Bundesverwaltungsgericht
28.09.2022
W177 2127474-2
W177 2127474-2/56E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom römisch 40 , Zl. römisch 40 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.03.2020, am 17.07.2020 und am 16.05.2022, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe
römisch eins. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (nunmehr „BF“), ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 04.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der Erstbefragung gab der BF an, dass er im Iran geboren worden und nie in Afghanistan gewesen sei. Er sei sein ganzes Leben lang im Iran gewesen. Zum Fluchtgrund gab er an, dass vor 25 Jahren die Eltern des BF aus Afghanistan in den Iran gezogen seien. Warum, wisse er nicht. Der BF sei im Iran geboren und aufgewachsen. Jedes Jahr haben sie dort neu ansuchen müssen, um eine Aufenthaltskarte zu bekommen. Der Vater des BF habe gesagt, dass es in Europa schneller gehe als im Iran. Das hätten ihm Verwandte seiner Frau erzählt, die in Schweden leben würden. Das sei der einzige Fluchtgrund gewesen, den der BF habe.
3. Im Rahmen der am 23.03.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr „BFA“) erfolgten Einvernahme wiederholte der BF, dass er noch nie in Afghanistan gewesen sei. Ein Onkel mütterlicherseits würde in Afghanistan leben; der BF wisse aber nicht, wo. Er habe seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Die Eltern des BF seien vor 23 Jahren (wie der BF glaube) in den Iran gezogen. Der BF habe niemals Probleme mit den Behörden seines Heimatlandes Afghanistan gehabt. Die Iraner würden die Afghanen sehr schlecht behandeln. Der BF könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, da er dort keine Familie habe. Außerdem sei in Afghanistan Krieg. Das seien alle Gründe; mehr könne der BF dazu nicht angeben.
4. Mit Bescheid des BFA vom 04.05.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) abgewiesen. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.05.2017 erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
In der rechtlichen Beurteilung führte das BFA aus, dass der BF keinerlei persönlich gegen ihn gerichtete Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan geltend gemacht habe. Darüber hinaus habe er keine Probleme mit staatlichen Behörden gehabt, sich noch nie in Afghanistan aufgehalten und sich nie politisch in Afghanistan engagiert. Die Entscheidung der Zuerkennung eines subsidiär Schutzberechtigten wurde dahingehend begründet, dass der BF im Iran geboren wurde und er noch nie in Afghanistan gewesen sei. Er verfüge daher weder über Ortskenntnisse in seinem Herkunftsstaat noch über ein tragfähiges soziales Netzwerk, weshalb im Falle einer Rückkehr der BF einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage in Afghanistan ausgesetzt wäre.
5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 25.05.2016 rechtzeitig Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens.
6. Mit Erkenntnis des BVwG vom 05.07.2016, GZ: römisch 40 wurde die Beschwerde bezüglich Paragraph 3, Absatz , AsylG als unbegründet abgewiesen. Dies Entscheidung wurde dahingehend begründet, dass sich das Vorbringen entweder nicht auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan bezogen habe oder seine bereits nicht mehr existente Minderjährigkeit berufen habe. Bezüglich eine möglichen Verfolgung des BF aufgrund seiner Zugehörigkeit zur ethnisch-religiösen Minderheit der schiitischen Hazara, wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie sowie wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der außerhalb Afghanistans geborenen und sozialisierten Personen, welche bei einer Niederlassung in Afghanistan keinerlei Lebensgrundlagen hätten, haben sich im Laufe des gesamten Verfahrens keine persönlichen Gründe einer konkreten Verfolgung in Afghanistan ergeben.
6. Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF als junger Erwachsener zur Zahl römisch 40 wegen der Vergehen nach Paragraphen 83,, 84 Absatz 2,, 1.Fall StGB Paragraph 15, StGB, Paragraph 15, StGB Paragraph 83, StGB und Paragraph 15, Paragraph 269, Absatz eins, 1.Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.
7. Mit Schreiben vom 02.06.2017 stellte der BF einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach Paragraph 8, Absatz 4, AsylG.
8. Mit Bescheid vom 23.06.2017, römisch 40 , erteilte die belangte Behörde dem BF die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 bis zum 23.06.2019.
9. Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF zur Zahl römisch 40 wegen des Vergehens nach Paragraphen 27, Absatz 2 a, 2.Fall und Absatz 3, SMG, Paragraph 15, StGB unter Anwendung von Paragraph 28, StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, acht davon unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.
10. Am 16.01.2019 leitete die belangte Behörde gem. Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG ein Verfahren zu Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ein. Am 29.01.2019 wurde der BF niederschriftlich im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari einvernommen. Der BF gab im Wesentlichen an, gesund und arbeitsfähig zu sein. Er sei Moslem, schiitischer Glaubensrichtung und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei im Iran geboren worden, wo er auch sechs Jahre lang eine afghanische Schule besucht habe, ehe er als Maurer auf Baustellen gearbeitet habe. Seine Familie stamme aus der Provinz Bamyan. In Österreich habe er einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 abgeschlossen und befinde sich derzeit in Haft. Verwandte habe er im Bundesgebiet ebenfalls nicht. Diese würden sich im Iran aufhalten, allerdings stünde er mit diesen seit einiger Zeit nicht mehr in Kontakt. In Afghanistan würden noch eine Schwester und ein Onkel leben, zu diesen bestehe aber schon seit zehn Jahren kein Kontakt mehr. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde der BF nichts befürchten, jedoch habe er dort niemanden und niemand könne ihm dort unterstützen. Nach der Erörterung der Sach- und Rechtslage wurde dem BF mitgeteilt, dass sich seine individuellen Verhältnisse seit dem Zeitpunkt der Verkündung des subsidiären Schutzes so verändert hätten, dass dem BF eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar sei.
11. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom römisch 40 wurde dem BF der ihm mit Bescheid vom 04.05.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt römisch eins.) und ihm die mit Bescheid vom 23.06.2017, Zl. römisch 40 , erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß Paragraph 9, Absatz 4, AsylG entzogen (Spruchpunk römisch II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gegen den BF wurde gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß Paragraph 46, FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt römisch VI.). Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die Angaben des BF zu seinen familiären Anknüpfungspunkten nicht glaubwürdig gewesen seien. Dem Beschwerdeführer sei mit Bescheid vom 04.05.2016 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden, da er aufgrund seiner damaligen Lage im Falle einer Rückkehr in eine (wirtschaftlich) die Existenz bedrohende Situation gelangt wäre und ihm aufgrund der damaligen angenommenen landesweit herrschenden prekären Sicherheitslage in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative zugemutet werden habe können. Die seinerzeit für die Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblichen Gründe seien zwischenzeitig nicht mehr gegeben. Der volljährige BF sei jung, gesund und arbeitsfähig, sodass ihm nunmehr eine Rückkehr in sein Heimatland grundsätzlich zuzumuten sei. Die belangte Behörde gehe auch davon aus, dass ihm eine Rückkehr zumutbar sei, weil sich seine subjektive Lage geändert habe und ihm mit seiner Schwester und seinem Onkel ein soziales Netzwerk zur Verfügung stehe. Es sei ihm sogar eine Rückkehr in die Provinz Bamyan zumutbar. Jedenfalls stünde ihm mit den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Selbst ohne Änderung der subjektiven Lage wäre dem BF der subsidiäre Schutz gem. Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG entzogen worden, zumal dieser mehrmals straffällig geworden sei und er seinen Lebensunterhalt und seine Drogensucht aus dem gewerbsmäßigen Verkauf von Drogen finanziere.
Zum Einreiseverbot hielt die belangte Behörde fest, der BF aufgrund seiner Straftaten eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar. Weiters lasse die Schwere des Fehlverhaltens – u.a. gewebsmäßiger Verkauf von Drogen – deutlich erkennen, dass der BF nicht gewillt sei, die Rechtsvorschriften in erforderlicher Weise zu beachten und sich den Gesetzen in Österreich anzupassen. Eine positive Zukunftsprognose könne nicht gestellt werden. Es sei daher davon auszugehen, dass der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Die Gesamtbeurteilung des Verhaltens des BF, seiner Lebensumstände sowie seiner familiären und privaten Anknüpfungspunkte habe im Zuge der von der Behörde vorgenommenen Abwägungsentscheidung ergeben, dass die Erlassung eines Einreiseverbotes in der Dauer von sieben Jahren gerechtfertigt und notwendig sei.
12. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 30.01.2019 wurde dem BF gem. Paragraph 52, Absatz eins, BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 30.01.2019 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß Paragraph 52 a, Absatz 2, BFA-VG angeordnet.
13.Mit Schreiben vom 26.02.2019 erhob der BF durch seine Rechtsvertretung fristgerecht vollumfängliche Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid wegen mangelhaftem Ermittlungsverfahren und in Folge dessen mangelhafter Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Insbesondere wurde festgehalten, dass sich weder die Sicherheitslage in Afghanistan noch die persönlichen Umstände des BF so verändert haben, dass man den subsidiären Schutz aberkennen hätte dürfen. Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse und des vierjährigen Aufenthalts in Österreich sei der Ausspruch der Rückkehrentscheidung unzulässig gewesen. Die für das Einreiseverbot notwendige Gefährdungsprognose würde qualifizierten Begründungsmängeln unterliegen und die Dauer des Einreiseverbotes sei ebenfalls zu hoch bemessen worden.
14. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch die belangte Behörde zur Entscheidung vorgelegt.
15. Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF zur Zahl römisch 40 wegen des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, 8.Fall und Absatz 3, SMG und des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, 1. und 2Fall und Absatz 2, SMG, unter Anwendung von Paragraph 28, StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Ebenso wurde die gewährte bedingte Strafnachsicht des Urteils vom römisch 40 widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Urteils vom römisch 40 wurde abgesehen.
16. Am 10.03.2020 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, der Rechtsvertretung des BF sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Dari statt. Das BFA als belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
Nach der ausführlichen Erörterung der Sach- und Rechtslage legte der BF ein Konvolut an Unterlagen vor. Diese beinhalteten, dass der BF eine Substitutionstherapie mache und zahlreiche Bestätigungen über seine diesbezügliche Behandlung. Ebenso verlesen wurden das letzte Strafurteil, eine Verständigung vom Rücktritt der Strafverfolgung der StA Wien wegen des Verdachts eines Suchtmitteldelikts sowie das Erkenntnis des BVwG bezüglich der Abweisung der Beschwerde des BF gem. Paragraph 3, AsylG. Der BF vermeinte, dass es ihm bei der Einvernahme vordem BFA nicht gut gegangen sei und sich zahlreiche Fehler im Protokoll der Niederschrift befinden würden. Da der BF angab, dass er die Dolmetscherin nicht gut verstehe und die anwesende Freundin, derer Einvernahme mit Schreiben vom 11.03.2020 auch seitens der rechtsfreundlichen Vertretung des BF beantragt wurde, auch auf Farsi einvernommen werden müsse, wurde die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt.
17. Mit Schreiben vom 25.05.2020 erging eine Verständigung vom Rücktritt der Strafverfolgung der StA Wien wegen des Verdachts eines Suchtmitteldelikts.
18. Am 17.07.2020 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, der Rechtsvertretung des BF und einer Zeugin sowie eines Dolmetschers für die Sprache Farsi statt. Das BFA als belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
Nach der ausführlichen Erörterung der Sach- und Rechtslage, auch unter Einbeziehung von COVID-19, legte der BF ein Konvolut an Unterlagen vor. Dieses beinhalteten einen Sozialbericht und einen Vorbetreuungsbericht bezüglich seiner Substitutionstherapie. Danach wurde die Freundin des BF als Zeugin einvernommen. Sie gab an, dass sie ihn in Wien vor etwa drei Jahren kennengelernt habe. Sie würden sich täglich sehen, jedoch keinen gemeinsamen Haushalt haben. Sie habe in Österreich keine Familienangehörigen und lebe von der Sozialhilfe. Sie arbeite nicht, weil sie nicht gut Deutsch spreche. Sie hätten auch eine sexuelle Beziehung und würden sich in ihren Lebenslagen gegenseitig unterstützen. Durch die Liebe habe sich auch der Gesundheitszustand des BF verbessert. Sie würden eine gemeinsame Zukunft planen und hoffen, dass sie diese Möglichkeiten auch nutzen können, die sie im Iran nicht gehabt hätten, wenn sie die Probleme hinter sich gebracht hätten.
Danach wurde der BF befragt. Dieser gab an, im Iran geboren worden zu sein. Er sei dort auch aufgewachsen und niemals in Afghanistan gewesen. Seine in Afghanistan lebende Schwester sei wieder in den Iran gezogen und zu dem in Afghanistan lebenden Onkel bestehe nach wie vor kein Kontakt und er wisse nicht, wo dieser leben würde. In Afghanistan habe er niemanden, der ihn beim Aufbau einer Existenz unterstützen würde. Seine im Iran lebende Familie sei arm und könne ihm auch nicht helfen. Er befinde sich einer Substitutionstherapie und könne derzeit ohne Einnahme von Medikamenten den Alltag nicht bestreiten. Falls er diese Medikamente im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan dort erhalten würde, dann könne er sie sich nicht leisten. Aufgrund seiner Drogensucht und der mangelnden Kenntnisse einer in Afghanistan gesprochenen Sprache würde er dort nur schwer eine Arbeit finden.
Danach führte die rechtsfreundliche Vertretung des BF noch an, dass bezüglich der Verhältnisse in Afghanistan seit der Gewährung des subsidiären Schutzes des BF keine Änderungen eingetreten wären. Aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften handle es sich beim BF um einen Mann, der einer vulnerablen Personengruppe zugerechnet werden müsse, weil er noch nie in Afghanistan gewesen wäre, er keine ausreichenden Sprachkenntnisse habe und ihm in Afghanistan kein ausreichend tragfähiges soziales Netzwerk zur Verfügung stehen würde. Ebenso müsse beim ihm die Lage wegen COVID-19 und seine Substitutionstherapie einbezogen werden.
Danach folgte der Schluss der Verhandlung. Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß Paragraph 29, Absatz 3, VwGVG.
19. Mit Stellungnahme vom 13.08.2020 führte die Rechtsvertretung des BF aus, dass sich an den für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes maßgeblichen Gründen, entgegen der Einschätzung des BFA, nichts geändert habe. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei dem BF nach wie vor nicht zumutbar, weil er außerhalb Afghanistans geboren worden sei und er dort auch auf kein soziales Netz zurückgreifen könne. Durch seine Suchtkrankheit weise er ein weiteres Vulnerabilitätsmerkmal auf. Neben dieser Stigmatisierung, könne er im Falle einer Rückkehr auch seine Substitutionstherapie nicht mehr fortsetzen. Er gehöre daher einer Risikogruppe an, die in Falle einer Rückkehr Gefahr liefe, einer Verletzung von Artikel 3, EMRK ausgesetzt zu sein. Die aktuelle Situation um COVID-19 würde die Situation de BF im Falle einer Rückkehr zusätzlich erschweren, sodass es für ihn Als Rückkehr nur schwer möglich wäre, eine Unterkunft und Arbeit zu finden, zumal er in Afghanistan kein soziales Netz vorfinden würde. Zur Situation der Situation der Rückkehrer werde die Einholung eines Gutachtens von Dr. Friederike Strahlmann beantragt. Durch seine Integration In Österreich würde die Rückkehrentscheidung einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die nach Artikel 8, EMRK dem BF gewährten Rechte darstellen. Bezüglich des Einreiseverbotes wurde festgehalten, dass der BF keine Gefahr der öffentlichen Sicherheit darstellen würde, zumal dieser keine besonders qualifizierten strafrechtlichen Verstöße im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur aufzuweisen habe. Ebenso hätte für den BF eine positive Zukunftsprognose getroffen werden müssen.
20. Mit Erkenntnis des BVwG vom 09.11.2020, GZ: W177 2127474-2/28E wurde die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe abgewiesen, dass dieser zu lauten hat, dass dem BF der mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 04.05.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt werde (Spruchpunkt römisch eins.). Die Beschwerde wurde hinsichtlich der Spruchpunkte römisch II., römisch III., römisch IV. und römisch VI. und des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.). Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch fünf. und römisch VII. des angefochtenen Bescheides wurde mit der Maßgabe stattgegeben, dass diese richtig zu lauten haben: „Es wird gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 unzulässig ist. Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.“ (Spruchpunkt römisch III.)
Zur Aberkennung des subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass dem BF wurde mit Bescheid vom 04.05.2016 der subsidiäre Schutz zuerkannt, weil das Bundesasylamt davon ausgegangen sei, dass aufgrund der humanitären und sicherheitspolitisch problematischen Lage in Afghanistan stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen würden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in seinen Herkunftsstaat einer realen Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt sei. Im nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl habe sich die belangte Behörde darauf gestützt, dass sich die Lage in Afghanistan im Vergleich zu 2016 insofern geändert habe, als dem BF nun eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, und führte darüber hinausgehend aus, die Voraussetzungen für die Aberkennung des subsidiären Schutzes gemäß Paragraph 9, Absatz eins, AsylG 2005 würden – unter Bedachtnahme auf die den BF individuell betreffenden Faktoren im Zusammenhang mit der aktuellen Situation in seinem Herkunftsstaat – vorliegen.
Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhalts ergebe sich, dass die Voraussetzungen für die Aberkennung des subsidiären Schutzes gemäß Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, zweiter Fall AsylG 2005 jedoch nicht vorliegen würden. Laut den Richtlinien des UNHCR vom 30.08.2018 sei eine interne Schutzalternative u.a. nur dann zumutbar, wenn die betroffene Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft habe und man sich vergewissert habe, dass diese willens und in der Lage wären, die betroffene Person tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung würden nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne besondere Gefährdungsfaktoren darstellen. Diese Personen würden unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben können. Eine Ausnahme hiervon wäre – laut EASO – das für den BF relevante Personenprofil der „Antragsteller, welche außerhalb von Afghanistan geboren sind bzw. über einen sehr langen Zeitraum im Ausland gelebt haben“. Dies führe dazu, dass diesen dann eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zumutbar sein könnte („may not be reasonable“), wenn sie dort über keinerlei Unterstützungsnetzwerk verfügen, das ihnen bei der Bestreitung ihres Lebensunterhaltes behilflich sein könnte. Der BF könne auf kein aufrechtes familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan zurückgreifen und da er Zeit seines Lebens noch nie in Afghanistan aufhältig gewesen sei, mangle es ihm an grundlegenden Kenntnissen der örtlichen Gegebenheiten. Diese seien aber bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedlung in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif unabdingbar. Ebenso seien auch die höchstgerichtlichen Ausnahmen dieser Regel zu berücksichtigen gewesen unter die der BF zweifelsfrei falle.
Soweit bei Straffälligkeit eines Schutzberechtigten eine „neue individuelle Bewertung des Schutzstatus“ durchgeführt werde, sei auszuführen gewesen, dass dies eine Aberkennung des subsidiären Schutzes gemäß Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 nach sich ziehen könne. Betreffend die rechtskräftigen Verurteilungen des BF sei festzuhalten gewesen, dass es sich dabei um Vergehen gehandelt habe. Da die Anwendung des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG 2005 jedoch eine Verurteilung wegen eines Verbrechens iSd Paragraph 17, StGB erfordern würde, sei die genannte Bestimmung gegenständlich nicht anzuwenden. Dem Beschwerdeführer sei aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz 2, Ziffer 2, leg.cit. abzuerkennen gewesen, weil der BF als Fremder jedenfalls dann eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 darstellen würde, wenn sich diese aufgrund besonders qualifizierter strafrechtlicher Verstöße prognostizieren lasse. Als derartige Verstöße kämen insbesondere qualifizierte Formen der Suchtgiftdelinquenz (wie sie beispielsweise in Paragraph 28 a, SMG unter Strafe gestellt werden) in Betracht, zumal an der Verhinderung des Suchtgifthandels ein besonderes öffentliches Interesse besteht (VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0155 mit Verweis auf VwGH 22.11.2012, 2011/23/0556). Im vorliegenden Fall weise der BF drei rechtskräftige Verurteilungen auf, wovon zwei als besonders qualifiziert im Sinne des bisher Gesagten anzusehen seien und nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes geeignet wären, eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit eines Landes darzustellen. Der BF sei drogenabhängig gewesen und habe die Suchtgiftdelikte vorwiegend deswegen begangen, um sich selbst Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen. Hinsichtlich seiner Verurteilungen falle allerdings besonders auf, dass der BF in wiederholten Aufgriffen in einem Zeitraum von zumindest 11.08.2018 bis 27.11.2018 und am 29.06.2019 vorschriftswidrig Suchtgift überlassen habe. Dabei sei zu beachten gewesen, dass zwischen der Begehung der Straftaten eine relativ kurze Zeitspanne gegeben gewesen sei und sich die Straffälligkeit seit Mai 2017, sohingehend bereits nach weniger als zwei Jahren seines bisherigen Aufenthalts, ab Juli 2015, bis zu seiner letzten Verurteilung im Vorjahr hinweg durchgezogen habe. Die Probezeiten hielten den BF ebenso nicht davon ab, weitere Straftaten zu begehen: So habe er sich innerhalb der Probezeit, die ihm im Rahmen seiner ersten Verurteilung nach dem SMG gesetzt worden sei, Straftaten, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruht hätten, begangen. Trotz Nachsehens eines Teils der Freiheitsstrafe sei der BF ein drittes Mal einschlägig nach dem SMG verurteilt worden. Von einer positiven Zukunftsprognose sei im Rahmen einer Gesamtabwägung nicht auszugehen gewesen.
Da sich die Abschiebung des BF in dessen Heimatstaat – aufgrund der zuvor getätigten Ausführungen – als unzulässig erwiesen habe, werde Aufenthalt des BF ist im Bundesgebiet in der Folge ex lege gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer 2, FPG geduldet vergleiche VwGH 26.04.2017, Ra 2017/19/0016, mwN).
Im Verfahren hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, welche auf das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung einer Aufenthaltsberechtigung aus den in Paragraph 57, AsylG 2005 angeführten Gründen hätten schließen lassen können. Auch stelle die Erlassung der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG keine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG in Verbindung mit Artikel 8, EMRK dar. Auch das von der belangten Behörde angeordnete Einreiseverbot habe sich dem Grunde nach als zulässig erwiesen. Die Dauer des Einreiseverbotes sei aber in angemessener Weise von sieben auf drei Jahre herabzusetzen gewesen.
21. Gegen das Erkenntnis des BVwG erhob der BF innerhalb offener Frist außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof (nunmehr: „VwGH“). Dieser gewährte mit Beschluss vom 13.01.2021, römisch 40 , dem BF, für die Abfassung und Einbringung einer außerordentlichen Revision gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.11.2020, W177 2127474-2/28E betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG, die Verfahrenshilfe. Es wurden die Beigebung eines Rechtsanwaltes und die einstweilige Befreiung von der Entrichtung der Eingabengebühr nach Paragraph 24 a, VwGG gewährt.
22. Mit Schriftsatz vom 19.03.2021 erhob der BF, nunmehr vertreten durch RA Dr. Stefan KOVACSEVICH, Jacquingasse 35, 1030 Wien, dieser in Substitution von RA Mag. Carolin
SEIFRIEDSBERGER, Spiegelgasse 19, 1010 Wien, außerordentliche Revision an den VwGH.
Geltend gemacht wurden insbesondere, dass der BF aufgrund der rechtswidrigen Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen und aufgrund des mangelhaft durchgeführten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erachte sich der Revisionswerber insbesondere in seinem Recht auf Beibehaltung des ihm gewährten subsidiären Schutzes, sowie in seinem Recht, nicht mit einer Rückkehrentscheidung belegt zu werden und damit zusammenhängend in seinem Recht, auf Nicht-Erlassung eines Einreiseverbotes, verletzt.
Das angefochtene Erkenntnis werde in seinem gesamten Umfang, mit Ausnahme der Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan, sowie des Ausspruches einer Duldung nach Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer 2, FPG, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, angefochten.
