne nicht sagen, wer auf wen geschossen habe und dass ihn die Eigentümer seiner Schafe verraten und den türkischen Behörden seine gesamten Daten bekanntgegeben hätten. Er wisse auch nicht, ob einen oder zwei Tage zu Fuß nach E. gebraucht hätte. Bei seiner Tante in E. habe er dann erfahren, dass die Soldaten/Gendarmen nach ihm bei seinen Eltern gesucht hätten.

Während er weiters in der Erstbefragung angab, er sei bereits zehn Tage vor seiner Abreise aus der Türkei von römisch 40 aus von E. nach römisch 40 gefahren, daher ausgehend von seiner Ausreise am 14.11.2014 etwa am 04.11.2014, wo er bei einem Bekannten übernachtet habe, der ihm dann den Schlepper vermittelt habe, gab er vor dem Bundesamt wiederum an, er habe sich nur einen einzigen Tag in römisch 40 aufgehalten vergleiche AS 41). Etwas später in der Einvernahme vor dem Bundesamt gab er dann wieder an, der Vorfall habe sich zwei oder drei Tage ereignet, bevor er nach römisch 40 gekommen sei und er habe einen Tag gebracht, bevor er von seinem Dorf nach E. zu Fuß geflohen sei. Er sei dann zu seinem in römisch 40 lebenden Onkel geflüchtet, der ihm einen Schlepper genannt habe vergleiche AS 47).

Auf Vorhalt der Richterin, dass der Beschwerdefürher bei der Ersbefragung noch gesagt habe, er habe bei einem Bekannten übernachtet und dieser habe ihm einen Schlepper vermittelt, gab der Beschwerdeführer an, er habe gemeint, der Schlepper sei ein Bekannter des Onkels gewesen. Richtig ist, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Befragung beim Bundesamt erwähnt hatte, dass er sich zu einem Onkel in römisch 40 geflüchtet habe, der einen Schlepper gekannt habe, wie der Rechtsvertreter einwendete. Daraus erklärt sich aber nicht, wie es zu den mehrfachen Widersprüchen der Aussagen über die Zeit vor der Ausreise im Laufe des Verfahrens kommt (Erstbefragung: der Beschwerdeführer sei nach römisch 40 geflüchtet, wo er bei einem Bekannten übernachtet habe, dieser habe ihm einen Schlepper vermittelt (AS 7) vs. Einvernahme bei der Behörde: er sei nach römisch 40 geflüchtet zu seinem Onkel, dieser habe einen Schlepper gekannt (AS 47) vs. Beschwerdeverhandlung: Der Onkel habe ihm eine Telofonnummer gegeben von einem Schlepper, wo er sich in römisch 40 aufgehalten habe wisse er nicht mehr; der Schlepper habe ihm eine Unterkunft besorgt (Verhandlungsprotokoll Sitzung 12)). Vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer ferner an, sein Onkel würde gar nicht in römisch 40 leben, sondern habe ihm dieser Onkel nur den erwähnten Schlepper und dieser eine Unterkunft organisiert.

Selbst unter Berücksichtigung der – bereits als nicht glaubhaft erkannten – Beeinträchtigung des Beschwerdeführers bei der Einvernahme bei der Behörde bleiben gravierende Abweichungen der Darstellungen (bei einem Bekannten übernachtet, der einen Schlepper organisierte vs. einen vom Onkel genannten Schlepper kontaktiert, der ihm eine Unterkunft besorgt hat).

Abgesehen von der nicht konsistenten Darstellung der Abläufe und der nicht konsistenten Haltung in Bezug auf das als unzuverlässig gerügte Protokoll der Behörde ist es auch nicht glaubwürdig, wenn der Beschwerdeführe plötzlich angab, er könne sich nicht erinnern, wo in Istanbul er sich vor seiner Ausreise aufgehalten habe. Sofern der Beschwerdeführer die Erinnerungslücken durch nicht näher bezeichnete Schwierigkeiten in Österreich und psychische Probleme erklärt, zu welchen es Atteste gäbe, sei darauf hingewiesen, dass er im Verfahren keine Unterlagen vorgelegt hat, die derartige Erinnerungslücken aus medizinischer Sicht belegen würden. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführe in Bezug auf das behauptete fluchtauslösende Ereignis selbst sehr wohl detaillierte Angaben machte. Dass sich ein Mensch an ein Erlebins, wo geschossen wurde und er flüchten musste, relativ genau erinnert, jedoch die nachfolgenden Umstände des Aufenthaltes an einem sicheren Ort vor seiner Ausreise vergisst bzw. auffallend abweichend darstellt, stellt sich jedenfalls als nicht lebensnahe dar.

Auch vermochte der Beschwerdeführer nicht plausibel zu erklären, weshalb die Angreifer bei Wahrunterstellung seiner Geschichte immer noch auf Rache gesinnt sein sollten, zumal der behauptete Vorfall nunmehr fast acht Jahre zurückliegt, der Beschwerdeführer offenbar zu keiner Zeit eine ersthafte Bedrohung für die Angreifer darstellte (bei dem Verletzten handelte es sich offenbar auch nicht um einen wichtigen Akteur) und er nach dem Vorfall auch gleich weggelaufen und danach ausgereist wäre. Gefragt, weshalb er davon ausgeht, dass die PKK ihn noch verfolgen würde, gab er an, dass diese Leute aus römisch 40 kämen und schichtweise welchseln und sie hätten ihm gesagt, er solle auf den Verletzten aufpassen, wenn irgendwas passiere, sei er verantwortlich. Damit wird aber nicht erklärt, weshalb der Beschwerdeführer immer noch mit einer Verfolgung im Falle seiner Rückkehr in die Türkei rechnet. Auf Vorhalt der Richterin, dass die PKK wohl gewichtigere oder vordinglichere Ziele hat, deren Verfolgung ihr lohnenswerter erscheinen als einen so lange zurückliegenden Vorfall zu rächen, räumte der Beschwerdeführer auch ein, dass er das nicht wisse und nur hoffen könne, dass sie ihn vergessen hätten.

Ferner vermochte der Beschwerdeführer auch nicht nachvollziehbar zu erklären, weshalb er sich nicht an die Polizei gewandt und die Situation dort erklärt hat, zumal er dazu lediglich angab, dass neben ihm ein PKK-Mitglied gewesen sei und er die PKK-Leute auch gekannt habe; die Türkei sei nicht wie Österreich und sie ihn erschossen hätten, wenn sie ihn dort erwischt hätten und sie hätten geglaubt, dass er auch ein Terrorist sei. Der in der mündlichen Verhandlung getätigten Schilderung des fluchtauslösenden Ereignisses zufolge hätte die Polizei ihn in einer Distanz von 200 bis 300 Metern weglaufen sehen und er sei geflüchtet, ohne dass er zurückgeschaut habe (Verhandlungsprotokoll Sitzung 11). Aus dieser Darstellung erhellt zum einen nicht, weshalb der Beschwerdeführer überhaupt davon ausging, dass er von der Polizei erkannt wurde und wird damit auch nicht erklärt, weshalb der Beschwerdefüher sich nicht später der Polizei anvertraute, um die Situation zu erklären.

Schon deshalb ist nicht glaubhaft, dass der Beschwerdefüher noch von der Polizei gesucht wird. Dazu tritt, dass der Beschwerdeführer auch keine Belege über einen Haftbefehl oder eine andauernde Suche nach ihm vorlegen konnte, wiewohl ihm das leicht möglich wäre. Zum einen verfügt er über familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsland – dass er den Kontakt zur Familie abgebrochen habe, kann wegen der Widersprüche, in die sich der Beschwerdeführer diesbezüblich verwickelte, nicht geglaubt werden, zumal er an anderer Stelle etwa angab, er wisse von seiner Familie, dass das Militär alle zwei bis drei Monate bei ihnen an die Tür klopfe – zum anderen wäre es ihm etwa über einen Rechtsvertreter möglich, eine entsprechenden Anfrage an die Behörden zu stellen. Die Antwort auf den Vorhalt, dass nunmehr acht Jahre seit der Einreise nach Österreich und zweieinhalb Jahre nach Erhalt des Bescheides vergangen seien, in der der Beschwerdeführer Zeit gehabt hätte, Erkundigungen einzuholen und die daran anschließende Frage, ob er konkrete Schritte im Hinblick auf die Erkundung zum Vorliegen eines Haftbefehls gesetzt hat – „Ich habe nichts gemacht, ich hatte Angst. Wenn ich das gemacht hätte, hätten sie erfahren das ich hier bin“ – vermag jedenfalls nicht zu erklären, warum der Beschwerdeführer keinen – der Verschwiegenheitspflicht unterliegenden – Rechtsanwalt engagiert hat, um Akteneinsicht zu nehmen oder wenigstens Erkundigungen bei der Polizei einzuholen. Sofern der Beschwerdeführer auf Vorhalt dessen wieder angab, er habe Angst gehabt und niemandem vertraut, vermag dies ebesowenig zu überzeugen wie der Antwort auf den Vorhalt, dass er bereits bei der Behörde angeleitet worden sei, wie er auf anderem Wege, nämlich unter Gebrauch des E-Government Systems, e-devlet an Beweismittel gelangen könne – „Ich habe einen Personalausweis, ich konnte nichts.“ Schließlich räumte der Beschwerdeführer selber ein, dass es eigentlich stimme, dass er sich nicht gekümmert habe. Die neuerlich ins Treffen geführte Angst und die Unwissenheit, mit der er diese Untätigkeit anschließend erklärte, stellt sich für das Gericht auch in diesem Zusammenhang als Schutzbehauptung dar; vielmehr ist aufgrund der oben dargelegten Erwägungen davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer sein Land nicht aus Furcht vor Verfolgung verließ.

Sofern der Beschwerdeführer gegen Ende der Verhandlung nach Befragung seines Vertreters erstmals vorbrachte, dass einer der Brüder wegen der anhaltenden Suche nach dem Beschwerdeführer von Soldaten wegen des nicht abgeleisteten Militärdienstes gefoltert worden sei und deswegen inzwischen ebenfalls die Türkei verlassen habe, so ist auf die diesbezüglichen Ausführungen zu den Befürchtungen in Bezug auf den Militärdienst zu verweisen. Im Übrigen sei auch darauf hingewiesen, dass die Familienangehörigen des Beschwerdeführers nach wie vor unbehelligt – sowohl seitens türkischer Behörde als auch der PKK – im Heimatort E. leben.

Insgesamt ist es dem Beschwerdeführer hinsichtlich des von ihm geschilderten, fluchtauslösenden Ereignisses nicht gelungen, ein konkretes, detailliertes und im Wesentlichen gleichbleibendes Vorbringen zu erstatten. Das diesbezügliche Vorbringen erweist sich als unglaubwürdig.

