Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

25.08.2022

Geschäftszahl

W261 2252452-1

Spruch


W261 2252452-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 auch römisch 40 , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 02.02.2022, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins.          Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Somalias, stellte nach unregelmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 11.08.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am 12.08.2021 fand seine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer unter anderem an, dass er aus römisch 40 in Hiiraan in Somalia stamme, der Volksgruppe der Madiban angehöre und sunnitischer Muslim sei. Sein Vater sei verstorben, seine Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern würden noch in Somalia leben. Er habe keine Schule besucht und verfüge über keine Berufsausbildung.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass Männer von der Miliztruppe Al-Shabaab seinen Vater getötet und ihn mit dem Tod bedroht hätten. Sie hätten ihn beschuldigt, seinem Vater geholfen zu haben, den sie als AMISOM-Mitarbeiter beschuldigt hätten. Sein Vater sei ein Kraftfahrer gewesen und habe mit AMISOM nichts zu tun gehabt. Aus Angst von Al-Shabaab habe er Somalia verlassen. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass er von Al-Shabaab getötet werde.

3. Mit Verfahrensanordnung vom 07.10.2021 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fest, dass es der Beschwerdeführer am römisch 40 geboren sei. Begründet wurde dies mangels Vorliegens von identitätsbezeugenden Dokumenten oder sonstigen geeigneten Nachweisen mit dem Ergebnis eines medizinischen Gutachtens zur Altersfeststellung vom 30.09.2021.

4. Am 24.01.2022 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, dass er gesund und nicht in medizinischer Behandlung sei. Er sei sunnitischer Muslim und gehöre der Volksgruppe der Madiban an. Er sei in der Stadt römisch 40 in der Provinz Hiraan geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er habe keine Grundschule besucht und könne nicht lesen und schreiben. Er habe als Lkw-Fahrer-Begleiter für seinen Vater gearbeitet. Dieser sei bereits verstorben. Seine Mutter und Geschwister würden noch in römisch 40 leben, er habe aber keinen Kontakt zu ihnen.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er habe Somalia verlassen, da eines Tages Al-Shabab-Mitglieder zu ihnen nachhause gekommen seien. Sie hätten versucht, seinen Vater zu entführen, was die Familie verhindern habe wollen. Sein Vater habe gesagt, dass er ein Arbeiter sei und sich um seine Kinder kümmern müsse und daher nicht mitgehen könne. Sie hätten seinen Vater und dessen Lkw mitgenommen, auch den Beschwerdeführer hätten sie mitnehmen wollen. Seine Mutter, die versucht habe, es zu verhindern, sei von den Al-Shabab-Mitgliedern zusammengeschlagen und verletzt worden. Am nächsten Tag sei sie zur örtlichen Polizei gegangen und habe eine Anzeige erstattet und Angaben zu den Tätern gemacht. Sie sei gebeten worden, in zwei Tagen zurückzukommen. Zwei Tage später habe seine Mutter bei der Polizei erfahren, dass der Lkw völlig ausgebrannt gefunden worden sei und dass die Leiche des Vaters, der erschossen worden sei, auch gefunden worden sei. Sie hätten sehen können, dass Blut auf dem Hemd seines Vaters gewesen sei, sodass sie angenommen hätten, dass er erschossen worden sei. Sie hätten seine Mutter gebeten, von römisch 40 wegzugehen. Deshalb habe diese zum Beschwerdeführer gesagt, dass er Somalia verlassen solle, da sie ihn nicht beschützen könne. Sie habe einen Schlepper organisiert, der ihn nach Mogadischu gebracht habe, von wo aus er nach zehn Tagen nach Kenia weitergeschleppt worden sei. Es sei mehrmals, insgesamt dreimal, zu Vorfällen mit der Al-Shabab gekommen. Der Beschwerdeführer sei immer im Auto mit seinem Vater dabei gewesen. Beim ersten Vorfall habe Al-Shabab seinen Vater gefragt, ob er mit der AMISOM zusammenarbeite. Sie hätten gesagt, dass sie ihn die ganze Zeit verfolgt hätten und er für die AMISOM spionieren würde. Beim zweiten Vorfall hätten sie ihnen wieder vorgeworfen, dass sie die AMISOM unterstützen würden. Nach dem zweiten Vorfall hätten sie ohne Probleme weiterfahren dürfen. Beim dritten Vorfall, am 05.11.2020, sei Al-Shabab zu ihnen nachhause gekommen. Er persönlich sei nicht der Zusammenarbeit mit AMISOM beschuldigt worden.

5. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 02.02.2022 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihm gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt römisch II.) und erteilte ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr (Spruchpunkt römisch III.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer sein Herkunftsland aufgrund einer Verfolgung oder Furcht vor solcher verlassen habe. Seine Ausführungen in Bezug auf eine Verfolgung durch Angehörige der Al-Shabab hätten nicht glaubhaft festgestellt werden können. Seine Angaben zur Gefährdungslage seien aus näher dargestellten Gründen in höchstem Maße vage, widersprüchlich und auch in keiner Weise plausibel. Eine Gefährdung für die Person des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr nach Somalia sei aufgrund der gegenwärtigen Nahrungsversorgungsunsicherheit anzunehmen. Da die IPC-Stufe für seinen Heimatort für den Zeitraum von Februar bis Mai 2022 mit der Stufe „crisis“ bewertet werde, könne nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer in Somalia sein Überleben über einen längeren Zeitraum hinweg sichern könnte, weshalb ihm eine Rückkehr in seine Heimat derzeit nicht zumutbar sei. Es sei daher zwar nicht der Status des Asylberechtigten, aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

6. Mit Eingabe vom 02.03.2022 erhob der Beschwerdeführer gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde nach neuerlicher Darstellung des Fluchtvorbringens im Wesentlichen vorgebracht, dass er sein Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung durch die Al-Shabaab verlassen habe. Der Staat Somalia wäre nicht bereit, Schutz zu gewähren. Darüber hinaus sei er sein ganzes Leben lang aufgrund seiner Clanzugehörigkeit zu den Madhibaan Diskriminierungen ausgesetzt gewesen, die ihm das Leben in Somalia unzumutbar gemacht hätten. Die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, indem sie mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe. Es werde daher auf ergänzende Länderberichte zur allgemeinen Diskriminierung der Madhibaan, zu staatlichem Schutz und Rechtsschutz sowie zur Zwangsrekrutierung durch die Al-Shabaab verwiesen. Die Madhibaan seien schweren sozialen, politischen, gerichtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt und unverhältnismäßig stark von Gewalt betroffen, auch in Mogadischu. Die Behörde sei auf die Clanzugehörigkeit des Beschwerdeführers mit keinem Wort eingegangen. Auch die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides sei unschlüssig. Diese bestehe zu weiten Teilen aus inhaltsleeren Textbausteinen, die sich nur unzureichend mit dem individuellen Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandersetzen würden. Die Behörde stütze seine Unglaubwürdigkeit auf vermeintliche Widersprüche in der Einvernahme, die tatsächlich nicht vorliegen würden. Er habe entgegen der Ansicht der Behörde sein Vorbringen sehr detailliert und lebensnah gestaltet, über die Erlebnisse in Somalia frei gesprochen und genaue zeitliche und örtliche Angaben gemacht. Mit der vorgenommenen „Korrektur“ des Alters des Beschwerdeführers habe die Behörde überdies eine Zuständigkeit in Anspruch genommen, die ihr nicht zukomme. Sie habe von dem Alter auszugehen, dass der bei der Antragstellung jedenfalls Minderjährige angegeben habe, und es sei ihr untersagt, willkürlich ein fiktives Geburtsdatum an dessen Stelle festzusetzen. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre der Status des Asylberechtigten jedenfalls zu gewähren gewesen.

7. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 03.03.2022 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 04.03.2022 in der Gerichtsabteilung W205 einlangte.

8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2022 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W205 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 25.04.2022 einlangte.

9. Mit zwei Eingaben vom 13.06.2022 übermittelte die belangte Behörde jeweils eine Meldung, eine Sofortmeldung und einen Abschlussbericht der Polizeiinspektion römisch 40 , aus denen zusammengefasst hervorgeht, dass der Beschwerdeführer aufgrund einer falschen Angabe seines Geburtsdatums im Rahmen des Asylantrags einer mittelbaren unrichtigen Beurkundung oder Beglaubigung und einer unrechtmäßigen Inanspruchnahme von sozialen Leistungen verdächtig sei.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30.06.2022 eine mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle einer Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers verwies auf das Vorbringen in der Beschwerde und das Vorbringen des Beschwerdeführers.

11. Mit Eingabe vom 21.07.2022 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft römisch 40 , wonach gegen den Beschwerdeführer wegen Paragraph 228, Absatz eins, StGB und Paragraph 119, 2. Fall FPG Anklage erhoben worden sei.

12. Mit E-Mail vom 05.08.2022 teilte das Bundesverwaltungsgericht den Verfahrensparteien mit, dass am 27.07.2022 die neue Version 4 des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation zu Somalia veröffentlicht worden sei. Nach Durchsicht durch die erkennende Richterin seien keine für den Beschwerdeführer maßgeblichen Änderungen der Situation in Somalia feststellbar, zumindest sei keine Verbesserung der Lage eingetreten. Es werde neuerlich darauf hingewiesen, dass im Erkenntnis das aktuelle Länderinformationsblatt als Entscheidungsgrundlage verwendet werden werde. Es stehe den Verfahrensparteien frei, allenfalls zeitnah eine Stellungnahme abzugeben.

Die Verfahrensparteien erstatteten keine Stellungnahmen.

römisch II.        Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.          Feststellungen:

1.1.      Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch 40 und ist spätestens am römisch 40 geboren. Er ist somalischer Staatsangehöriger, Angehöriger des Clans der Madhiban und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Somalisch.

Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt römisch 40 in der Provinz Hiiraan geboren, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Sein Vater hieß römisch 40 , er war Lkw-Fahrer und ist bereits verstorben. Seine Mutter heißt römisch 40 . Er hat drei Brüder, römisch 40 und römisch 40 , sowie zwei Schwestern, römisch 40 und römisch 40 . Seit seiner Ausreise hat er keinen Kontakt mehr zu seinen Familienmitgliedern und weiß nicht, wo sich diese aufhalten.

Der Beschwerdeführer hat in Somalia keine Schule besucht und keine Berufsausbildung absolviert. Er hat als Lkw-Fahrer-Begleiter für seinen Vater gearbeitet.

Er hat Somalia im November 2020 im Alter von ca. 17 Jahren verlassen. Er hielt sich unter anderem ca. zwei Monate in Griechenland und ca. sieben Monate in Serbien auf und stellte am 11.08.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer und sein Vater wurden von Al-Shabaab nicht beschuldigt, Informationen über diese an die AMISOM-Truppen weitergleitet zu haben. Sein Vater wurde nicht von Al-Shabaab mitgenommen und getötet.

Bei einer Rückkehr nach Somalia droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder von Al-Shabaab oder durch andere Personen.

1.2.2. Der Beschwerdeführer gehört dem berufsständischen Clan der Madhiban an und wurde aus diesem Grund in Somalia diskriminiert und etwa von anderen Kindern am Spielplatz rassistisch beschimpft. Er hat aus diesem Grund keine Schule besucht.

Bei einer Rückkehr nach Somalia droht dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Clanzugehörigkeit jedoch weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität. Er war auch bisher aufgrund seiner Clanzugehörigkeit keinen Übergriffen ausgesetzt. Die Diskriminierung der Madhiban erreicht nicht das Ausmaß einer Gruppenverfolgung.

1.3.      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit August 2021 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 11.08.2021 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Er wohnt in Österreich in einer Asylunterkunft und lebt von der Grundversorgung. Einen Deutschkurs besucht er nicht, er verfügt über keine Deutschkenntnisse.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen oder vergleichbar enge soziale Kontakte.

Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Gegen ihn wurde am 19.07.2022 wegen des Vergehens der mittelbaren unrichtigen Beurkundung oder Beglaubigung nach Paragraph 228, Absatz eins, StGB und des Vergehens der unrechtmäßigen Inanspruchnahme von sozialen Leistungen nach Paragraph 119, 2. Fall FPG Anklage erhoben.

1.4.      Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:

-             Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia aus dem COI-CMS, Version 4 vom 27.07.2022 (LIB)

-             EUAA-Leitlinien zu Somalia vom Juni 2022 (EUAA)

1.4.1. Politische Lage

1.4.1.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 22.07.2022

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird. Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (LIB).

Staatlichkeit: Trotz massiver militärischer, diplomatischer und finanzieller Unterstützung hat die Regierung in Mogadischu kaum Fortschritte gemacht. Nach anderen Angaben hat Somalia in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert. Jedenfalls zeigt das Land trotz erzielter Fortschritte auch weiterhin alle Merkmale eines failed state . Laut einer anderen Quelle ist Somalia zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen, da sie nur wenige Gebiete kontrolliert. Zudem hängt die Existenz des somalischen Staates zum größten Teil von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ab. Dies gilt natürlich auch für die Umsetzung von Aktivitäten seitens der Regierung (LIB).

Wie auch in Afghanistan wurde in Somalia durch eine fremde Kraft ein bestehendes islamistisches Regime vertrieben – namentlich die Union Islamischer Gerichte durch Äthiopien im Jahr 2006; wie auch in Afghanistan begann danach ein von Außen betriebener Prozess zur Staatsbildung unter dem Schutz ausländischer Soldaten; und wie auch in Afghanistan ist es der Regierung nicht gelungen, ein ausreichendes Maß an Legitimität aufzubauen. Die Öffentlichkeit fühlt sich ignoriert, weil die Regierung nicht daran arbeitet, das Leben der Bürger zu verbessern. Dementsprechend erachten viele Bürger die Regierung als nutzlos. Selbst in Gebieten, die von der Regierung gehalten werden, tun sich die Verwaltungen schwer, auch nur grundlegende Dienste anzubieten. Gleichzeitig kämpfen die staatlichen Institutionen mit dem Erbe von jahrzehntelanger Korruption und von Missmanagement. Somalia schneidet bei den wichtigsten Benchmarks für gute Regierungsführung - Rechtsstaatlichkeit, Effektivität der Regierung, politische Stabilität, Beteiligung der Öffentlichkeit, Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruptionsbekämpfung - erschreckend schlecht ab. Die Ausübung von Macht durch die Politik erfolgt willkürlich. Und tatsächlich ist keine der Regierungen auf Bundes- oder Bundesstaatsebene nach irgendeinem Gesetz rechenschaftspflichtig. Selbst das somalische Parlament erwägt kaum jemals die Rechtmäßigkeit einer Angelegenheit, sondern fokussiert unmittelbar auf individuelle materielle Gewinne. Die Unvorhersagbarkeit und die chaotische Praxis der Politik haben die Entwicklung staatlicher Institutionen gehemmt und die Effektivität der Regierung sowie die Reichweite des Staates eingeschränkt. Die Unfähigkeit, gegen die endemische Korruption vorzugehen, behindert den Staatsbildungsprozess und den Aufbau von Institutionen; der politische Machtkampf hat das Vertrauen der Bevölkerung in bestehende staatliche Institutionen weiter geschwächt, die politischen Konflikte haben die Kluft zwischen den Fraktionen vergrößert. All dies zehrt einerseits an der Ausdauer der Geberländer und wird andererseits von al Shabaab ausgenutzt (LIB).

Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Seit 2016 und 2017 die fünf Bundesstaaten gegründet wurden, stockt der Verfassungsprozess. Grundlegende Fragen des Staatsaufbaus sind nicht geklärt. Dies lähmt staatliches Handeln und fördert politische Spannungen zwischen Mogadischu und den föderalen Gliedstaaten, weil eben die Verfassungsgebung und Kompetenzverteilung noch immer nicht abgeschlossen sind (LIB).

Regierung: Unter der bestehenden Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 wird der Präsident für eine Amtszeit von vier Jahren von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments gewählt. Der Präsident teilt sich seine exekutive Macht mit dem Premierminister, der wiederum nur mit Unterstützung des Parlaments arbeiten kann (LIB).

2017 wurde Farmaajo als Präsident gewählt, sein Mandat endete eigentlich am 8.2.2021, er regierte aber bis Mai 2022 weiter. Somalia stürzte in eine schwere Verfassungs- und politische Krise, in deren Folge es in Mogadischu zwischen Kräften der Regierung und Kräften der Opposition auch zu Kampfhandlungen kam. Nach dieser Eskalation im April 2021 konnte im Mai 2021 eine Einigung der Umsetzungsmodalitäten der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erzielt werden. Trotz aller Bekundungen konnten die eigentlich Ende 2020 geplanten Parlamentswahlen nicht demokratisch gestaltet werden. Stattdessen wurde wieder auf einen Selektionsprozess ähnlich wie bei den Wahlen 2016 zurückgegriffen. Zudem wurde der Wahlprozess zu einem Zweikammerparlament durch innenpolitische Streitigkeiten für mehr als ein Jahr verzögert. Mit der erneuten Wahl des ehemaligen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamud (2012-2017) am 15.5.2022 ist der Wahlprozess mit großer Verzögerung abgeschlossen. Nach mehr als 15 Monaten Streitigkeiten sind die Wahlen ruhig verlaufen. Es gab 36 Kandidaten. Im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2017 hat diesmal Geld bzw. Stimmenkauf keine entscheidende Rolle gespielt. In der letzten Wahlrunde erhielt Farmaajo 110 Stimmen, Hassan Sheikh Mohamud 214 Stimmen. Der Wahlsieg wurde allgemein akzeptiert. Am 9.6.2022 wurde der neue Präsident angelobt. Dieser ernannte am 15.6.2022 Hamza Abdi Barre, einen ehemaligen Vorsitzenden der staatlichen Wahlkommission von Jubaland, zum Premierminister (LIB).

Parlament: Die provisorische Verfassung sieht ein Zweikammernparlament mit einem 275-köpfigen Unterhaus und einem 54 Senatoren umfassenden Oberhaus vor. Die Mitglieder zum Oberhaus werden von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt. Die Wahlen zum Oberhaus begannen im Juli 2021 und konnten nach Monaten der Streitigkeiten im November 2021 abgeschlossen werden. Sie wurden auf voller Breite manipuliert, nur um 15 der 54 Sitze gab es tatsächlich einen Wettstreit. Die meisten Senatoren sind nunmehr de facto von den Präsidenten der Bundesstaaten nominierte Alliierte, Freunde und manchmal auch Familienangehörige. Insgesamt hat es sich nicht um einen glaubwürdigen Wahlbewerb gehandelt, der Vorgang kann kaum als „Wahl“ bezeichnet werden (LIB).

Am 28.4.2022 wurde der Wahlprozess der am 29.7.2021 begonnenen Parlamentswahlen abgeschlossen. Alle 275 Abgeordneten zum Unterhaus waren gewählt, 20% davon sind Frauen. Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (LIB).

Demokratie: Seit Jahrzehnten hat es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene mehr gegeben. In Süd-/Zentralsomalia gibt es keine demokratischen Institutionen. Somalia ist keine Wahldemokratie und hat auch keine strikte Gewaltenteilung, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung demokratisch nicht legitimierter traditioneller Strukturen (v. a. Clanstrukturen) vergeben. Eine andere Quelle gibt zu bedenken: Auch, wenn sie nicht wirklich frei und fair waren, so haben die in den letzten zwei Jahrzehnten in Somalia durchgeführten indirekten Wahlen zu Ergebnissen geführt, die im Allgemeinen von den politischen Akteuren und der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wurden. So wurden durch einen – gewaltfreien – Wahlprozess jeweils schwache, aber akzeptierte Institutionen geschaffen (LIB).

Aktuelle Politische Lage: Der neue Präsident hat von seinem Vorgänger eine politisierte, parteiische und unfähige Bürokratie geerbt. Die Nabad iyo Nolol (N&N, Friede und Leben), die Partei von Ex-Präsident Farmaajo, hat die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Verwaltung ohne Skrupel zu zentralisieren. Die Regierung unter Farmaajo und dem NISA-Chef Fahad Yasin wollte gemäß einer Quelle in Richtung von Verhandlungen mit al Shabaab und einer Talibanisierung Somalias. Dutzende ehemalige Dschihadisten wurden von ihnen in Schlüsselpositionen der Bundesverwaltung und der Sicherheitskräfte gehievt, politische Führungskräfte und Minister wurden auf Basis von Loyalität und nicht von Kompetenz ausgewählt. Jeder, der als Bedrohung wahrgenommen wurde, wurde angegriffen. Die Bundesregierung und regionale Führer haben alles getan, um zeitgerechte und glaubwürdige Wahlen zu verhindern. Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahlen zu manipulieren, führte das Land in politisches Chaos. Die Verzögerungen, Zusammenstöße und Ungewissheiten rund um die Wahlen haben außerdem zu einem fast vollständigen Zusammenbruch hinsichtlich der Erfüllung von Regierungsfunktionen geführt. Dies hat wiederum zur Spaltung aller Sektoren - auch des Sicherheitsapparats - beigetragen. Der mehr als ein Jahr andauernde Streit um die Wahlen hat nicht nur die Regierungsarbeit gelähmt, er hat es ermöglicht, dass al Shabaab den angeschlagenen Staat weiter ausgehöhlt hat (LIB).