Der BF sei dreimal rechtskräftig verurteil worden, wobei es sich immer um Vergehen gehandelt habe. Daher erfordere es nun nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 die Erstellung einer Gefährdungsprognose, ob der BF eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellen würde. Hierbei habe das erkennende Gericht weder in der mündlichen Verhandlung am 10.03.2020 noch am 17.07.2020 die drei rechtskräftigen Verurteilungen des Revisionswerbers inhaltlich behandelt. In Bezug auf die zu erstellende Gefährdungsprognose sei keine Überprüfung der Umstände vorgenommen worden und diese Verurteilungen lediglich zum Akt genommen worden. Es wäre jedoch die Lebensgefährtin des BF zum gemeinsamen Leben und zu seinem Wohlverhalten befragt worden, wobei sich diese ausschließlich positiv über den BF geäußert habe. Daher sei die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 für den BF somit völlig überraschend gewesen und somit habe das Bundesverwaltungsgericht das Überraschungsverbot verletzt, weil es dem BF keine Möglichkeit eines Parteiengehör eingeräumt habe, damit dieser ein maßgebliches Vorbringen in Bezug auf die Erstellung der Gefährdungsprognose erstatten hätte können. Daher sei es dem Bundesverwaltungsgericht nicht möglich gewesen, eine ordnungsgemäße Gefährdungsprognose zu erstellen. Für diese sei die Überprüfung der maßgeblichen Umstände erforderlich, um das Gesamtverhalten in Betracht ziehen zu können. Diese sei auch aufgrund konkreter Feststellungen vorzunehmen. Da sich das Bundesverwaltungsgericht beweiswürdigend lediglich darauf berufen habe, dass die drei rechtskräftigen Verurteilungen des BF, die in der mündlichen Verhandlung nicht erörtert worden wären, zum Akt genommen habe, habe es trotz geltendem Amtswegigkeitsprinzip mangelhaft ermittelt.
Nach Erachten des Bundesverwaltungsgerichts handle es sich bei zwei von den drei rechtskräftigen Verurteilungen des Revisionswerbers um besonders qualifizierte Verstöße, die geeignet seien, „eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit eines Landes darzustellen“. Das Bundesverwaltungsgericht habe aus den drei rechtskräftigen Verurteilungen geschlussfolgert, dass in einer Gesamtbetrachtung keine positive Zukunftsprognose erteilt werden könne, weil die besondere Gefährlichkeit der Suchtgiftkriminalität hervorzuheben gewesen sei. Der Verfassungsgerichtshof habe in seinem Erkenntnis vom 13. Dezember 2011, U 1907/19, ausgeführt, dass eine Gefahr für die Sicherheit und Allgemeinheit eines Landes nur dann gegeben sei, wenn die Existenz oder territoriale Integrität eines Staates gefährdet sei oder wenn besonders qualifizierte strafrechtliche Verstöße (zB Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Drogenhandel, bewaffneter Raub) vorlägen. Daher würde die Darlegung des Bundesverwaltungsgerichts, aus welchen Gründen die Straftaten des Revisionswerbers einen Rückschluss auf seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit und die Sicherheit der Republik zulassen, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweichen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts stehe somit im Widerspruch zu der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005. Wäre das Bundesverwaltungsgericht bei der Erstellung der Gefährdungsprognose nicht von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, so wäre es zu der Ansicht gekommen, dass eben keine besonders qualifizierten Verstöße vorgelegen wären und somit die Tatbestandsvoraussetzungen des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 nicht erfüllt seien.
Das Bundesverwaltungsgericht komme nach einer Gesamtabwägung zum Schluss, dass von einer positiven Zukunftsprognose nicht auszugehen sei, obgleich dem BF die Drogentherapie sowie die Beziehung mit seiner Lebensgefährtin zu Gute gehalten worden wären, jedoch wiege die Schwere der Verurteilungen höher. Die zu der Feststellung führende Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts erweise sich somit als unschlüssig und unvertretbar. Dem Bundesverwaltungsgericht sei es anzulasten, dass es von den im Rahmen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu einem derartigen Abwägungsvorgang entwickelten Grundsätzen in unvertretbarer Weise abgewichen wäre, indem es für die Beurteilung nach Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG maßgebliches Parteivorbringen außer Acht gelassen und den erhobenen Sachverhalt in wesentlichen Punkten nicht schlüssig bzw. nicht in Übereinstimmung mit der höchstgerichtlichen Judikatur gewürdigt habe. Der aufgezeigte Begründungsmangel erweise sich – als verfahrensrechtlicher Fehler begriffen – daher auch als für den Verfahrensausgang relevant. Das angefochtene Erkenntnis sei aufgrund der aufgezeigten Mängel mit Rechtswidrigkeit belastet.
Die gegenteilig von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätze vorgenommene Interessenabwägung im angefochtenen Erkenntnis erweise sich demzufolge als unvertretbar. Dies belaste das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit.
Abschließend sei dem Bundesverwaltungsgericht anzulasten, die Erlassung des Einreiseverbotes ausschließlich auf die drei rechtskräftigen Verurteilungen des Revisionswerbers gestützt zu haben. Dies tue es abermals, ohne den zugrundeliegenden Sachverhalt im konkreten Fall erläutert und ohne eine nachvollziehbare Beweiswürdigung durchgeführt zu haben.
23. Mit Erkenntnis des VwGH vom 19.10.2021, römisch 40 wurde das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Wie die Revision in diesem Zusammenhang zutreffend aufgezeigt habe, sei in den mündlichen Verhandlungen die Straffälligkeit des Revisionswerbers inhaltlich nicht thematisiert worden. Diesbezüglich wären keine Ermittlungstätigkeit entfaltet und der Revisionswerber dazu auch nicht befragt worden.
Das Bundesverwaltungsgericht habe die strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers lediglich unter Nennung der Tatbestände wiedergegeben und anhand dessen im Hinblick auf das Vorliegen von Suchtgiftdelikten die besondere Gefährlichkeit der Suchtgiftkriminalität hervorgehoben. Es sei ohne nähere Begründung davon ausgegangen, dass zwei der drei Verurteilungen „besonders qualifiziert“ seien. Das Verwaltungsgericht habe die Gewerbsmäßigkeit der Suchtgiftüberlassung hervorgestrichen, die Drogenabhängigkeit des Revisionswerbers als auch die Begehung der Delikte innerhalb offener Probezeiten. Im Rahmen der vorgenommenen Gefährdungsprognose sei es zum Ergebnis gelangt, das Delikt der gewerbsmäßigen Überlassung von Suchtgiften komme „dem Drogenhandel gleich“ und werde schon als solches zu den „schweren Verbrechen“ gezählt. Weiters habe es Mutmaßungen angestellt, wonach es nicht anzunehmen sei, dass der Revisionswerber Reue und Einsicht gezeigt habe. Wenngleich dem Revisionswerber zu Gute zu halten sei, dass er seine Abhängigkeit mit Hilfe einer Therapie in den Griff bekommen habe und eine Beziehung führe, vermögen diese Schritte an der negativen Gefährdungsprognose nichts zu ändern.
In Bezug auf Suchtgiftdeliquenz habe der Verwaltungsgerichtshof - vor dem Hintergrund einer Verurteilung wegen eines Verbrechens des Suchtgifthandels nach Paragraph 28 a, SMG - bereits wiederholt festgehalten, dass diese ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben sei und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse bestehe. Ferner entspreche es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass es grundsätzlich im Fall von strafbaren Handlungen infolge Gewöhnung an Suchtmittel neben dem Abschluss einer Therapie noch eines maßgeblichen Zeitraums des Wohlverhaltens bedürfe, um einen Wegfall der Gefährdung annehmen zu können vergleiche VwGH 8.7.2020, Ra 2019/14/0272, mwN).
Im vorliegenden Fall sei der Revisionswerber wegen mehrerer Vergehen nach Paragraph 27, SMG, unter anderem wegen gewerbsmäßiger Tatbegehung, verurteilt worden. Die im Fall des Revisionswerbers auch herangezogene Bestimmung des Paragraph 27, Absatz 2 a, SMG sehe eine Qualifikation für den Drogenhandel im öffentlichen Raum vor. Nach den Gesetzesmaterialien solle damit die Festnahme kleiner Drogendealer ermöglicht werden, denen zwar gewerbsmäßiges Handeln nicht nachgewiesen werden könne, die aber dennoch eine gewisse Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen würden, indem sie in der Öffentlichkeit Suchtgifthandel betreiben (siehe dazu Hinterhofer/Tomasits in Hinterhofer, SMG2 Paragraph 27, Rz 85). Hinzu komme, dass der Revisionswerber auch wegen der gewerbsmäßigen Begehung gemäß Absatz 3, leg.cit. verurteilt worden sei, wobei es sich um ein besonderes persönliches Schuldmerkmal handeln würde.
Vor diesem Hintergrund und der oben dargestellten Rechtslage sei das Bundesverwaltungsgericht trotz des besonderen öffentlichen Interesses an der Verhinderung des Suchtgifthandels (dazu vergleiche VwGH 8.7.2020, Ra 2019/14/0272, mwN) nicht davon entbunden, zusätzlich zum Kriterium der rechtskräftigen Verurteilungen des Revisionswerbers eine eingehendere Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles, insbesondere unter Einbeziehung der Art und Schwere der Straftaten, der konkreten Tatumstände und dem sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbild des Revisionswerbers, gegebenenfalls auch durch Verschaffung eines persönlichen Eindrucks dazu in einer mündlichen Verhandlung vergleiche zu den entsprechenden Kriterien hinsichtlich der Bedeutung der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung auch in Bezug auf die Gefährdungsprognose VwGH 19.7.2021, Ra 2020/14/0574; 17.3.2021, Ra 2021/14/0043, jeweils mwN) vorzunehmen.
Erst die daraus getroffenen Feststellungen ermöglichen eine Beurteilung dahingehend, ob angenommen werden könne, dass der Revisionswerber eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstelle und daher der ihm zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, AsylG 2005 abzuerkennen gewesen wäre.
Da das Bundesverwaltungsgericht die aufgezeigten Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt habe, habe es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, sodass es - weil die rechtlich vom Ausspruch über die Aberkennung des subsidiären Schutzes abhängenden Spruchpunkte ihre Grundlage verlieren, zur Gänze - gemäß Paragraph 42, Absatz 2, Ziffer eins, VwGG aufzuheben gewesen sei.
24. Am 19.01.2022 erfolgte seitens des BFA die Mitteilung, dass der BF am 18.01.2022 in Justizhaft genommen wurde.
25.Am 16.05.2022 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des BF, wobei dieser über Video aus einer Justizanstalt zugeschalten wurde, sowie eines Dolmetschers für die Sprache Farsi statt. Das BFA als belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
Der BF gab nach einhergehender Belehrung an, dass er psychisch und physisch in der Lage sei, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen. Da der BF unvertreten erschienen sei, erfolgte die Mitteilung, dass die Anwesenheit eines Rechtsvertreters und/oder Rechtsberaters in dieser Verhandlung notwendig sei. Der BF verzichtet nach Rechtsbelehrung und Erörterung seiner Rechte im Verfahren ausdrücklich auf die Beiziehung eines Rechtsvertreters und/oder Rechtsberaters. Er gab an, dass er letzte Woche ein Gespräch mit einem Mitarbeiter der BBU gehabt habe.
Danach erfolgte die Fortsetzung des Beweisverfahrens. Die Parteien verzichten auf die Verlesung der für das Ermittlungsverfahren wesentlichen Aktenteile, da sie den Akteninhalt hinlänglich kennen würden. Der Richter erklärte diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift.
Eine vorläufige Beurteilung der politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat, basierend auf der einen integrierten Bestandteil des gegenständlichen Verhandlungsprotokolls bildenden Beilage, nämlich das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation samt der darin umfangreich zitierten anderen Länderinformationen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung in der heute aktuellen Fassung (LIB) und insb. UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR), EASO Country Guidance: Afghanistan in der heute aktuellen Fassung, EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan – Security Situation (in der heute aktuellen Fassung), Arbeitsübersetzungen Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1), Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban“ vom 29.06. 2017 (Landinfo 2), Landinfo Report „Afghanistan - Organisation und Struktur der Taliban“ vom 23.08.2017 (Landinfo 3) und EASO Bericht Afghanistan Netzwerke, Stand Jänner 2018 (EASO Netzwerke); UNHCR Guidance Note on the international Protection Needs of People Fleeing Afghanistan (Februar 2022) in der heute aktuellen Fassung, wird den Parteien vorgehalten und deren Inhalte, welche bekannt sind, wurden erörtert.
Aus Sicht des Gerichts würde die gegenständliche Situation im Allgemeinen nichts an der Einschätzung iZm der Gewährung von subsidiärem Schutz ändern, da es sich bei COVID-19 um keine wahrscheinlich tödlich verlaufende bzw. die Schwelle des Artikel 3, EMRK tangierende Krankheit handelt; eine Ausnahme stellen lediglich Risikogruppen dar. Wenngleich die sozioökonomische Lage zum Entscheidungszeitpunkt auch zu berücksichtigen ist, ist eine pauschale Gewährung von subsidiärem Schutz z.Z. nicht absehbar.
Erörtert wurden die notorischen aktuellen Medienberichte über die landesweite Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. BF bestreitet die Länderfeststellungen. Er führte aus, dass seine Familienangehörigen weiterhin im Iran leben würden.
Danach folgte eine Auseinandersetzung mit den drei strafrechtlichen Verurteilungen des BF.
● Verurteilung 2017 wegen Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt, sechs Monate bedingt Die Ausführungen des Strafrichters: zuvor keine Straftaten begangen, Geständnis, teilweiser Versuch der Straftaten, Minderjährigkeit – erschwerend war das Zusammentreffen mehrerer Straftaten.
● Verurteilung vom römisch 40 wegen SMG-Verkauf, Freiheitsstrafe von 12 Monaten, 8 Monate bedingt – Ausführungen des Strafrichters: reumütiges Geständnis und Beitrag zur Wahrheitsfindung –teilweiser Sicherstellung des Suchtgiftes – erschwerend die Vorstrafe – mehrere Tathandlung- Eindruck des Geldverdienens
● Verurteilung vom römisch 40 wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften – Freiheitsstrafe von 12 Monaten – Ausführungen des Strafrichters: reumütiges Geständnis und Sicherstellung des Suchtgiftes – erschwerend ein rascher Rückfall in der offenen Probezeit – Zusammentreffen von 2 Straftaten- 2 einschlägige Vorstrafen – Strafnachsicht zum Urteil von 2018 wurde nachgesehen
Der BF beteuere dies und gelobte Besserung. Er habe dann eine Therapie machen wollen, jedoch habe er sich dann leider nicht an die strengen Regeln gehalten. Seine Freundin habe damals eine Wohnung gesucht und seine Hilfe gebraucht, weil sie nicht gut Deutsch spreche. Er sei daher ohne Erlaubnis weggegangen und verwarnt worden. Es sei ihm auch mitgeteilt worden, dass er in zwei Wochen wiederkommen könne. Diesen Termin habe aufgrund einer Corona-Erkrankung nicht antreten können. Er habe sich um einen Platz bemüht und sei auf eine Warteliste eingetragen worden.
Seine Tochter sei am 14.08.2021 geboren worden. Nach der Haftentlassung wolle er arbeiten, weil er sich um seine Tochter kümmern wolle. Sie sei zurzeit bei Pflegeeltern.
In der Haft habe er einen geregelten Tagesablauf. Aus dem Umstand, dass er jetzt weniger Medikamente nehme, schließe er, dass es ihm jetzt bessergehen würde. Er habe zurzeit keine psychologische Betreuung, aber auch keine disziplinären Probleme. Seine bedingte Haftentlassung sei ab 22.09.2022 möglich.
In naher Zukunft wolle er Wien verlassen, weil hier ein Umfeld herrsche, das nicht gut für ihn sei. Er stelle sich seine Zukunft aber zusammen mit seiner Freundin und seiner Tochter vor. Er wolle heiraten und arbeiten gehen. Er wolle keine Straftaten mehr begehen, damit er sich um seine Familie kümmern könne.
Danach erfolgte der Schluss der mündlichen Verhandlung. Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß Paragraph 29, Absatz 3, VwGVG.
26. Am 01.06.2022 kontaktierte der Sozialen Dienst der JA römisch 40 die Gerichtabteilung bezüglich der Anfrage um eine Stellungnahme betreffend den BF. Es wurde mitgeteilt, dass eine gründliche Stellungnahme nicht in der vorgesehenen Frist möglich sei. Es wurde festgehalten, dass sich der Soziale Dienst am 30.06.2022 wieder telefonisch melden werde, um den aktuellen Stand mitzuteilen.
27. Mit eine Protokoll- und Beschlussvermerk eines Landesgerichtes vom 03.08.2022 wurde festgehalten, dass der BF nach Verbüßung von zwei Drittel seiner Strafhaft am 22.09.2022 bedingt entlassen werde.
28.Der BF legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
• Beschluss eines Landesgerichtes für Strafsachen bezüglich des Strafaufschubes unter
der Bedingung einer stationären Behandlung
• Abhängigkeitsbericht des BF der Suchthilfe Wien
• Bestätigung über die Absolvierung des Basis-Bildungskurses 2
• Bestätigung der Durchführung einer Substitutionstherapie
• Substitutionsverschreibung
• Vorbetreuungsbericht
• Sozialbericht
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.
1. Feststellungen
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Farsi. Weiters beherrscht er bereits gut Deutsch. Der BF ist ledig und hat eine Tochter.
Der BF wurde im Iran geboren. Die Heimatprovinz seiner Familie ist die Provinz Bamyan. Seine Familienangehörigen, bestehend aus seinen Eltern, seinem Bruder und zwei Schwestern, leben allesamt im Iran. Ein Onkel des BF würde sich noch in Afghanistan aufhalten. Zu diesem besteht allerdings kein Kontakt. Der BF war noch nie in Afghanistan und besitzt dort weder Ortskenntnis noch ein tragfähiges soziales Netzwerk.
Der BF ging im Iran sechs Jahre lang in eine Schule und sammelte Arbeitserfahrung als Bauarbeiter. Er habe den Iran verlassen, weil sein Vater vermeinte, dass man in Europa schneller einen Aufenthaltstitel bekommen würde. Der BF machte sich sohin auf den Weg nach Griechenland, wo er erkennungsdienstlich behandelt wurde, ehe er seine Reise nach Österreich fortsetzte.
Dass die Kernfamilie oder sonstige weitschichtige Verwandte des BF in der Lage wären, diesen im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan vom Iran aus finanziell zu unterstützen, konnte nicht festgestellt werden. In Afghanistan lebt mit seinem Onkel nur ein entfernter Verwandter, zu dem der BF jedoch keinen Kontakt hat. Es ist nicht bekannt, wo sich dieser Verwandte aufhält. Der BF verfügt über kein soziales Netzwerk in Afghanistan.
1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der BF gelangte im Juli 2015 in das österreichische Bundesgebiet und stellte am 04.07.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seither hält er sich seither durchgehend im Bundesgebiet auf.
Mit Bescheid des BFA vom 04.05.2016 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asyl-berechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) abgewiesen. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.05.2017 erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Tragende Gründe für die Gewährung des subsidiären Schutzes waren, dass der BF im Iran geboren wurde und er noch nie in Afghanistan gewesen sei. Er verfüge daher weder über Ortskenntnisse in seinem Herkunftsstaat noch über ein tragfähiges soziales Netzwerk, weshalb im Falle einer Rückkehr der BF einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage in Afghanistan ausgesetzt wäre.
Mit Erkenntnis des BVwG vom 05.07.2016, römisch 40 wurde die Beschwerde bezüglich Paragraph 3, Absatz , AsylG als unbegründet abgewiesen.
Mit Bescheid vom 23.06.2017, römisch 40 , verlängert die belangte Behörde die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 bis zum 23.06.2019.
Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF als junger Erwachsener zur Zahl römisch 40 wegen der Vergehen nach Paragraphen 83,, 84 Absatz 2,, 1.Fall StGB Paragraph 15, StGB, Paragraph 15, StGB Paragraph 83, StGB und Paragraph 15, Paragraph 269, Absatz eins, 1.Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.
Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF zur Zahl römisch 40 wegen des Vergehens nach Paragraphen 27, Absatz 2 a, 2.Fall und Absatz 3, SMG, Paragraph 15, StGB unter Anwendung von Paragraph 28, StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, acht davon unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.
Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF zur Zahl römisch 40 wegen des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, 8.Fall und Absatz 3, SMG und des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, 1. und 2Fall und Absatz 2, SMG, unter Anwendung von Paragraph 28, StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Ebenso wurde die gewährte bedingte Strafnachsicht des Urteils vom römisch 40 widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Urteils vom römisch 40 wurde abgesehen.
Der inzwischen bereits seit über sieben Jahren in Österreich aufhältige BF hat seit seiner Einreise an Deutschkursen teilgenommen, jedoch keine Prüfung zu seinen Deutschkenntnissen abgelegt. Er ist keiner Beschäftigung nachgegangen, war nicht erwerbstätig und war von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung abhängig. Der BF hat soziale Kontakte in Österreich – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. Er ist kein Mitglied in einem Verein.
In Österreich leben keine aus dem Herkunftsland stammenden Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des BF. Es besteht jedoch eine Lebensgemeinschaft des BF und es gibt mit seiner Tochter ein in Österreich geborenes Kinder des BF. Es wird nicht verkannt wird, dass der BF hier eine Freundin aus seinem Kulturkreis hat und er mit der viel Zeit verbringt. Auch ohne gemeinsamen Wohnsitz ist bei der Beachtung des Kindeswohls diese familienähnliche Lebensgemeinschaft zu berücksichtigen.
Der BF befand sich von 29.06.2019 bis 05.12.2019 in Haft. Das voraussichtlich errechnete Haftende war mit 28.01.2021 berechnet. Dem BF wurde mit Beschluss des römisch 40 vom römisch 40 zur Zahl römisch 40 gemäß Paragraph 39, Absatz eins, SMG Strafaufschub bis 02.08.2021 gewährt. Bedingung hierfür sei eine sechsmonatige stationäre Behandlung gewesen, die danach ambulant fortgesetzt werde müsse.
Mit Schreiben vom 22.05.2020 teilte die StA Wien mit, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den BF wegen Paragraph 27, Absatz eins und 2 SMG eingestellt wurde.
Am 18.01.2022 wurde der BF in Justizhaft genommen. Er wurde am 22.09.2022 nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftstrafe bedingt aus der Strafhaft entlassen. Der BF befindet sich aktuell in keiner Substitutionstherapie. Er fühlt sich jedoch immer besser und muss weniger Medikamente einnehmen. Ansonsten sind keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgelegen, sodass von einer arbeitsfähig ausgegangen werden kann.
1.3 Zur Änderung der Umstände seit der Gewährung von subsidiärem Schutz
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom römisch 40 wurde dem BF der ihm mit Bescheid vom 04.05.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt römisch eins.) und ihm die mit Bescheid vom 23.06.2017, Zl. römisch 40 , erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß Paragraph 9, Absatz 4, AsylG entzogen (Spruchpunk römisch II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gegen den BF wurde gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß Paragraph 46, FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt römisch VI.). Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.).
Seit dem Bescheid des BFA vom 04.05.2016, Zahl: römisch 40 , mit welchem dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, ist es weder zu einer nachhaltigen maßgeblichen Änderung seiner subjektiven bzw. persönlichen Situation noch zu einer Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan gekommen. Die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes mit Bescheid des BFA vom 04.05.2016, Zahl: römisch 40 , geführt haben, haben sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten insgesamt nicht wesentlich und nachhaltig verändert bzw. verbessert.
Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und dem stetigen Vorstoß bzw. der Machtübernahme durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Es kann somit eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers aufgrund der zum Entscheidungszeitpunkt instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht ausgeschlossen werden.
Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und auch nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans niederzulassen. Insbesondere nicht nachdem die Städte Mazar-e Sharif, Herat und Kabul, neben vielen Provinzhauptstädten, nun ebenfalls von den Taliban eingenommen wurden. In der Folge ist es ihm auch nicht möglich, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können bzw. nicht, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der Beschwerdeführer gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar und der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Artikel 2, oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958, (in der Folge EMRK).
1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 04.05.2022 (Version 7, bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):
Länderspezifische Anmerkungen
COVID-19
Letzte Änderung: 29.04.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://covid19.who.int/region/emro/country/af oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Mit Stand 12.4.2022 wurden 178.191 COVID-19 Fälle offiziell bestätigt (WHO o.D.). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.1.2021; vergleiche UNOCHA 18.2.2021, RFE/RL 23.2.2021a).
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vergleiche WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vergleiche DW 17.6.2021).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vergleiche TG 2.5.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird (REU 26.1.2021; vergleiche ABC News 27.1.2021).