Der Beschwerdeführer hat weiters ausdrücklich verneint, selbst jemals Mitglied einer politischen Partei, einer anderen politisch aktiven Bewegung oder einer bewaffneten Gruppierung, insbesondere der PKK, gewesen zu sein. Er war selbst weder in der Türkei noch in Österreich (exil-)politisch tätig. Der Beschwerdeführer konnte weder einen Nachweis des Vorliegens einer behördlichen Fahndung wegen der Unterstützung der PKK noch einen Haftbefehl oder sonstige tragfähige Hinweise vorlegen, dass er von türkischen Behörden wegen der Unterstützung der PKK bzw. infolge des vom Beschwerdeführer geschilderten Vorfalles gesucht werden würde, hat sich selbst auch nicht darum bemüht und hat sogar diesbezüglichen Ermittlungen des Bundesverwaltungsgerichtes die Zustimmung verweigert.

Selbst bei Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers könnte in Anbetracht des inzwischen verstrichenen Zeitraumes von knapp acht Jahren seit der fluchtartigen Ausreise des Beschwerdeführers aus der Türkei auch nicht erkannt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr immer noch einer maßgeblich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr durch türkische Behörden oder durch PKK-Mitglieder ausgesetzt wäre, wie bereits erörtert.

Aus dem Amtswissen ergibt sich zudem, dass sowohl die PKK als auch türkische Geheimdienste in Österreich verstärkt tätig sind und ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer während seines Aufenthalts bislang völlig unbehelligt geblieben ist. Ein andauerndes Rachebegehren an einem einfachen Schafhirten, der keine gezielt gegen die PKK oder die Behörden gerichteten Handlungen setzte, bzw. dessen Verfolgung ist nicht nachvollziehbar und ergibt sich daraus zum Entscheidungszeitpunkt keine aktuelle Bedrohungs- und Verfolgungslage mehr, zumal sich die diesbezüglichen Ausführungen des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der vorgebrachten Bedrohung durch die PKK als auch durch die türkischen Behörden als ausnehmend spekulativ darstellten, wie oben im Detail dargestellt.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers erweist sich für das erkennende Gericht aus der Gesamtheit der angeführten Gründe als gänzlich unsubstantiiert und unglaubwürdig, sodass entsprechende Feststellungen (nicht) zu treffen waren.

2.4.4.3. Insofern der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren weiters geltend macht, ihm drohe im Falle seiner Rückkehr in die Türkei seine Verhaftung und eine empfindliche Haftstrafe, weil er bisher den Wehrdienst in der Türkei verweigert habe, ist auszuführen, dass der Beschwerdeführer inzwischen 42 Jahre alt ist und in der Türkei die Wehrpflicht nur bis zum 1. Jänner des Jahres, indem man 41 Jahre alt wird, aufrecht bleibt. Der Beschwerdeführer ist daher nicht mehr wehrpflichtig und wird im Fall der Rückkehr in die Türkei auch keinen Wehrdienst mehr leisten müssen.

Hinsichtlich der Wehrdienstverweigerung des Beschwerdeführers in der Vergangenheit hat sich im gegenständlichen Verfahren ergeben, dass der Beschwerdeführer selbst bisher keinen schriftlichen Einberufungsbefehl erhalten hat und ist auch sonst nicht hervorgekommen, dass ein solcher tatsächlich vorliegen würde. Auch verfügt der Beschwerdeführer seinen Angaben nach nicht über ein behördliches Dokument, eine Anordnung oder einen Haftbefehl wegen der Verletzung der Wehrpflicht. Er hat in der Türkei – etwa durch das Engagieren eines Anwalts – auch keinerlei Informationen eingeholt oder Akteneinsicht genommen. Auf entsprechenden Vorhalt gab der Beschwerdeführer auch an dieser Stelle lediglich ausweichend an, er habe Angst und niemandem vertraut. Er habe sich zudem nicht ausgekannt und nicht gewusst, dass diese Möglichkeit bestünde. Schlussendlich räumte der Beschwerdeführer selbst ein, dass es richtig sei, dass er sich nicht darum gekümmert habe. Auch er wolle wissen was ihn in der Türkei im Fall einer Rückkehr erwarte. Ermittlungen seitens des Bundesverwaltungsgerichtes hat der Beschwerdeführer nicht zugestimmt.

Sofern der Beschwerdeführer weiter angibt, er sei bis zuletzt vom Militär gesucht worden, indem Militärangehörige alle zwei bis drei Monate wieder an die Haustür seiner Eltern geklopft und nach dem Beschwerdeführer gefragt hätten, konnte der Beschwerdeführer auf entsprechende Rückfrage in der mündlichen Beschwerdeverhandlung nur angeben, dass er das von seiner Familie wisse, das schon lange her sei, er den Kontakt inzwischen [zumindest seit dem Jahr 2019, Anm.] abgerochen habe und er tatsächlich nicht wisse, ob das noch immer der Fall sei und er nur glaube, dass das noch immer regelmäßig vorkomme.

Auch wenn der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung zu einem vom Rechtsvertreter nicht näher bezeichneten Vorfall plötzlich vorbrachte, einer seiner Brüder sei wegen ihm vom Militär gefoltert worden, so ist schon der Zeiptunkt im Verfahren auffallend, zu welchem er dieses Vorbringen erstmals erstattete. Es finden sich auch keine tragfähigen Hinweise darauf, dass sich die behaupteten Umstände tatsächlich so zugetragen haben und bleibt auch offen, wo sich der Bruder nunmehr aufhält. Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer angab, dieser Umstand hätte sich nach der Einvernahme vor dem Bundesamt ereignet und habe der Bruder deswegen mit ihm den Kontakt bereits 2019 abgebrochen, ist es auch nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer dies – allenfalls über seine damalige bevollmächtigte Rechtsvertretung – nicht dem Bundesamt mitgeteilt oder zumindest in der Beschwerde vorgebracht hätte, zumal anzunehmen ist, dass dieser Umstand – bei entsprechender Wahrunterstellung – die Rückkehrbefürchtungen des Beschwerdeführers wesentlich verstärkt hätte, was für das Verfahren jedenfalls von Relevanz ist. Mit seinem neuen Vorbringen erweckte der Beschwerdeführer doch sehr den Eindruck, dass er eine aufrechte Verfolgung zu konstruieren versuchte, um dem vorangehenden Vorhalt des Gerichtes, eine andauernde Verfolgung nach acht Jahren seiner Abwesenheit seit dem fluchtauslösenden Vorfall sei in seinem Fall nicht plausibel, zu entkräften. Warum er von der Folterung des Bruders von diesem während der mit ihm geführten Telefonate erfahren habe, dieser aber dann plötzlich den Kontakt abgebrochen hätte, weil er wegen dem Beschwerdefürher das Land verlassen musste und gefoltert wurde, erschließt sich auch durch die gegen Ende der Verhandlung unternommenen Aufklärungsversuche des Rechtsvertreters nicht, auf dessen Fragen der Beschwerdeführer angab, dass das Militär Telefonate mit seinem Bruder abgehört hätte und sie nach den Telefonaten sofort zur Familie gegangen seien; danach habe der Bruder gesagt, er solle nicht mehr anrufen. Einerseits weicht die Darstellung von jener ab, in welcher der Beschwerdeführer darzustellen versuchte, dass das Militär regelmäßig nach ihm frage (er habe keinen Bescheid vom Militär bekommen, aber alle zwei bis drei Monate komme das Militär und klopfe bei ihnen an, um den Vater und die Mutter nach ihm zu fragen, Protokoll Sitzung 15), andererseits ist es auch nicht lebensnahe, dass das türkische Militär die Telefongespräche der Familie (über längere Zeit) abhört, um dann den Bruder zu foltern, zumal nicht ersichtlich ist, weshalb für diese Art des Informationsgewinnes zuerst mehrere Telefonate abgehört werden mussen (dass der Bruder im Verborgenen gelebt hätte und für die Behörden und Sicherheitsdienste sonst nicht greifbar war, ergibt sich aus dem Vorbringen nicht). Im Übrigen ist auch davon auszugehen, dass das türksiche Militär über genügend Mittel verfügt, um den Standort eines einmal identifizierten Telefongerätes, auch ohne vorhergehende Folterungen des Gesprächspartners, ausfindig machen zu können.

Unabhängig davon, dass der Beschwerdeführer nunmehr nicht mehr wehrpflichtig ist, erweist sich sein Vorbringen zur anhaltenden Suche nach ihm entsprechend den Länderfeststellungen als nicht schlüssig. Wie dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu entnehmen ist, werden seit Ende 2004 keine Suchvermerke mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Artikel 26, dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden. Nachdem der BF bereits im Jahr 2015 aufgefordert worden sei, sich zu stellen, müsste das Innenministerium mittlerweile jedenfalls einen Haftbefehl erlassen haben. Nachdem der Beschwerdeführer bereits zum Zeitpunkt seiner Ausreise im November 2014 schon zumindest seit 16 Jahren den Wehrdienst verweigert hat (der Beschwerdeführer wurde im Februar 1998 18 Jahre alt), hätte das Innenministerium gegen den Beschwerdeführer wohl schon viel früher einen Haftbefehl erlassen müssen.

In diesem Zusammenhang wird auch auf das beweiswürdigend herangezogene und in der mündlichen Verhandung verlesene Dokument „CONSCIENCE AND PEACE TAX INTERATIONAL (CPTI), Submission tot he 132 Session of the Human Rights Committee, TURKEY (Military service, conscientions objection and related issues)“ verwiesen, dass dem Beschwerdeführer zur Abgabe einer Stellungnahme übergeben wurde.

Zu den Folgen für einen unentschuldigten Nichtantritt oder ein unentschuldigtes Fernbleiben vom Militärdienst sind schließlich noch folgende Erwägungen maßgeblich:

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Slg. Nr. 14.089/A; VwGH 21.08.2001, Zl. 98/01/0600; 11.10.2000, Zl. 2000/01/0326). Bei der rechtlichen Beurteilung des zugrundeliegenden Sachverhaltes kommt es auf die Grundsätze an, die der Verwaltungsgerichtshof auf dem Boden der bestehenden Rechtslage insbesondere in dem Erkenntnis eines verstärkten Senates zur Zl. 93/01/0377 niedergelegt hat, wobei sich seine dabei zum Ausdruck kommende Rechtsansicht nur zum Teil mit der vom Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in seinem Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft vertretenen Auffassung deckt (VwGH 20.12.1995, Zl. 95/01/0104). Auch einer Wehrdienstverweigerung kann darüber hinaus dann Asylrelevanz zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen seiner Wehrdienstverweigerung vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt (VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0274).

Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen keine Form politischer Verfolgung dar, da sie den vom Gericht in das Verfahren eingeführten Berichten zufolge allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich in diesem Zusammenhang auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus dem Bundesgebiet von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (siehe hiezu auch die einschlägige Spruchpraxis deutscher Gerichte, etwa OVG NRW 19.04.2005, 8 A 273/04.A; Sächsisches OVG 07.04.2016, 3 A 557/13.A; VG Aachen 05.03.2018, 6 K 3554/17.A).

Im Übrigen ist schon deshalb von keiner Gefahr in Zusammenhang mit einer Wehrdienstverweigerung auszugehen, da der Beschwerdeführer gar nicht dargelegt hat, durch Erklärung gegenüber den türkischen Behörden den Wehrdienst verweigert zu haben.