Dahingegen ist Präsident Hassan Sheikh gemäß Angaben einer Quelle ein Demokrat. Er will die Staatsbildung im Konsens fortführen. Um aber den Einfluss von N&N zu tilgen und eine inklusive Politik umzusetzen, wird es Zeit brauchen. Gleichzeitig wird N&N alles daran setzen, von Hassan Sheikh vorangetriebene Reformen zu sabotieren - und zwar von innerhalb der Regierung. Folglich ist das Machtzentrum Somalias nach der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten paralysiert. Eine Elite im Wettstreit stehender islamistischer Fraktionen, die allesamt dem Föderalismus abgeneigt sind, versucht, Reformen zu hintertreiben oder rückgängig zu machen. Die N&N ist im Begriff, sich neu zu gruppieren. Der neue Präsident möchte dem mit einer Stärkung von Dam ul-Jadiid ["Partei" bzw. politisch-islamische Strömung des Präsidenten] entgegenwirken. Der Präsident ist moderat islamisch und keine Bedrohung für demokratische Werte. Insgesamt ist die Politik in Somalia zunehmend in der Hand von Eliten und fraktioniert. Clans üben weniger Macht aus, islamistische Fraktionen gewinnen an Macht und Einfluss (LIB).

Föderalisierung: Die Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 sieht föderale Strukturen vor. Seit damals sind sechs Entitäten durch die Bundesregierung als Bundesstaaten anerkannt worden: Puntland, Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Jeder dieser Bundesstaaten hat eine eigene Verfassung. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet. Die Hauptstadtregion Benadir (Mogadischu) verbleibt als Banadir Regional Administration/BRA unter direkter Kontrolle der Bundesregierung . Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB).

Unter der Regierung von Präsident Farmaajo waren die Beziehungen zwischen Bundesregierung und einigen Bundesstaaten angespannt. Dabei ging es um Fragen der Machtteilung, um Ressourcen, Territorien und die Kontrolle bewaffneter Kräfte. Grundsätzlich gibt es politische Uneinigkeit über die Frage, ob Bundesstaaten semi-autonom sein sollen oder ob mehr Macht bei der Bundesregierung zentralisiert sein soll. Zahlreiche Befugnisse wurden nicht geklärt. Das betrifft die Verteidigung, welche militärischen Truppen und Polizeieinheiten vor Ort eingesetzt werden können, die Frage der Ressourcenverteilung, die Verteilung von internationalen Hilfsgeldern. Auch Entwicklungszusammenarbeitsprojekte werden über die Zentralregierung in Mogadischu abgewickelt, und die Verteilung auf die Regionen ist strittig, ebenso die Fragen, wer welche Hoheiten über welche Verträge hat. Präsident Farmaajo hatte versucht, die Macht wieder zu zentralisieren. Zudem ist es den neuen Präsidenten der Bundesstaaten aufgrund ihrer Schwäche nicht gelungen, ihre Macht zu konsolidieren und staatliche Autorität auszuüben. Immer mehr Gebiete gingen an al Shabaab verloren (LIB).

1.4.1.1.1. HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle) – Letzte Änderung: 25.07.2022

HirShabelle wurde 2016 etabliert, und zwar auf Basis einer vermittelten Union der Hawiye-Clans von Hiiraan und Middle Shabelle. Allerdings hatte es auch Stimmen für einen eigenständigen Bundesstaat Hiiraan gegeben (LIB).

Im Oktober 2020 wurde ein neues Parlament angelobt. Im Vorfeld trat Präsident Mohamed Abdi Ware zurück, im November 2020 wurde mit Ali Gudlawe ein neuer Präsident gewählt. Dessen Wahl wurde als Bruch des informellen Machtteilungsabkommens zwischen den beiden in HirShabelle dominanten Clans Abgaal und Hawadle erachtet. Dieser Bruch hat eine politische Revolte ausgelöst. Manche „Separatisten“ verlangen für die Region Hiiraan nun einen eigenen Bundesstaat. In Reaktion auf die Wahl von Gudlawe leistet der sogenannte Hiiraan Salvation Council unter dem ehemaligen Armeegeneral Abukar Huud der Regierung von HirShabelle Widerstand. Der General wird von Ältesten und anderen Führern unterstützt. Auch eine Bewegung aus Jareer/Bantu steht in Opposition zur Regierung von HirShabelle. Huud hat einige Hawiye/Hawadle unter sich vereinigt, während Gudlawe die Hawiye/Abgaal repräsentiert. Im Sommer 2021 kam es im Umfeld von Belet Weyne zu Gewalt, die Stadt war nach Kämpfen zwischen Bundeskräften und Clanmilizen zweigeteilt. Am 12.7.2021 traf General Huud erstmals mit einem Vertreter der Regierung von HirShabelle zusammen, um die Wünsche nach einer größeren Rolle für die Hawadle zu besprechen. Gegenwärtig ist der Konflikt über die Machtteilung im Bundesstaat eingefroren (LIB).

Zwischenzeitlich war sowohl in den von HirShabelle in Middle Shabelle kontrollierten Gebieten als auch in Belet Weyne eine Verbesserung der Verwaltung zu verzeichnen. Doch sind die schon im Zuge der Bildung des Bundesstaates neu zutage getretene Clankonflikte wieder aufgeflammt. Die Clans in Middle Shabelle stehen größtenteils hinter der Regionalverwaltung. In Belet Weyne hingegen treffen Vertreter von HirShabelle nach wie vor auf unverminderte Ablehnung. De facto ist der Bundesstaat geteilt, auch wenn die Verwaltung von HirShabelle auch in Hiiraan - und nach den Vorfällen im Sommer 2021 auch in Belet Weyne - arbeitet und funktioniert. Insgesamt bleibt die Lage v. a. in Hiiraan angespannt (LIB).

1.4.2.  Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten – Letzte Änderung: 25.07.2022

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen. Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIB).

1.4.2.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 25.07.2022

Die Sicherheitslage bleibt instabil bzw. volatil, mit durchschnittlich 236 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto von al Shabaab. Die Angriffe der Gruppe richten sich in erster Linie gegen somalische Sicherheitskräfte und AMISOM. Dabei werden Angriffe vorwiegend mit improvisierten Sprengsätzen und sogenannten hit-and-run-Angriffen durchgeführt. Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt, während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (LIB).

AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Allerdings konnten trotz internationaler Unterstützung kaum weitere territoriale Gewinne verzeichnet werden. Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren. Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS - aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen. Wenn ATMIS abzieht, würde Mogadischu rasch fallen. An dieser Situation wird sich in den nächsten Jahren nichts ändern. Zudem ist die Regierung zum eigenen Überleben schon alleine deswegen auf ausländische Truppen und Hilfe angewiesen, weil sie nicht in der Lage ist, aus eigenen Mitteln Polizisten und Soldaten zu bezahlen (LIB).

Trend: Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten. Der Kampf gegen al Shabaab stagniert seit mehreren Jahren. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hat die vergangenen vier Jahre damit zugebracht, einen Krieg gegen den Föderalismus, politischen Pluralismus und demokratische Normen zu führen – aber nicht gegen al Shabaab. Die Gruppe ist heute stärker denn je und hat 2021 aggressiv expandiert. Dabei sah sich al Shabaab schon zuvor durch den Abzug der USA und einen Teilabzug äthiopischer Kräfte gestärkt. Danach hat sie die große politische Unsicherheit und die damit verbundenen Spannungen genutzt, um das Tempo ihrer Aktivitäten in Mogadischu und in den Bundesstaaten auch mittel- und langfristig aufrechterhalten zu können. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hatte den Kampf gegen al Shabaab aufgeben, und immer mehr Gebiete gingen an die Gruppe verloren. Al Shabaab gewinnt an Boden und konnte im Jahr 2021 in Gebiete vordringen, die bis dahin als geschützt gegolten hatten - etwa in den Nordwesten von Galmudug und in die zuvor friedliche Küstenzone nordwestlich von Mogadischu in Middle Shabelle. Insgesamt konnte al Shabaab unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS-Geländegewinne erzielen (LIB).