Mit Stand 4.4.2022 wurden insgesamt 5.872.684 Impfdosen verabreicht (WHO o.D.). Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.6.2021; vergleiche UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021). Von den 40 COVID-19-Krankenhäusern in ganz Afghanistan bieten mit Stand März 2022 21 Krankenhäuser eine COVID-19-Behandlung an, 19 weitere wurden nach der Machtübernahme der Taliban wegen fehlender Finanzierung geschlossen (WHO 21.3.2022). Die Mitarbeiter des Afghan-Japan-Hospital gingen mit 17.11.2021 in einen Streik, da diese seit Monaten nicht bezahlt wurden (TN 17.11.2021). Im Februar 2022 setzte das Krankenhaus seine Arbeit fort (IOM 12.4.2022).
Die WHO übernimmt derzeit die vollen Betriebskosten / unterstützt die vollen Betriebskosten der folgenden COVID-19-Krankenhäuser/Gesundheitseinrichtungen ab Februar 2022 für 5-12 Monate (IOM 12.4.2022):
Übernahme der vollen Betriebskosten
● Nangahar COVID-19 mit 50 Betten - Healthnet TPO
● Ghazni COVID-19 Krankenhaus mit 25 Betten - AADA
● Uruzgan COVID-19-Krankenhaus mit 20 Betten - MOVE
● Afghanisches Japan COVID-19 Krankenhaus mit 100 Betten- Healthnet TPO
● Paktia COVID-19 Krankenhaus mit 50 Betten- AADA
Unterstützung der vollen Betriebskosten
● Kunar COVID-19 Krankenhaus mit 10 Betten - mit Healthnet TPO
● Zabul COVID-19 Krankenhaus mit 20 Betten - mit AADA
● Nimroz COVID-19-Krankenhaus mit 20 Betten - mit CHA
● Indonesien COVID-19-Krankenhaus in Kabul mit 70 Betten - mit JACK, ab 1. März
Mit Stand April 2022 gibt es in Afghanistan keine Restriktionen im Hinblick auf COVID-19 (IOM 12.4.2022).
Politische Lage
Letzte Änderung: 02.05.2022
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vergleiche NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a).
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.4.2021; vergleiche RFE/RL 19.5.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin "terroristische Bedrohungen" überwachen und bekämpfen sowie "die Regierung Afghanistans" und "die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen" (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.8.2021).
Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021; vergleiche JS 7.9.2021). Als letzte Provinz steht seit dem 5.9.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (AA 21.10.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.8.2021; vergleiche AJ 23.8.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten "islamisch" ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa'l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.8.2021).
Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 7. September, 21. September und 4. Oktober - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung (AAN 7.10.2021). Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine "inklusive" Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine Taliban-Regierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er-Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 7.9.2021; vergleiche BBC 8.9.2021a, AA 21.10.2021).
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 7.9.2021; vergleiche BBC 8.9.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021), der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen" Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.8.2021) wird sich als "Oberster Führer" Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 7.9.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.8.2021; vergleiche ICG 24.8.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine sogenannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.8.2021). Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt (AA 21.10.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75 % (ICG 24.8.2021) bis 80 % des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 8.9.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.8.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.8.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.8.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung "integrativ und repräsentativ" zu machen (BBC 8.9.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 8.9.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten (NYT 1.9.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 8.9.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021).
Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigung einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar, das Regierungshandeln uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 21.10.2021).
Anfang November 2021 kündigte die Taliban-Regierung an, dass u.a. in 17 Provinzen neue Gouverneure eingesetzt worden seien (TN 8.11.2021). Insgesamt sind bis zu 44 Posten neu besetzt worden (REU 7.11.2021; vergleiche TN 8.11.2021).
Trotz der weitverbreiteten Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung der ethnischen, politischen und geografischen Vielfalt Afghanistans sowie von Frauen, waren am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure männlich und überwiegend paschtunisch, die Vertretung anderer ethnischer Gruppen war gering. Es wurden zwar zahlreiche Umbesetzungen vorgenommen, um interne Spaltungen zu überwinden, aber alle ernannten Personen sind nach wie vor Taliban-Mitglieder, die meisten Religionsgelehrte und Kleriker. Gegenwärtig ist die politische Opposition gegen die Taliban, die sich größtenteils außerhalb Afghanistans befindet, zersplittert. Einige wenige prominente politische Akteure bleiben im Land und werden gelegentlich von den Taliban konsultiert (UNGASC 28.1.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022).
Exilpolitische Aktivitäten
Am 28.9.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an (AA 21.10.2021; vergleiche ANI 29.9.2021). Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv (AA 21.10.2021).
Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen (AA 21.10.2021; vergleiche France 24 17.8.2021). Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (AA 21.10.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 03.05.2022
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021; vergleiche SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, UNGASC 2.9.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.3.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 1.7.2021; vergleiche AJ 2.7.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in "halsbrecherischer Geschwindigkeit" (AAN 15.8.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 2.9.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.8.2021). Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.8.2021; vergleiche TAG 15.8.2021). Zuvor war schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.8.2021; vergleiche BBC 15.8.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.8.2021; vergleiche BBC 13.8.2021, AAN 15.8.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.8.2021), auch wurde die weitverbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.8.2021).
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen - mit weniger zivilen Opfern (UNGASC 28.1.2022) und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen im restlichen Verlauf des Jahres (USDOS 12.4.2022). Nach Angaben der UN sind konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen (UNGASC 28.1.2022). Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert (UNGASC 28.1.2022; vergleiche PAJ 21.8.2021, DIS 12.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 985 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einem Rückgang von 91% gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020 entspricht (UNGASC 28.1.2022). Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (NYT 15.9.2021; vergleiche DIS 12.2021).
Die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle ging nach dem 15.8.2021 deutlich zurück, von 600 auf weniger als 100 Zwischenfälle pro Woche. Aus den verfügbaren Daten für den Zeitraum bis Ende 2021 geht hervor, dass bewaffnete Zusammenstöße gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr um 98% von 7.430 auf 148 Vorfälle zurückgingen, Luftangriffe um 99% von 501 auf 3, Detonationen von improvisierten Sprengsätzen um 91% von 1.118 auf 101 und gezielte Tötungen um 51% von 424 auf 207. Andere Arten von Sicherheitsvorfällen wie Kriminalität haben jedoch zugenommen, während sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage rapide verschlechtert hat. Auf die östlichen, zentralen, südlichen und westlichen Regionen entfielen 75% aller registrierten Vorfälle, wobei Nangarhar, Kabul, Kunar und Kandahar die am stärksten konfliktbetroffenen Provinzen sind (UNGASC 28.1.2022).
Trotz des Rückgangs der Gewalt sahen sich die Taliban-Behörden mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, darunter eine Zunahme der Angriffe auf deren Mitglieder. Einige der Angriffe werden der National Resistance Front (NRF) zugeschrieben, der einige Persönlichkeiten der ehemaligen Regierung und der Opposition angehören (UNGASC 28.1.2022). Diese formierte sich im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 und wird von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vergleiche ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vergleiche WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vergleiche ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vergleiche NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 1.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 1.9.2021; vergleiche AWM 22.8.2021, ALM 15.8.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 1.9.2021).
Seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul (DIS 12.2021; vergleiche AA 21.10.2021, UNGASC 28.1.2022). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung. Am 26.8.2021 wurden durch einen Anschlag des ISKP am Flughafen Kabul 170 Personen getötet und zahlreiche weitere verletzt (AA 21.10.2021; vergleiche MEE 27.8.2021, AAN 1.9.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP, sowie zehn Zivilisten getötet wurden (AAN 1.9.2021; vergleiche NZZ 12.9.2021; BBC 30.8.2021). Am 8. und 15. Oktober 2021 kamen in Kunduz und Kandahar jeweils bei Selbstmordanschlägen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt (AA 21.10.2021). Ein weiterer Anschlag am 3.10.2021 in Kabul zielte auf eine Trauerfeier, an der hochrangige Taliban teilnahmen und tötete mindestens fünf Personen (AA 21.10.2021; vergleiche AnA 4.10.2021). Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.9.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen (AA 21.10.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 152 Angriffe der Gruppe in 16 Provinzen, verglichen mit 20 Angriffen in 5 Provinzen im gleichen Zeitraum des Vorjahres (UNGASC 28.1.2022).
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es auch einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt (FP 29.10.2021; vergleiche TN 28.10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchen Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken im Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. Im Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw. 70,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z.B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 12.1.2022).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.8.2021; vergleiche AN 4.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.8.2021; vergleiche BBC 31.8.2021, UNGASC 2.9.2021). Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (AI 9.2021). Es gibt auch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.8.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.9.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 1.9.2021; vergleiche BAMF 6.9.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 6.9.2021; vergleiche NLM 26.8.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 1.9.2021; vergleiche BAMF 6.9.2021).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.8.2021; vergleiche FP 23.8.2021, BBC 31.8.2021, GN 10.9.2021, Times 12.9.2021, ICG 14.8.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.8.2021). In vielen Städten suchten die Taliban nach ehemaligen Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF), Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen, bedrohten sie und nahmen sie manchmal fest oder richteten sie hin (HRW 13.1.2022). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.8.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.8.2021; vergleiche FP 23.8.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.8.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 2.9.2021). Eine Richterin (REU 3.9.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.9.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 3.9.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.9.2021). Weiters wird berichtet, dass die Taliban die Familienangehörigen der Geflüchteten bedrohen, unter anderem mit dem Tod, oder Lösegeld fordern, falls die Geflüchteten nicht zurückkehren (AI 9.2021; vergleiche BBC 31.8.2021).
Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Angaben der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hat die Zahl der zivilen Opfer in der ersten Jahreshälfte 2021 einen Rekordwert erreicht, der im Mai mit dem Beginn des Abzugs der internationalen Streitkräfte stark anstieg. Bis Juni wurden 5.183 tote oder verletzte Zivilisten gezählt, darunter 2.409 Frauen und Kinder (UNAMA 26.7.2021; vergleiche AI 29.3.2022). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.7.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindlichen Elementen verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfern durch gezielte Tötungen, durch Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vergleiche ACCORD 6.5.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vergleiche VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vergleiche AJ 16.6.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 2.9.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 2.9.2021; vergleiche USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 2.9.2021).
Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': Der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vergleiche UNGASC 17.3.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 2.9.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vergleiche AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vergleiche AJ 6.3.2020). Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vergleiche BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vergleiche TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vergleiche NYT 26.5.2020, USDOD 1.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 2.9.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Letzte Änderung: 02.05.2022
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen, solange diese sich ihnen nicht widersetzten und die Autorität der Taliban akzeptieren (AA 21.10.2021), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021; vergleiche DW 20.8.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.8.2021).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.8.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.8.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 6.9.2021; vergleiche ROW 20.8.2021, SKN 27.8.2021).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.8.2021, BBC 6.9.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, die sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.8.2021, vergleiche MMM 20.8.2021).
Die Taliban haben bereits früher biometrische Daten genutzt, um Menschen ins Visier zu nehmen. In den Jahren 2016 und 2017 berichteten Journalisten, dass Taliban-Kämpfer biometrische Scanner einsetzten, um Buspassagiere, die sie für Mitglieder der Sicherheitskräfte hielten, zu identifizieren und summarisch hinzurichten; alle von Human Rights Watch (HRW) befragten Afghanen erwähnten diese Vorfälle (HRW 30.3.2022).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE ("Handheld Interagency Identity Detection Equipment")-Geräte] (TIN 18.8.2021; vergleiche HO 8.9.2021, SKN 27.8.2021). Nach Angaben von HRW kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben, wodurch Tausende von Afghanen gefährdet sind. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten (HRW 30.3.2022). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium (HO 8.9.2021; vergleiche SKN 27.8.2021). Informationen, die ein ehemaliger Regierungsberater mit Human Rights Watch geteilt hat, legen jedoch nahe, dass die Taliban möglicherweise keinen Zugang zu APPS haben (HRW 30.3.2022). Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 8.9.2021; vergleiche SKN 27.8.2021). Berichten zufolge verwenden die Taliban auch Listen ehemaliger Beamter (HRW 30.11.2021; vergleiche FP 29.10.2021) und ziviler Aktivisten, um deren Kinder ausfindig zu machen (FP 29.10.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine "wahre Fundgrube an Informationen" für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien "wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber" (TT 4.9.2021).
Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.8.2021).
Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen rund um Ausländer und afghanische Ortskräfte nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine "Todesliste" gesetzt (POL 26.8.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.8.2021).
Einem Bericht des Human Rights Watch nach, führen Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, einschließlich nächtlicher Razzien, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen bedrohen und misshandeln die Taliban häufig Familienmitglieder, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen wurden hingerichtet oder in Gewahrsam genommen, ohne dass ihre Inhaftierung bestätigt oder ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben wurde (HRW 30.11.2021).
Zentrale Akteure
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Geschichte Afghanistans ist seit Langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem [Zentral-] Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfern, die in den 1990er-Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. "re-hatting": wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen (AAN 1.7.2020). Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001-15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (AAN 4.6.2021; vergleiche AP 25.6.2021).
Mitte August 2021 formierte sich die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 6.9.2021; vergleiche ANI 6.9.2021).
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan (USDOD 12.2020), sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (CRS 17.8.2021).
Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als "regierungsfeindliche Elemente" bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64 % der zivilen Opfer verantwortlich. 39 % aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9 % auf den ISKP und 16 % auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als "regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen" bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2 % der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23 % der zivilen Opfer zurückgeführt (UNAMA 26.7.2021).
Taliban
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vergleiche NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.5.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.2.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.8.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.8.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.8.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer "Übergangsregierung" an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine "inklusive" Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 7.9.2021)
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Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vergleiche RFE/RL 27.4.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.8.2021).
Struktur und Führung
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vergleiche BBC 15.4.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vergleiche NYT 26.5.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vergleiche USIP 11.2019; BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.8.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.8.2021). Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hatte (UNSC 1.6.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 6.8.2021).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als "Ministerien" fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 6.8.2021).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 6.8.2021). Er ist seit 2016 der "Amir al Muminin" oder "Emir der Gläubigen", ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.8.2021). Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied der Rahbari-Schura (Quetta-Schura) (NZZ 7.9.2021; vergleiche BBC 8.9.2021a, AA 21.10.2021). Mullah Abdul Ghani Baradar, der vormalige Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha (RFE/RL 6.8.2021), wurde gemeinsam mit Mawlawi Abdul Salam Hanafi zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt. Als Innenminister wurde Mawlawi Sirajuddin Haqqani ernannt, der Führer des Haqqani-Netzwerkes, der in den USA immer noch auf der "Gesucht" Liste des FBI aufscheint. Als Verteidigungsminister wurde Mawlawi Mohammad Yaqoob Mujahid ernannt und als Außenminister Mawlawi Amir Khan Muttaqi (BBC 7.9.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als "Oberster Führer" auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 8.9.2021; vergleiche TN 3.9.2021). In Kandarhar hatte er im Oktober 2021 seinen ersten öffentlichen Auftritt (France 24 31.10.2021; vergleiche VOA 31.10.2021).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 1.6.2021). Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HT 5.9.2021; BAMF 6.9.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 6.9.2021). Haibatullah Akhunzada warnte im November die Taliban, dass es in ihren Reihen Einheiten geben könnte, die "gegen den Willen der Regierung arbeiten" (AJ 4.11.2021; vergleiche TG 4.11.2021).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.4.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.8.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vergleiche NYT 26.5.2020).
Ehemalige staatliche Akteure und Widerstand gegen die Taliban
Letzte Änderung: 03.05.2022
National Resistance Front (NRF)
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.8.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten afghanischen Streitkräfte der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 6.9.2021; vergleiche ANI 6.9.2021). Sowohl die Taliban als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.8.2021; vergleiche WZ 22.8.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjshir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 6.9.2021; vergleiche ANI 6.9.2021), während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 6.9.2021). Massoud kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 8.9.2021; vergleiche ANI 9.9.2021). Nach Angaben eines hochrangigen Mitglieds der NRF Angang Oktober 2021, kontrolliert die NRF entgegen Angaben der Taliban mehr als die Hälfte von Panjshir (France 24 5.10.2021).
Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF unter anderem in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vergleiche NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 1.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderen militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).
Am 1.11.2021 wurde berichtet, dass die NRF ein Verbindungsbüro in Washington DC eröffnet hat, nachdem sie beim US-Justizministerium registriert wurde, um Lobbyarbeit bei verschiedenen in der Stadt tätigen Politikern zu betreiben (VOA 1.11.2021; vergleiche BBC 29.10.2021). Am 4.12.2021 veröffentlichte die NRF auf ihrem offiziellen Twitteraccount eine Stellungnahme laut derer sie bereit ist, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um das Leid der Menschen in Afghanistan zu lindern (NRF 4.12.2021).
Am 24.1. und 25.1.2022 gab es in der Provinz Baghlan Zusammenstöße zwischen den Taliban und der NRF. Nach unbestätigten Aussagen eines Vertreters der NRF sind dabei 20 Kämpfer der Taliban und sechs Kämpfer der Widerstandsfront getötet worden (BAMF 31.1.2022; vergleiche 8am 25.1.2022). Die Kämpfe sollen drei Tage angedauert haben und die Taliban hätten als Vergeltung für ihre Toten Familienmitglieder der Widerstandskämpfer als Geiseln genommen. Der außenpolitische Sprecher der NRF kündigt eine Offensive gegen die Taliban an, sobald der Winter zu Ende sei. Die NRF kämpfe in den Provinzen Baghlan, Balkh, Faryab und Badakhshan gegen die Taliban (BAMF 31.1.2022; vergleiche RFE/RL 29.1.2022).
Zwischen dem 27.2. und dem 3.4.2022 kam es zu mehreren Zusammenstößen zwischen der NRF und den Taliban in Baghlan, Panjshir und Badakhshan (BAMF 4.4.2022). In Baghlan wurden elf bis 13 Taliban getötet und 18 weitere verletzt; zwei Widerstandskämpfer wurden ebenfalls getötet (BAMF 4.4.2022; vergleiche 8am 29.3.2022). In Panjshir wurden nach dem dritten Tag der Kämpfe drei Taliban getötet und fünf weitere Kämpfer verletzt. Es liegen keine Informationen über NRF-Opfer vor (BAMF 4.4.2022). Einer anderen Quelle zufolge wurden in Panjshir acht Taliban-Mitglieder und acht NRF-Kämpfer bei Zusammenstößen getötet (ACLED 3.3.2022). In Badakhshan traf eine Landmine das Auto eines Taliban-Kommandeurs, verletzte ihn und tötete zwei seiner Leibwächter (BAMF 4.4.2022; vergleiche 8am 3.4.2022).
Ismail Khan, Abdul Rashid Dostum und Mohammad Atta Noor
Gemäß einem Bericht, der am 4.8.2021 veröffentlicht wurde [Anm.: also kurz vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul], haben die Machthaber in den verschiedenen Regionen Afghanistans angesichts der vorrückenden Taliban wenig Kampfeswillen gezeigt. Diejenigen, die zu den Waffen gegriffen haben, taten dies hauptsächlich, um ihre eigenen lokalen Interessen zu verteidigen. In Herat beispielsweise beschloss der örtliche Machthaber Ismail Khan erst dann, eine Miliz zu mobilisieren, als die Taliban den Zollposten Islam Qala erreichten, von dem Gerüchten zufolge regelmäßig ein erheblicher Teil der Staatseinnahmen an ihn abgezweigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt fiel es ihm schwer, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Selbst seine Gefolgsleute beschreiben die neue Miliz als kaum ebenbürtig gegenüber den kampferprobten Taliban (RUSI 4.8.2021). Die Miliz des ethnischen Tadschiken Ismail Khan, der in den 1980ern eine große Mudschaheddin-Truppe befehligt hatte und nach 2001 eine führende Rolle einnahm, schmolz im August 2021 dahin - aufgrund der Bedrohung durch die Taliban oder aufgrund einer geheimen Übereinkunft mit der Gruppierung. Khan wurde Berichten zufolge am 13.8.2021 gefangen genommen und tauchte drei Tage später in der iranischen Stadt Mashhad auf (TC 6.9.2021; vergleiche AST 8.9.2021). Im Jänner 2022 trafen hochrangige Delegierte der Taliban wichtige afghanische Oppositionsführer im Iran, unter anderem Ismail Kahn und Ahmad Massoud, um sie zur Beendigung des Widerstands gegen die entstehende Herrschaft der islamistischen Gruppe aufzufordern und ihnen Sicherheit zu garantieren, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren (VOA 10.1.2022; vergleiche KP 10.1.2022).
Atta Mohammad Noor, der starke Mann von Mazar-i-Sharif, zögerte einem Bericht zufolge zunächst, sich den Taliban entgegenzustellen. Als diese jedoch auf den Zollposten von Hayratan vorrückten, von dem er Berichten zufolge große Mengen an Bargeld abzweigen kann, schloss er sich dem Kampf an und mobilisierte seine Milizionäre. Die tatsächliche Wirkung dieser Truppe auf dem Schlachtfeld [Anm.: Stand 4.8.2021] war bescheiden (RUSI 4.8.2021). Der ethnische Tadschike Noor, einst Kommandant der Nordallianz (TC 6.9.2021) und Anführer eines Teils des Tanzims [Anm.: militärisch-politische Organisation] Jamiat-e Islami (ANI 9.9.2021), wie auch der ethnische Usbeke Abdul Rashid Dostum, einer der Gründer der Nordallianz (TC 6.9.2021) und des Tanzims Jombesh-e Melli Islami-ye Afghanistan (KAS 1.1.2006), sind vor den anrückenden Taliban ins Ausland geflohen (TC 6.9.2021; vergleiche VOA 29.8.2021). Schon vor Beginn der Kämpfe hatte Noor einer politischen Lösung gegenüber militärischem Vorgehen den Vorrang gegeben (TC 6.9.2021; vergleiche AST 8.9.2021). Eine Gruppe rund um Dostum und Noor kündigte Ende August 2021 [Anm.: vor der offiziellen Verkündung der Taliban-"Übergangsregierung" am 7.9.2021] an, Gespräche mit den Taliban anzustreben (VOA 29.8.2021; vergleiche FAZ 29.8.2021). Nach der Ankündigung der "Übergangsregierung" der Taliban wurde diese von Noor kritisiert, sie würde den Regeln widersprechen und sei zum Scheitern verurteilt (ANI 9.9.2021). Es bleibt ungewiss, wie viel Unterstützung Führer wie Atta Noor, der weithin der Korruption beschuldigt wird, und Dostum, der mehrfacher Folter und Brutalität beschuldigt und in einem Bericht des US-Außenministeriums als "Quintessenz eines Warlords" bezeichnet wird, in der Bevölkerung tatsächlich genießen (VOA 29.8.2021; vergleiche AST 8.9.2021).
Gulbuddin Hekmatyar
Der Gründer der Hezb-e Islami (Hekmatyar) und vormalige Gegner der Taliban, Gulbuddin Hekmatyar, war gemeinsam mit seinem ehemaligen Gegner Hamid Karzai und Abdullah Abdullah Teil eines Verhandlungsteams, das [Anm.: vor der Ankündigung der Taliban-"Übergangsregierung" am 7.9.2021] unter dem Namen "Koordinationsrat" mit den Taliban über eine Regierungsbeteiligung verhandelte (TC 6.9.2021, FP 23.8.2021), welche jedoch nicht zustande kam (TD 10.9.2021). Nach der Bildung der "Übergangsregierung" der Taliban lobte Hekmatyar diese als "idealste Regierung der letzten 50 Jahre, da sie keine Besitzer von Doppelstaatsbürgerschaften enthält" und frei von Sekulären sei (KP 11.9.2021).
Mohammad Mohaqeq und Abdul Ghani Alipoor
Mohammad Mohaqeq, Anführer der Partei Hezb-e Wahdat und während dem afghanischen Bürgerkrieg in den 1990ern ein wichtiger Hazara-Anführer der Nordallianz, zählt zu jenen afghanischen Warlords, die in den letzten Wochen versucht haben, ihre alten Milizen als Teil der "Volksaufstandskräfte" [public uprising forces] zu mobilisieren, die vor dem Fall von Kabul gegen die Taliban kämpften (JF 5.9.2021; vergleiche RUSI 4.8.2021). Neben Mobilisierungen im Hazarajat (RUSI 4.8.2021) versuchte Mohaqeq zusammen mit Dostum und Noor, ihre Milizen in der Provinz Balkh zu mobilisieren, bevor diese am 14.8.2021 an die Taliban fiel (JF 5.9.2021; vergleiche RUSI 4.8.2021). Als Kabul fiel, meldete sich Mohaqeq in den sozialen Medien zu Wort und behauptete in einem Facebook-Post, dass "die Menschen gerettet wurden" und dass die afghanische Regierung korrupt sei, außerdem sprach er sich [vor der Bildung der "Übergangsregierung" der Taliban] für eine Regierung unter Beteiligung verschiedener Gruppierungen aus (JF 5.9.2021, ETR 20.8.2021).