Dass den Beschwerdeführer systematische Übergriffe und Diskriminierungen im asylrelevanten Ausmaß erwarten würden, vermochte weder er substantiiert darzulegen, zumal er vor der Behörde als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht lediglich auf eine Furcht vor psychischer und physischer Unterdrückung verwies, ohne diese genauer zu benennen oder zu beschreiben, noch kann dies den Länderberichten entnommen werden.

Der Umstand der Wehrpflicht und der Strafbarkeit der Wehrpflichtentziehung in der Türkei allein ist ferner nicht als schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des Artikel 15, Absatz 2, EMRK anzusehen, weil sich Artikel 15, Absatz 2, EMRK nur auf Artikel 4, Absatz eins, EMRK, nicht aber auch auf Artikel 4, Absatz 2, i. römisch fünf. m. Absatz 3, Buchst. c) EMRK bezieht. Auch ist nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass ethnische Kurden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Dienstes in asylerheblicher Weise benachteiligt würden. Vereinzelte Vorfälle von Suizid und Misshandlungen bei der Ableistung des Wehrdienstes können nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Es handelt sich bei solchen – wiewohl tragischen – Ereignissen in Anbetracht des Nichtvorliegens von Berichten über eine außergewöhnlich hohe Anzahl solcher Vorfälle um Einzelfälle. Den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen kann nicht entnommen werden, dass kurdischstämmige Rekruten einem erhöhten Suizid- oder Misshandlungsrisiko ausgesetzt sind. Schon gar nicht wird in diesen, von unbeteiligten Institutionen verfassten Einschätzungen die Auffassung vertreten, dass Kurden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Dienstes in asylerheblicher Weise etwa durch bevorzugte Zuteilung in Krisenregionen benachteiligt würden.

Bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung der vorliegenden Länderfeststellungen kann nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer deshalb bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung im Zuge der (allfälligen) Ableistung seines Militärdienstes drohen würde. Die Beschwerderate ist im Übrigen sehr hoch, was auf eine unterschiedslos schlechte Behandlung von Rekruten in der türkischen Armee hinweist.

Ein Zwang zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kann ebenfalls nicht erkannt werden, zumal den mit dem Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung erörterten bzw. ihm zur Stellungnahme zugemittelten Berichten keine Hinweise dahingehend entnommen werden konnten, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden würden.

Dem aktuellen Länderinformationsblatt zufolge hat die Armee vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt.

In Ansehung des Beschwerdeführers kann das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls kein im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhtes Risiko einer Teilnahme an Kampfhandlungen erkennen, zumal er bereits das wehrpflichtige Alter überschritten hat.

Ferner ist in Anbetracht der getroffenen Feststellungen evident, dass der Einsatzort der Wehrpflichtigen in der Türkei grundsätzlich im Zufallsverfahren unabhängig von der Volksgruppenzugehörigkeit entschieden wird und es dabei zu keiner individuellen Diskriminierung GFK-relevanter Natur kommt. Dem aktuellen Länderinformationsblatt zufolge wird der Einsatzort für den Wehrdienst durch das Los bestimmt (PB 10.2020).

Auch bestehen keine Anzeichen dafür, dass kurdisch-stämmige Wehrpflichtige systematisch im Südosten der Türkei gegen PKK-Kämpfer oder Zivilpersonen eingesetzt werden und es fehlt in den in das Verfahren eingebrachten länderkundlichen Berichten auch jeder dahingehende Hinweis. Dass ganz grundsätzlich die Möglichkeit besteht, dass der Beschwerdeführer im Osten oder Südosten der Türkei eingesetzt wird, wird an dieser Stelle nicht in Abrede gestellt. Wehrpflichtige werden jedoch nicht in ihrer unmittelbaren Heimatregion, sondern generell in anderen Landesteilen eingesetzt.

Ferner sind Angehörige mit dem sozio-geographischen Hintergrund des Beschwerdeführers nicht in einem höheren Maße potentiell betroffen, gegen ihren Willen zu einem Einsatz im Feld herangezogen zu werden, als sonstige türkische Staatsangehörige.

Entgegen dem vorangehenden Vorbringen in den schriftlichen Stellungnahmen machte der Beschwerdeführer zudem in der mündlichen Beschwerdeverhandlung selbst deutlich: „Vor dem Militärdienst habe ich überhaupt keine Angst. […] Aber ich habe Angst, wenn ich zurückgehe, dass das Militär mich als Terrorist einstuft und behandelt. Ich weiß nicht wie sie mich überhaupt behandeln werden, allein der Gedanke macht mir Angst. […]“ vergleiche Verhandlungsprotokoll vom 09.05.2022, S 17). Daraus geht aber deutlich hervor, dass der Beschwerdeführer den Wehrdienst jedenfalls nicht aus Gewissensgründen verweigert hat. Auf weitere diesbezügliche Ausführungen kann daher verzichtet werden.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass jeder Staat ein legitimes Recht hat, eine Streitkraft zu unterhalten, seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst in dieser Streitkraft heranzuziehen und Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, angemessen zu bestrafen. Eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung kann regelmäßig nur dann angenommen werden, wenn der Betreffende durch die fehlende Möglichkeit der Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen und die daraus folgende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, in seinem Recht aus Artikel 9, EMRK verletzt wird (EGMR U 7.7.2011, Bayatyan gegen Armenien, Nr. 23459/03). Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob der Betreffende eine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst glaubhaft machen kann (VGH München 15.02.2016, 11 ZB 16.30012 mwN; 24.08.2017, 11 B 17.30392 mwN). Eine Gewissensentscheidung in diesem Sinne ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine sittliche Entscheidung, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten (BVerwG 01.02.1989, 6 C 61/86). Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (VGH Hessen 05.02.2016, 9 B 16/16 mwN).

Dass ihm ansonsten in Zusammenhang mit der Frage der Ableistung eines Wehrdienstes eine oppositionelle Gesinnung unterstellt worden sei oder würde, wurde nicht vorgebracht und es bieten die Feststellungen zur Lage in der Türkei auch keinen Anhaltspunkt für die dahingehende Gefährdung im Rückkehrfall.

Seit Änderung von Artikel 63, des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Militärdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen; subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Dass dem Beschwerdeführer eine unverhältnismäßig harte Sanktion wegen Wehrdienstverweigerung drohen würde, kann aus der Berichtslage daher ebenfalls nicht abgeleitet werden.

Wie bereits dargelegt, erweist sich auch die behauptete Suche nach der Person des Beschwerdeführers als nicht nachvollziehbar.

Das Vorbringen ist deshalb nicht geeignet, eine den Beschwerdeführer individuell betreffende Bedrohungssituation in seinem Herkunftsstaat glaubhaft zu machen.

2.3.4.4. Weiters erstattete der Beschwerdeführer noch ein sehr vages und oberflächliches Vorbringen in Bezug auf allgemeine Diskriminierungen von Kurden. Konkrete Vorfälle, die ihn persönlich betroffen hätten, konnte er nicht nennen.

Aus Nachteilen wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie ist angesichts der fehlenden Eingriffsintensität derselben kein als Verfolgung zu qualifizierendes Szenario zu gewinnen. Diesbezüglich ist grundsätzlich festzuhalten, dass allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt des Beschwerdeführers im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist die schwierige allgemeine Lage einer ethnischen Minderheit oder der Angehörigen einer Religionsgemeinschaft im Heimatland eines Asylwerbers für sich allein nicht geeignet, die für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorauszusetzende Bescheinigung einer konkret gegen den Asylwerber gerichteten drohenden Verfolgungshandlung darzutun (VwGH 31.01.2002, Zl. 2000/20/0358). So hat der Verwaltungsgerichtshof beispielsweise im Erkenntnis vom 23.06.1998, Zl. 96/20/0144, ausgesprochen, dass die bloße Zugehörigkeit türkischer Staatsangehöriger zur Volksgruppe der Kurden samt der damit einhergehenden Diskriminierung keinen ausreichenden Grund für die Asylgewährung bilden.

Hinsichtlich des Umstands der kurdischen Abstammung des Beschwerdeführers ist weiter auszuführen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichte die Situation für Kurden nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig sämtliche Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer eine maßgeblichen Intensität erreichenden Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden.

Eine Verfolgung aus religiösen Gründen hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht.

Dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei die Aufnahme einer Beschäftigung oder die Partizipation am Gesundheits- und Sozialsystem aus diesen Gründen durch die türkischen Behörden verweigert würde, wurde weder vorgebracht, noch ergibt sich dergleichen aus den Länderberichten.

Selbst wenn der Beschwerdeführer aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den Kurden künftig eine schlechter bezahlte Erwerbstätigkeit annehmen müsste, so ist auch in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass die Annahme auch einer unattraktiven Erwerbsmöglichkeit zumutbar ist und die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Artikel 3, EMRK nicht ausreichend für die Zuerkennung von internationalem Schutz ist. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Artikel 3, EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307).

Mit seinem Vorbringen vermochte der Beschwerdeführer jedenfalls nicht, eine konkrete Gefährdung darzustellen. Dass der Beschwerdeführer allenfalls verminderten Berufschancen und einem im Vergleich zu Österreich niedrigeren Lebensstandard entgegenzusehen hat, vermag eine Verletzung in dem von Artikel 3, EMRK geforderten Ausmaß nicht zu begründen.

Schwierigkeiten aufgrund seines religiösen Bekenntnisses brachte der Beschwerdeführer nicht vor. Eine in religiösen Umständen wurzelnde Bedrohung kann in Anbetracht des Vorbringens des Beschwerdeführers jedenfalls nicht erkannt werden.

Im Verfahren kam auch nicht hervor, dass der Beschwerdeführer in den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verwickelt war, zumal der er zu dieser Zeit in Österreich weilte und ein diesbezügliches Vorbringen weder vor der belangten Behörde noch vor dem erkennenden Gericht erstattet wurde.

Ausweislich der vorstehenden Erwägungen besteht auch kein Anlass, aus diesen Gründen im Fall einer Rückkehr in die Türkei eine Inhaftierung befürchten zu müssen. Hinweise auf eine aktuell allenfalls nur unterstellte Gesinnung im Hinblick auf die Aktivitäten der PKK sind im Verfahren – wie bereits ausgeführt - ebenfalls nicht glaubhaft hervorgekommen.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist es dem Beschwerdeführer aus den vorstehend im Detail erörterten Aspekten nicht gelungen, eine ihn betreffende Bedrohungs- oder Verfolgungssituation in der Türkei vor der Ausreise glaubwürdig darzulegen.

Es wiegt schwer, dass sich sein Vorbringen in wesentlichen Punkten des Ausreisevorbringens als widersprüchlich und mehrfach unplausibel erwies. Derartige gravierende Widersprüchlichkeiten und Unplausibilitäten lassen nur den Schluss zu, dass die Befürchtungen des Beschwerdeführers konstruiert sind.

Demgemäß ist ausgehend vom Vorbringen des Beschwerdeführers auch nicht glaubhaft, dass dieser im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer individuellen Gefährdung oder Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer weist auch kein persönliches Profil auf, das ihn im Rückkehrfall exponiert erscheinen ließe.

Dass Rückkehrer aus dem Ausland – nach einer illegalen Ausreise – allgemein einer asylrelevanten Behandlung durch Sicherheitskräfte nach der Wiedereinreise unterzogen würden, kann aus den getroffenen Feststellungen zur Lage in der Türkei nicht abgeleitet werden.

2.4. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer im Rückkehrfall über eine Existenzgrundlage verfügen wird, ergibt sich vornehmlich daraus, dass er eine volljährige, arbeitsfähige und überwiegend gesunde Person ist, die einerseits über ein familiäres Netz in seinem Heimatort in der Türkei (E.), verfügt, wo zumindest noch vier von fünf Brüdern und beide Eltern nach wie vor als Viehhirten leben. Der Beschwerdeführer hatte nach eigenen Angaben jedenfalls bis etwa Mitte 2019 Kontakt zu seiner Familie und abgesehen von der – nicht glaubhaft –geäußerten und subjektiven Angst, er könne mit seinen Anrufen seine Familie gefährden (siehe dazu die oben dargelegten Erwägungen), auch keine Gründe vorgebracht, weshalb die neuerliche Kontaktaufnahme zur Familie nicht möglich wäre. Es kann daher nicht geschlossen werden, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr in die Türkei keinerlei Unterstützung durch Familienangehörige zu erwarten hätte. Dies kann zumindest in Form der Zurverfügungstellung von Wohnraum und Gütern des täglichen Bedarfs begründet angenommen werden. Dem Beschwerdeführer ist es auch zumutbar, wieder in der Landwirtschaft der Eltern mitzuhelfen und wieder als Viehhirte zu arbeiten, um so allenfalls zum Unterhalt der Familie beizutragen, zumal der Beschwerdeführer selbst angab, er würde sofort in die Türkei zurückkehren und lieber dort leben, wenn er die von ihm vorgebrachten Probleme nicht hätte.

Andererseits ist das Gericht aber ohnedies der Ansicht, dass der Beschwerdeführer als erwachsener, arbeitsfähiger Mann allenfalls auch ohne familiäres Netzwerk für seinen Unterhalt aufkommen kann, zumal er trotz der nur bestehenden Grundschulbildung bei fehlender Berufsausbildung auch in der Türkei bereits in der Gastronomie und als Viehhirte und in Österreich als selbstständiger Hausbesorger und Entrümpler arbeitet bzw. gearbeitet hat. Es ist ihm auch zumutbar, das – wenn auch möglicherweise weniger leistungsfähige – Sozialsystem des türkischen Staates oder karitative Einrichtungen in Anspruch zu nehmen.

Es stehen dem Beschwerdeführer auch die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigtem offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können.

Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert).

Zudem ist auch für die gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger gesorgt: Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Die Beiträge für die allgemeine Krankenversicherung (GSS) hängen vom Einkommen des/der Begünstigten ab und beginnen bei 107,32 TL für Inhaber eines türkischen Personalausweises. 2021 hatten insgesamt circa 1,5 Millionen Personen eine private Zusatzkrankenversicherung. Dabei handelt es sich überwiegend um Polizzen, die Leistungen bei ambulanter und stationärer Behandlung abdecken, wobei nur eine geringe Zahl (rund 178.000) für ausschließlich stationäre Behandlungen abgeschlossen sind. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren.

Ein substantiiertes Vorbringen, wonach der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr einer mangelnden Lebensgrundlage oder einer gesundheitlichen Bedrohung gegenüberstünde, wurde nicht erstattet. Das Bundesverwaltungsgericht gelangte in einer Gesamtschau damit – wie bereits das belangte Bundesamt – zur Ansicht, dass es dem Beschwerdeführer in kurzer Zeit unter Anspannung seiner Kräfte gelingen wird, sich eine gesicherte Existenz in der Türkei aufzubauen und ist in Ansehung der Länderberichte, insbesondere zur medizinischen Versorgung und den Sozialleistungen für Bedürftige, auch nicht zu befürchten, dass der Beschwerdeführer in eine ausweglose Lage geraten würden.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin in Österreich entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes (Einsicht in das Strafregister der Republik Österreich). Die Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer basieren auf den Angaben des Beschwerdeführers und den beigebrachten Unterlagen.

Den Daten des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister kann schließlich entnommen werden, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet nie nach
§ 46a Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG 2005 geduldet war. Hinweise darauf, dass sein weiterer Aufenthalt zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig wäre oder der Beschwerdeführer im Bundesgebiet Opfer von Gewalt im Sinn der Paragraphen 382 b, oder 382e EO wurde, kamen im Verfahren nicht hervor. Es wurde auch kein dahingehendes Vorbringen erstattet, sodass keine dahingehenden positiven Feststellungen getroffen werden können.

2.5. Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat und zur Lage von Angehörigen der kurdischen Volksgruppe, Wehrdienstverweigerern und (allfälligen) PKK-Unterstützern beruhen auf den, dem Beschwerdeführer zur Kenntnis- und Stellungnahme übermittelten aktuellen aktuellen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, wie oben unter 2.1. aufgelistet.

Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Insgesamt wurde den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Berichten vom Beschwerdeführer bzw. deren gewillkürter Vertretung nicht substantiiert entgegengetreten. Vielmehr werden in den schriftlichen Stellungnahmen im Wesentlichen dieselben Berichte zitiert.

Es wird somit explizit weder eine Unrichtigkeit, noch eine Unvollständigkeit der dem Beschwerdeführer seitens des Bundesverwaltungsgerichtes vorgehaltenen aktuellen Quellen zur gegenwärtigen Lage in der Türkei aufgezeigt.

Da der Beschwerdeführer keine staatliche Strafverfolgung in der Türkei aufgrund eines Kapitalverbrechens in den Raum gestellt hat und die Todesstrafe in der Türkei darüber hinaus abgeschafft ist, war dem folgend zur Feststellung zu gelangen, dass sie im Fall einer Rückkehr nicht der Todesstrafe unterzogen würde. Ebenso kann aus ihrem Vorbringen keine anderweitige individuelle Gefährdung durch drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden.

Die Sicherheitslage in der Türkei ist durchaus als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie dem Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Der Beschwerdeführer hat jedoch diesbezüglich nicht dargetan, dass er von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.

Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der PKK, des Islamischen Staates und (in sehr viel geringerem Ausmaß) von Terroranschlägen linksextremistischer Gruppierungen. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 ausweislich einer aktuellen Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes nachgelassen.

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage, wobei an dieser Stelle jedoch festzuhalten ist, dass der Landkreis, in welchem die Beschwerdeführer vor der Ausreise lebten (Antalya), deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der PKK stattfinden. Außerdem ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin nicht vorbrachte, von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten, sodass weitergehende Feststellungen hierzu nicht geboten sind.

Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer den behaupteten Gefährdungen ausgesetzt war bzw. im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat einer anderweitigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt waren oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

3.1. Anzuwendendes Verfahrensrecht:

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, 33 aus 2013, idgF, geregelt (Paragraph eins, leg.cit.).

Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, Bundesgesetzblatt Nr. 194 aus 1961,, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, Bundesgesetzblatt Nr. 173 aus 1950,, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, Bundesgesetzblatt Nr. 29 aus 1984,, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß Paragraph 27, des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, 33 aus 2013, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 57 aus 2018,, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (Paragraph 9, Absatz 3, VwGVG) zu überprüfen.

Gemäß Paragraph 28, Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß Paragraph 28, Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

3.2. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

3.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 69 aus 2020, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974, (Genfer Flüchtlingskonvention), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185; 12.11.2014, Ra 2014/20/0069 mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 17.03.2009, Zl. 2007/19/0459). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233 mwN). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183; 18.02.1999, Zl. 98/20/0468).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

3.2.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:

3.2.2.1. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.

Im gegenständlichen Fall ist ausweislich der Feststellungen und der diesbezüglichen Beweiswürdigung nach Ansicht des erkennenden Gerichts keine den Beschwerdeführer betreffende aktuelle, unmittelbare und konkrete Verfolgungsgefahr in der Türkei aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund gegeben. Wie beweiswürdigend ausführlich dargestellt, konnte der Beschwerdeführer nicht glaubhaft vorbringen, dass er vor seiner Ausreise asylrelevant verfolgt wurde.

Auch konnte im Rahmen einer Prognoseentscheidung nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführerin nach einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer weiteren aktuellen Gefahr von Übergriffen zu rechnen hätte vergleiche VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194). Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten (VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100).

3.2.2.2. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Furcht vor Verfolgung im Fall der Wehrdienstverweigerung oder Desertion nur dann als asylrechtlich relevant anzusehen, wenn der Asylwerber hinsichtlich seiner Behandlung oder seines Einsatzes während dieses Militärdienstes im Vergleich zu Angehörigen anderer Volksgruppen in erheblicher, die Intensität einer Verfolgung erreichender Weise benachteiligt würde oder davon auszugehen sei, dass dem Asylwerber eine im Vergleich zu anderen Staatsbürgern härtere Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung drohe (verstärkter Senat des VwGH vom 29.06.1994, Zl. 93/01/0377; VwGH 21.08.2001, Zl. 98/01/0600; 11.10.2000, Zl. 2000/01/0326).

Bei der rechtlichen Beurteilung des zugrundeliegenden Sachverhaltes kommt es auf die Grundsätze an, die der Verwaltungsgerichtshof auf Grundlage der bestehenden Rechtslage, insbesondere in dem Erkenntnis eines verstärkten Senates zur Zl. 93/01/0377 niedergelegt hat, wobei sich seine dabei zum Ausdruck kommende Rechtsansicht nur zum Teil mit der vom Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge im Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft vertretenen Auffassung deckt (VwGH 20.12.1995, Zl. 95/01/0104). Nach der zitieren Entscheidung lässt etwa der Umstand, dass der Asylwerber einberufen werden soll, keine Rückschlüsse darauf zu, dass er auf diese Weise eine individuell gegen ihn gerichtete, staatlichen Behörden seines Heimatlandes zuzurechnende Verfolgung aus Konventionsgründen zu erwarten hat.

Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes keine Form politischer Verfolgung dar, da sie nach den vorstehenden Ausführungen allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente noch nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt und wurde vom Beschwerdeführer eine derartige Befürchtung auch nicht dargetan.

Es liegen schließlich in diesem Zusammenhang auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus dem Bundesgebiet von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (siehe hiezu auch die einschlägige Spruchpraxis deutscher Gerichte, etwa OVG NRW 19.04.2005, 8 A 273/04.A; Sächsisches OVG 07.04.2016, 3 A 557/13.A; VG Aachen 05.03.2018, 6 K 3554/17.A). Im Übrigen ist schon deshalb von keiner Gefahr in Zusammenhang mit einer Wehrdienstverweigerung auszugehen, da der Beschwerdeführer nicht dargelegt hat, durch Erklärung gegenüber den türkischen Behörden den Wehrdienst verweigert zu haben und auch sonst keine tragfähigen Hinweise diesbezüglich hervorgekommen sind.