Ein Hazara-Kommandant, der gemäß Twittermeldungen nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im Distrikt Behsud, Provinz (Maidan) Wardak, gegen die Taliban gekämpft hat, ist Abdul Ghani Alipoor (AWM 22.8.2021; IFE 22.8.2021; vergleiche ALM 15.8.2021). Alipoor gründete 2014 eine Hazara-Miliz, mit dem Namen Jabha-ye Moqawamat (Widerstandskraft), die in den vergangenen Jahren Hazara in Distrikten wie Behsud verteidigt hat. Im November 2018 war Alipoor [von der damaligen Regierung] wegen des Vorwurfs der Führung einer illegalen Miliz verhaftet worden. Im März 2021 schossen seine Kämpfer ein afghanisches Militärflugzeug ab (CACI 26.8.2021).
Haqqani-Netzwerk
Letzte Änderung: 17.01.2022
Das Haqqani-Netzwerk wurde Ende der 1980er Jahre, etwa zur Zeit des Einmarsches der damaligen Sowjetunion in Afghanistan, gegründet und verbündete sich später mit den Taliban (USDOS 16.12.2021). Die Organisation wurde im Jahr 1996 Teil der Taliban (ASP 1.9.2020) und gilt als Verbündeter von al-Qaida. Das Netzwerk wurde von Jalaluddin Haqqani gegründet, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad [1979-1989] und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Sein Sohn Serajuddin [auch Sirajuddin] Haqqani führt das Netzwerk nun an (CRS 17.8.2021; vergleiche France 24 21.8.2021). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vergleiche RFE/RL 6.8.2021). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (France 24 21.8.2021). Mit September 2020 zählten die Haqqani-Kämpfer rund 10.000 Mann in Afghanistan, was etwa 20 % der Kampfkräfte der Taliban ausmachte (ASP 1.9.2020), während eine andere Quelle Ende August 2021 von einem Anteil von rund 35 % sprach (GN 31.8.2021). Das Außenministerium der Vereinigten Staaten (USDOS) wiederum schätzt im Dezember 2021, dass die Gruppe über 3.000 bis 5.000 Kämpfer verfügt (USDOS 16.12.2021). Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni 2021 ist das Haqqani-Netzwerk die schlagkräftigste Truppe der Taliban (UNSC 1.6.2021).
Das Haqqani-Netzwerk ist nach wie vor eine Drehscheibe für Kontakte und Zusammenarbeit mit regionalen ausländischen Terrorgruppen und die wichtigste Verbindungsstelle zwischen den Taliban und Al-Qaida (UNSC 1.6.2021). Auch wurden dem Netzwerk in der Vergangenheit Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst nachgesagt (CRS 17.8.2021; TSP 23.8.2021, USDOS 16.12.2021). Bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen dem Haqqani-Netzwerk und dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) bestehen unterschiedliche Auffassungen (UNSC 1.6.2021). Während der afghanische Geheimdienst im Mai 2020 von einer "gemeinsamen ISKP-Haqqani-Zelle" sprach (RFE/RL 6.5.2021), ein Afghanistan-Experte Belege vergangener Kollaborationen erwähnte (GN 31.8.2021) und einige Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats von einer taktischen Zusammenarbeit zwischen dem ISKP und dem Haqqani-Netzwerk auf der Ebene der Befehlshaber berichten, bestreiten andere die Behauptungen einer taktischen Zusammenarbeit entschieden (UNSC 1.6.2021). Ende August 2021 wurde ein Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul verübt, bei dem mindestens 170 Menschen starben und zu dem sich der ISKP bekannte (MEE 27.8.2021; vergleiche GN 31.8.2021). Kämpfer aus Khost und Paktia, Kerngebieten des Haqqani-Netzwerks, waren einer Quelle zufolge für die Sicherheit in manchen Teilen der Provinzhauptstadt zuständig, das Flughafenareal wurde jedoch von anderen Einheiten gesichert (NLM 26.8.2021).
Von den US-Truppen und der [ehemaligen] afghanischen Armee als "tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan" (ASP 1.9.2020) bzw. "gefährlichster" Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 17.8.2021; vergleiche France 24 21.8.2021). Das Netzwerk wurde von den USA als ausländische Terrorgruppierung eingestuft und befindet sich auf der Sanktionsliste der Vereinten Nationen (FR24 21.8.2021; vergleiche NZZ 7.9.2021).
Trotz des Rufs des Haqqani-Netzwerks wird angenommen, dass es in einer künftigen Taliban-Regierung eine bedeutsame Rolle spielen wird (FR24 21.8.2021; vergleiche TSP 23.8.2021). So wurde im August 2021 angekündigt, dass Sirajuddin Haqqani den Posten des Innenministers in der neu gebildeten "Übergangsregierung" der Taliban bekleiden wird (NZZ 7.9.2021).
Im November 2021 wurde ein hochrangiges Mitglied des Haqqani-Netzwerkes durch die Taliban-Regierung zum Gouverneur von Logar ernannt. Khan ist einer von mehreren wichtigen Anführern des Haqqani-Netzwerks, die in der neuen Taliban-Regierung in hochrangige Positionen berufen wurden. Neben Nabi Omari als Gouverneur von Khost, Sirajuddin Haqqani als Innenminister, Khalil al Rahman Haqqani als Flüchtlingsminister ist Mullah Taj Mir Jawad erster Stellvertreter des Geheimdienstes (LWJ 10.11.2021).
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Letzte Änderung: 03.05.2022
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vergleiche LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei "Khorasan" die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst. Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.8.2021; vergleiche AAN 1.8.2017). Aber auch Mitglieder anderer extremistischer Gruppierungen in der Region wechselten zum ISKP (WP 26.8.2021b).
Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des Islamischen Staates in Ostafghanistan (NYT 2.12.2019) nach jahrelangen Militäroffensiven der US-Streitkräfte und intensivierten Talibanangriffen zusammengebrochen (SIGAR 30.1.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vergleiche UNSC 27.5.2020). Die Gebietsverluste des ISKP haben seine Fähigkeiten zur Mitgliederrekrutierung und Mittelbeschaffung beeinträchtigt. Schätzungen zufolge verfügt der ISKP noch über eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern in kleinen Gebieten der Provinzen Kunar und Nangarhar. Er war gezwungen, sich zu dezentralisieren, und besteht hauptsächlich aus Zellen und kleinen Gruppen im ganzen Land, die autonom agieren, aber dieselbe Ideologie teilen (UNSC 1.6.2021). Im Zuge der Machtübernahme der Taliban wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagons "Tausende" (MEE 27.8.2021) bzw. "Hunderte" ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit, womit die Truppenstärke wieder steigen könnte (GN 31.8.2021). Trotz territorialer, führungsmäßiger, personeller und finanzieller Verluste in den Provinzen Kunar und Nangarhar im Jahr 2020 ist der ISKP in andere Provinzen vorgedrungen, darunter Nuristan, Badghis, Sari Pul, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Kabul, wo Kämpfer Schläferzellen gebildet haben. Die Gruppe hat ihre Positionen in und um Kabul gestärkt, wo sie die meisten ihrer Anschläge verübt (UNSC 21.7.2021).
Der ISKP hat in Afghanistan bislang kein Gebiet [nachhaltig] erfolgreich eingenommen. Stattdessen fokussiert seine Strategie auf Anschläge gegen zivile Ziele, wie zum Beispiel Moscheen, Schulen und Hochzeiten (WP 26.8.2021a). Im ersten Halbjahr 2021 verzeichnete UNAMA eine Zunahme an zivilen Opfern von rund 45 % durch Anschläge des ISKP gegenüber demselben Untersuchungszeitraum im Vorjahr. Insgesamt schrieb UNAMA neun Prozent aller erfassten zivilen Opfer dem ISKP zu. UNAMA stellte auch ein Wiederaufleben vorsätzlicher sektiererisch motivierter Anschläge gegen die religiöse Minderheit der Schiiten fest, von denen die meisten auch der ethnischen Minderheit der Hazara angehören und die fast alle vom ISIL-KP beansprucht werden (UNAMA 26.7.2021). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr dagegen um 20 % gesunken. Insgesamt verzeichnete AIHRC im ersten Halbjahr 2021 343 zivile Opfer bei ISKP-Anschlägen oder -Angriffen, davon 104 Todesopfer und 284 Verletzte (AIHRC 1.8.2021). Im gesamten Jahr 2020 schrieb AIHRC dagegen 403 zivile Opfer dem ISKP zu (AIHRC 28.1.2021; vergleiche ACCORD 6.5.2021), UNAMA zählte dagegen 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte). 80 % der zivilen Opfer, die dem ISKP zugeschrieben wurden, entstanden bei Angriffen, die bewusst auf Zivilisten abzielten (UNAMA 2.2021a). Ende August 2021 übernahm der ISKP die Verantwortung für einen Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul, die sich im Zuge der Massenevakuierungsflüge nach der Machtübernahme der Taliban dort gebildet hatte. Mindestens 170 Personen sind bei dem Anschlag ums Leben gekommen (MEE 27.8.2021; vergleiche BBC 28.8.2021), neben den Zivilisten auch 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die zur Sicherung des Flughafengeländes dort postiert waren (MEE 27.8.2021).
Die Taliban stehen dem IS und seinen Vorstellungen eines globalen Dschihads ablehnend gegenüber und haben ISKP in den vergangenen Jahren bekämpft (AA 21.10.2021). Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige', die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vergleiche WP 26.8.2021a). Die Rivalität des ISKP mit den Taliban wurde von einer Quelle auch als ein "Mikrokosmos des [internationalen] Wettbewerbs zwischen Al-Qaida und ihrem radikaleren Ableger, dem Islamischen Staat" beschrieben. Zwischen den Gruppen bestehen Generations- und ideologische Unterschiede (WP 26.8.2021b). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele sowie afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränkten (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sie Angriffe gegen Schiiten sowie Hindus und Sikhs richten (SC 27.8.2021; vergleiche WP 19.8.2019). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung (AA 21.10.2021).
Experten zufolge werden die Taliban [nach ihrer Machtübernahme in Kabul] wahrscheinlich versuchen, die Gruppe zu eliminieren. Einige warnten jedoch im August 2021, dass der ISKP von einem Sicherheitsvakuum profitieren könnte, während die Taliban versuchen, ihre Macht zu konsolidieren (WP 26.8.2021a; vergleiche AM 27.8.2021). Ein weiterer Experte wies auch darauf hin, dass der ISKP versuchen könnte, Spannungen zwischen den verschiedenen Talibanfraktionen auszunutzen, welche beispielsweise im Rahmen der Regierungsbildung deutlich wurden (GN 31.8.2021; vergleiche SC 27.8.2021).
Der ISKP hat in den Monaten seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 seine Angriffe gegen die Taliban verstärkt (LWJ 23.11.2021; vergleiche HRW 25.10.2021, UNGASC 28.1.2022) und eine Handvoll öffentlichkeitswirksamer Selbstmordattentate auf Ziele wie Moscheen und Krankenhäuser verübt und kleinere, aber zahlreichere Anschläge mit Sprengsätzen und Handfeuerwaffen gegen die militärischen Kräfte der Taliban durchgeführt. Als Reaktion darauf haben die Taliban mehr als 1.000 Kämpfer in die Provinz Nangarhar, dem Zentrum der ISKP-Operationen, geschickt, um die Gruppe zu bekämpfen (LWJ 23.11.2021; vergleiche WP 22.11.2021). Neben den Taliban-Behörden nahm die Gruppe auch Zivilisten, vor allem schiitische Minderheiten, in städtischen Gebieten ins Visier (UNGASC 28.1.2022). Aktuell liegt nach Ansicht des Long War Journal der Vorteil klar bei den Taliban, da der ISKP über keine Verbündete im In- oder Ausland verfügt und die Taliban im Zuge der Machtübernahme ein großes Waffenarsenal requirieren konnten sowie über territoriale Kontrolle in allen Provinzen verfügen. Der ISKP verfügt nur über Kleinwaffen, und sein Hauptwerkzeug für Angriffe auf die Taliban sind Sprengfallen und Selbstmordattentate (LWJ 23.11.2021). Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 152 Angriffe der Gruppe in 16 Provinzen, verglichen mit 20 Angriffen in 5 Provinzen im gleichen Zeitraum des Vorjahres (UNGASC 28.1.2022).
Im Oktober gab es Berichte, wonach in Jalalabad Leichen entdeckt wurden, einige mit handgeschriebenen Notizen in ihren Taschen, auf denen sie beschuldigt wurden, Mitglieder des ISKP zu sein. Die Taliban werden beschuldigt, für diese Tötungen verantwortlich zu sein (BBC 29.10.2021). Mitte Dezember kam es zu zwei Bombenanschlägen in hauptsächlich schiitischen Gegenden Kabuls, bei denen mindestens eine Person getötet wurde. Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (RFE/RL 18.11.2021; vergleiche REU 17.11.2021).
Die UNAMA-Vorsitzende Deborah Lyons sagte am 16.11.2021, ISKP sei mittlerweile nicht mehr nur im Osten, sondern im ganzen Land zunehmend aktiver (UNAMA 16.11.2021).
Seit der Regierungsübernahme der Taliban versucht der ISKP seine Anziehungskraft in Zentralasien auszuweiten. Der afghanische Zweig der Gruppe hat in letzter Zeit die Produktion, Übersetzung und Verbreitung von Propaganda, die sich an usbekische, tadschikische und kirgisische Sprecher in der Region richtet, intensiviert. Dieser Vorstoß ist Teil einer Informationskampagne, mit der die neue Taliban-Regierung in Kabul als ethno-nationalistische Organisation der Paschtunen und nicht als glaubwürdige islamische Bewegung delegitimiert werden soll. Dementsprechend sieht der ISKP eine Gelegenheit, Spannungsfelder zwischen den Taliban und verschiedenen ethnischen Gruppen, die sich möglicherweise ausgegrenzt fühlen, auszunutzen und gleichzeitig Anschläge in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan zu verüben (EN 17.3.2022).
Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen
Letzte Änderung: 17.01.2022
Al-Qaida und ihr regionaler Zweig, Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent [Anm.: manchmal mit AQIS abgekürzt], operieren trotz wiederholter Behauptungen der Taliban, dass die Gruppe keine Präsenz im Land habe, weiterhin in ganz Afghanistan (LWJ 8.4.2021; vergleiche BAMF 12.4.2021). Gemäß einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Juli 2021 ist Al-Qaida in mindestens 15 Provinzen Afghanistans aktiv, vor allem im Osten, Süden und Südosten des Landes (UNSC 21.7.2021). Ein bedeutender Teil der Führungsriege von Al-Qaida - einschließlich ihrem Anführer Aiman al-Zawahiri - hat ihre Basis in der Grenzregion von Afghanistan und Pakistan, von wo aus sie eng mit AQIS zusammenarbeitet (UNSC 1.6.2021). AQIS operiert unter dem Schutz der Taliban von Kandahar, Helmand und Nimruz aus (UNSC 21.7.2021). Die Zahl der Mitglieder von Al-Qaida, einschließlich AQIS, wird auf mehrerern Dutzend bis 500 Personen geschätzt (UNSC 1.6.2021).
Al-Qaida operierte überwiegend unter der Schirmherrschaft der Taliban und in Verbindung mit anderen regierungsfeindlichen Gruppen gegen die [bis 15.8.2021 im Amt befindliche] afghanische Regierung. Die Aktivitäten konzentrierten sich auf die Ausbildung, einschließlich mit Waffen und Sprengstoff, sowie auf Beratung, und es wird behauptet, dass sie an Taliban-internen Diskussionen über die Beziehungen der Bewegung zu anderen dschihadistischen Gruppierungen teilnahmen (UNAMA 2.2021a). Kämpfer von AQIS waren in die Strukturen der Taliban eingebettet (CRS 17.8.2021). Die Nähe zwischen den beiden Gruppen wird auch durch die Tötung mehrerer Al-Qaida-Kommandeure bei Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte in von den Taliban kontrollierten Gebieten unterstrichen (UNSC 1.6.2021; vergleiche VOA 10.11.2020).
Die Taliban und Al-Qaida sind nach wie vor eng miteinander verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen, wobei das Haqqani-Netzwerk hier eine wichtige Komponente ist. Die Verbindungen zwischen den beiden Gruppen beruhen auf ideologischer Übereinstimmung, auf Beziehungen, die durch gemeinsame Kämpfe entstanden sind, und auf der persönlichen Ebene z.B. durch Eheschließungen (UNSC 1.6.2021). Im Zuge des US-Taliban-Abkommens haben die Taliban zugesichert, zu verhindern, dass Al-Qaida den Boden Afghanistans nutzt, "um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen" (USDOS 29.2.2020). Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten (UNSC 15.1.2019), bestritten die Taliban dann, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit, zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert (LWJ 15.6.2020; vergleiche UNSC 1.6.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 gratulierte die Al-Qaida-Führung den Taliban zu ihrem "historischen Sieg" (LWJ 31.8.2021). Mit Stand 15.8.2021 ist noch unklar, welche Haltung die Taliban gegenüber Al-Qaida oder anderen islamistischen Extremisten einnehmen werden, sollten diese in Afghanistan grenzüberschreitende Gewaltaktionen durchführen. Es ist auch nicht klar, wie Al-Qaida auf die jüngsten Ereignisse reagieren wird (GN 15.8.2021).
Im August 2021 schätzte das US-Verteidigungsministerium die Präsenz von Al-Qaida in Afghanistan als nicht derart hoch ein, dass die Gruppierung eine Bedrohung für die USA darstellen würde, wie es am 11.9.2001 der Fall war (CNN 21.8.2021). Die Führung von Al-Qaida ist vielmehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt (CRS 17.8.2021). Zuvor hatte das US-amerikanische Verteidigungsministerium jedoch Präsident Biden widersprochen, der den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan damit gerechtfertigt hatte, dass Al-Qaida aus dem Land "verschwunden" sei (CNN 21.8.2021).
Im September 2021 hatte die Taliban amerikanische Befürchtungen, dass Al-Qaida oder der ISKP (Islamic State Khorasan Province) im Land präsent sind, als "unbegründete Propaganda" zurückgewiesen (VOA 21.9.2021; vergleiche REU 21.9.2021).
Im Dezember 2021 erklärte der Leiter des US-Zentralkommandos, dass seit dem Abzug der US-Streitkräfte die Extremistengruppe Al-Qaida in Afghanistan "leicht gewachsen" sei. Auch herrsche Uneinigkeit zwischen den neuen Taliban-Führern des Landes, ob sie ihr Versprechen aus dem Jahr 2020, die Beziehungen zu der Gruppe abzubrechen, einhalten sollen (ArN 10.12.2021; vergleiche KP 11.12.2021).
Nach Angaben eines Taliban-Sprechers wurde Qari Baryal am 7.11.2021 zum Gouverneur der Provinz Kabul ernannt (LWJ 9.11.2021; vergleiche REU 7.11.2021), der nach früheren Berichten vom US-Militär als "mit Al-Qaida verbundener Taliban-Führer" bezeichnet wurde (LWJ 9.11.2021).
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 03.05.2022
Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia (EASO 1.2022). Beim Übergang der Taliban von einem Aufstand zu einer Regierung fehlten dem afghanischen Justizsystem eine offizielle Verfassung und offizielle Gesetze (EASO 1.2022; vergleiche FH 28.10.2022). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. "Scharia" bedeutet auf Arabisch "der Weg" und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen (AJ 23.8.2021; vergleiche NYT 19.8.2021). Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden (NYT 19.8.2021). Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (AJ 23.8.2021).
Bereits vor der Machtübernahme unterhielten die Taliban Schattengerichte unter strikter Auslegung der Scharia in den von ihnen kontrollierten Gebieten, die von der Bevölkerung zum Teil als effizienter und verlässlicher als das korruptionsbelastete Justizsystem der Republik empfunden wurden. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Taliban auf lokaler Ebene gegen Kriminalität vorgehen und Täter öffentlich bestrafen (AA 21.10.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022). Darüber, was im Anschluss weiter mit den Tätern passiert, liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021). Während des Übergangs der Taliban von Aufständischen zu einer Regierung fehlte es dem afghanischen Justizsystem an einer offiziellen Verfassung und offiziellen Gesetze (FP 28.10.2022; vergleiche EASO 1.2022).
Nach der Absetzung der gewählten Regierung im August 2021 übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes und ernannten Richter an Zivil- und Militärgerichten (FH 28.2.2022). Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Der geltende Rechtsrahmen ist nach wie vor unklar, obwohl eine Überprüfung der Vereinbarkeit der bestehenden Rechtsvorschriften mit dem mit dem islamischen Recht läuft. Am 16.12.2022 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2022 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet (UNGASC 28.1.2022). Richter, die unter der ehemaligen Regierung gedient haben, insbesondere Richterinnen, sind arbeitslos; eine beträchtliche Anzahl ist untergetaucht (FH 28.2.2022). Während in den Provinzen zahlreiche Richterstellen neu besetzt wurden, wurden ehemalige Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte nicht in das Justizsystem der Taliban-Behörden integriert. Frauen sind nach wie vor von der Arbeit im Justizsektor ausgeschlossen (UNGASC 28.1.2022).
Unter der Republik waren informelle Rechtssysteme, die sich auf Varianten des Gewohnheitsrechts und der Scharia stützten, zur Schlichtung von Streitigkeiten weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versuchen, einige lokale Streitbeilegungsverfahren zu kontrollieren (FH 28.2.2022).
Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft (AJ 23.8.2021; vergleiche WTN 3.9.2021). Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (AJ 23.8.2021; vergleiche VOA 24.8.2021).
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 03.05.2022
Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme im August 2021 faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen, ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun (AA 21.10.2021). Die Einrichtung und der Betrieb der Sicherheitsministerien, insbesondere des Innenministeriums und des Verteidigungsministeriums, gelten als eine der Prioritäten der Taliban-Verwaltung. Sirajuddin Haqqani und Mohammad Yaqoub Omar, der Sohn des verstorbenen Taliban-Führers Mullah Omar, wurden zum Innenminister bzw. zum Verteidigungsminister ernannt. Die Taliban-Behörden erklärten, zu den Prioritäten im Sicherheitssektor gehören die Bekämpfung des Islamischen Staates (ISKP), des bewaffneten Widerstandes in und um die Provinz Panjshir und die Bekämpfung von Kriminalität sowie die Sicherung der Grenzen und die Drogenbekämpfung. Frauen in Uniform, die früher im Sicherheitssektor gedient haben, wurden vom Dienst ausgeschlossen. Am 11.11.2021 hat das Taliban-Regime eine Säuberungskommission eingerichtet, um "unerwünschte Personen" aus den Reihen der Taliban zu entfernen, die kriminelles Verhalten an den Tag legen oder die nicht die Werte der Taliban vertreten. Berichten zufolge wurden bisher etwa 700 Personen entlassen (UNGASC 28.1.2022).
Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (AA 21.10.2021).
Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine "Generalamnestie" für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (UNGASC 28.1.2022; vergleiche AI 9.2021, USDOS 12.4.2022). Es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (CNN 8.9.2021; vergleiche BBC 5.9.2021). Es gibt weitere Berichte wonach ehemalige Polizisten (PAJ 21.10.2021) oder Dolmetscher getötet wurden (ABC News 20.10.2021).
Während im Oktober afghanische Militärpiloten noch berichteten, dass ihre in Afghanistan verbliebenen Verwandten mit dem Tod bedroht würden, sollten sie nicht zurückkehren (RFE/RL 23.10.2021), forderte der Sprecher der Talibanregierung diese auf, im Land zu bleiben bzw. zurückzukehren. Sie würden durch eine Amnestie geschützt und nicht verhaftet werden. Dies geschah, nachdem Dutzende von in den USA ausgebildeten afghanischen Piloten Tadschikistan im Rahmen einer von den USA vermittelten Evakuierung verlassen hatten, wohin sie zuvor geflüchtet waren (AP 10.11.2021; vergleiche TD 10.11.2021).
Nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom November 2021 wurden seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in nur vier Provinzen (Ghazni, Helmand, Kandahar, and Kunduz) exekutiert oder waren gewaltsamem "Verschwindenlassen" ausgesetzt (HRW 30.11.2021).
Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor (AA 21.10.2021).
Nach Angaben von BBC Pashto erließen die Taliban am 8.11.2021 einen Erlass, der die Namen der bisherigen Armeekorps (Qol-e Ordou) wie folgt änderte (BBC 8.11.2022; vergleiche KP 8.11.2022, EASO 1.2022):
● Korps Kabul wird in Korps Kabul Central umbenannt
● 209. Shaheen-Korps in Mazar wird in Al-Fatha-Korps umbenannt
● 17. Pamir-Korps in Kunduz wird in Omary-Korps umbenannt
● 205. Attal-Korps in Kandahar geändert in Badar-Korps
● 201. Silab-Korps in Laghman geändert in Khalid Ibn-e Walid-Korps
● 203. Tander-Korps in Paktia geändert in Mansouri-Korps
● 207. Zafar-Korps in Herat geändert in Al-Farooq-Korps
● 215. Maiwand-Korps in Helmand wurde in Azm-Korps umbenannt
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 03.05.2022
Unter der vormaligen Regierung war laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) Folter verboten (UNAMA 2.2021b; vergleiche AA 16.7.2021). Die Regierung erzielte Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumte es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 4.2.2021; vergleiche HRW 13.1.2021). Obwohl die Verfassung von 2004 und die Gesetze der früheren Regierung solche Praktiken untersagten, gab es zahlreiche Berichte über Misshandlungen durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Behörden von Haftanstalten und die Polizei (USDOS 12.4.2022).
Über systematische staatliche Folter ist bislang nichts bekannt (AA 21.10.2021). Es gibt jedoch zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus (UNAMA 26.5.2019; vergleiche USDOS 12.4.2022). Auch gibt es Berichte über die Folter von Journalisten (AA 21.10.2021; vergleiche HRW 8.9.2021).
Korruption
Letzte Änderung: 03.05.2022
Mit einer Bewertung von 16 Punkten (von 100 möglichen Punkten - 0= highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2021 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 174. Platz, was eine Verschlechterung um neun Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI 25.1.2022; vergleiche TI 28.1.2021).
Die [ehemalige] Regierung setzte Maßnahmen gegen Korruption nicht effektiv um (USDOS 12.4.2022) und unternahm nur kleine Schritte, um gegen Korruption vorzugehen, wie das Verfassen von Vorschriften oder das Abhalten von Treffen, anstatt konkreter Maßnahmen (SIGAR 30.1.2021), während Beamte häufig ungestraft korrupte Praktiken ausübten. Berichte deuten an, dass Korruption innerhalb der Gesellschaft endemisch ist - Geldflüsse von Militär, internationalen Gebern und aus dem Drogenhandel verstärken das Problem (USDOS 12.4.2022). Die weitverbreitete Korruption und Misswirtschaft schwächten in weiterer Folge die staatlichen Strukturen. Das gilt für die Sicherheitskräfte ebenso wie für das Parlament und die Gerichte (NZZ 11.8.2021). Im Laufe des Jahres 2021 gab es Berichte über "Landgrabbing" durch private und öffentliche Akteure, einschließlich der Taliban (USDOS 12.4.2022).
Der hohe Grad an Korruption wird von vielen auch als einer der Gründe für den schnellen Erfolg der Taliban gesehen (NZZ 11.8.2021; vergleiche TD 17.8.2021, BBC 13.8.2021).
Der mit August 2021 neue amtierende Bürgermeister von Kabul erklärt, dass gegen korrupte Elemente nach den Regeln der Scharia vorgegangen wird. Seinen Angaben zufolge gab es in der Vergangenheit in allen Bereichen Afghanistans massive Korruption, aber das "Islamische Emirat" hätte nun alle Personen begnadigt und es würde niemand für frühere Korruption verhaftet werden (PAJ 30.8.2021).
Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung an, darunter die Einrichtung von Kommissionen in Kabul und auf Provinzebene, die korrupte oder kriminelle Beamte aufspüren, und eine harte Haltung gegen Bestechung zeigen sollen. Die Taliban richteten über das Verteidigungsministerium eine Kommission ein, die Mitglieder ausfindig machen sollte, die sich über die Richtlinien der Bewegung hinwegsetzten. Ein Sprecher des Ministeriums erklärte, dass 2.840 Taliban-Mitglieder wegen Korruption und Drogenkonsums entlassen worden seien. Aus Berichten mehrerer lokaler Geschäftsleute ging hervor, dass der grenzüberschreitende Handel unter der Führung der Taliban viel einfacher geworden war, da die "Geschenke", die normalerweise für Zollbeamte erforderlich sind, abgeschafft wurden. Örtliche Taliban-Führer in Balkh leiteten Ermittlungen wegen Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit Invaliditätsleistungen ein, und in Nangarhar richteten sie Sondereinheiten ein, um illegale Landbesetzungen und Abholzungen zu verhindern (USDOS 12.4.2022).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 03.05.2022
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen (AA 21.10.2021). Die gewählte Regierung Afghanistans, die durch einen von den Taliban geführten Aufstand sowie durch Gewalt, Korruption und mangelhafte Wahlverfahren unterminiert wurde, bot vor ihrem Zusammenbruch im Jahr 2021 dennoch ein breites Spektrum an individuellen Rechten. Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban den politischen Raum des Landes geschlossen; Opposition gegen ihre Herrschaft wird nicht geduldet, während Frauen und Minderheitengruppen durch das neue Regime in ihren Rechten beschnitten wurden (FH 28.2.2022). Unter der Taliban-Herrschaft werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Versammlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt, und jede Jede Form von Dissens wird mit Verschwindenlassen, willkürlichen Verhaftungen und unrechtmäßiger Inhaftierung bestraft (AI 21.3.2022).
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.8.2021; vergleiche AA 21.10.2021, USDOS 12.4.2022), wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen (AA 21.10.2021). Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (HRW 30.11.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022). Ebenso deuteten seit August zahlreiche Berichte darauf hin, dass die Taliban gewaltsam in Wohnungen und Büros eindrangen, um nach politischen Gegnern und nach Personen zu suchen, die die NATO- und US-Missionen unterstützt hatten (USDOS 12.4.2022). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, dass sie Repressalien fürchten (BBC 20.8.2021), und es gibt Berichte über das gewaltsame Verschwindenlassen von Frauen, willkürliche Verhaftungen von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft durch die Taliban (AI 21.3.2022) sowie über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen und Ähnliches durchführen (AA 21.10.2021).
UNAMA, AIHRC und andere Beobachter berichteten, dass es sowohl unter der früheren Regierung als auch unter den Taliban im ganzen Land zu willkürlichen und lang andauernden Inhaftierungen kam, einschließlich von Personen, die ohne richterliche Genehmigung festgehalten wurden. Die ehemaligen Regierungsbehörden informierten die Inhaftierten häufig nicht über die gegen sie erhobenen Anschuldigungen (USDOS 12.4.2022).
Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.7.2021 getötet (AI 9.2021; vergleiche WP 28.7.2021), ein Volkssänger von den Taliban erschossen (AI 9.2021; vergleiche RFE/RL 29.8.2021) und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen (AI 9.2021; vergleiche BBC 5.9.2021).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 2.9.2021; vergleiche REU 3.9.2021).
Todesstrafe
Letzte Änderung: 03.05.2022
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Todesstrafe in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 16.7.2021). Und zwar für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. (StGb-AFGH 15.5.2017: Artikel 170,).
Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen (AA 21.10.2021; vergleiche EASO 1.2022). Die sowohl während des ersten Talibanregimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage einer strikten Auslegung der Scharia sieht die Todesstrafe vor (AA 21.10.2021).
Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 04.05.2022
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 23.8.2021; vergleiche USDOS 12.5.2021, AA 21.10.2021). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 23.8.2021, USDOS 12.5.2021). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AP 9.9.2021). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021).
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 21.10.2021). In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.5.2021). Nach Angaben der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) sind Angehörige religiöser Gruppen auch weiterhin stark von der Verfolgung durch die Taliban bedroht (WT 6.10.2021; vergleiche NAT 6.10.2021). Zuletzt haben auch Salafisten, die wie die Taliban Sunniten sind, jedoch der wahhabitischen Schule angehören (RFE/RL 22.10.2021), die Taliban beschuldigt, ihre Gotteshäuser zu schließen und ihre Mitglieder zu verhaften bzw. zu töten (FH 28.2.2022; vergleiche RFE/RL 22.10.2021).
In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 6.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vergleiche RFE/RL 6.1.2022)
Schiiten
Letzte Änderung: 03.05.2022
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wurde vor der Machtübernahme durch die Taliban auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 23.8.2021; vergleiche AA 16.7.2021). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 12.5.2021).
Direkte Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten waren vor der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan selten (AA 16.7.2021). Im Jahr 2020 verzeichnete UNAMA 19 Angriffe mit 115 zivilen Opfern (60 Tote und 55 Verletzte), die dem ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und anderen regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden und die auf Kultstätten, religiöse Führer und Gläubige abzielten, verglichen mit 20 Angriffen im Jahr 2019 mit 236 zivilen Opfern (80 Tote und 156 Verletzte) (USDOS 12.5.2021). Auch nach der Machtübernahme der Taliban ging der ISKP gezielt gegen Schiiten vor mit Angriffen in Kabul, Jalalabad, Herat, Kandarhar und Kunduz (HRW 25.10.2021; vergleiche FH 28.2.2022, USDOS 12.4.2022).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vergleiche BBC 20.8.2021) und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet worden sein (AI 5.10.2021; vergleiche BBC 5.11.2021). AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.8.2021).
Im Oktober kam es zu Anschlägen auf schiitische Moscheen in Kandarhar (UNOCHA 21.10.2021; vergleiche WP 15.10.2021) und Kunduz bei denen viele Menschen getötet wurden (BBC 9.10.2021; vergleiche TG 8.10.2021). Nach diesen Angriffen versprachen die Taliban die Sicherheitsmaßnahmen vor schiitischen Moscheen zu erhöhen (AN 17.10.2021; vergleiche HRW 25.10.2021).
Human Rights Watch (HRW) berichtet, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. HRW verwies auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh. In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober Hunderte von Hazara-Familien vertrieben, und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan wurden im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021; vergleiche USDOS 12.4.2022).
Ethnische Gruppen
Letzte Änderung: 03.05.2022
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vergleiche CIA 23.8.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vergleiche CIA 23.8.2021). Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 21.10.2021).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.3.2021; vergleiche Karrell 26.1.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.4.2022).
Die am 7.9.2021 gebildete Übergangsregierung der Taliban umfasste nur drei Vertreter der usbekischen bzw. der tadschikischen Minderheiten, durch weitere Ernennungen kamen mittlerweile wenige weitere, darunter ein Vertreter der Hazara, hinzu (AA 21.10.2021).
Darüber hinaus unterliegen - soweit bislang erkennbar - ethnische Minderheiten, aber keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren (AA 21.10.2021). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure männlich und überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGASC 28.1.2022).
Hazara
Letzte Änderung: 04.05.2022
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).
Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vergleiche MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vergleiche MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018).
Die Lage der Hazara, die während der ersten Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2021; vergleiche FH 4.3.2020). Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 12.4.2022).
Während des gesamten Jahres 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Beispielsweise tötete am 8.10.2021 ein Selbstmordattentäter der ISIS-K mindestens 50 Angehörige der schiitischen Minderheit in einer Moschee in Kundus. Am 15.10.2021 wurden bei einem Selbstmordattentat auf eine Moschee der schiitischen Gemeinschaft in Kandahar mehr als 30 Gläubige getötet. Nach Anschlägen und Drohungen verstärkten die Sicherheitskräfte der Taliban die Schutzmaßnahmen an schiitischen Moscheen (USDOS 12.4.2022). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen (USDOS 12.5.2021; vergleiche AAN 17.1.2022) wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vergleiche RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban wurde in den hauptsächlich von Hazara bewohnten Gebieten im Westen Kabuls eine rund einmonatige Anschlagspause verzeichnet, dann kam es jedoch wieder zu Explosionen im Kabuler Stadtviertel Dasht-e Barchi, wie auch zu Anschlägen in Kunduz und Kandahar (AAN 17.1.2022). Die Hazara sind weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des ISKP zu werden. Diese Anschläge waren bereits in der Vergangenheit häufig gegen überwiegend von Hazara genutzte Einrichtungen oder Wohnviertel gerichtet (AA 21.10.2021; vergleiche AAN 17.1.2022). Der amtierende Außenminister der Taliban sagte zu, die Sicherheitsvorkehrungen für schiitische Moscheen zu verstärken (AA 21.10.2021; vergleiche DIS 12.2021).
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 haben diese erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Sie haben insbesondere den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara, die während des ersten Talibanregimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht (AA 21.10.2021; vergleiche WSJ 2.9.2021). Zum Nachweis haben die Taliban mit ihren Kämpfern die Ashura-Feierlichkeiten [Anm.: Gedenken des Martyriums von Imam Hussein, einem Enkel des Propheten Mohammed] am 19.8.2021 abgesichert und sich medienwirksam mit Hazara-Führern getroffen (AA 21.10.2021; vergleiche AJ 19.8.2021). Nach Angaben des in London lebenden Journalisten und eines afghanischen Rechtsprofessors werden die Hazara in Afghanistan von vielen Taliban-Mitgliedern weiterhin als minderwertig angesehen, da sie schiitische Muslime sind. Die dänische Einwanderungsbehörde verweist in einem Bericht auf zwei Quellen, denen zufolge Hazara seit der Machtübernahme durch die Taliban beim Zugang zum Rechtssystem und zu Ressourcen diskriminiert werden (DIS 12.2021). Außerdem wurde die Hazara-Gemeinschaft weitgehend von der Übergangsregierung und anderen hochrangigen Positionen auf nationaler und provinzieller Ebene ausgeschlossen (DIS 12.2021; vergleiche WP 1.11.2021).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.8.2021; vergleiche BBC 20.8.2021) und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen von den Taliban getötet worden sein (AI 5.10.2021; vergleiche BBC 5.11.2021). AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.8.2021).
Es gibt Berichte, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. Die Quellen verweisen auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh (HRW 22.10.2021; vergleiche DIS 12.2021, FH 28.2.2022). In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober "Hunderte von Hazara-Familien", und in 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021; vergleiche USDOS 12.3.2022). Drei im Bericht der dänischen Einwanderungsbehörde zitierten Quellen zufolge zeigen diese Vertreibungen, dass die Taliban die Hazara zwar nicht systematisch verfolgen, sie aber auch nicht bereit sind, sie zu schützen (DIS 12.2021).
Im Dezember 2021 führten hochrangige Taliban-Vertreter eine Reihe von Gesprächen mit schiitischen Hazara-Führern. Am 26.12.2021 veranstaltete der stellvertretende Interimspremierminister Maulavi Mohammed Abdul Kabir ein Treffen von schiitischen Führern aus dem ganzen Land und der stellvertretende Interims-Außenminister Sher Mohammad Abbas Stanekzai sprach am 29.12.2021 auf einer Sitzung des schiitischen Ulema-Rates in Kabul. Bei diesen Treffen bekundeten die Taliban-Vertreter ihre Entschlossenheit, für die Sicherheit aller Bürger zu sorgen und eine konfessionelle Spaltung zu vermeiden (USDOS 12.4.2022).
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 04.05.2022
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.7.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban gab es Berichte über härtere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen (HRW 17.8.2021).
Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht "man kenne seine Nachbarn nicht mehr" (AAN 19.3.2019).
Die Absorptionsfähigkeit der Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht. Dies schlägt sich sowohl im Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch im erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder. Die Auswirkungen des anhaltenden Konflikts und der Covid-19-Pandemie haben die Lage weiter verschärft (AA 16.7.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es Berichte, wonach die afghanische Bevölkerung daran gehindert wurde, ins Ausland zu fliehen und dort Asyl zu suchen, weil die Taliban den Zugang zum Flughafen von Kabul verhinderten oder die Landgrenzen geschlossen wurden. Einige Männer und Frauen wurden Berichten zufolge gefoltert oder misshandelt, als sie versuchten, das Land zu verlassen (AI 9.2021). Am 1.3.2022 erklärte ein Sprecher der Taliban, Besitzer legaler Reisedokumente könnten das Land ungehindert verlassen. Nur illegale Migration solle verhindert werden. Frauen dürfen nur mit männlicher Begleitung und einem triftigen Grund ausreisen. Gleichzeitig veröffentlichte das Nachrichtenportal „8am“ ein Dokument der für die Grenzsicherheit zuständigen Behörde des Innenministeriums, das Sicherheitskräfte an den Landgrenzen und Flughäfen auffordert, die Ausreise ehemaliger Angestellter der NATO und der amerikanischen Armee zu verhindern (BAMF 7.3.2022).
Sowohl Iran wie auch Pakistan haben ihre Grenzen für Personen ohne gültige Reisedokumente geschlossen, die aus Afghanistan einreisen wollen (DIS 12.2021; vergleiche SIGAR 30.1.2022), wobei nach Angaben von UNHCR Afghanen weiterhin illegal über inoffizielle Grenzübergänge in den Iran gelangen (UNHCR 10.11.2021) und Pakistan die Einreise bei einer kleinen Anzahl von medizinischen Fällen ohne Dokumente erlaubt hat (SIGAR 30.1.2022). Pakistan hat im Jahr 2020 begonnen, seine Grenze zu Afghanistan mit 2.600 km an Zäunen zu verstärken (DIS 12.2021). Der Bau des Zauns wurde mit Ende 2021 weiter fortgesetzt, trotz Versuchen seitens der Taliban, den Bau zu behindern (Dawn 7.1.2022; vergleiche VOA 3.1.2022).
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban riegelte die usbekische Regierung die Grenze zu Afghanistan ab und erklärte, dass keine afghanischen Flüchtlinge ins Land gelassen würden. Der usbekische Flughafen wurde zwar als Zwischenstopp zum Auftanken für Flüchtlingsflüge nach Europa und darüber hinaus zur Verfügung gestellt, doch das Einreiseverbot für Flüchtlinge blieb bestehen, auch nachdem der Grenzübergang Termez wieder für den zugelassenen gewerblichen Verkehr geöffnet wurde (VOA 23.12.2021). Auch die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan bleibt geschlossen (DIS 12.2021) und es gibt Berichte über zwangsweise Rückführungen von Afghanen aus Tadschikistan (UNHCR 19.11.2021; vergleiche DIS 12.2021). Mit Stand Jänner 2022 sind die Landgrenzen nach Tadschikistan und Usbekistan für Afghanen geschlossen (SIGAR 30.1.2022).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 12.4.2022). Die Taliban schränken die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes kaum direkt ein. Allerdings können Kontrollpunkte, die dazu dienen, mutmaßliche Gegner zu verhaften und die Taliban-Vorschriften durchzusetzen, die Bewegungsfreiheit erschweren. Die Bewegungsfreiheit von Frauen ist eingeschränkt, da das Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern vorschreibt, wie weit sie ohne Begleitung reisen dürfen. Frauen, die keine Kleidung tragen, die den Richtlinien des Ministeriums entspricht, kann der Zutritt zu Fahrzeugen untersagt werden (FH 28.2.2022). Seit dem 26.12.2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, mehr als 72 Kilometer (45 Meilen) ohne einen männlichen Verwandten zu reisen. Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 6.1.2022; vergleiche DW 26.12.2021).
Anmerkung: Weitere Informationen zum nationalen und internationalen Flugverkehr sowie zum Status der Grenzen finden sich im Kapitel Erreichbarkeit. Aufgrund der aktuellen Situation - der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 - kann es zu plötzlichen Änderungen im Hinblick auf die Öffnung und Schließung von Grenzen und auf den Flugverkehr kommen.
Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan
Iran
Letzte Änderung: 04.05.2022
Anmerkung, Das Unterkapitel "Iran" des Kapitels "Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan" entspricht inhaltlich dem Kapitel "Flüchtlinge" der Version 4 der Länderinformation zu Iran (Veröffentlichungsdatum 22.12.2021).
Iran hat die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet und übernimmt seit mehr als drei Jahrzehnten Verantwortung für afghanische und irakische Flüchtlinge im Land (AA 28.1.2022; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Die Behörden arbeiten mit dem Büro von UNHCR zusammen, um afghanischen und irakischen Flüchtlingen Hilfe bereitzustellen (USDOS 30.3.2021; vergleiche UNHCR 30.9.2020), vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (UNHCR 2020). Die iranische Regierung ist über das Amt für Ausländer- und Einwanderungsangelegenheiten (BAFIA) für die Registrierung von Asylwerbern und Flüchtlingen sowie für die Feststellung des Flüchtlingsstatus in Iran gemäß den iranischen Rechtsvorschriften zuständig. UNHCR in Iran nimmt keine Asylanträge an und entscheidet nicht über Asylanträge (UNHCR 26.9.2021).
Von den Flüchtlingen stellen die afghanischen weiterhin die größte Gruppe, gefolgt von irakischen. Insgesamt ist Iran eines der größten Aufnahmeländer für Flüchtlinge weltweit (GIZ 12.2020c). In Iran halten sich ca. 3-4,5 Millionen Afghanen auf, wobei ca. 300.000 seit Machtergreifung der Taliban Anfang August 2021 nach Iran geflohen sind (ÖB Teheran 11.2021). Einem eingeschränkten Kreis von 800.000 Amayesh-Karteninhaberinnen und -inhabern, die Zugang zu Gesundheitsdiensten und zum Bildungssystem haben, stehen laut UNHCR 2,6 Mio. nicht registrierte Flüchtlinge und 586.000 Afghan*innen mit Pass und Visum gegenüber (AA 28.1.2022). Internationale Organisationen wie UNHCR und NGOs bestätigen, dass Iran afghanische Flüchtlinge einerseits in den vergangenen Jahren sehr großzügig aufgenommen und behandelt, andererseits aber sehr wenig internationale Unterstützung erhalten hat (ÖB Teheran 11.2021). Vor dem Hintergrund der faktischen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan rechnet die iranische Regierung mit einer Massenfluchtbewegung aus dem Nachbarland und betont mit Blick auf die Wirtschaftslage und die anhaltende COVID-19-Pandemie, dass die Aufnahmekapazität erreicht sei. Deshalb fordert Iran substanzielle finanzielle Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. UNHCR beobachtet ein erhöhtes Fluchtaufkommen, insb. über illegale Schleuserrouten (AA 28.1.2022).
Mit der Durchführung des Amayesh-Programms für Flüchtlinge in Iran wurde in der Zeit von 2001 bis 2003 begonnen. Im Jahr 2001 begann man mit den Vorregistrierungen und im Jahr 2003 wurde die erste Amayesh-Runde durchgeführt. Die Personen, die durch das Programm registriert worden sind, bekamen sogenannte Amayesh-Karten ausgestellt, die unter anderem das Recht auf medizinische Versorgung und Ausbildung einschließen. Die Amayesh-Karten haben eine begrenzte Gültigkeit und um ihren legalen Status in Iran nicht zu verlieren, müssen sich Amayesh-registrierte Personen bei jeder Registrierungsrunde, die in Iran durchgeführt wird, erneut registrieren. Der Prozess zur erneuten Registrierung ist immer noch mit Schwierigkeiten und unterschiedlichen Ausgaben verbunden, die in den unterschiedlichen Provinzen variieren können. Normalerweise geschieht die Erneuerung jedes Jahr, die Kosten liegen bei 200-300 US-Dollar für eine Familie mit fünf Personen (hierin sind die Kosten für die Arbeitserlaubnis für eine Person sowie die Provinzsteuer inkludiert). Die iranischen Behörden geben im Internet bekannt, wenn es Zeit für eine neue Amayesh-Runde ist. Sie informieren auch über andere Regeln online und erwarten, dass sich die Betroffenen auf dem Laufenden halten, was nicht immer der Fall ist. Hilfsorganisationen richten sich mit extra Information an die am meisten schutzbedürftigen Gruppen, damit sie nicht verpassen, sich erneut für eine neue Amayesh-Karte oder den Schulbesuch der Kinder zu registrieren (Lifos 10.4.2018).