Der Umstand der Wehrpflicht und der Strafbarkeit der Wehrpflichtentziehung in der Türkei allein ist ferner nicht als schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des Artikel 15, Absatz 2, EMRK anzusehen, weil sich Artikel 15, Absatz 2, EMRK nur auf Artikel 4, Absatz eins, EMRK, nicht aber auch auf Artikel 4, Absatz 2, in Verbindung mit Absatz 3, Litera c, EMRK bezieht. Auch ist nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass Kurden in der Türkei bei der Heranziehung zum Wehrdienst oder bei der Ableistung des Dienstes in asylerheblicher Weise benachteiligt würden. Bei einer Querschnittsbetrachtung der Quellen ist festzuhalten, dass Hinweise auf eine systematische Diskriminierung kurdischer Rekruten oder gar auf systematische Übergriffe bis hin zum Mord gegen kurdische Rekruten aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit fehlen. Bei einer Gesamtwürdigung der Quellen ist sohin der Schluss geboten, dass eine dem türkischen Staat zurechenbare asylerhebliche Verfolgung kurdisch-stämmiger Rekruten nicht stattfindet, wiewohl hervorzuheben ist, dass Einzelfälle von Übergriffen oder Suiziden sehr wohl dokumentiert sind und demnach auch derartiges stattfindet. Derartig vereinzelt dokumentierte Vorfälle bei der Ableistung des Wehrdienstes können demnach nicht ausgeschlossen werden. Dennoch handelt es sich bei solchen tragischen Ereignissen den Berichten nach zu schließen um Einzelfälle. Bei einer abwägenden Gesamtbetrachtung der vorliegenden Länderfeststellungen kann – wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung erörtert – nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung im Zuge der Ableistung seines Militärdienstes bzw. einer allfälligen Bestrafung wegen der nicht erfolgten Ableistung in Form von Übergriffen oder Misshandlungen drohen würde.

In seinem Urteil vom 26.02.2015 in der Rechtssache C-472/13 erkannte der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit der Strafverfolgung und Bestrafung, die einem Asylwerber in seinem Herkunftsland aufgrund seiner Verweigerung des Militärdienstes drohen würden, eine Prüfung voraussetzt, ob ein solches Vorgehen über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann (Rz 50).

Zu den Gründen, die es rechtfertigen, den Wehrdienst zu verweigern, wird unter anderem gezählt, dass der Militärdienst in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der Statusrichtlinie fallen, also etwa Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen werden. Eine Strafverfolgung oder Bestrafung kann in diesem Fall nach Artikel 9, Absatz 2, Litera e, Statusrichtlinie als Verfolgung gelten. Der EuGH hat in dem zuvor bereits zitierten Urteil Shepherd klargestellt, dass sich auf den Flüchtlingsschutz nicht nur derjenige berufen kann, der den Wehrdienst verweigert, weil er persönlich solche Verbrechen begehen müsste.

Es reicht vielmehr aus, dass der Betroffene an solchen Verbrechen nur indirekt beteiligt wäre, etwa, weil er nicht zu den Kampftruppen gehört, sondern z.B. einer logistischen oder unterstützenden Einheit zugeteilt ist. Allerdings ist nach den Darlegungen des EuGH erforderlich, dass es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass der Betroffene sich bei der Ausübung seiner Funktionen in hinreichend unmittelbarer Weise an solchen Handlungen beteiligen müsste (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0330).

Ein Zwang zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kann aufgrund der vorliegenden Berichtslage nicht erkannt werden, zumal den mit dem BF in der Beschwerdeverhandlung erörterten bzw. ihm zur Stellungnahme zugemittelten Berichten keine Hinweise dahingehend entnommen werden konnten, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden. Die Türkei führt zum Entscheidungszeitpunkt auch keine offensiven und der Öffentlichkeit bekannten Operationen in Syrien oder dem Südosten der Türkei gegen Separatisten durch und ist aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes auch nicht damit zu rechnen, dass unerfahrene Wehrpflichtige zu Kampfeinsätzen herangezogen werden. In Ansehung des BF kann das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der Berichtslage jedenfalls kein im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhtes Risiko einer Teilnahme an Kampfhandlungen erkennen. Dass die türkischen Streitkräfte zum Entscheidungszeitpunkt bei Kampfhandlungen massive Verluste und getötete Wehrpflichtige erleiden würden ist in Anbetracht der Berichtslage jedenfalls auszuschließen.

In diesem Zusammenhang ist noch ergänzend festzuhalten, dass der Beschwerdeführer schlussendlich in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht hat, den Militärdienst nicht aus Gewissensgründen verweigert zu haben und vor dem Militärdienst an sich auch überhaupt keine Angst zu haben.

Wie beweiswürdigend ausführlich dargelegt, kann selbst im Falle der Verhängung einer Freiheitsstrafe – was angesichts der Neufassung des Artikel 63, des Militärstrafgesetzbuches, wonach bei Wehrdienstverweigerern zunächst mit Verwaltungsstrafen vorzugehen und ein Gefängnisaufenthalt von sechs Monaten nur subsidiär zur Anwendung kommt, im gegenständlichen Fall nicht als wahrscheinlich einzuschätzen ist – sowie im Hinblick auf die Erwägungen zu den Haftbedingungen keine unbillige Härte im Sinne der obzitierten Judikatur erkannt werden.

Die Befürchtungen des Beschwerdeführers basieren insgesamt weitgehend auf Spekulation und sind nicht dazu geeignet, im Sinn der Rechtsprechung eine reale Gefahr aufzuzeigen.

3.2.2.3. Aus Nachteilen wegen der Zugehörigkeit zur kurdischen Ethnie ist angesichts der fehlenden Eingriffsintensität derselben kein als Verfolgung zu qualifizierendes Szenario zu gewinnen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme ist als Verfolgung im Sinn des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (VwGH 02.08.2018, Ra 2018/19/0396). Allgemeine Diskriminierungen, etwa soziale Ächtung, für sich genommen nicht die hinreichende Intensität für eine Asylgewährung aufweisen können. Bestimmte Benachteiligungen (wie etwa allgemeine Geringschätzung durch die Bevölkerung, Schikanen, gewisse Behinderungen in der Öffentlichkeit) bis zur Erreichung einer Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt der Beschwerdeführer im Heimatland als unerträglich anzusehen wäre (VwGH 07.10.1995, Zl. 95/20/0080; 23.05.1995, Zl. 94/20/0808), sind hinzunehmen.

Ausweislich der Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat sind Angehörige der kurdischen Ethnie zwar Nachteilen ausgesetzt, diese erreichen jedoch nicht die Intensität, dass deshalb ein Aufenthalt in der Türkei als unerträglich anzusehen oder mit einem gänzlichen Verlust der Lebensgrundlage verbunden wäre – was auch daran erkennbar ist, dass nahe Angehörige der beschwerdeführenden Partei weiterhin in der Türkei leben, ohne Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein.

Bezüglich der Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder unruhebedingten Lebensbedingungen zurückzuführen sind, bleibt festzuhalten, dass diese keine Verfolgungshandlungen im Sinne des Asylgesetzes darstellen, da alle Bewohner gleichermaßen davon betroffen sind. Bestehende schwierige Lebensumstände allgemeiner Natur sind hinzunehmen, weil das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren, die etwa in Folge des Krieges, Bürgerkrieges, Revolution oder sonstiger Unruhen entstehen, ein Standpunkt den beispielsweise auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in Punkt 164 einnimmt (VwGH 14.03.1995, Zl. 94/20/0798).

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist zusammenfassend davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht.

Eine Verfolgung des Beschwerdeführers im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2, GFK liegt somit nicht vor und es braucht daher auf die Frage der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der staatlichen Organe in der Türkei sowie des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden. Es besteht im Übrigen keine Verpflichtung, Asylgründe zu ermitteln, die der Asylwerber gar nicht behauptet hat (VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0202).

Spruchpunkt römisch eins. der angefochtenen Bescheide ist demgemäß jedenfalls nicht zu beanstanden und kommt der Beschwerde insoweit keine Berechtigung zu.

3.3. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei:

3.3.1. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Ziffer eins,) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Ziffer 2,), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß Paragraph 8, Absatz 2, AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, zu verbinden.

Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung der Beschwerdeführerinnen in die Türkei Artikel 2, EMRK (Recht auf Leben), Artikel 3, EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.

Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Artikel 3, MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN).

Nach der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es dabei grundsätzlich der beschwerdeführenden Partei, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Artikel 3, EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, römisch eins. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255; VwGH 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Die Mitwirkungspflicht der beschwerdeführenden Partei bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, Zl. 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen vergleiche VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86). So führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller, Beweise zu beschaffen, dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (EGMR U 05.07.2005, Said gegen Niederlande, 5.7.2005).

Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen im Übrigen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141).

3.3.2. Unter „real risk“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (grundlegend VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; Regierungsvorlage 952 BlgNR römisch 22 . Gesetzgebungsperiode 37). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die Feststellung einer Gefahrenlage im Sinn des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 erfordert das Vorliegen einer konkreten, den BF betreffenden, aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbaren Gefährdung bzw. Bedrohung. Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher ohne Hinzutreten besonderer Umstände, welche ihnen noch einen aktuellen Stellenwert geben, nicht geeignet, die begehrte Feststellung zu tragen vergleiche VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; 14.10.1998, Zl. 98/01/0122).

3.3.3. Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Artikel 3, EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der betroffenen Person im Falle seiner Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden vergleiche EGMR U 08.04.2008, Nnyanzi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21878/06).

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Artikel 3, EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (VfSlg 13.314/1992; EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des Antragstellers zu berücksichtigen, wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein ausreichend reales Risiko für eine Verletzung des Artikel 3, EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (EGMR U 04.07.2006, Karim gegen Schweden, Nr. 24171/05, U 03.05.2007, Goncharova/Alekseytev gegen Schweden, Nr. 31246/06).

Der EGMR geht weiter allgemein davon aus, dass aus Artikel 3, EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische oder sonstige unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann diesbezüglich die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Artikel 3, EMRK führen (EGMR U 15.02.2000, S.C.C. gegen Sweden, Nr. 46553/99).

3.3.4. Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Artikel 3, EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände vorliegen (EGMR U 02.05.1997, D. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 30240/96; U 06.02.2001, Bensaid gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 44599/98; VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443).

Unter außergewöhnlichen Umständen können auch lebensbedrohende Ereignisse (etwa das Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Artikel 3, EMRK in Verbindung mit Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0142). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Artikel 3, EMRK für die Beantwortung dieser Frage unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137). Außergewöhnlicher Umstände liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (VwGH 11.11.2015, Ra 2015/20/0196, mwN).

3.3.5. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Artikel 15, Litera c, der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).

Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person der beschwerdeführenden Partei so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein vergleiche EuGH U. 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen: ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Artikel 3, EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).

3.3.6. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 nicht gegeben sind:

Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in Rechten nach Artikel 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen. Die Sicherheitslage in der Türkei ist als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der Partiya Karkerên Kurdistanê konfrontiert. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich jedoch nicht dargetan, dass er von der prekären Sicherheitslage in einer besonderen Weise betroffen wäre. Von einer allgemeinen, das Leben eines jeden Bürgers betreffenden, Gefährdungssituation im Sinne des Artikels 3 EMRK in der Türkei ist jedenfalls nicht auszugehen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die türkischen Behörden ausweislich der getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat grundsätzlich fähig und auch willens sind, Schutz vor strafrechtswidrigen Übergriffen zu gewähren.