Die Afghanen, die vor 2001 nach Iran gekommen sind, werden - vorausgesetzt, dass sie sich bei sämtlichen Amayesh-Registrierungen registriert haben - von den iranischen Behörden als Flüchtlinge betrachtet. Das Amayesh-System ist aber kein offenes System, was bedeutet, dass neu eingereiste Afghanen kein Asyl in Iran beantragen können. Seit 2001 werden im Prinzip keine Neuregistrierungen mehr vorgenommen. Zu den Ausnahmen gehören wenige, besonders schutzbedürftige Fälle. Kinder von Amayesh-registrierten Eltern werden registriert (Lifos 10.4.2018). Die Behörden erlauben aber auch unregistrierten afghanischen Kindern den Schulbesuch (HRW 14.5.2019; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Wenn eine Person ihren Amayesh-Status infolge einer verpassten Registrierung verliert, gibt es keine Möglichkeit zur erneuten Registrierung. Amayesh-Registrierte verlieren ihren Status, wenn sie Iran verlassen, weil der Amayesh-Status keine Ausreise erlaubt (Lifos 10.4.2018).
Amayesh-registrierte Afghanen haben das Recht, eine Arbeitsgenehmigung zu beantragen (Lifos 10.4.2018; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Männer im Alter von 18 bis 65 sind dazu verpflichtet, dieses in Zusammenhang mit der Amayesh-Registrierung zu tun. Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis in Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen - oft zu Hause. Der Arbeitsmarkt für Afghanen in Iran ist reguliert und Afghanen haben das Recht, in 87 verschiedenen Berufen zu arbeiten. Ein Problem für Amayesh-registrierte, ausgebildete Personen ist, dass die Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt bedeuten können, dass sie nicht in dem Bereich arbeiten können, für den sie ausgebildet sind. Was den Zugang der afghanischen Bevölkerung zum Arbeitsmarkt sowie die Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen angeht, haben die iranischen Behörden in den letzten Jahren frühere Restriktionen verringert. In einzelnen Fällen, wo eine Amayesh-registrierte Person eine gewisse Berufskompetenz besitzt, die nicht unter die 87 erlaubten Berufe fällt, kann eine Ausnahme gestattet werden (Lifos 10.4.2018). Gemäß einem anderen Bericht gehen die meisten Flüchtlinge jedoch eher minderwertigen und schlecht bezahlten Arbeiten v.a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach, die offiziell versicherungspflichtig sind, während eine Beschäftigung in hochqualifizierten Berufen nicht erlaubt ist (AA 28.1.2022).
Als Teil der Bestrebungen der iranischen Behörden, Kontrolle über die sich illegal im Land aufhaltenden Afghanen zu bekommen, wurde 2017 ein Programm zur Identifikation und Registrierung afghanischer Staatsbürger durchgeführt. Dieser sogenannte 'headcount' richtete sich zu Beginn nur auf Afghanen, wurde aber später auch auf irakische Staatsbürger im Land ausgeweitet. Bis Mitte September 2017 wurden durch dieses Programm ca. 800.000 ausländische Staatsbürger mit illegalem Aufenthalt im Land identifiziert. Hinsichtlich sich illegal im Land aufhaltender Afghanen wurde das Hauptaugenmerk in der ersten Runde auf drei besondere Kategorien gerichtet:
1. Unregistrierte Afghanen mit in die Schule gehenden Kindern;
2. Unregistrierte Afghanen, die mit Amayesh-registrierten Personen verheiratet sind;
3. Unregistrierte Afghanen, die mit iranischen Staatsbürgern verheiratet sind (Lifos 10.4.2018).
Personen aus diesen Kategorien, die eine dem Programm entsprechende Identifikation durchlaufen haben, haben einen Papierbeleg (headcount slip) erhalten, der sie bis auf Weiteres davor schützt, aus Iran deportiert zu werden. Die Möglichkeit zur Teilnahme an dem Programm wurde auf früher Amayesh-registrierte Personen oder Visumsinhaber, die ihren Status aus irgendeinem Grund verloren haben, ausgeweitet. Der Fokus der iranischen Behörden liegt darauf, den Aufenthalt der Afghanen, die sich illegal im Land befinden, zu erfassen und zu regulieren, und nicht auf Deportationen (Lifos 10.4.2018). Infolge eines Dekrets des Obersten Revolutionsführers aus dem Jahr 2015 sind aktuell 500.080 afghanische und irakische Flüchtlingskinder, darunter 185.000 ohne offiziellen Flüchtlingsstatus, an iranischen Schulen eingeschrieben. Neben dem Schutz vor Abschiebungen für die ganze Familie geht damit der Zugang zu einer besseren Grundversorgung mit Nahrungsmitteln sowie Beratung und Gesundheitsfürsorge einher (AA 28.1.2022). Auch die Schulgebühren für Flüchtlingskinder wurden 2016 aufgehoben. Dennoch finden nicht alle Kinder einen Schulplatz, auch weil erschwingliche Transportmöglichkeiten zur nächsten Schule fehlen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche ACCORD 5.2020), die Kinder illegal arbeiten geschickt werden, die allgemeine Einschreibegebühr von umgerechnet 60 USD zu hoch ist, oder Eltern iranischer Kinder gegen die Aufnahme von afghanischen Kindern sind (ÖB Teheran 11.2021). Flüchtlingskinder lernen Seite an Seite mit ihren iranischen Klassenkameraden nach dem iranischen Lehrplan. Allein im Jahr 2019 schuf Iran in seinen Schulen Platz für etwa 60.000 zusätzliche afghanische Schüler. Es gibt einige von der afghanischen Gemeinschaft betriebene Schulen, in denen in Dari oder anderen in Afghanistan gesprochenen Sprachen unterrichtet wird, aber diese Schulen wurden erst vor Kurzem offiziell anerkannt, nachdem sie zuvor regelmäßig von den Behörden geschlossen wurden (ACCORD 5.2020). Auch der Zugang zu höherer Bildung ist möglich, dafür muss jedoch der Flüchtlingsstatus aufgegeben, und ein Studentenvisum beantragt werden. Nach dem Studium besteht daher die Gefahr, keine Aufenthaltserlaubnis mehr zu erlangen. Infolgedessen beantragen viele stattdessen Asyl in Europa, um dort ihre Ausbildung fortzusetzen, obwohl sie dies lieber in Iran gemacht hätten (ÖB Teheran 11.2021).
Die Krankenversicherungsleistungen für registrierte Flüchtlinge sollen erweitert und möglichst alle Flüchtlinge in medizinische Betreuungsmaßnahmen aufgenommen werden. Dazu bedient sich die Flüchtlingsbehörde BAFIA zunehmend eines Überweisungssystems von besonders schwierigen Fällen an internationale NGOs oder den UNHCR. Dieser ist mit Gesundheitsstationen in 18 Provinzen tätig und leistet mit einem zusätzlichen Versicherungsangebot innerhalb des bestehenden Salamat-System (UPHI) im aktuellen 7. Zyklus, der am 24.02.2022 abläuft, Hilfe in bis zu 120.000 Härtefällen. Zudem sind Flüchtlinge Teil der staatlichen COVID-19-Impfkampagne. Bis Ende September hatten ca. 500.000 Personen die Erstdosis erhalten (AA 28.1.2022). Afghanen haben auch ohne Aufenthaltstitel Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Medizinische Grundversorgung ist für alle Menschen in Iran gratis zugänglich, nicht registrierte Flüchtlinge haben jedoch oft Angst, abgeschoben zu werden, und nehmen diese nicht in Anspruch. Seit 2016 können sich alle registrierten Flüchtlinge in der staatlichen Krankenversicherung registrieren, müssen allerdings eine Gebühr zahlen, die sich viele nicht leisten können. UNHCR zahlt diese Gebühr für die vulnerabelsten Flüchtlinge (ÖB Teheran 11.2021). 120.000 Flüchtlinge wurden von UNHCR beim Zugang zur iranischen Krankenversicherung unterstützt. Die Krankenversicherung zielt darauf ab, den am stärksten gefährdeten afghanischen Flüchtlingen den nötigen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. UNHCR übernahm die Kosten für die Versicherungsprämien der schutzbedürftigen Flüchtlinge, die 2020 in der iranischen Allgemeinen Krankenversicherung (UPHI) eingeschrieben waren. Angesichts der COVID-19-Pandemie und des anhaltenden wirtschaftlichen Abschwungs in Iran hat UNHCR die Zahl der von dem Programm erfassten Flüchtlinge vorübergehend erhöht. Trotz der Herausforderungen gewährt Iran den Flüchtlingen weiterhin großzügig Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten. Iran ist eines von nur einer Handvoll Ländern auf der Welt, die Flüchtlingen die Möglichkeit bietet, sich wie iranische Staatsangehörige in eine nationale Krankenversicherung für wesentliche sekundäre und tertiäre öffentliche Gesundheitsdienste einzuschreiben. Das nationale Versicherungssystem ermöglicht eine kostenlose COVID-19-Behandlung und Krankenhausaufenthalte. Es subventioniert auch die Kosten für Operationen, Dialyse, Radiologie, Labortests, ambulante Versorgung und mehr. Viele Flüchtlinge können sich die Prämienkosten jedoch nicht leisten. Die Auswirkungen der Pandemie auf den Lebensunterhalt sind besonders schwerwiegend für Flüchtlinge, die oft auf prekäre und instabile Arbeitsplätze angewiesen sind. Viele können ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken, geschweige denn die Kosten für die Krankenversicherung, die schätzungsweise rund 40% der monatlichen Ausgaben einer durchschnittlichen Flüchtlingsfamilie ausmachen (UNHCR 6.4.2021).
Seit Beginn der Corona-Pandemie gab die Regierung immer wieder bekannt, dass die Behandlung für ausländische COVID-19-Patienten kostenlos erfolge. Mit Unterstützung des GAVI-COVAX-Mechanismus erhält Iran mittlerweile auch kostenlose Impfstoffe zum Impfen für die Afghanen im Land (ÖB Teheran 11.2021).
Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen. Iranische Behörden fürchten jedoch einen noch größeren Zustrom von Afghanen in den kommenden Monaten und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde in Iran, die schlechte Wirtschaftslage angesichts der US-Sanktionen und die Auswirkungen der COVID-Pandemie. Es werden Spannungen zwischen residenter Bevölkerung und den Neuankömmlingen befürchtet. Bereits bisher werden Afghanen teilweise diskriminiert, und es kommt zu Protesten gegen Afghanen, z.B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder an Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Die meisten Flüchtlinge sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben - wenig integriert (AA 28.1.2022). Neu angekommene Afghanen haben meist keine Probleme, in Iran eine Wohnung zu finden. Dies liegt daran, dass die afghanische Gesellschaft eine starke Netzwerkgesellschaft mit festen Beziehungen innerhalb der Netzwerke ist. Diejenigen, die nach Iran kommen, haben oft bereits Familienmitglieder im Land, bei denen sie wohnen können. Afghanen in Iran unterstützen sich gegenseitig und dieses kann auch für Personen gelten, die nicht miteinander verwandt sind. Viele Afghanen mieten große Wohnungen und es können viele Personen in einem Haushalt wohnen. Afghanen in Iran haben ungeachtet dessen, ob sie Amayesh-registriert sind oder nicht, nicht das Recht dazu, ein Haus oder eine Wohnung zu besitzen, sondern können diese nur mieten. Die Wohnungskosten stellen einen der größten Ausgabenposten für Afghanen in Iran dar. Bei der Anmietung eines Hauses wird eine Kaution an den Besitzer bezahlt und je größer die Kaution, die hinterlegt werden kann, desto billiger werden die Mietkosten (Lifos 10.4.2018).
Hochzeiten zwischen Iranern und afghanischen Flüchtlingen sind, obwohl keine Seltenheit, schwierig, da die iranischen Behörden dafür Dokumente der Botschaft oder der afghanischen Behörden benötigen. Staatenlosen wird von einigen Provinzverwaltungen Zugang zur öffentlichen Grundversorgung und das Ausstellen von Reisedokumenten und sonstigen Papieren verwehrt; eine einheitliche Praxis fehlt (ÖB Teheran 11.2021). Mittlerweile ist es möglich, dass iranische Frauen ihre Staatsbürgerschaft an Kinder mit einem ausländischen Vater weitergeben können [vgl. hierzu Kapitel Frauen im COI-CMS Iran] (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche USDOS 31.3.2021).
Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befinden (FH 28.2.2022; vergleiche USDOS 30.3.2021).
Die freiwillige Rückkehr registrierter afghanischer Flüchtlinge sank 2021 mit 800 Personen weiter (Vergleichszeitraum 2020: 947). Nach Angaben des UNHCR erfolgten 60% dieser Ausreisen durch Studierende in der Absicht, mit einem entsprechenden Visum wieder in den Iran einzureisen. Seit Jahresbeginn 2021 sind laut IOM bislang (Stand November 2021) mit 1.063.393 erneut mehr nicht registrierte Afghan*innen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt. UNHCR führt dies auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage in Iran sowie die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zurück (AA 28.1.2022). Von 1.1.2021 bis 28.2.2022 haben 34.185 in Iran ankommende Afghanen bei UNHCR um Unterstützung und Hilfe angesucht. Für den Grenzübertritt wird ein Pass sowie gültiges Visum verlangt (UNHCR 8.3.2022). Infolgedessen meldete UNHCR im September 2021 eine Zunahme der Bewegungen von Afghanen ohne Papiere, die auf dem Landweg irreguläre Grenzübertritte nach Iran vornehmen (AI 10.2021; vergleiche AA 28.1.2022).
Am 8.2.2022 wurde berichtet, dass nach Angaben von Beamten der Abteilung für Flüchtlinge und Repatriierung in Herat in Afghanistan in den letzten sechs Monaten fast 100 afghanische Flüchtlinge von iranischen Sicherheitskräften getötet worden seien (UNHCR 27.2.2022). Im Mai 2020 griffen iranische Grenzposten zahlreiche Afghanen auf, darunter auch Minderjährige, die auf der Suche nach Arbeit die Grenze überschritten hatten. Die Personen wurden geschlagen und mit vorgehaltener Waffe in den iranisch-afghanischen Grenzfluss Hariroud gezwungen. Dabei ertranken mehrere Menschen. Die Behörden wiesen jede Verantwortung für den Vorfall zurück (AI 7.4.2021).
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 04.05.2022
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Afghanistan ist mit mehreren Krisen konfrontiert: einer wachsenden humanitären Notlage massiver wirtschaftlicher Rückgang, die Lähmung des Banken- und Finanzsystems und die die Tatsache, dass eine inklusive Regierung noch gebildet werden muss (UNGASC 28.1.2022).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vergleiche ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vergleiche Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vergleiche CSO 2018).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vergleiche STDOK 10.2020).
Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste zivile Hilfe, finanzielle Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021).
Bevor sie die Macht übernahmen, hatten die Taliban große Teile des Landes kontrolliert oder in ihrem Einfluss und konnten die Bevölkerung und die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, denen die Menschen dort nachgingen, "besteuern". Dazu gehörten unter anderem: die landwirtschaftliche Ernte (Ushr) [Anm.: 10 % Steuer auf landwirtschaftliche Produkte nach islamischem Recht], insbesondere Opium; der grenzüberschreitende Handel, sowohl legal als auch illegal; Bergbau; Gehälter, auch von Beamten und NGO-Mitarbeitern. Sie erzielten auch Einnahmen in Form von Schutzgeldern sowie durch die Einhebung von Geld von Reisenden an Kontrollpunkten. Die Taliban erhielten auch Spenden von afghanischen und ausländischen Anhängern (AAN 11.11.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021; vergleiche AAN 11.11.2021). Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wieder aufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (KP 9.11.2021; vergleiche ANI 9.11.2021).
Die Regierung der Taliban hat einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NGOs und UN-Organisationen aufgenommen (AAN 11.11.2021). Anfang Dezember wurde berichtet, dass die Taliban begonnen haben, landesweit eine Ushr einzutreiben (BAMF 6.12.2021).
Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen ist ebenso wie eine Reihe von UN-Unterorganisationen (z. B. WHO, WFP, UNHCR, IOM) vor Ort – mit Abstrichen – weiter arbeitsfähig. Bei einer internationalen Geberkonferenz am 13. September 2021 hat die internationale Gemeinschaft über 1 Milliarde US-Dollar an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (AA 21.10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 4 % der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul gaben 80 % der Befragten an, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66 % in Mazar-e Sharif und 45 % in Herat. Ebenso gaben 8 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24 % in Mazar-e Sharif und 42 % in Herat (ATR/STDOK 18.1.2022).
Dürre und Überschwemmungen
Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 5.5.2021; vergleiche UNOCHA 11.5.2021). 405 Familien wurden in weiterer Folge landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.5.2021).
Im Jahr 2021 kam es zur zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren (AAN 11.11.2021; vergleiche AAN 6.11.2021), welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt hat. Besonders schlimm sind die Bedingungen im Süden, Westen und Nordwesten des Landes (AAN 6.11.2021)
Zu Beginn des Frühjahrs 2022 gibt es Berichte über schwere Regenfälle und Sturzfluten in Nangarhar (römisch XI 20.3.2022; vergleiche ANI 20.3.2022).
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Letzte Änderung: 04.05.2022
Afghanistan kämpft weiterhin mit den Auswirkungen einer Dürre, der Aussicht auf eine weitere schlechte Ernte in diesem Jahr, einer Banken- und Finanzkrise, die so schwerwiegend ist, dass mehr als 80 % der Bevölkerung verschuldet sind, und einem Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise (UNOCHA 15.3.2022). Es ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2021; AF 2018). Im März 2022 sind nach Angaben der Vereinten Nationen 23 Millionen Afghanen von akutem Hunger betroffen, gegenüber 14 Millionen im Juli 2021 (UNOCHA 15.3.2022; vergleiche IPS 24.3.2022). 95 % der Bevölkerung haben nicht genug zu essen, wobei dieser Prozentsatz bei Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand auf fast 100 % steigt (UNOCHA 15.3.2022; vergleiche IPS 24.3.2022, WFP 2.2022).
Auch das World Food Program (WFP), die Food and Agriculture Organization (FAO), die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) sowie die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) warnten im Oktober 2021, dass im kommenden Winter fast 23 Millionen Afghanen unter "akuter Ernährungsunsicherheit" leiden werden. Grund dafür sind die kombinierten Auswirkungen von Dürre, Konflikten, der Coronavirus-Pandemie und einer Wirtschaftskrise, die sich durch die Unruhen nach der Machtübernahme der Taliban im Land noch verschärft hat (WFP/FAO 25.10.2021; vergleiche IPC 10.2021, RFE/RL 25.10.2021, UNAMA 16.11.2021). Der im Oktober 2021 veröffentlichte IPC-Bericht zeigt, dass die Zahl der Afghanen, die von akutem Hunger betroffen sind, seit der letzten Bewertung im April 2021 um 37 % gestiegen ist (WFP/FAO 25.10.2021). Unter den Gefährdeten sind 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die bis Ende des Jahres an akuter Unterernährung leiden dürften. NGOs warnten, dass eine Million Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohen, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhalten (IPC 10.2021; vergleiche WFP/FAO 25.10.2021). Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mit März 2022 die Krankenhäuser voll mit Kindern die an Unterernährung leiden (UNOCHA 15.3.2022).
Während das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten bestand, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen. Im dritten Quartal 2021 ließen die UN 10,5 Mio. Menschen humanitäre Hilfe zukommen. Am 18.11.2021 sind 36 Tonnen an humanitärer Hilfe der russischen Regierung in Kabul eingetroffen. Insgesamt sollten 108 Tonnen geliefert werden. Ein Zug mit über 1.000 Tonnen Hilfsgütern aus China wurde für Anfang Dezember erwartet (UNAMA 16.11.2021). Am 6.12.2021 waren bereits 500 Tonnen in der Provinz Balkh angekommen (römisch XI 6.12.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban haben sich die Preise für Lebensmittel und Treibstoff erhöht und stiegen (mit Stand November 2021) immer noch an (RA KBL 8.11.2021) und für den nahenden Winter wurde ein weiter er Anstieg prognostiziert (BAMF 8.11.2021; vergleiche TN 31.12.2021). Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) stellte in seinem Weekly Market Price Bulletin für die dritte Novemberwoche 2021 fest, dass die Preise für Lebensmittel immer noch deutlich höher lagen als in der letzten Juniwoche 2021 (WFP 15.11.2021; vergleiche BAMF 29.11.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.1.2022).
Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Letzte Änderung: 04.05.2022
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.7.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020).
Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.7.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vergleiche STDOK 21.7.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat, wobei abhängig vom Verbrauch diese Kosten auch höher liegen konnten. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen als in den Städten (IOM 2020).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Mieten um 20-40 % gesunken. Die durchschnittliche Miete für eine Wohnung wird mit November 2021 auf 110 USD bis 550 USD (10.000 AFN bis 50.000 AFN) für Kabul, Herat und Mazar-e Sharif geschätzt. Je nach Standort und Art der Einrichtung (RA KBL 8.11.2021). Einer anderen Quelle zufolge liegt die durchschnittliche Monatsmiete für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern in Kabul im April 2022 bei 120-150 USD. Die monatliche Miete für ein einfaches Haus mit drei Schlafzimmern in einem Vorort liegt bei etwa 100 USD. In Mazar-i-Sharif und Herat liegt dieser Satz bei 150 USD pro Monat für eine Wohnung mit drei Schlafzimmern, und für eine Lage weitab vom Stadtzentrum beträgt er 80 USD pro Monat (IOM 12.4.2022).
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66 %) und Mazar-e Sharif (63 %) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50 % der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3 % der Befragten in Kabul, 48,4 % in Balkh und 8,7 % in Herat an, dass sie 5.000-10.000 AFN (ca. 40 bis 80 Euro) pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3 % der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3 % und in Balkh 48,4 %. Nur 4,3 % der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.1.2022).
Arbeitsmarkt
Letzte Änderung: 04.05.2022
Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Millionen in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich (UNDP 30.11.2021).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vergleiche Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in "prekären Beschäftigungsverhältnissen", mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vergleiche, CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020).
Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; vergleiche IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (AAN 3.12.2020).
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vergleiche STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vergleiche STDOK 10.2020, CSO 2018).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vergleiche STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vergleiche Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.3.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden (IOM 18.3.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Million Personen geschätzt wird, hat nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit mehr (IPC 10.2021; vergleiche RA KBL 8.11.2021). Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (MSF 10.11.2021; vergleiche IPC 10.2021). Viele Unternehmen und NGOs haben ihre Arbeit eingestellt oder ihre Aktivitäten auf ein Minimum reduziert. Die Bargeldknappheit und die Unterbrechung der Versorgungsketten in Verbindung mit dem Verlust von Investitionen und Kunden haben den privaten Sektor stark beeinträchtigt und zwingen die Unternehmen, in Nachbarländer auszuweichen, ihre Türen zu schließen oder ihre Mitarbeiter zu entlassen, um die Kosten zu senken. Ein Tagelöhner verdient bis zu 350 AFN (3,55 EUR) pro Tag. Tagesarbeit ist jedoch meist nur für zwei Tage in der Woche zu finden. Es ist schwierig geworden, Tagesarbeit zu finden, da viele, die zuvor für Unternehmen, NGOs oder die Regierung gearbeitet haben, jetzt nach Tagesarbeit suchen, um die Einkommensverluste auszugleichen (IOM 12.4.2022).
Das UNDP (United Nations Development Program) erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10 % sinken werden (UNDP 30.11.2021). Afghanische Arbeitnehmerinnen machten vor der Krise 20 % der Beschäftigten aus. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Gesellschaft auswirken. Außerdem wird das Einkommen der Haushalte verringern, deren weibliche Mitglieder nun nicht mehr arbeiten, weniger arbeiten bzw. weniger verdienen, was zu einem Rückgang des Konsums auf der Mikroebene und der Nachfrage auf der Makroebene führen wird (UNDP 30.11.2021).
Die Markt- und Preisbeobachtung des Welternährungsprogramms (WFP) ergab einen drastischen Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten: Im Juli waren es zwei Tage pro Woche, im August nur noch 1,8 Tage und im September nur noch ein Arbeitstag (IPC 10.2021). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, lag Ende November 2021 bei 1,4 Tagen pro Woche (BAMF 29.11.2021)
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Laut der saisonalen Bewertung der Ernährungssicherheit (SFSA) für das Jahr 2021 meldeten 95 % der Bevölkerung Einkommenseinbußen, davon 76 % einen erheblichen Einkommensrückgang (83 % bei städtischen und 72 % bei ländlichen Haushalten) im Vergleich zum Vorjahr. Die Hauptgründe waren ein Rückgang der Beschäftigung (42 %) und Konflikte (41 %) (IPC 10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3 % der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3 %, Frauen: 81,3 %). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62 % der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25 % eine Teilzeitstelle hatten, 9 % als Tagelöhner arbeiteten und 2 % mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1 %) gaben an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN (100 US$) pro Monat zu haben. 8,7 % der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN (100-200 US$) pro Monat zu haben, und 2,2 % stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.000 und 50.000 AFN (200-500 US$) pro Monat ein (ATR/STDOK 18.1.2022).