Die Sicherheitslage hat sich zwar seit Juli 2015 verschlechtert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde. Seither ist landesweit mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen. Vom Sommer 2015 bis Ende 2017 kam es zu einer der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge in der Geschichte der Türkei aufgrund von Terroranschlägen der Partiya Karkerên Kurdistanê, des Islamischen Staates und (in sehr viel geringerem Ausmaß) von Terroranschlägen linksextremistischer Gruppierungen. Die Intensität des Konflikts mit der PKK innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen, was durch die festgestellten statistischen Angaben zu sicherheitsrelevanten Vorfällen und damit verbündenden Opfern erwiesen ist.

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben den Feststellungen zufolge Auswirkungen auf die Sicherheitslage, wobei an dieser Stelle festzuhalten ist, dass der Landkreis, in welcher die beschwerdeführende Partei vor der Ausreise lebte, ferner deutlich von jenen Grenzgebieten zu Syrien und zum Irak entfernt liegt, in welchen regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Kämpfern der Partiya Karkerên Kurdistanê stattfinden. Außerdem ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nicht vorbrachte, zeitnah zum Zeitpunkt seiner Ausreise direkt von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren betroffen gewesen zu sein. Eine individuelle Betroffenheit von Kampfhandlungen oder Ausgangssperren im Rückkehrfall ist demnach nicht zu befürchten. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer selbst auch kein substantiiertes Vorbringen dahingehend erstattet, dass er schon aufgrund seiner bloßen Präsenz in seiner letzten Heimatprovinz E. oder auch allenfalls in Istanbul mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wären.

Im Hinblick auf den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder in diesen verwickelt ist, noch einer seither besonders gefährdeten Berufsgruppe angehört und auch nicht der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung bezichtigt wird.

Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Artikel 3, EMRK überschritten wäre vergleiche hiezu grundlegend VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), hat doch der Beschwerdeführer selbst nicht vorgebracht, dass ihm im Falle einer Rückführung in die Türkei jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und er in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre.

Der Beschwerdeführer ist ein volljähriger, arbeitsfähiger und überwiegend gesunder Mann, der einerseits über ein weitläufiges familiäres Netz in der Türkei, darunter in E. verfügt, wo zumindest noch vier von fünf Brüdern und beide Eltern leben und dort nach wie vor ihren Lebensunterhalt als Viehhirten für andere Landwirte bestreiten und in einem eigenen landwirtschaftlichen Haus wohnen. Der Beschwerdeführer hatte zumindest bis zum Jahr 2019 zu Familienangehörigen in der Türkei Kontakt und vorgebracht, er habe den Kontakt zum Schutz der Familie dann abgebrochen. In diesem Zusammenhagn wird auf die beweiswürdigenden Ausführungen zu diesem Vorbringen verwiesen. Aus dem Vorbringen kann insgesamt nicht geschlossen werden, dass der Beschwerdeführer keinerlei Unterstützung im Fall der Rückkehr in die Türkei, zumindest in Form der Zurverfügungstellung von Wohnraum und Gütern des täglichen Bedarfs, erhalten würde. Dem Beschwerdeführer ist es auch zumutbar, wieder im landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern mitzuhelfen bzw. seine vormalige Tätigkeit als Hirte oder im Gastgewerbe wiederaufzunehmen, um so allenfalls zu seinem Unterhalt beizutragen. Es ist auch kein Grund ersichtlich, warum er die in Österreich als Selbtändiger erworbenen Fähigkeit in der Türkei nicht beruflich verwerten sollte.

Darüber hinaus stehen dem Beschwerdeführer die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigtem offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Artikel 2, des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt.

Soweit der Beschwerdeführer seinen Gesundheitszustand im Verfahren thematisierte, wird im Einzelnen auf die beweiswürdigenden Erwägungen unter 2.2. verwiesen. Zusammengefasst konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer an einer aktuellen und akuten diagnostizierten psychischen oder psychiatrischen Erkrankung leidet und/oder deswegen in medikamentöser oder ärztlicher Behandlung stünde. Auch hat sich nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer aktuell an einer schweren physischen oder psychischen Erkrankung leidet, die im Herkunftsstaat nicht behandelbar wäre.

Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, die im Einzelfall eine Verletzung der durch Artikel 3, EMRK gewährleisteten Rechte darstellen würde, liegt demgemäß nicht vor.

In diesem Zusammenhang verweist das Bundesverwaltungsgericht auch auf das Erkenntnis des VwGH vom 06.11.2009, 2008/19/0174, in dem die Schwelle einer Verletzung von Artikel 3, EMRK in einem Fall einer alleinstehenden Mutter eines Kleinkindes (ohne Berufserfahrung) trotz Erwartung einer tristen finanziellen Situation ohne familiäre Unterstützung im Heimatland mangels realer Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse verneint und die Behandlung der Beschwerde abgelehnt wurde. In casu stellt sich die Rückkehrsituation des Beschwerdeführers aufgrund der oben aufgezeigten Möglichkeiten als weit besser dar, als in dem zuvor genannten Judikat.

Im Übrigen sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz im Herkunftsstaat letztlich auch als Folge des Verlassens des Heimatlandes ohne ausreichenden (die Asylgewährung oder Einräumung von subsidiären Schutz rechtfertigenden) Grund für eine Flucht nach Österreich im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hinzunehmen vergleiche VwGH vom 29.04.2010, Zl. 2009/21/0055).

Der erwachsene Beschwerdeführer konnte auch schon nach Erhalt des Bescheides der Behörde nicht davon ausgehen, dass er das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt in Österreich erwirken würde und hat er mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung – die in gegenständlichem Fall jedoch bei weitem nicht das Ausmaß der in der Judikatur zu Artikel 3, EMRK definierten Schwelle erreichen – daher hinzunehmen.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes würde es auch dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen, wenn sich ein Fremder generell in einer solchen Situation wie die der Beschwerdeführerin auf eine durch ihre freiwillige Ausreise aus dem Herkunftsland bedingte Verminderung seiner beruflichen Chancen im Falle einer Rückkehr berufen kann. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes würde es ferner einen Wertungswiderspruch und eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterstellung von Fremden, die die fremdenrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen beachten, darstellen, zumal diese letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, die ihren Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich durch ihre illegale Einreise und durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages erzwingen, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde (zum allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007; vergleiche auch VfSlg. 19.086/2010, in dem der Verfassungsgerichtshof auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Bezug nimmt und in diesem Zusammenhang explizit erklärt, dass eine andere Auffassung sogar zu einer Bevorzugung dieser Gruppe gegenüber den sich rechtstreu Verhaltenden führen würde).

Was die Folgen der COVID-19-Pandemie in der Türkei betrifft, so ist festzuhalten, dass es sich hierbei um eine derzeit weltweite auftretende Erkrankung handelt und in Ermangelung von Heilmitteln und entsprechenden Impfstoffen derzeit kein Staat der Welt Sicherheit vor dieser Erkrankung bieten kann, was die aktuellen Entwicklungen in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika belegen. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei der überwiegenden Mehrheit der Betroffenen leicht. Sehr schwere Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf. Der Beschwerdeführer gehört diesen Risikogruppen vergleiche dazu die COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, Bundesgesetzblatt römisch II. Nr. 203 aus 2020,) nicht an, sodass aus diesem Grund von keiner Artikel 3, EMRK-Relevanz im konkreten Fall des Beschwerdeführers auszugehen ist. Eine durch die Lebensumstände im Zielstaat bedingte Verletzung des Artikel 3, EMRK setzt darüber hinaus in jedem Fall nach der Rechtsprechung eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr voraus. Die bloße Möglichkeit eines dem Artikel 3, EMRK widersprechenden Nachteils reicht hingegen nicht aus, um Abschiebungsschutz zu rechtfertigen (VwGH 06.11.2009, Zl. 2008/19/0174). Eine mögliche Ansteckung des Beschwerdeführers in der Türkei mit COVID-19 und ein diesbezüglicher außergewöhnlicher Krankheitsverlauf ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar und eine reale und nicht auf Spekulationen gegründete Gefahr somit nicht zu erkennen. Ergänzend ist festzustellen, dass er auch kein substantiiertes Vorbringen in Bezug auf die Rückkehrsituation im Lichte der COVID-19-Pandemie dargelegt haben. Eine bei der Rückkehr aus medizinischen Gründen allenfalls vorgeschriebene Quarantäne stellt keinen Eingriff in Artikel 3, EMRK dar und findet ihre sachliche Rechtfertigung in der Hintanhaltung der Verbreitung von SARS-CoV-2.

Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer somit nicht in seinen Rechten nach Artikel 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.

Weder droht ihm im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Da somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG abzuweisen.

3.4. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz (Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides):

3.4.1. Wird ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ist gemäß Paragraph 58, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß Paragraph 58, Absatz 3, AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

Paragraph 10, Absatz eins, AsylG 2005 sieht ferner vor, dass eine Entscheidung nach dem Asylgesetz dann mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden ist, wenn - wie im Gegenstand - der Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze abgewiesen wird (Ziffer 3, leg. cit.) und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel nach Paragraph 57, AsylG 2005 erteilt wird. Die Rückkehrentscheidung setzt daher eine vorangehende Klärung der Frage voraus, ob ein Aufenthaltstitel nach Paragraph 57, AsylG 2005 erteilt wird.

3.4.2. Im Ermittlungsverfahren sind keine Umstände zu Tage getreten, welche auf eine Verwirklichung der in Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 alternativ genannten Tatbestände hindeuten würden, insbesondere wurden vom Beschwerdeführer selbst nichts dahingehend dargetan und auch in der Beschwerde kein diesbezügliches Vorbringen erstattet.

Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG 2005 geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der Paragraphen 382 b, oder 382e EO.

Dem Beschwerdeführer ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen. Der gegen den Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides erhobenen Beschwerde kommt daher keine Berichtigung zu.

3.5. Rückkehrentscheidung:

3.5.1. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich seit 17.11.2014 stützt sich alleine auf die Bestimmungen des AsylG für die Dauer des Asylverfahrens. Ein sonstiger Aufenthaltstitel ist nicht ersichtlich und wurde auch kein auf andere Bundesgesetze gestütztes Aufenthaltsrecht behauptet. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet mehr vor und unterliegt dieser damit nicht dem Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG betreffend Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung.

Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist diese Entscheidung daher mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.

Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ betitelte Paragraph 9, BFA-VG in der geltenden Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 56 aus 2018, lautet:

„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.

Anmerkung, Absatz 4, aufgehoben durch Artikel 4, Ziffer 5,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 56 aus 2018,)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraphen 52, Absatz 4, in Verbindung mit 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 4, FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG vorliegen. Paragraph 73, Strafgesetzbuch (StGB), Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974, gilt.“

Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden nach Artikel 8, Absatz eins, EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Rechts der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Artikel 8, EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (VfSlg. 16928/2003).

Der Begriff des Familienlebens ist nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein. Maßgebend sind etwa das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR U 13.06.1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74; GK 22.04.1997, römisch zehn, Y u. Z gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93).

Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nur dann unter den Schutz des Artikel 8, Absatz eins, EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen vergleiche dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 09. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26.01.2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 08.06.2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29.03.2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Artikel 8, EMRK Rz 76). Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, Zl. 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, Zl. 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, Zl. 97/21/0778; 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine "hinreichend starke Nahebeziehung" besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung vergleiche VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.

Der Begriff des "Familienlebens" in Artikel 8, EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, so wie die Beziehung zwischen erwachsenen Geschwistern, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd Artikel 8, EMRK erreichen. Eine solche liegt vor, wenn einen entsprechenden Grad an über die bloße Verwandtschaft hinausgehenden Bindungen vorliegt, z.B. besondere Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht, vorliegen (dazu VwGH 18.06.2009, 2008/22/0135).

3.5.2. Der Abwägung der öffentlichen Interessen gegenüber den Interessen eines Fremden an einem Verbleib in Österreich in dem Sinne, ob dieser Eingriff im Sinn des Artikel 8, Absatz 2, EMRK notwendig und verhältnismäßig ist, ist voranzustellen, dass die Rückkehrentscheidung jedenfalls der innerstaatlichen Rechtslage nach einen gesetzlich zulässigen Eingriff darstellt.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Moustaquim ist eine Maßnahme dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Das bedeutet, dass die Interessen des Staates, insbesondere unter Berücksichtigung der Souveränität hinsichtlich der Einwanderungs- und Niederlassungspolitik, gegen jene des Berufungswerbers abzuwägen sind (EGMR U 18.02.1991, Moustaquim gegen Belgien, Nr. 12313/86).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Die Konventionsstaaten sind nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt, Einreise, Ausweisung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen (EGRM U 30.10.1991, Vilvarajah u.a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13163/87).

Hinsichtlich der Abwägung der öffentlichen Interessen mit jenen des Berufungswerbers ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass Asylwerber und sonstige Fremde nicht schlechthin gleichzusetzen sind. Asylwerber hätten regelmäßig ohne Geltendmachung von Asylgründen keine rechtliche Möglichkeit, legal nach Österreich einzureisen. Soweit die Einreise nicht ohnehin unter Umgehung der Grenzkontrolle oder mit einem Touristenvisum stattgefunden hat, ist Asylwerbern der Aufenthalt bloß erlaubt, weil sie einen Asylantrag gestellt und Asylgründe geltend gemacht haben. Sie dürfen zwar bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung weder zurückgewiesen, zurückgeschoben noch abgeschoben werden, ein über diesen faktischen Abschiebeschutz hinausgehendes Aufenthaltsrecht erlangen Asylwerber jedoch lediglich bei Zulassung ihres Asylverfahrens sowie bis zum rechtskräftigen Abschluss oder bis zur Einstellung des Verfahrens. Der Gesetzgeber beabsichtigt durch die zwingend vorgesehene Ausweisung von Asylwerbern eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung im Inland von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern. Es kann dem Gesetzgeber nicht entgegengetreten werden, wenn er auf Grund dieser Besonderheit Asylwerber und andere Fremde unterschiedlich behandelt (VfSlg. 17.516/2005).

3.5.3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat fallbezogen unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, die bei einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Artikel 8, EMRK einer Ausweisung entgegensteht (zur Maßgeblichkeit dieser Kriterien vergleiche VfSlg. 18.223/2007).

Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine fixen zeitlichen Vorgaben knüpft (EGMR U 31.1.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99; U 16.9.2004, M. C. G. gegen Deutschland, Nr. 11.103/03), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR GK 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 9214/80, 9473/81, 9474/81; U 20.6.2002, Al-Nashif gegen Bulgarien, Nr. 50.963/99) und dessen Intensität (EGMR U 02.08.2001, Boultif gegen Schweiz, Nr. 54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert vergleiche EGMR U 04.10.2001, Adam gegen Deutschland, Nr. 43.359/98; GK 09.10.2003, Slivenko gegen Lettland, Nr. 48321/99; vergleiche VwGH 5.7.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124), die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (EGMR U 11.04.2006, Useinov gegen Niederlande Nr. 61292/00) für maßgeblich erachtet.

Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren – was bei einem bloß vorläufigen Aufenthaltsrecht während des Asylverfahrens jedenfalls als gegeben angenommen werden kann – ist bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (EGMR U 24.11.1998, Mitchell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 40.447/98; U 05.09.2000, Solomon gegen die Niederlande, Nr. 44.328/98; 31.1.2006, U 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande, Nr. 50435/99).

Bereits vor Inkrafttreten des nunmehrigen Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG entwickelten die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den Erkenntnissen VfSlg. 18.224/2007 und VwGH 17.12.2007, Zl. 2006/01/0216 unter ausdrücklichen Bezug auf die Judikatur des EGMR nachstehende Leitlinien, welche im Rahmen der Interessensabwägung gem. Artikel 8, Absatz 2, EMRK zu berücksichtigen sind. Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob im Falle der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in das durch Artikel 8, MRK geschützte Privat- und Familienleben des oder der Fremden eingegriffen wird, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt (VwGH 28.04.2014, Ra 2014/18/0146-0149, mwN). Maßgeblich sind dabei die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität sowie die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, weiters der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert sowie die Bindungen zum Heimatstaat (VwGH 13.06.2016, Ra 2015/01/0255). Ferner sind nach der eingangs zitieren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie dies Verfassungsgerichtshofs die strafgerichtliche Unbescholtenheit aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht sowie Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und schließlich die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen.

Der Verfassungsgerichtshof hat sich bereits im Erkenntnis VfSlg. 19.203/2010 eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthalts bewusst waren. Der Verfassungsgerichtshof stellt dazu fest, dass das Gewicht der Integration nicht allein deshalb als gemindert erachtet werden darf, weil ein stets unsicherer Aufenthalt des Betroffenen zugrunde liege, so dass eine Verletzung des Artikel 8, EMRK durch die Ausweisung ausgeschlossen sei. Vielmehr müsse die handelnde Behörde sich dessen bewusst sein, dass es in der Verantwortung des Staates liegt, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren effizient führen zu können und damit einhergehend prüfen, ob keine schuldhafte Verzögerungen eingetreten sind, die in der Sphäre des Betroffenen liegen vergleiche auch VfSlg. 19.357/2011).

Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiter dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, Zl. 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten wie insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes, relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich (VwGH 2.10.1996, Zl. 95/21/0169; 28.06.2007, Zl. 2006/21/0114; VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).

Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es dem Beschwerdeführer bei der asylrechtlichen Ausweisung nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren. Es wird dadurch nur jener Zustand hergestellt, der bestünde, wenn er sich rechtmäßig (hinsichtlich der Zuwanderung) verhalten hätte und wird dadurch lediglich anderen Fremden gleichgestellt, welche ebenfalls gemäß dem Grundsatz der Auslandsantragsstellung ihren Antrag nach den fremdenpolizeilichen bzw. niederlassungsrechtlichen Bestimmungen vom Ausland aus stellen müssen und die Entscheidung der zuständigen österreichischen Behörde dort abzuwarten haben.

Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung nach Artikel 8, Absatz 2, EMRK daher ein hoher Stellenwert zu (VfSlg. 18.223/2007; VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251).

Die öffentliche Ordnung, hier im Besonderen das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird etwa beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, Zl. 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, Zl. 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).

Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den sensiblen Arbeitsmarkt als auch für das Sozialsystem gravierende Auswirkung hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Fremde, welche daher auch über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes auf den inoffiziellen Arbeitsmarkt drängen, was wiederum erhebliche Auswirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat.

3.5.4. In Abwägung der gemäß Artikel 8, EMRK maßgeblichen Umstände in Ansehung der Beschwerdeführerin ergibt sich unter Berücksichtigung der soeben dargelegten Judikatur für den gegenständlichen Fall Folgendes:

-             Aufenthaltsdauer, Rechtmäßigkeit des Aufenthalts

Der Beschwerdeführer hält sich seit 17.11.2014, also fast acht Jahre, in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig und schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und konnte seinen Aufenthalt lediglich durch die Stellung eines unbegründeten Antrags auf internationalen Schutz vorübergehend legalisieren.

-             tatsächliches Bestehen eines Familienlebens

Der Beschwerdeführer führt zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt seit der Entlassung aus der (zu Unrecht verbüßten) Untersuchungshaft in Österreich im Juli 2017, jedenfalls aber seit Mitte 2019, eine Lebensgemeinschaft mit einer in Österreich unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten bulgarischen Staatsangehörigen und lebt mit ihr seit seiner Haftentlassung im Juli 2017 im gemeinsamen Haushalt, wobei er erst seiner Meldeverpflichtung nicht nachkam, dieser nach Aufforderung des Bundesamtes aber doch nachkam und im Mai 2019 mit seiner Lebensgefährtin im gemeinsamen Haushalt mit Hauptwohnsitz auch gemeldet ist.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit Dezember 2016 nicht mehr in der Grundversorgung und wurde der gesamte Lebensunterhalt des Beschwerdeführers seit Juli 2017 von seiner Lebensgefährtin bestritten. Insofern liegt in Österreich jedenfalls ein schützenswertes Familienleben mit einem zumindest zeitweise bestehenden besonderen Abhängigkeitsverhältnis des Beschwerdeführers von seiner vor.

Darüber hinaus leben in Österreich keine Familienangehörigen oder Verwandten des Beschwerdeführers. Er ist in das Familienleben seiner Lebensgefährtin nachhaltig eingebunden.

Insgesamt liegt ein schützenswertes Familienleben iSd Artikel 8, EMRK zu der in Österreich lebenden Lebensgefährtin des Beschwerdeführers vor. Die Rückkehrentscheidung betreffend den Beschwerdeführer stellt somit einen Eingriff in das Recht auf Familienleben dar.

-             Schutzwürdigkeit des Privatlebens

Der Beschwerdeführer begründete sein Privatleben zu einem Zeitpunkt, als der Aufenthalt durch die Stellung eines unbegründeten Asylantrages vorübergehend legalisiert wurde. Auch war der Aufenthalt des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Begründung der Anknüpfungspunkte im Rahmen des Privat- und Familienlebens ungewiss und nicht dauerhaft, sondern auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt.

Der Beschwerdeführer hält sich bereits seit knapp acht Jahren im Bundesgebiet auf. Er hat die festgestellten persönlichen Anknüpfungspunkte im Inland und sich einen – wenn auch kleinen – Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Er ist aufgrund der Aufenthaltsdauer und seiner Einbindung in das Familienleben seiner Lebensgefährtin auch davon auszugehen, dass er die üblichen sozialen, freundschaftlichen Kontakte, darunter auch zu österreichischen Staatsbürgern pflegt.

Wie bereits beim Familienleben ausgeführt, besteht ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu seiner in Österreich unionsrechtlich aufenthaltsberechtigen Lebensgefährtin.