Es wird geschätzt, dass mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer im dritten Quartal 2021 ihren Arbeitsplatz verloren haben und dass der Verlust von Arbeitsplätzen bis zum zweiten Quartal 2022 auf fast 700.000 ansteigen wird. Wenn sich die Situation der Frauen weiter verschlechtert und die Abwanderung zunimmt, könnten die Beschäftigungsverluste bis zum zweiten Quartal 2022 auf mehr als 900.000 Arbeitsplätze ansteigen. Die sich verschärfende Wirtschaftskrise hat sich besonders stark auf einige der wichtigsten Sektoren der afghanischen Wirtschaft ausgewirkt, darunter Landwirtschaft, öffentliche Verwaltung, soziale Dienstleistungen und das Baugewerbe, wo Hunderttausende von Arbeitnehmern, ihren Arbeitsplatz verloren oder keinen Lohn erhielten (ILO 1.2022).
Bank- und Finanzwesen
Letzte Änderung: 04.05.2022
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer sind und Geldwechsel nicht möglich ist und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern (DW 24.8.2021). Laut einem Sprecher der Taliban sollen die Banken bald wieder öffnen (REU 25.8.2021). Nach Aussagen des Vorsitzenden der Bankiersgewerkschaft in der Hauptstadt Kabul, hätten die Banken ihren Betrieb aufgrund technischer Probleme noch nicht wieder aufgenommen. Gerüchte, dass die Banken kein Bargeld mehr hätten dementiert er, und fügte hinzu, dass die Banken voraussichtlich in den nächsten Tagen wieder normale Dienstleistungen anbieten würden (AnA 28.8.2021).
Ab November 2021 haben die Banken wieder geöffnet. Bargeldabhebungen und Kundendienste wie Kontoeröffnungen und -schließungen sind derzeit möglich. Einzahlungsmöglichkeiten, z. B. für Stromrechnungen, sind ebenfalls möglich. Die Online-Banking-Systeme funktionieren mit Stand 4.2022 nicht (IOM 12.4.2022). Derzeit kann man 30.000 AFN (ca. 400 USD) pro Woche abheben (RA KBL 11.8.2021; vergleiche BAMF 11.8.2021, IOM 12.4.2022). Allerdings kann derzeit nur die Afghanistan International Bank (AIB) in Kabul 400 USD oder 30.000 AFN (367,31 EUR) pro Kunde und Woche auszahlen. In den Provinzen zahlen einige Banken nur den Gegenwert von 100-200 USD (91,83-183,66 EUR) pro Woche aus, je nach Verfügbarkeit der Mittel (IOM 12.4.2022). Anfang November 2021 verbot die Taliban-Regierung die Verwendung von Fremdwährungen im Land. Nur der Afghani dürfe für Zahlungen verwendet werden (BBC 2.11.2021; vergleiche REU 2.11.2021). Das Bezahlen der täglichen Ausgaben in USD ist nur in größeren Geschäften möglich, die meisten täglichen Einkäufe werden in der Landeswährung getätigt (IOM 12.4.2022).
Firmenkunden können Inlandsüberweisungen an andere Banken vornehmen; Abhebungen sind auf bis zu 5% ihres Guthabens oder 25.000 USD pro Monat (22.957 EUR) begrenzt, je nachdem, welcher Betrag niedriger ist. Diese Begrenzung gilt jedoch nicht für neue Bareinlagen, die vollständig abgehoben werden können. Was internationale Überweisungen betrifft, so hat die DAB (Da Afghanistan Bank) die Banken angewiesen, am 28.12.2021 die Bearbeitung ausgehender internationaler Überweisungen an Firmenkunden wieder aufzunehmen, vorbehaltlich der vorherigen Genehmigung durch die DAB und der unten aufgeführten Einschränkungen (IOM 12.4.2022).
Ausgehende internationale Überweisungen sind auf den Kauf der folgenden Artikel beschränkt (die durch entsprechende Dokumente nachgewiesen werden müssen) (IOM 12.4.2022):
● Lebensmittel
● Medikamente
● Treibstoff (einschließlich Gas)
● Hygieneartikel
● Elektrizität
● Rohmaterial und Ersatzteile für die Produktion
● Transport und Kommunikation
● Wartung des Systems
● Andere von der DAB für notwendig erachtete Zahlungen
Überweisungen sind auf 25 % des gesamten Kontosaldos eines jeden Lieferanten begrenzt. Wenn die 25 %-Grenze erreicht ist, sind keine weiteren Abhebungen mehr zulässig. Die Obergrenze von 25 % gilt jedoch nicht für neue Bareinlagen (IOM 12.4.2022).
Mitte März 2022 haben die Taliban die Tätigkeit der Versicherungsgesellschaften in Afghanistan bis auf weiteres eingestellt. In einem offiziellen Schreiben an die Versicherungsgesellschaften kündigte die amtierende Regierung die Aussetzung aller Aktivitäten der öffentlichen und privaten Versicherungsunternehmen an. In dem Schreiben heißt es, dass die Wissenschaftsakademie Afghanistans den Geist des Versicherungswesens diskutiert, um zu entscheiden, ob es gegen islamische Praktiken verstößt oder nicht (KP 16.3.2022; vergleiche ANI 18.3.2022).
Hawala-System
Derzeit nutzen viele Einwohner das "Hawala"-System (IOM 12.4.2022), eine Form des Geldtausches. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (WKO 2.2017; vergleiche WB 2003, FA 7.9.2016).
Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (römisch zehn) das Geld, z.B. 10.000 Euro und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (römisch zehn) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (Y) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (Y) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt (WKO 2.2017; vergleiche WB 2003).
So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2 %, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten (WKO 2.2017; vergleiche WB 2003).
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 04.05.2022
In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vergleiche UKHO 12.2020). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (AA 16.7.2021).
Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser waren. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020). Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken bestand, war es in den ländlichen Gebieten für viele Afghaninnen und Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 16.7.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).
Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.7.2021; vergleiche WHO 8.2020).
Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wurde berichtet, dass über 60 % der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzten. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte lebten, bevorzugten die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität war als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019).
Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.7.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban war das afghanische Gesundheitssystem fragil. Es wies jahrelang große Lücken auf, wurde nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 schwer in Mitleidenschaft gezogen (IOM 12.4.2022) und ist nun nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen (MSF) (MSF 10.11.2021) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Zusammenbruch bedroht (WHO 24.1.2022).
Das Programm der Weltbank, das unter der vorherigen Regierung im Rahmen des Sehatmandi-Projekts für Afghanistan Finanzmittel für wichtige Gesundheitseinrichtungen bereitstellte und die Gehälter des medizinischen Personals bezahlte, hatte seine Aktivitäten zunächst weitestgehend eingestellt (WHO 28.8.2021; vergleiche HRW 3.9.2021, IOM 12.4.2022). Mehr als 2.500 Gesundheitseinrichtungen und die Gehälter von mehr als 2.000 Gesundheitsfachkräften, die im Rahmen des von der Weltbank finanzierten Sehatmandi-Projekts unterstützt wurden, waren davon betroffen. Mehr als 3.800 Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, waren ganz oder teilweise nicht funktionsfähig. Die reduzierte Unterstützung durch das Projekt führte zur sofortigen Einstellung einiger Dienste in den Gesundheitseinrichtungen, darunter Überweisungen und ambulante Essensausgabe. Einige wenige Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, verfügten über ausreichende medizinische Vorräte, um die Versorgung für mehrere Monate aufrechtzuerhalten (WHO 28.8.2021). Das Sehatmandi-Projekt, das von der WHO und UNICEF gemeinsam durchgeführt und von dem von der Weltbank geleiteten Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans (ARTF) finanziert wird, geht jedoch vom 2.2022 bis 6.2022 in seine zweite Phase (WHO 21.3.2022).
Anfang November 2021 meldete das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), dass 15 Mio. USD für die Aufrechterhaltung des Sehatmandi-Projekts und die Bezahlung von Medikamenten für die Kranken verwendet worden seien und dass alle Gehälter für Ärzte und Personal direkt auf deren Konten überwiesen worden seien (insgesamt 8 Mio. USD für 23.500 Mitarbeiter in 31 Provinzen) (BAMF 15. 11.2021; vergleiche UN 10.11.2021, NPR 21.12.2021) und bis zum 15.1.2022 haben UNICEF und die WHO den Zugang zu 100 Mio. USD gesichert, um Einrichtungen der primären und sekundären Gesundheitsversorgung in 34 Provinzen zu unterstützen (WHO 15.1.2022, vergleiche IOM 12.4.2022). Allerdings gibt es noch viele Lücken zu schließen (IOM 12.4.2022).
Vor allem außerhalb der großen Städte ist die Lage der medizinischen Einrichtungen sehr schlecht. Zwar erhielten viele Mitarbeiter der Krankenhäuser im Dezember nach fünf Monaten erstmalig ihr Gehalt, jedoch waren die Medikamentenvorräte noch gefährlich knapp (BBC 15.12.2021; vergleiche NPR 21.12.2021). Die meisten Patienten sind angewiesen, ihre eigenen Medikamente in nahe gelegenen Apotheken zu kaufen (BBC 15.12.2021). Aber auch größere Krankenhäuser, die ein höheres Versorgungsniveau bieten, wie beispielsweise 39 COVID-19 Krankenhäuser, leiden an Unterfinanzierung. Den meisten fehlt es an grundlegenden Leistungen wie Sauerstoff und den für die Behandlung von COVID-19 wichtigen intravenösen Medikamenten (NPR 21.12.2021). Das COVID-19-Krankenhaus in Kabul (Afghan-Japan-Hospital) leidet beispielsweise an einem Mangel an lebenswichtigen Medikamenten, und das Verfallsdatum der verfügbaren Arzneimittel ist weit überschritten (TD 17.12.2021).
In ganz Afghanistan wurde mit viertem Quartal 2021 ein starker Anstieg der Fälle von Unterernährung, vor allem betreffend Mütter und Kleinkinder, (BBC 15.12.2021) sowie schwerer Lungenentzündung verzeichnet (NPR 21.12.2021). Die Vereinten Nationen (BBC 15.12.2021) und NGOs warnten davor, dass eine Million Kinder in den folgenden Monaten an den Auswirkungen des Hungers zu sterben drohten (IPC 10.2021; vergleiche WFP/FAO 25.10.2021).
Ab dem 8.11.2021 war geplant, in Afghanistan landesweit gegen Kinderlähmung zu impfen. Zum ersten Mal seit drei Jahren sollte die Tür-zu-Tür-Impfkampagne auch Kinder in bisher nicht zugänglichen Gebieten erreichen. Die Taliban-Führung unterstützte das Vorhaben (UNICEF 18.10.2021; vergleiche BBC 18.10.2021). In einigen Gebieten werden Impfungen allerdings nicht mehr im Rahmen von Haus-zu-Haus-Kampagnen durchgeführt, da die Taliban den Aufenthalt von Männern und nicht verwandten Frauen in Häusern verbieten. In diesen Gebieten werden die Menschen gebeten, zur Impfung in die nächste Moschee zu gehen, wobei die Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden. Die erneute Bereitstellung von Mitteln bedeutet auch, dass Ausbrüche von Denguefieber, Cholera und Malaria wieder bekämpft werden können (NPR 21.12.2021).
Die WHO bestätigte am 8.11.2021, dass sie sieben Tonnen an Medizin und medizinischem Gerät nach Kabul geliefert hat. Dies beinhalte Hilfe für 5.000 unterernährte afghanische Kinder (BAMF 15.11.2021; vergleiche AN 8.11.2021).
Gemäß einer im Auftrag der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie, haben 43,3 % (45 % der männlichen und 42,3 % der weiblichen) Befragten, Zugang zu Ärzten. 42,3 % haben Zugang zu Fachärzten, 37,3 % zu Zahnärzten und 31,3 % zu Krankenhäusern, während der Rest nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen hat. Insgesamt 17,7 % der Befragten haben Zugang zu Impfungen. Dies bezieht sich jedoch auf ein rein städtisches Publikum. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in städtischen Ballungszentren ist aufgrund einer umfangreicheren medizinischen Infrastruktur, nachhaltiger öffentlicher und privater Investitionen, der Verfügbarkeit von Ärzten und Krankenschwestern, der Beschäftigungsmöglichkeiten für Ärzte und medizinisches Hilfspersonal, sowie der höheren Entlohnung, deutlich besser ist als in ländlichen oder halbländlichen Gebieten des Landes (ATR/STDOK 18.1.2022).
Anmerkung: Weitere Informationen zu Lage betreffend COVID-19 finden sich im Kapitel "COVID-19".
Zugangsbedingungen für Frauen und Mädchen
Letzte Änderung: 04.05.2022
In den Jahren nach der US-geführten Militärinvasion und dem Sturz der Taliban-Regierung Ende 2001 gaben die [ehemalige] afghanische Regierung und die internationalen Geber dem Aufbau eines effektiven Gesundheitssystems Priorität, einschließlich der Ausweitung des Zugangs zu medizinischer Grundversorgung auf alle Teile des Landes. Die Bemühungen führten zu wichtigen Erfolgen, darunter ein signifikanter Rückgang der Müttersterblichkeit und ein Anstieg der pränatalen Versorgung, der Nutzung moderner Verhütungsmittel und betreuter Geburten (HRW 5.2021). Dennoch bleibt Afghanistan einer der gefährlichsten Orte der Welt, um zu gebären, mit der dritthöchsten Sterblichkeitsrate weltweit (SIGAR 2021; vergleiche AIHRC 6.7.2021). Laut dem VN-Bevölkerungsfonds sterben pro 100.000 Geburten durchschnittlich 638 Frauen. Dies liegt u. a. auch an dem großen Mangel an ausgebildeten Hebammen (AA 16.7.2021).
Afghanistan gehört zu den wenigen Ländern, in welchen die Selbstmordrate von Frauen höher ist als die von Männern. Die weite Verbreitung psychischer Erkrankungen unter Frauen wird von Experten mit den rigiden kulturellen Einschränkungen, welchen Frauen unterworfen sind und welche ihr Leben weitgehend auf das eigene Heim beschränken, in Verbindung gebracht (BDA 18.12.2018).
Derzeit ist es für Frauen und Mädchen schwierig, auch nur die grundlegendsten Informationen über Gesundheit und Familienplanung zu erhalten (HRW 5.2021). Das Zusammenwirken von Krieg, Armut, häuslicher Gewalt und sozialer Marginalisierung führt dazu, dass Frauen überproportional von psychischen Problemen und psychosozialen Behinderungen betroffen sind (HRW 28.4.2020), während der Mangel an psychischen Gesundheitsdiensten für Frauen als besonders besorgniserregend gilt. HRW (Human Rights Watch) dokumentierte in Interviews mit Frauen über ihre Erfahrungen bei der Suche und Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung sowie mit Gesundheitspersonal und Experten große Hindernisse für Frauen beim Zugang zu Dienstleistungen, selbst in der Hauptstadt Kabul, wo sich die meisten der qualitativ besten Dienstleistungen des Landes befinden (HRW 5.2021). Dort, wo Dienste verfügbar sind, führen kulturelle Barrieren, Stigmatisierung und die begrenzte Anzahl weiblicher Anbieter psychischer Gesundheitsdienste häufig dazu, dass Frauen vom Zugang zu geeigneten Diensten ausgeschlossen sind (UNOCHA 19.12.2020). Medizinische Einrichtungen auf dem Land sind oft unterbesetzt oder haben wenig oder kein weibliches Personal (HRW 5.2021). Gemäß afghanischer Gesellschaftsnormen sollten Frauen von Ärztinnen untersucht werden. Es kommt somit zu Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung von Frauen, wenn keine Ärztinnen verfügbar sind. Manche Frauen konsultierten in den Dörfern oder Distrikten [Anm.: vor der Machtübernahme der Taliban] allerdings unter Umständen auch Ärzte (STDOK 21.7.2020).
Frauen und Mädchen in Afghanistan sind stark gefährdet, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden (ASP/YHDO 3.2021; vergleiche SIGAR 2.2021) und sehen sich mit erheblichen Hindernissen beim Zugang zu Gesundheitseinrichtungen konfrontiert, um nach solcher Gewalt Hilfe zu suchen (ASP/YHDO 3.2021, vergleiche AAN 2.12.2014), darunter beispielsweise einem geringen Wissen über Gesundheitsprobleme, einer niedrigen Alphabetisierungsrate (AAN 2.12.2014), Einschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit und einem beschränkten Zugang zu finanziellen Mitteln (AAN 2.12.2014; vergleiche UNOCHA 17.12.2019, STDOK 13.6.2019). Die Covid-19-Pandemie hat den Zugang von Frauen zur Gesundheitsversorgung in mehrfacher Hinsicht verschlechtert, u.a. indem sie viele Familien tiefer in die Armut stürzte und die der Regierung zur Verfügung stehenden Mittel zur Unterstützung der Gesundheitsversorgung reduzierte (HRW 5.2021; vergleiche WHO 18.6.2020).
Nach der Übernahme des Landes durch die Taliban haben sich die grundlegenden gesundheitsdienstlichen Dienste für Frauen und Mädchen, speziell für jene die geschlechtsspezifische Gewalt erlebt haben, weiter reduziert. Es wird berichtet, dass Taliban Schutzeinrichtungen für Frauen geschlossen (HRW 13.1.2022; vergleiche AI 6.12.2021), in einigen Fällen auch deren Personal drangsaliert haben. Durch die Schliessungen waren die Mitarbeiter gezwungen viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken, andere wurden von Familienmitgliedern gewaltsam zurückgeholt oder waren gezwungen, bei den Mitarbeitern der Unterkünfte oder auf der Straße zu leben (AI 6.12.2021; vergleiche VOA 10.12.2021) oder wurden in Frauengefängnisse überstellt (HRW 13.1.2022). Taliban haben Gefangene aus dem Gefängnis entlassen, darunter viele, die wegen geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt wurden (AI 6.12.2021; vergleiche VOA 10.12.2021).
Auch ist das weibliche Gesundheitspersonal seit der Machtübernahme neuen Beschränkungen unterworfen. So dürfen beispielsweise einige Hebammen keine Hausbesuche ohne männliche Begleitung machen. Nach Angaben einer Hebamme in einer Gesundheitseinrichtung in Kandarhar, hatten die Taliban mit Ende Dezember 2021 bislang die Familienplanung in der Einrichtung nicht verhindert, jedoch liegen keine Informationen darüber vor, wie es in den ländlichen Gebieten aussieht (NPR 21.12.2021).
Beschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen wirken sich negativ auf den Zugang zu Gesundheitsdiensten aus. In einigen Provinzen wurden Frauen Berichten zufolge daran gehindert, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen, weil sie nicht von einem Ehemann begleitet wurden (ACCORD 7.4.2022).
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie, gaben 42,3 % der befragten Frauen an, Zugang zu einem Arzt zu haben. 40 % gaben an, Zugang zu einem Spezialisten, z.B. einem Gynäkologen zu haben (ATR/STDOK 18.1.2022).
Medizinische Versorgungseinrichtungen in Afghanistan (Kabul, Herat, Balkh...)
Letzte Änderung: 27.01.2022
[Anm.: Wie dem Überkapitel "Medizinische Versorgung" zu entnehmen ist, sind die medizinischen Einrichtungen in Afghanistan aktuell, durch die Einstellung eines Großteils der internationalen Hilfsmittel, stark unterfinanziert. Viele der Gesundheitseinrichtungen können daher ihre Dienste nur eingeschränkt oder gar nicht anbieten]
Dokumente
Letzte Änderung: 27.01.2022
Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020). Sämtliche Urkunden in Afghanistan waren problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhältlich (ÖB 28.11.2018; vergleiche AG DFAT 27.6.2019).
Des Weiteren kamen verfahrensangepasste Dokumente häufig vor. Im Visumverfahren wurden teilweise gefälschte Einladungen oder Arbeitsbescheinigungen vorgelegt. Medienberichten zufolge sollen insbesondere seit den Parlamentswahlen 2018 zahlreiche gefälschte Tazkira [Anm.: nationale Personalausweise] im Rahmen der Wählerregistrierung in Umlauf sein (AA 16.7.2020). Personenstands- und weitere von Gerichten ausgestellte Urkunden wurden zentral vom Afghan State Printing House (SUKUK) ausgestellt (ÖB 28.11.2018).
Auf Grundlage bestimmter Informationen konnten echte Dokumente ausgestellt werden. Dafür notwendige unterstützende Formen der Dokumentation wie etwa Schul-, Studien- oder Bankunterlagen konnten leicht gefälscht werden. Dieser Faktor stellte sich besonders problematisch dar, wenn es sich bei dem primären Dokument um eine Tazkira handelte, welches zur Erlangung anderer Formen der Identifizierung verwendet wurde. Es bestand ein Risiko, dass echte, aber betrügerisch erworbene Tazkira zur Erlangung von Reisepässen verwendet wurden (AG DFAT 27.6.2019).
Eine Tazkira wurde nur afghanischen Staatsangehörigen nach Registrierung und dadurch erfolgtem Nachweis der Abstammung von einem Afghanen ausgestellt. In der Regel erfolgte der Nachweis der Abstammung durch die Vorlage der Tazkira eines Verwandten 1. Grades oder durch Zeugenerklärungen in Afghanistan (AA 16.7.2020). In einem Bericht der afghanischen Regierung vom April 2019 über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention findet sich die Information, dass für die Ausstellung einer Tazkira die Zeugenaussagen von zwei Personen nötig waren, die Inhaber von einer Tazkira sein müssen. Darüber hinaus musste die Identität des Antragstellers von lokalen Behörden bestätigt werden (ACCORD 15.6.2020). Eine andere Quelle wies darauf hin, dass man bei Beantragung einer Tazkira eine Geburtsurkunde vorweisen musste, dass allerdings die Mehrheit der Afghanen noch immer nicht im Besitz einer solchen waren. Wenn keine Geburtsurkunde vorgewiesen werden konnte, war es erforderlich, die Tazkira eines männlichen Familienmitglieds väterlicherseits (Vater, Bruder, Onkel oder Cousin) vorzuweisen (LI 22.5.2019; vergleiche ACCORD 15.6.2020). Wollte jemand sich beispielsweise in Kabul eine Tazkira ausstellen lassen und konnte seine Identität nicht beweisen, so musste diese Person in das Heimatgebiet ihres Vaters oder Großvaters zurückkehren. Dort konnte versucht werden, einen Identitätsnachweis vonseiten des lokalen Dorfvorstehers zu erhalten. Dieser konnte dann bei den örtlichen Behörden eingereicht werden, die auf dessen Grundlage eine Tazkira ausstellten (ACCORD 15.6.2020).
Kinder unter sieben Jahren waren von der Pflicht befreit, persönlich zu erscheinen, um sich eine Tazkira ausstellen zu lassen. Eine Geburtsurkunde wurde als Nachweis akzeptiert. War eine solche nicht vorhanden, waren zwei Zeugen erforderlich. Bis zum Alter von 18 Jahren, war für die Ausstellung der Tazkira die Zustimmung des Vaters erforderlich (ACCORD 15.6.2020).
In der Tazkira waren Informationen zu Vater und Großvater, jedoch nicht zur Mutter enthalten. Erst seit ca. 2014 gab es die Möglichkeit, eine Birth Registration Card zu beantragen, in der ein konkretes Geburtsdatum und die Mutter eines Kindes genannt wurden. Diese konnte aber auch jederzeit nachträglich für Personen ausgestellt werden, die vor 2014 geboren wurden. Es konnte davon ausgegangen werden, dass die Ausstellung daher ohne weitere Prüfung vorgenommen wird (AA 16.7.2020).
Eintragungen in der Tazkira waren oft ungenau. Geburtsdaten wurden häufig lediglich in Form von „Alter im Jahr der Beantragung“, z. B. „17 Jahre im Jahr 20xx“ erfasst, genauere Geburtsdaten wurden selten erfasst und wenn, dann meist geschätzt (AA 2.9.2019). Insgesamt waren in Afghanistan sechs Tazkira-Varianten im Umlauf (AAN 22.2.2018). Es gab keine einheitlichen Druckverfahren oder Sicherheitsmerkmale für die Tazkira in A4-Format. Im Februar 2018 wurde die e-Tazkira (elektronischer Personalausweis) mit der symbolischen Beantragung u.a. durch Präsident Ghani gestartet (AAN 22.2.2018). Nach dem 3.5.2018 wurden e-Tazkira (auch electronic Tazkira) in Form einer Chipkarte ausgestellt, die Einführung lief jedoch nur sehr schleppend (AA 16.7.2020). Im September 2020 verabschiedete die ehemalige Regierung ein Gesetz, das die Aufnahme des Namens der Mutter in die Tazkira erlaubte (HRW 13.1.2021; vergleiche TN 2.9.2020).