-             Grad der Integration

Zwar wurde der Verhandlung eine Dolmetscherin beigezogen, jedoch wurden dem Beschwerdeführer auch wesentliche Fragen auf Deutsch ohne Übersetzung gestellt und von ihm auch auf Deutsch beantwortet. Er verfügt weiters über ein am 22.12.2015 erworbenes ÖSD-Sprachzertifikat auf Nivea A2.

Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich ein soziales Netz aufgebaut und ist inzwischen als Hausbesorger und Entrümpler selbstständig erwerbstätig. Er bezieht bereits seit Dezember 2016 keinerlei Grundversorgungsleistungen mehr und lebte von der vollständigen finanziellen Unterstützung seiner Lebensgefährtin, der der Beschwerdeführer auch in Zukunft erhalten wird, sollte er mit seiner selbstständigen Erwerbstätigkeit scheitern oder nicht genügend Einnahmen erwirtschaften können.

Der Beschwerdeführer hat somit hinreichend dargetan, dass er arbeitswillig ist und nicht auf die Leistungen der öffentlichen Hand zurückgreifen will. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch keine Zweifel daran, dass es dem Beschwerdeführer zukünftig gelingen wird, sich allenfalls in den unselbstständigen Arbeitsmarkt zu integrieren.

Die vorgelegten Empfehlungsschreiben dokumentieren, dass sich der Beschwerdeführer im Rahmen seines Aufenthaltes eine soziale Vernetzung im Bundesgebiet aufbaute.

-             strafrechtliche Unbescholtenheit

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Die gegen den Beschwerdeführer von 31.03.2017 bis 31.07.2017 verhängte Untersuchungshaft wurde schlussendlich zu Unrecht vom Beschwerdeführer verbüßt und wurde er dafür von der Finanzprokuratur des Bundes auch entschädigt.

-             Bindungen zum Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer verbrachte den überwiegenden Teil seines Lebens in der Türkei, wurde dort sozialisiert und spricht die dortige Mehrheitssprache auf muttersprachlichem Niveau. Im Verfahren kam auch hervor, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt und ist auch davon auszugehen, dass ein gewisser Freundes- und/oder Bekanntenkreis des Beschwerdeführers noch existiert, da nichts darauf hindeutet, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise in seinem Herkunftsstaat in völliger sozialer Isolation gelebt hätte. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat überhaupt nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.

Zu berücksichtigen ist im konkreten Fall jedoch auch, dass der Beschwerdeführer in einem sehr ländlichen Teil der Türkei gelebt hat und als Schafhirte auf Bergweiden überwiegend alleine seine Zeit verbracht hat. Weiters ist zu berücksichtigen, dass sich der Beschwerdeführer seit fast acht Jahren nicht mehr in der Türkei gewesen ist und die dort beruflich wie auch geografisch bedingt eher eingeschränkt vorhandenen sozialen Bindungen jedenfalls eine weitere Lockerung erfahren haben müssen.

- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl- Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts

Abgesehen von dem im Ergebnis unberechtigt gebliebenen Asylantrag und den Meldepflichtverletzungen des Beschwerdeführers zwischen 2017 und Mai 2019 sind keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung hervorgekommen.

-             die Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren

Dem volljährigen Beschwerdeführer musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert die rechtswidrige und schlepperunterstützte Einreise den Umstand, dass dem Beschwerdeführer die Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung bewusst war, da davon auszugehen ist, dass er in diesem Fall diese weitaus weniger beschwerliche und kostenintensive Art der legalen Einreise und Niederlassung gewählt hätte.

-             - mögliches Organisationsverschulden durch die handelnden Behörden in Bezug auf die Verfahrensdauer

Es ist im Rahmen einer Gesamtschau zwar festzuhalten, dass eine raschere Erledigung des Asylverfahrens bei Vorhandensein entsprechender Ressourcen denkbar ist, dennoch ist die zeitliche Dauer des Verfahrens nur ein Aspekt unter vielen. Der Beschwerdeführer hat sich durch Untertauchen bzw. durch die Verletzung seiner Meldeverpflichtung ab Dezember 2016 bis Mai 2019 dem Verfahren entzogen. Dies dürfte jedoch zumindest zum Teil seiner damals eingeschränkten psychischen Verfassung und der damals bestehenden Suchtmittelabhängigkeit geschuldet gewesen sein. Für den Beschwerdeführer spricht jedenfalls, dass er die Dauer des Verfahrens zumindest ab der Fortsetzung des Asylverfahrens durch das Bundesamt ab Mai 2019 nicht zu vertreten hat und er bislang in Österreich auch nur einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

-             Auswirkungen der allgemeinen Lage in der Türkei

Der Verwaltungsgerichtshof geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass dem Artikel 8, EMRK innewohnenden Recht auf das Privat- und Familienleben auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit abzuleiten ist vergleiche etwa Erk. d. VwGH vom 28.6.2016, Ra 2015/21/0199-8). Vor diesem Hintergrund ist die Zulässigkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Lichte des Artikel 8, EMRK auch vor dem Hintergrund der Lage im Herkunftsstaat, welche der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr vorfindet, zu prüfen, wobei bereits an dieser Stelle Artikel 8, EMRK –anders als Artikel 3, leg. cit.- einen Eingriffsvorbehalt kennt.

Im gegenständlichen Verfahren ergaben sich jedoch keine Hinweise auf einen aus diesem Blickwinkel relevanten Sachverhalt. Auf die oben getätigten Ausführungen zur Situation im Land wird verwiesen.

-             Schlussfolgerungen

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Artikel 8, MRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant vergleiche E 26. Februar 2015, Ra 2015/22/0025; E 19. November 2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert vergleiche VwGH vom 16.12.2014, 2012/22/0169; vom 09.09.2014, 2013/22/0247; vom 30.07.2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden zugrunde vergleiche VwGH vom 17.03.2016, Ro 2015/22/0016, mit Verweis auf VwGH vom 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des Paragraph 9, BFA-VG ist in diesem nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelfall, vor allem aufgrund der überwiegend nicht vom Beschwerdeführer zu vertretenden Verfahrensdauer, des diesbezüglich in der Vergangenheit zu berücksichtigenden Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers, der zu Unrecht verbüßten Untersuchungshaft, des bestehenden Familienlebens iSd. Artikel 8, EMRK sowie des Umstandes, dass der Beschwerdeführer seinen Aufenthalt in diesem Zeitraum für die Schaffung von integrativen Anknüpfungspunkten im Bundesgebiet nützte, insbesondere die über das übliche Maß hinausgehenden beruflichen Anknüpfungspukte und der inzwischen vorliegenden beruflichen Unabhängigkeit des Beschwerdeführers, die ihm ermöglicht, neben der Unterstützung durch seine Lebensgefährtin seinen Aufenthalt im Bundesgebiet aus Eigenem zu bestreiten, ist ein Überwiegen der persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK zu erkennen.

Eine Rückkehrentscheidung erweist sich daher gemäß Paragraph 9, BFA-VG hinsichtlich aller Beschwerdeführer als unzulässig.

3.5.5. Gemäß Paragraph 58, Absatz 2, AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung aufgrund des Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig erklärt wird.

Der mit „Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8, EMRK“ betitelte Paragraph 55, AsylG lautet:

„§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1.              dies gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK geboten ist und
2.              der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017,, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (Paragraph 5, Absatz 2, Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), Bundesgesetzblatt Nr. 189 aus 1955,) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Absatz eins, Ziffer eins, vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.“

Der mit „Modul 1 der Integrationsvereinbarung“ betitelte Paragraph 9, IntG idgF Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 42 aus 2020, lautet auszugsweise:

„§ 9. (1) Drittstaatsangehörige (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 6, NAG) sind mit erstmaliger Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins,, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet. Diese Pflicht ist dem Drittstaatsangehörigen nachweislich zur Kenntnis zu bringen.

(2) Der Erfüllungspflicht gemäß Absatz eins, haben Drittstaatsangehörige binnen zwei Jahren ab erstmaliger Erteilung des Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins,, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG nachzukommen. Unter Bedachtnahme auf die persönlichen Lebensumstände des Drittstaatsangehörigen kann der Zeitraum der Erfüllungspflicht auf Antrag mit Bescheid verlängert werden. Diese Verlängerung darf die Dauer von jeweils zwölf Monaten nicht überschreiten; sie hemmt den Lauf der Fristen nach Paragraph 14,

(2a) Fällt das Ende der Erfüllungspflicht gemäß Absatz eins, in die Zeit von 22. März 2020 bis 30. Juni 2020, verlängert sich der Zeitraum der Erfüllungspflicht nach Absatz 2 bis zum 31. Oktober 2020; diese Verlängerung hemmt den Lauf der Fristen nach Paragraph 14,

(3) Für die Dauer von fünf Jahren ab Ablauf der Gültigkeit des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins,, 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 NAG werden bereits konsumierte Zeiten der Erfüllungspflicht auf den Zeitraum der Erfüllungspflicht gemäß Absatz 2, angerechnet.

(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1.              einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß Paragraph 11, vorlegt,

Anmerkung, Ziffer 2, aufgehoben durch Art. römisch III Ziffer 15,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 41 aus 2019,)
3.              über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des Paragraph 64, Absatz eins, Universitätsgesetz 2002, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 120 aus 2002,, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht,
4.              einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte“ gemäß Paragraph 41, Absatz eins, oder 2 NAG besitzt oder
5.              als Inhaber eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung – Künstler“ gemäß Paragraph 43 a, NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer eins bis 3 Kunstförderungsgesetz, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 146 aus 1988,, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.

Die Erfüllung des Moduls 2 (Paragraph 10,) beinhaltet das Modul 1.

[…]“

Die Übergangsbestimmung des Paragraph 81, Absatz 36, NAG lautet:

„Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, IntG gilt als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 14 a, in der Fassung vor dem Bundesgesetz Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017, vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017, erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren.“

Das Bundesgesetz Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017, trat mit 01.10.2017 in Kraft.

Fallbezogen ergibt sich daraus:

Der Beschwerdeführer verfügt über ein ÖSD-Deutschzertifikat auf Sprachniveau A2 vom 22.12.2015. Entsprechend der Übergangsbestimmungen des Paragraph 81, Absatz 36, NAG in Verbindung mit dem ehemaligen Paragraph 14 a, NAG erfüllt er somit die Voraussetzungen des Modul 1 der Integrationsvereinbarung.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und dem Beschwerdeführer eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.

3.6. Behebung der der Feststellung über die Zulässigkeit der Abschiebung und Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkte römisch IV. bis römisch VI. der angefochtenen Bescheide):

Da die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt wurde, waren die genannten Spruchpunkte zu beheben.

Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, im Einzelnen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gewährung von internationalem Schutz, dem Refoulementschutz und zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor und wird eine solche auch in der Beschwerde nicht dargetan. In Bezug auf die Spruchpunkte römisch eins. und römisch II. des angefochtenen Bescheides liegt der Schwerpunkt zudem auf Fragen der Beweiswürdigung.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2022:G315.2222245.1.00