Die Vorlage einer Tazkira war Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses. Seit Ausstellung maschinenlesbarer Reisepässe im Jahr 2014 musste bei Passbeantragung ein Familienname bestimmt werden. Die Bestimmung erfolgte ohne rechtliche Grundlage und ohne Dokumentation. Die Angaben, insbesondere Namen und Geburtsdatum, in Tazkira und Reisepass einer Person stimmten daher häufig nicht miteinander überein (AA 16.7.2020).
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Im Oktober 2021 gab der Leiter des Passamtes an, dass Afghanistan wieder Reisepässe ausstellen würde (REU 5.10.2021; vergleiche AN 5.10.2021), dass zwischen 5.000 und 6.000 Exemplare pro Tag ausgestellt werden würden und dass weibliche Mitarbeiter die Anträge von Frauen bearbeiten würden (AN 5.10.2021). Es ist demnach möglich, einen Reisepass zu beantragen und zu erhalten, aber die Beantragung und Bearbeitung neuer Tazkira-Anträge hat noch nicht begonnen. Die Nationale Statistikbehörde Afghanistans (NSIA) ist für die Verteilung der bereits bearbeiteten und gedruckten Tazkira geöffnet, nimmt aber derzeit keine neuen Anträge an und bearbeitet sie nicht (RA KBL 8.11.2021).
Die Anforderungen zur Ausstellung eines Reisepasses haben sich nicht wesentlich geändert, allerdings gibt es leichte Änderungen bei den Verfahren (RA KBL 8.11.2021). Zunächst nahm nur die Passabteilung in Kabul Anträge an und bearbeitete sie (RA KBL 8.11.2021). Mit Ende November begann die Ausstellung von Pässen in 17 weiteren Provinzen, darunter Balkh, Herat und Kandarhar (TTI 24.11.2021; TN 30.11.2021). Jeden Tag steht eine große Anzahl von Antragstellern oft bereits in der Nacht in der Warteschlange. Vor der Machtübernahme durch die Taliban mussten die Antragsteller ihre Daten in ein Online-System eingeben, welches aktuell gesperrt ist. Es werden jedoch weiterhin Anträge von Personen entgegengenommen, die einen Termin für ein Visumgespräch vereinbart haben, sowie von Personen, die zur Behandlung schwerer Krankheiten ins Ausland reisen (RA KBL 8.11.2021). Seit Mitte Oktober ist die Ausgabe von Reisepässen in der Hauptstadt Kabul ausgesetzt, während die Büros in den Provinzen weiterhin geöffnet sind (TN 29.11.2021). Allerdings gibt es Berichte von starken Überlastungen der Passabteilungen, beispielsweise in Nangarhar (ANI 19.11.2021). Mit Stand Anfang Dezember werden in 32 der 34 Provinzen Reisepässe ausgestellt (ANI 6.12.2021).
Bislang (mit Stand November 2021) haben Reisepässe und Tazkira dasselbe Aussehen und Layout wie vor der Machtübernahme der Taliban. Es ist noch nicht bekannt, ob die Taliban die Formate beibehalten oder Änderungen vornehmen werden und ob sie überhaupt die Kapazität haben, neue Pässe und Tazkira zu drucken (RA KBL 8.11.2021).
Aktuell [Stand September 2021] werden von der afghanischen Botschaft in Wien keine neuen Tazkira und Reisepässe ausgestellt. Davon betroffen sind auch jene Personen, die bereits einen Antrag gestellt haben bzw. eine Bestätigung zur Ausstellung erhalten haben. Hier kann seitens der afghanischen Botschaft nicht abgeschätzt werden, wie lange dieser Umstand noch vorherrschen wird. Abgelaufene biometrische Reisepässe können in Zukunft bei der Botschaft verlängert werden (AFB WIE 22.9.2021). Ende November erklärte der Leiter der Passabteilung, die Abteilung habe dem Außenministerium mindestens 20.000 Pässe zur Verteilung an afghanische Staatsbürger außerhalb des Landes vorgelegt. Nach Angaben der Abteilung werden die Pässe an die Afghanen außerhalb des Landes ausgegeben, deren Pässe abgelaufen sind (TN 30.11.2021).
Risikogruppen
In seinen „Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018“ schreibt UNHCR:
Laut UNHCR können folgende Asylsuchende aus Afghanistan, abhängig von den im Einzelfall besonderen Umständen, internationalen Schutz benötigen. Diese Risikoprofile sind weder zwangsläufig erschöpfend, noch werden sie der Rangfolge nach angeführt:
1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen
a) Regierungsbeamte und Staatsbedienstete
b) Zivile Polizeikräfte (einschließlich Angehörigen der ANP und ALP) sowie ehemalige Angehörige der ANDSF
c) Zivilisten, die mit den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften/regierungsnahen Kräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen
d) Zivilisten, die mit den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen
e) Mitarbeiter humanitärer Hilfs- und Entwicklungsorganisationen
f) Menschenrechtsaktivisten
g) Stammesälteste und religiöse Führer
h) Frauen im öffentlichen Leben
i) Als „verwestlicht“ wahrgenommene Personen
j) Andere Zivilisten, die die Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen
k) Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen.
2. Journalisten und andere in der Medienbranche tätige Personen
3. Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung
a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs)
b) Zwangsrekrutierung und Rekrutierung Minderjähriger durch regierungsnahe Kräfte
4. Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden
5. Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen
a) Religiöse Minderheiten
b) Konversion vom Islam
c) Andere Handlungen, die gegen die Scharia verstoßen
6. Personen, die vermeintlich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) verstoßen
7. Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben
a) Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt
b) Schädliche traditionelle Bräuche
8. Frauen und Männer, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen
9. Personen mit Behinderung, insbesondere geistiger Behinderung, und Personen, die an einer psychischen Erkrankung leiden
10. Kinder mit bestimmten Profilen oder Kinder, die unter bestimmten Bedingungen leben
a) Zwangskinderarbeit und gefährliche Kinderarbeit
b) Gewalt gegen Kinder, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt
c) Systematische Verweigerung des Zugangs zu Bildung
d) Entführungen, Bestrafungen und Vergeltungsakte durch die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) und regierungsfeindliche Kräfte (AGEs)
11. Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind
12. Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und/oder geschlechtlichen Identitäten
13. Angehörige ethnischer (Minderheiten-)Gruppen
a) Kuchis
b) Hazara
c) Mitglieder der ethnischen Gruppe der Jat, einschließlich der Gemeinschaften Jogi, Chori Frosh, Gorbat und Mosuli
d) Streitigkeiten um Land mit ethnischer oder stammesbezogener Dimension
14. In Blutfehden verwickelte Personen
15. Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen sowie deren Familienangehörige
2. Beweiswürdigung
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des BF, in den bekämpften Bescheid und den Beschwerdeschriftsatz, in die vorgelegten Urkunden, sowie in den diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Afghanistan vom 04.05.2022, und den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 in der aktuellen Version sowie dem EASO Country of Origin Information Report zu Afghanistan in der aktuellen Fassung. Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zu Grunde:
2.1. Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.2. Die Feststellungen hinsichtlich der Person des BF, seines Gesundheitszustandes, seiner Familienangehörigen sowie seines bisherigen in Österreich verbrachten Lebens (Drogenabhängigkeit, Absolvierung einer Therapie, Deutschkenntnisse, Familiengründung) beruhen zum einen auf dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes und zum anderen auf die diesbezüglich (glaubhaften) Angaben des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie den dahingehend vorgelegten Urkunden, an deren Echtheit und Richtigkeit keine Zweifel bestehen.
Das Bestehen substanzieller Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens wie intensive Freundschaften oder Beziehungen wurde vom BF dahingehend aufgezeigt, dass er in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 16.05.2022 vorbrachte, eine Tochter aus einer langjährigen Beziehung zu einer Frau aus seinem Kulturkreis zu haben. Die der Sprache Farsi mächtige Freundin des BF wurde auch in Beschwerdeverfahren einvernommen und bestätigte, dass die beiden viel in Kontakt miteinander sein würden. Das Bestehen einer aufrechten Beziehung wurde auch vom BF dargelegt. Auch mangels eines gemeinsamen Wohnsitzes und gemeinsamer Haushaltsführung ist hierbei allerdings bei Familienleben das Wohl des Kindes im Sinne der EMRK zu berücksichtigen.
2.3. Die Feststellungen betreffend die drei rechtskräftigen Verurteilungen des BF ergeben sich aus den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden rechtskräftigen strafgerichtlichen Urteilen, die in der mündlichen Verhandlung erörtert wurden, dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes sowie der Einsichtnahme in den aktuellen Strafregisterauszug. Die Feststellung zum aktuellen Haftaufenthalt stützt sich auf die Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister und der Mitteilung des Haftantrittes vom 19.01.2022.
2.4. Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Den ins Verfahren eingeflossenen Länderberichten kann bereits entnommen werden kann, dass an der maßgeblichen Situation in Afghanistan, die zu Zuerkennung des subsidiären Schutzes für den BF geführt hat, keine wesentlichen Änderungen in Afghanistan und im persönlichen Umfeld des BF eingetreten sind.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides:
3.1.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 lauten:
„§ 8 (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
[…]
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht.
[…]
Paragraph 9, (1) Einem Fremden ist der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn
1. die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins,) nicht oder nicht mehr vorliegen;
2. er den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat oder
3. er die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erlangt hat und eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen neuen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention oder für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des Absatz eins, abzuerkennen, so hat eine Aberkennung auch dann zu erfolgen, wenn
1. einer der in Artikel eins, Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe vorliegt;
2. der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder
3. der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB, Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974,, entspricht.
In diesen Fällen ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(3) Ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist jedenfalls einzuleiten, wenn der Fremde straffällig geworden ist (Paragraph 2, Absatz 3,) und das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Absatz eins, oder 2 wahrscheinlich ist.
(4) Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist mit dem Entzug der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu verbinden. Der Fremde hat nach Rechtskraft der Aberkennung Karten, die den Status des subsidiär Schutzberechtigten bestätigen, der Behörde zurückzustellen.
Paragraph 11, (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins,) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.“
3.1.2. Das Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG umfasst sämtliche Prüfschritte und Aussprüche, die im Verfahren zur Aberkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß Paragraph 9, Absatz eins und 2 AsylG 2005 vorzunehmen sind vergleiche VwGH 17.10.2019, Ro 2019/18/0005).
Gemäß Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht (erster Fall) oder nicht mehr (zweiter Fall) vorliegen. Diese Bestimmung verfolgt das Ziel, sicherzustellen, dass nur jenen Fremden, die die Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz erfüllen, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153). Es würde nämlich der allgemeinen Systematik und den Zielen der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Statusrichtlinie) widersprechen, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsstellungen Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen. Der Verlust des subsidiären Schutzstatus unter solchen Umständen steht mit der Zielsetzung und der allgemeinen Systematik der Statusrichtlinie, insbesondere mit Artikel 18,, der die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nur an Personen vorsieht, die die Voraussetzungen erfüllen, im Einklang (EuGH 23.5.2019, Bilali, C-720/17, Rn 44 ff).
Zum jetzigen Zeitpunkt kann aufgrund der jüngsten Ereignisse in Afghanistan die Aberkennung nach Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG nicht als rechtmäßig angesehen werden kann. Zusätzlich zu etwaigen Änderungen in der Person des Beschwerdeführers, muss als weitere Voraussetzung für die Aberkennung nämlich geprüft werden, ob eine Rückkehr in den Herkunftsstaat in der jetzigen Situation ohne Beeinträchtigung der in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG geschützten Rechte möglich ist (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0381). Dies ist derzeit jedoch zu verneinen. Mittlerweile ist (beinahe) das gesamte Staatsgebiet an die Taliban gefallen. In der derzeitigen, besonders volatilen Situation kann für den Beschwerdeführer deshalb nicht von einer bestehenden innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen werden. Darüber hinaus ist derzeit nicht absehbar, wann eine sichere Anreise nach Afghanistan und Weiterreise vom dortigen Flughafen überhaupt wieder möglich sein wird.
Sowohl der Verfassungsgerichtshof als auch der Verwaltungsgerichtshof haben bereits wiederholt ausgesprochen, dass spätestens ab 20.07.2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorgelegen habe, die Asylwerber bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Artikel 2 und 3 EMRK aussetzen würde vergleiche VwGH 18.11.2021, Ra 2021/18/0286 unter Verweis auf VfGH 30.09.2021, E 3445/2021-8). In seinem Erkenntnis vom 16.12.2021, E 4227/2021, hat der Verfassungsgerichtshof klargestellt, dass sich diese Situation auch nach der Machtübernahme der Taliban nicht geändert hat. Die Sicherheitslage ist weiterhin extrem volatil und begründet für Rückkehrer die reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2 und 3 EMRK. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der aktuellen Länderberichte.
3.1.3. Des Weiteren ist festzuhalten, dass sich keine Hinweise für das Vorliegen eines Aberkennungsgrundes nach Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer 2, oder Ziffer 3, AsylG (Mittelpunkt der Lebensbeziehungen in einem anderen Staat; Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erlangt) ergeben haben.
Hinweise, dass beim Beschwerdeführer einer der in Artikel eins, Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe vorliegen könnte (Kriegsverbrechen, schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes) liegen ebenfalls nicht vor. Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer eins, AsylG ist daher ebenfalls nicht erfüllt.
3.1.4. Nach Paragraph 17, Absatz eins, StGB sind Verbrechen vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind; alle anderen strafbaren Handlungen sind Vergehen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat festgehalten, dass vor dem Hintergrund der Judikatur des EuGHs, die bisherige Rechtsprechung, wonach bei Vorliegen einer entsprechenden rechtskräftigen Verurteilung zwingend ohne Prüfkalkül der Asylbehörde eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG 2005 stattzufinden hat, nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. Vielmehr ist bei der Anwendung des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG 2005 – der nach der Intention des Gesetzgebers die Bestimmung des Artikel 17, Absatz eins, Litera b, der Statusrichtlinie umsetzt – jedenfalls auch eine Einzelfallprüfung durchzuführen, ob eine "schwere Straftat" im Sinne des Artikel 17, Absatz eins, Litera b, der Statusrichtlinie vorliegt. Dabei ist die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen und eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen. Es ist jedoch nicht unbeachtet zu lassen, dass auch der EuGH dem in einer strafrechtlichen Bestimmung vorgesehenen Strafmaß eine besondere Bedeutung zugemessen hat vergleiche EuGH , C-369/17, Rn. 55) und somit die Verurteilung des Fremden wegen eines Verbrechens zweifelsfrei ein gewichtiges Indiz für die Aberkennung darstellt, dieses Kriterium allein jedoch nach den unionsrechtlichen Vorgaben für eine Aberkennung nicht ausreicht.
Es ist daher zusätzlich zum Kriterium der rechtskräftigen Verurteilung wegen eines Verbrechens eine vollständige Prüfung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls vorzunehmen und anhand dieser Würdigung anschließend zu beurteilen, ob dem Beschwerdeführer deshalb der ihm zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen abzuerkennen ist. Bei dieser einzelfallbezogenen Würdigung sind auch die konkret verhängte Strafe und die Gründe für die Strafzumessung zu berücksichtigen.
Relevant ist nach der zitierten Rechtsprechung auch der EASO-Bericht „Ausschluss: Artikel 12 und Artikel 17 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU)“ (siehe: https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Exclusion-Judicial-Analysis-DE.pdf), welcher empfiehlt, dass die Schwere, aufgrund dessen eine Person vom subsidiären Schutz ausgeschlossen werden könne, anhand einer Vielzahl von Kriterien, wie u.a. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage beurteilt werden solle, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen werde (siehe die zitierten Entscheidungen des EuGH Rn 56, und VwGH Rz 23).
Als Beispiele schwerer Straftaten nennt der EASO-Leitfaden „Ausschluss“ etwa folgende Delikte (Pkt. 2.2.3.2. des Leitfadens):
Mord, Mordversuch, Vergewaltigung, bewaffneter Raub, Folter, gefährliche Körperverletzung, Menschenhandel, Entführung, schwere Brandstiftung, Drogenhandel und Verschwörung zum Zweck der Förderung terroristischer Gewalt, schwere Wirtschaftsverbrechen mit erheblichen Verlusten (z. B. Unterschlagung).
Die Verurteilung wegen eines Verbrechens stellt nach der jüngsten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein gewichtiges Indiz für die Aberkennung nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG 2005 dar, auch wenn dies nicht alleine dafür entscheidend ist, ob eine „schwere Straftat“ vorliegt, die im Ergebnis zur Aberkennung dieses Schutztitels führen darf.
Im zitierten EASO-Leitfaden ist die schwere Nötigung als Beispiel für eine schwere Straftat nicht genannt. Insofern ist das begangene Delikt nicht geeignet, eine „schwere Straftat“ darzustellen, die zur Aberkennung eines Schutztitels führen kann. Ein weiteres Argument, welche gegen eine Qualifikation als „schwere Straftat“ spricht, ist, dass dem Beschwerdeführer eine Freiheitsstrafe im unteren Bereich des Strafrahmens verhängt wurde. Als besonders schwerwiegend qualifiziert war die Art der Tat, da der Beschwerdeführer die schwere Nötigung mit dem Einsatz einer tödlichen Waffe durchführte.
Aus dem EASO-Leitfaden „Ausschluss“ vergleiche Pkt. 2.5. des Leitfadens) ergibt sich, dass auch das Verhalten der Person nach der Straftat zu prüfen und dann zu entscheiden ist, ob sie des Schutzes würdig ist. Aus dem Leitfaden ergibt sich Folgendes: „Unbeschadet früheren Fehlverhaltens kann das Verstreichen eines gewissen Zeitraums in Kombination mit Zeichen der Reue, Wiedergutmachung und Übernahme von Verantwortung für frühere Taten den Befund rechtfertigen, dass ein Ausschluss nicht länger gerechtfertigt ist.“
Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass sich der Beschwerdeführer in den Verhandlungen Reue gezeigt hat und sich mit seinen Taten auseinandergesetzt hat.
In Summe überwiegen die Kriterien, welche gegen eine „schwere“ Straftat sprechen. Die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG 2005 lagen fallgegenständlich sohin mangels Vorliegens einer schweren Straftat nicht vor.
Nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 hat eine Aberkennung des subsidiären Schutzes bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Absatz eins, leg.cit. zudem zu erfolgen, wenn der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt.
Ob der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt, erfordert eine Gefährdungsprognose. Dabei ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und in Hinblick auf welche Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Fremde stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich dar. Strafgerichtliche Verurteilungen des Fremden sind daraufhin zu überprüfen, inwieweit sich daraus nach der Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und der Tatumstände der Schluss auf die Gefährlichkeit des Fremden für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Republik Österreich ziehen lässt vergleiche VwGH 14.03.2019, Ra 2018/20/0387, Rz 13, mwN).
Auch der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seiner Rechtsprechung erkannt, dass nur ein Flüchtling, der wegen einer „besonders schweren Straftat“ rechtskräftig verurteilt wurde, als eine „Gefahr für die Allgemeinheit eines Mitgliedstaats“ angesehen werden könne (EuGH vom 24.06.2015, C-373/13, H.T. gegen Land Baden-Württemberg, ECLI:EU:C:2015:413).
Unter Berücksichtigung der Rechtskraftwirkungen der Zuerkennungsentscheidung wäre es zwar nicht zulässig, die Aberkennung nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 auszusprechen, obwohl sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) nicht geändert hat. Soweit aber neue Sachverhaltselemente hinzutreten, die für die Gefährdungsprognose nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 von Bedeutung sein können, hat die Behörde eine neue Beurteilung des Gesamtverhaltens des Fremden vorzunehmen und nachvollziehbar darzulegen, warum sie davon ausgeht, dass der subsidiär Schutzberechtigte nun eine Gefahr für die Allgemeinheit (oder für die Sicherheit des Staates) darstellt. Dabei ist es ihr nicht verwehrt, auch vor der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. vor Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung begangene Straftaten in ihre Gesamtbeurteilung einfließen zu lassen (siehe VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0155, Rz 25).
Die drei Verurteilungen des Beschwerdeführers erfolgten fallgegenständlich nach der Gewährung der befristeten Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers bzw. Verlängerung dieser durch das BFA.
Im vorliegenden Fall weist der Beschwerdeführer drei rechtskräftige Verurteilungen auf:
Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF als junger Erwachsener zur Zahl römisch 40 wegen der Vergehen nach Paragraphen 83,, 84 Absatz 2,, 1.Fall StGB Paragraph 15, StGB, Paragraph 15, StGB Paragraph 83, StGB und Paragraph 15, Paragraph 269, Absatz eins, 1.Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.
Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF zur Zahl römisch 40 wegen des Vergehens nach Paragraphen 27, Absatz 2 a, 2.Fall und Absatz 3, SMG, Paragraph 15, StGB unter Anwendung von Paragraph 28, StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, acht davon unter der Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt, verurteilt.
Mit Urteil des römisch 40 vom römisch 40 wurde der BF zur Zahl römisch 40 wegen des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, 8.Fall und Absatz 3, SMG und des Vergehens nach Paragraph 27, Absatz eins, Ziffer eins, 1. und 2Fall und Absatz 2, SMG, unter Anwendung von Paragraph 28, StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Ebenso wurde die gewährte bedingte Strafnachsicht des Urteils vom römisch 40 widerrufen. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht des Urteils vom römisch 40 wurde abgesehen.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die ausgesprochenen Strafen im konkreten Einzelfall im unteren Strafrahmen bewegten und diese Straftaten des Weiteren keine „schwere“ Straftaten darstellenden. Es ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer durch seine Straftaten besonders qualifizierte strafrechtliche Verstöße verwirklicht hätte, die eine Gefahr für die Allgemeinheit iSd Artikel 17, Absatz eins, der Statusrichtlinie darstellen würden.
Auch im Hinblick auf eine vorzunehmende Gefährdungsprognose ist nämlich auszuführen, dass der Beschwerdeführer den Eindruck vermittelte, dass er aus seinen Fehlern gelernt hat und er seine Drogensucht in Griff bekommen zu scheint. Eine wichtige Stütze hierbei ist seine Freundin, mit der er ein gemeinsames Kind hat. Dass der BF erneut in Haft ist, weil er die Therapie zur Suchtentwöhnung nicht fortgesetzt hat, könne diesem nicht zum Nachteil gereicht werden. Der BF legte nämlich nachvollziehbar dar, dass er aufgrund der Unterstützung seiner Freundin diese Therapie einmal verlassen hat. Er hat sich danach auch bemüht, um erneut einen Therapieplatz zu bekommen, jedoch hinderte ihn daran eine Coronaerkrankung. Der Beschwerdeführer zeigt Reue und gesteht ein, Fehler gemacht zu haben. Er verfügt über gute Deutschkenntnisse und ist bereit zu arbeiten. Auch wenn in keiner Weise die Begehung von Suchtmitteldelikten verharmlost werden sollte, konnte der BF in der mündlichen Verhandlung glaubhaft einen Sinneswandel darlegen. Es ist angesichts des dargelegten Wohlverhaltens des BF und seiner familiären Verhältnisse im Bundesgebiet sowie der Erörterungen seiner strafgerichtlichen Verurteilungen von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen.
Die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 2, AsylG 2005 liegen sohin gegenständlich ebenfalls nicht vor.
Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides über die amtswegige Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten war daher ersatzlos zu beheben.
3.2. Zu den Spruchpunkten römisch II. bis römisch VII. des angefochtenen Bescheides:
Nachdem mit gegenständlichem Erkenntnis Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides – mit welchem dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wurde – ersatzlos behoben wurde, waren auch die weiteren, damit verbundenen Aussprüche ersatzlos zu beheben, zumal sie schon infolge der Behebung der amtswegigen Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ihre rechtliche Grundlage verlieren.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab vergleiche die oben im Rahmen der rechtlichen Beurteilung zu Spruchteil A angeführte Rechtsprechung), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
ECLI:AT:BVWG:2022:W177.2127474.2.00