Auch der Konflikt zwischen der Bundesregierung und einzelnen Bundesstaaten wurde immer wieder gewaltsam ausgetragen. Im April 2021 ist es in Mogadischu zu Kampfhandlungen gekommen. Auch im September 2021 war die Situation in Mogadischu höchst angespannt. Der Zusammenhalt von Bundesregierung und Bundesstaaten wäre notwendig, weil al Shabaab die Fähigkeit besitzt, Brüche zwischen Bundes- und Regionalregierungen auszunutzen (LIB).

Die Operation Badbaado – 2019 zur Sicherung der westlichen Zugänge zu Mogadischu begonnen - hat sich totgelaufen und wurde nach der Einnahme von Janaale im März 2020 nicht weiterverfolgt. Sie hat lediglich einige unzusammenhängende Vorposten zwischen Mogadischu und Janaale hinterlassen, deren Zwischengebiete von al Shabaab kontrolliert werden. Die als Folgeoperation geplante Operation Badbaado römisch II in Middle Shabelle ist de facto nie angelaufe). Seit Badbaado ist es zu keinem geplanten offensiven Vorgehen gegen al Shabaab mehr gekommen. Ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch ATMIS kann ohne Beteiligung der Truppen der Bundesregierung nicht erwartet werde). Die Fähigkeit, mittlerweile auch die am sichersten eingestuften Ziele angreifen zu können, verdeutlicht dies umso mehr. Die Bundesarmee ist teils nicht in der Lage, FOBs (Forward Operating Base) zu halten. Mehrfach hat al Shabaab erfolgreich FOBs der Bundesarmee angegriffen und überwältigt. Derartige Operationen sind mittlerweile für al Shabaab die wichtigste Quelle an militärischem Nachschub (LIB).

Noch im Mai und Juni 2021 hatte die Bundesarmee bei einer Offensive in Middle Shabelle bewiesen, dass sie zu einer ausschließlich auf eigenen Kräften beruhenden Initiative kaum in der Lage war. Die Operation endete unter großen Verlusten im Fiasko. Mit Antritt von Präsident Hassan Sheikh Mohamud im Mai 2022 haben somalische Kräfte plötzlich mehrere größere Erfolge gegen al Shabaab einfahren können. Einerseits konnte die Spezialeinheit Danab Ende Juni al Shabaab in HirShabelle mit einer Offensive überraschen und mehrere Stützpunkte der Gruppe zwischen Matabaan und Jowhar einnehmen. Andererseits wurden bei einem Zusammenspiel von Macawiisley und Ahlu Sunna Wal Jama'a in Galmudug dutzende Kämpfer der al Shabaab getötet. Dies waren die größten Verluste der Islamisten in den vergangenen fünf Jahren (LIB).

Al Shabaab führt nach wie vor einen Guerillakrieg mit gewalttätigen, extremistischen Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Die Gruppe ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte hit-and-run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Insgesamt verfolgt al Shabaab eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus. Die Präsenz von al Shabaab im ländlichen Raum hat 2021 zugenommen (LIB).

Im Zuge der Wahlen hat al Shabaab ihre Anschläge verstärkt. In Bevölkerungszentren - etwa Mogadischu, Kismayo und Baidoa - greift al Shabaab vorwiegend sogenannte "weiche" Ziele an. Damit sollen psychologische und hinsichtlich medialer Reichweite "sensationelle" Effekte erzielt werden, womit die Gruppe ihre Fähigkeiten zeigt und die Menschen einschüchtern möchte. Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (LIB).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab. Die Kriegsführung von al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn. Am meisten betroffen waren davon zuletzt Mogadischu, Lower Shabelle und Bay. Generell sind insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle betroffen. Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (LIB).

Innerhalb der von al Shabaab gehaltenen Gebiete führen Bundesarmee und AMISOM kaum Operationen durch. Es kommt dort lediglich zu sporadischen Luftschlägen der USA. Die größte Einzeloffensive der Bundesregierung der vergangenen Jahre richtete sich im Oktober 2021 gegen ASWJ in Guri Ceel. Dabei wurden 120 Menschen getötet und hunderte verwundet. Dies war die blutigste Schlacht in Somalia seit dem Angriff der al Shabaab auf den kenianischen Stützpunkt in Ceel Cadde (Gedo) Anfang 2016 (LIB).

Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt. Während AMISOM (bzw. als deren Nachfolgerin die ATMIS) und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen. Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen und hat Gebiete gefestigt, wo die Gruppe zuvor unter Druck von Regierungskräften gestanden ist. Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen. Nach anderen Angaben besitzt die Bundesregierung kaum Legitimität und kontrolliert lediglich Mogadischu - und das nicht zur Gänze. In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen. Gleichzeitig erhöht al Shabaab mit der Einnahme von Wegzöllen das eigene Budget. Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (LIB).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind

1.           das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2.           Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3.           größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4.           Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5.           der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor; sowie Rab Dhuure;

6.           weites Gebiet rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7.           sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (LIB).

Die Regierung kontrolliert Städte und Orte nur punktuell als Inseln inmitten umstrittener und umkämpfter Gebiete. Selbst in diesen Städten und Orten wird die Regierung von Rebellen unterwandert. In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden – insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (BMLV 19.7.2022). Immer wieder gelingt es al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Matabaan - einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (LIB).

Andere Akteure: Über drei Jahrzehnte gewaltsamer Konflikte haben die sozialen Brüche größer werden lassen. Kämpfe zwischen Clanmilizen und gewaltsame Auseinandersetzungen in Bundesstaaten und zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung kennzeichnen den anhaltenden Konflikt um Macht und Ressourcen. Diese Konflikte um z.B. Land und Wasser führen regelmäßig zu Gewalt. Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie ASWJ. Solche Kämpfe zwischen (Sub-)Clans - vorrangig um Land und Wasser, aber auch um Macht - haben im Jahr 2021 zugenommen. Bei Zusammenstößen in Galmudug, Jubaland und dem SWS kam es dabei zu Toten und massiven Vertreibungen. Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten. Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer – generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter – Gewalt verbunden sein. Das Expertenpanel der UN hat im Zeitraum Jänner bis August 2021 118 Vorfälle von Clankonflikten registriert. Dabei handelte es sich v.a. um Rachemorde und Entführungen. Insgesamt starben dabei 80 Menschen, 170 wurden verletzt; 22 Personen wurden entführt, um Blutgeld für vorhergehende Morde zu erpressen (LIB).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (LIB).

Im Zeitraum Feber-Mai 2022 verübte der sogenannte Islamische Staat zwei Sprengstoffanschläge auf einen Polizisten und einen Beamten sowie einen Handgranatenanschlag auf einen Checkpoint der Polizei. Alle diese Vorfälle, bei denen zwei Zivilisten und drei Angehörige der Sicherheitskräfte verletzt wurden, ereigneten sich in Mogadischu (LIB).

Zivile Opfer: Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten. Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an. Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu ATMIS und somalischen Sicherheitskräften. Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIB).

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von AMISOM bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28% der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20% (LIB).

Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:9367 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen] (LIB).

Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v. a. durch die USA. Im Jahr 2017 führten die USA 35 Luftschläge in Somalia durch, 2018 waren es 47 und 2019 63. Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 51 gesunken. Im Jahr 2021 bestätigten die USA lediglich 11 Luftangriffe, insgesamt sollen es aber 16 gewesen sein. Die Luftangriffe auf al Shabaab und den IS, bei denen seit 2017 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden sind konzentrierten sich vor allem auf die Regionen Lower Shabelle, Lower Juba, Middle Juba, Gedo und Bari. Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z.B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (LIB).

1.4.2.1.1. HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle) – Letzte Änderung: 25.07.2022

Die Macht der Regierung von HirShabelle ist auf Teile von Middle Shabelle bzw. Jowhar beschränkt. Sie hat phasenweise Einfluss entlang der Straße von Jowhar nach Mogadischu. Zudem kann HirShabelle auch in Belet Weyne – beschränkt – Einfluss ausüben. Dahingegen kontrolliert al Shabaab auch weiterhin große Teile des Bundesstaates - v. a. ländliche Gebiete und wichtige Versorgungswege. Die Hauptroute von Mogadischu nach Jowhar gilt als gefährlich. Die Sicherheitslage entlang der Straße Jowhar - Buulo Barde - Belet Weyne hat sich verschlechtert, die Straße gilt nicht als durchgehend sicher (BMLV 7.7.2022), als de facto (für Regierungszwecke) unpassierbar. Staatsvertreter und Menschen, die sich gegenüber al Shabaab nicht als loyal bezeichnen, können die meisten Städte des Bundesstaates nur auf dem Luftweg sicher erreichen (LIB).

Hiiraan: Belet Weyne, Buulo Barde und Jalalaqsi befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM. Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Im Nordwesten Hiiraans ist al Shabaab nur in geringer Stärke präsent. Vor allem der Bereich entlang der somalisch-äthiopischen Grenze ist aktuell als sicher anzusehen. Wesentliche Teile von Hiiraan befinden sich hingegen unter Kontrolle von al Shabaab – vor allem die Gebiete westlich der Straße Jalalaqsi – Belet Weyne (LIB).

Die Miliz der Macawiisley ist östlich von Belet Weyne auch weiterhin gegen al Shabaab aktiv, teils gemeinsam mit Regierungskräften - etwa bei der Übernahme des Ortes Jiraacle im Juni 2022. Immer wieder wehren sich lokale Clans gegen al Shabaab. Z. B. töteten Hawadle/Ali Madaxweyne bei einem Racheangriff mehr als ein Dutzend Kämpfer der al Shabaab, nachdem diese zuvor einen Clanältesten getötet hatte (LIB).

Die UN unterstützt in Hiiraan den Versöhnungsprozess zwischen Dir und Hawadle und auch jenen zwischen Jejele und Makane. Beim Konflikt zwischen Abdalla Aroni und Eli Oumar konnte die Regionalregierung vermitteln (LIB).

In Hiiraan leistet aufgrund des Konflikts um die Neuwahl des Präsidenten von HirShabelle der sogenannte Hiiraan Salvation Council unter dem ehemaligen Armeegeneral Abukar Huud Widerstand gegen die Regierung von HirShabelle. Schon im Jänner 2021 war es bei Kämpfen zwischen Kräften der Regierung und Milizen von General Huud zu Todesopfern gekommen. Zusätzlich hat Huud Zulauf von anderen Clans erhalten. Am 12.7.2021 traf General Huud erstmals für Verhandlungen mit einem Vertreter der Regierung von HirShabelle zusammen. Trotzdem sind die Spannungen zwischen Milizen, die zu General Huud loyal stehen, und der Regierung von HirShabelle immer größer geworden. Im August 2021 hat die Hiiraan Salvation Army kurzfristig die Kontrolle über Belet Weyne übernommen, um einen Besuch des Präsidenten von HirShabelle zu verhindern; sie zog sich aber dann zurück. Zum Jahreswechsel 2021/2022 kam es in der Nähe von Belet Weyne zu Kämpfen zwischen beiden Seiten, acht Menschen wurden getötet und elf weitere verletzt. Die Kampfhandlungen endeten nach Intervention von Ältesten (LIB).

Aufgrund dieser Zuspitzung der Rivalität zwischen lokalen Clans und der Regierung von HirShabelle kam es zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage um Belet Weyne. In der Stadt selbst ist die Sicherheitslage unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken der al Shabaab. In der Stadt befinden sich das Regionalkommando der Bundesarmee sowie Stützpunkte dschibutischer ATMIS-Truppen und der äthiopischen Armee. Zusätzlich gibt es einzelne Polizisten und Teile einer Formed Police Unit von ATMIS. Zudem gibt es eine relativ starke Bezirksverwaltung und lokal rekrutierte Polizeikräfte. Clankonflikte werden nicht in der Stadt, sondern mehrheitlich außerhalb ausgetragen. Die in Belet Weyne vorhandene Präsenz der al Shabaab scheint kaum relevant. Allerdings kam es am 23.3.2022 zu zwei schweren Anschlägen der Gruppe. Dabei wurden in Belet Weyne 47 Personen getötet und 90 verletzt. Unter den Toten fand sich auch eine neugewählte Abgeordnete zum somalischen Unterhaus; nach anderen Angaben wurden sogar 50 Menschen getötet und 106 verletzt. Bereits im Feber 2022 waren bei einem Anschlag auf eine Wahlveranstaltung in Belet Weyne mindestens 18 Menschen getötet worden (LIB).

Bewohner von Buulo Barde beklagten sich im Feber 2021, dass ihr Bezirk von al Shabaab abgeriegelt worden ist. Im September 2021 haben die Islamisten auch den dortigen Flughafen überfallen. Im Bezirk Matabaan kam es Ende Juni 2022 zu schweren Kämpfen zwischen Regierungskräften und al Shabaab (LIB).

Vorfälle: In den beiden Regionen Hiiraan und Middle Shabelle lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 1,04 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 64 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 39 dieser 64 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es 32 derartige Vorfälle (davon 24 mit je einem Toten) (LIB).

1.4.3. Al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022

Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz. Zuletzt hat al Shabaab an Macht gewonnen. Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen. Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia. Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah. Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (LIB).

Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit. römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben. Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (LIB).

Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen. Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten. Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung. Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei. Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (LIB).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität. Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (LIB).

Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung. Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (LIB).

Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiterbestehen. Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen. Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattet letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (LIB).

Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft. Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel. Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (LIB).

Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk. Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer, jedenfalls mindestens 10.000 Mann an permanent verfügbarer Kampftruppe; mit einer Hinzunahme diverser Dorfmilizen ist diese Zahl vervielfachbar. Eine Quelle vom Mai 2021 spricht von 5.000-10.000 (bewaffneten) Angehörigen der al Shabaab. Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln. Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk. Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann. Der Amniyad ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyad ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig. Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen. Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (LIB).

Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen. Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (LIB).

Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern. Gemäß einer Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus. Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen. In den meisten Städten verfügt die Gruppe zudem über Schattenverwaltungen. "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt"; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (LIB).

Kapazitäten: Al Shabaab hat insgesamt an Stärke gewonnen - auch hinsichtlich personeller und materieller Kapazitäten. Die Gruppe weitet ihren Einfluss ständig aus – nicht nur in den eigenen Gebieten, sondern auch in den nominell unter Kontrolle der Regierung befindlichen Landesteilen. Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z.B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (LIB).

Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Kapitel "Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen"]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem, dort wird alles und jeder besteuert. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022, Sitzung 10). Mit Steuereinnahmen kann al Shabaab genug Geld generieren, um die Rebellion auch hinkünftig aufrechterhalten zu können (LIB).

Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen. Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen. In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (LIB).

Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat. Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel. So wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (LIB).

Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen US-Dollar generieren. Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh; sowie auf manche Dienstleistungen. Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird. Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (LIB).

1.4.4. Rechtsschutz, Justizwesen – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022

Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden. Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (LIB).

Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtsprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen. Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (LIB).

Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere, und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene. Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit. Diese wird von al Shabaab etwa durch die Einhebung von Steuern und die Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte untergraben. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen. Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (LIB).

Formelle Justiz - Kapazität: De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem. Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten. In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet. Generell sind Gerichte aber nur in größeren Städten verfügbar. Der Verfassungsgerichtshof ist immer noch nicht eingerichtet worden. An allen Gerichten mangelt es dem Personal an Ausbildung. Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt. Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes. Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt. Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt, v. a. außerhalb urbaner Zentren nicht vorhanden. Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig. Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (LIB).

Formelle Justiz - Qualität und Unabhängigkeit: Eine landesweite Implementierung und einheitliche Anwendung der von der somalischen Bundesregierung vorgegebenen Bestimmungen ist nicht gesichert. In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt, und nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz. Außerdem werden Urteile durch Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst. Die meisten der in der Verfassung vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nicht angewendet. Nationales oder internationales Recht werden bei Fest- oder Ingewahrsamnahme sowie beim Vorgerichtstellen von Tatverdächtigen nur selten eingehalten. Verfahren dauern sehr lang (LIB).

Die somalische Justiz ist zudem von Korruption geprägt. Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren. Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder. In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten. Zusätzlich halten sich Behörden oft selbst nicht an gerichtliche Anordnungen). In anderen Worten ist [Zitat] 'die soalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden'. Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen. Insgesamt stehen Zivilisten also ernsten Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (LIB).

Formelle Justiz – Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig. Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen, bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren. Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (LIB).

Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller. Auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist Xeer von Bedeutung. Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung eine Policy zu traditioneller Konfliktlösung verabschiedet. Damit sollte die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert (LIB).

Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert. Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen. Jedenfalls dient diese Art der Justiz im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten. Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet. Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität. Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück, in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer. Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIB).

Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen. Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan. Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (LIB).

Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei. Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen. Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt. Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (LIB).

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle, denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden. Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (LIB).

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler. Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen. Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren. Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv usammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z. B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (LIB).

In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält. Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (LIB).

Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten. Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen. Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (LIB).

Recht bei al Shabaab: In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten wird das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt. Dort ersetzt islamisches Recht auch Xeer; nach anderen Angaben kommt Xeer fallweise zum Einsatz. Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem. Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (, es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LIB).

Al Shabaab unterhält in den von ihr kontrollierten Gebieten ständige, von Geistlichen geführte Gerichte, welche ein breites Spektrum an straf- und zivilrechtlichen Fällen abhandeln. Zusätzlich gibt es auch mobile Gerichte. Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch. Al Shabaab wendet eine zum Teil extreme Sichtweise und Auslegung der Scharia an. In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch. Al Shabaab inhaftiert Personen für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören, den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes, unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs. Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LIB).

Die Gerichte der al Shabaab werden als gut funktionierend, effektiv, weniger korrupt, schnell und im Vergleich fairer beschrieben – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung. Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden. Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt, bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – selbst Personen aus von der Regierung kontrollierten. So begeben sich z. B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen. Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz. Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren. So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen. Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt. Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch, mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (LIB).

Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage. Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIB).

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen. Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (LIB).

1.4.5. Sicherheitsbehörden – Süd-/Zentralsomalia, Puntland

1.4.5.1. Ausländische Kräfte - Letzte Änderung: 26.07.2022

Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde. AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv. Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024. Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident. Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (LIB).

Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten. ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab. Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung, die in großem Maße von den Kräften der AMISOM abhängig ist (LIB).

AMISOM hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann. Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert. Bis Ende 2022 ist ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (LIB).

AMISOM wird maßgeblich von der EU finanziert. Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren während die UN für logistische Unterstützung sorgt. Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (LIB).

Im Land befindet sich auch eine auf 1.040 Polizisten mandatierte ATMIS-Polizeikomponente unterschiedlicher afrikanischer Teilnehmerstaaten (Uganda, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, Kenia und Sambia). Die Hauptaufgabe von ATMIS ist hier u. a. die Unterstützung der somalischen Polizei bei der Polizeiarbeit und die Ausbildung somalischer Polizisten (LIB).

Neben den fünf Armeen der AMISOM-Truppenstellerstaaten sind in Somalia noch Militärberater aus zahlreichen anderen Staaten aktiv. Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von AMISOM ausgestattet. Eine Quelle berichtet von vermutlich drei (teils verstärkten) Bataillonen und insgesamt geschätzten 2.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug. Bereits abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (LIB).

Die USA haben die Eliteeinheit Danaab ausgebildet. Allerdings wurden die US-Truppen abgezogen, dieser Abzug war mit Mitte Jänner 2021 offiziell abgeschlossen. 2022 wurde die Entscheidung zum Abzug revidiert. Nun sollen wieder bis zu 500 Soldaten in Somalia stationiert werden, um somalische Truppen auszubilden, zu beraten und auszurüsten. Sie werden in Bali Doogle stationiert – samt Drohnen und Hubschraubern. Zusätzlich befinden sich im Land 50 Soldaten aus Großbritannien. Diese führen ein Trainingsprogramm für somalische Kräfte in Baidoa durch (LIB).

1.4.6. Religionsfreiheit – Letzte Änderung: 26.07.2022

Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam. Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an. Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche. Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (LIB).

1.4.6.1. Gebiete unter Regierungskontrolle – Letzte Änderung: 26.07.2022

Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist. Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt, alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (LIB).

Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände. Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen. Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten. Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit. Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (LIB).

Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet. Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (LIB).

1.4.6.2. Gebiete von al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022

In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt. Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch. Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten. Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren. Auf Apostasie steht die Todesstrafe. Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (LIB).

In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt. Al Shabaab verbietet dort generell „un-islamisches Verhalten“ - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung. Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (LIB).

1.4.7. Minderheiten und Clans – Letzte Änderung: 26.07.2022

[Zu Clanschutz siehe auch Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen]

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen. Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben. Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt. In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz und für ökonomische sowie politische Partizipation. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten. Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (LIB).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor. Weder das traditionelle Recht (Xeer) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren. Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen. Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile. Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet. Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei. Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIB).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (LIB).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel. Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten. Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert. Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen. So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (LIB).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion. Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Zudem mangelt es ihnen an Remissen. Haushalte, die einer Minderheit angehören, stehen einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u. a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (LIB).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden. In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (LIB).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt. Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten. Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet. Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab. Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (LIB).

1.4.7.1. Bevölkerungsstruktur – Letzte Änderung: 26.07.2022

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen. Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar. Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft. Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist. Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden. Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren. Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern. Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB).

Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden:

●             Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

●             Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

●             Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

●             Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

●             Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie. Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (LIB).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern. In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (LIB).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind. Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine „falsche“ Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (LIB).

1.4.7.2. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation – Letzte Änderung: 13.06.2022

Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums. Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich. Sie werden aber als minderwertig und mitunter als Fremde erachtet. So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (LIB).

Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war. Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler. In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (LIB).

Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status, Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (LIB).

1.4.7.3. Berufsständische Minderheiten, aktuelle Situation – Letzte Änderung: 13.06.2022

Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung. Sie sind somalischen Ursprungs, wurden aber von den traditionellen Clan-Lineages ausgeschlossen. Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können. Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet - etwa Jäger, Lederverarbeiter, Schuster, Friseure, Töpferinnen, traditionelle Heiler oder Hebammen. Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir. Ein anderer Sammelbegriff ist Midgan (LIB).

Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye. In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LIB).

Die berufsständischen Kasten werden zudem diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse erachtet. Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Daher sind sie nur in geringerem Maß in der Lage, Kompensation zu zahlen oder Blutrache anzudrohen. Insgesamt ist die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Hinzu kommt, dass diese Minderheiten in der Regel eine tendenziell schlechtere Kenntnis des Rechtssystems haben. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen. Außerdem verlassen viele Kinder die Schule früher, um zu arbeiten. Viele Familien sind auf derartige Einkommen angewiesen. Die meist schlechtere Bildung wiederum führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann. Da berufsständische Gruppen nur über eine kleine Diaspora verfügen, profitieren sie zudem in geringerem Ausmaß von Remissen als Mehrheitsclans (LIB).

Dennoch sind vereinzelt auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft (LIB).

Mischehe: In dieser Frage kommt es weiterhin zu einer gesellschaftlichen Diskriminierung, da Mehrheitsclans Mischehen mit Angehörigen berufsständischer Gruppen meist nicht akzeptieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Mehrheitsfrau einen Minderheitenmann heiratet. Der umgekehrte Fall ist weniger problematisch. Aufgrund dieses teils starken sozialen Drucks kommen Mischehen äußerst selten vor. Diesbezüglich bestehen aber regionale Unterschiede: Im Clan-mäßig homogeneren Norden des somalischen Kulturraums sind Mischehen seltener und gleichzeitig stärker stigmatisiert als im Süden. Hawiye und Rahanweyn sehen die Frage der Mischehe weniger eng. Außerdem ist der Druck auf Mischehen insbesondere in ländlichen Gebieten ausgeprägt. In Mogadischu sind Mischehen möglich. Auch al Shabaab hat Hindernisse für Mischehen beseitigt, in ihren Gebieten kommt es zunehmend zu solchen Eheschließungen. Die Gruppe hat Fußsoldaten, die zu Gruppen mit niedrigem Status gehören, dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (LIB).

Eine Mischehe führt so gut wie nie zu Gewalt oder gar zu Tötungen. Seltene Vorfälle, in denen es etwa in Somaliland im Zusammenhang mit Mischehen zu Gewalt kam, sind in somaliländischen Medien dokumentiert. Trotzdem können diese Ehen negative Folgen für die Ehepartner mit sich bringen – insbesondere, wenn der Mann einer Minderheit angehört. So kommt es häufig zur Verstoßung des aus einem "noblen" Clan stammenden Teils der Eheleute durch die eigenen Familienangehörigen. Letztere besuchen das Paar nicht mehr, kümmern sich nicht um dessen Kinder oder brechen den Kontakt ganz ab; es kommt zu sozialem Druck. Diese Art der Verstoßung kann vor allem in ländlichen Gebieten vorkommen. Eine Mischehe sorgt auf jeden Fall für Diskussionen und Getratsche, nach einer gewissen Zeit wird sie aber meist akzeptiert (LIB).

1.4.8. Relevante Bevölkerungsgruppen

1.4.8.1. Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und andere terroristische Gruppen –Letzte Änderung: 27.07.2022

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

-             Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS;

-             nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter;

-             Angehörige der Sicherheitskräfte;

-             Regierungsangehörige, Parlamentarier und Offizielle; al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen;

-             mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten;

-             Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen;

-             Wirtschaftstreibende, insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen

-             Älteste und Gemeindeführer;

-             Wahldelegierte und deren Angehörige; dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich. Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen;

-             Angehörige diplomatischer Missionen;

-             prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten;

-             religiöse Führer;

-             Journalisten und Mitarbeiter von Medien;

-             Telekommunikationsarbeiter;

-             mutmaßliche Kollaborateure und Spione;

-             Deserteure;

-             als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten);

-             (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS; den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (LIB).

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (LIB).

Kollaboration: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden. Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird. Z. B. wurde im Feber 2022 in Buulo Fulay (Bay) ein Mann hingerichtet, dem Spionage für die äthiopischen Streitkräfte und die Kräfte des SWS vorgeworfen wurde. Alleine im Zeitraum Mai-Juli 2021 wurden von al Shabaab 19 Zivilisten öffentlich hingerichtet – 18 davon wegen vorgeblicher Spionage und eine Person wegen Mordes (LIB).

Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten. Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt. So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an. Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden. So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet. Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (LIB).

Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein „Angebot“ von al Shabaab abzulehnen (LIB).

Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und AMISOM [nunmehr ATMIS]. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (LIB).

Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden. So greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden. Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann. Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (LIB).

Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet. Nach Angaben eines Journalisten wiederum kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecke). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (LIB).

Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (LIB).

Der sogenannte Islamische Staat (IS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des IS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v.a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (LIB).

2.          Beweiswürdigung:

2.1.      Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Feststellung des spätestmöglichen Geburtsdatums folgt dem von der belangten Behörde eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung vergleiche AS 73-88), in dem schlüssig und nachvollziehbar dargelegt wird, dass der Beschwerdeführer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor diesem Datum geboren wurde vergleiche AS 80). Der Beschwerdeführer trat den Ergebnissen dieses Gutachtens inhaltlich nicht entgegen, er wandte sich in der Beschwerde lediglich dagegen, dass die Behörde ein kalendarisch bestimmtes „fiktives“ Geburtsdatum festgestellt habe vergleiche AS 256). Davon wurde im gegenständlichen Erkenntnis ohnehin abgesehen. Entgegen dem Beschwerdevorbringen lässt sich aus Artikel 8, EMRK aber keinesfalls ableiten, dass die Behörde jedenfalls vom durch den Beschwerdeführer angegebenen Alter auszugehen habe, auch wenn dieses – wie hier – in Widerspruch zu sonstigen Beweisergebnissen (dem Sachverständigengutachten) steht.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Clan- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinen Familienangehörigen, seinem Familienstand, seinem Aufwachsen in Somalia, seiner fehlenden Schulbildung, seiner Arbeitserfahrung und seiner Ausreise gründen sich auf die diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben vor der Behörde und in der mündlichen Verhandlung. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 3). Seine Arbeitsfähigkeit folgt aus seinem Alter und seinem Gesundheitszustand.

2.2.      Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.2.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 liegt es auch am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.

Das Asylverfahren bietet, wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach Paragraph 15, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt vergleiche VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten –genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.

2.2.2. Der Beschwerdeführer konnte sein Fluchtvorbringen, er und sein Vater seien von Al-Shabaab beschuldigt worden, Informationen an die AMISOM-Truppen weitergegeben zu haben, und sein Vater sei deshalb von Al-Shabaab mitgenommen und getötet worden, nicht glaubhaft machen. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen. Insbesondere weisen seine Angaben eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten auf, die er nicht plausibel auflösen konnte. Sein Vorbringen blieb auch ausgesprochen oberflächlich und vage und erwies sich vor dem Hintergrund der Länderberichte als nicht plausibel.

In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass Männer von der Miliztruppe Al-Shabaab seinen Vater getötet und ihn mit dem Tod bedroht hätten. Sie hätten ihn beschuldigt, seinem Vater geholfen zu haben, den sie als AMISOM-Mitarbeiter beschuldigt hätten. Sein Vater sei ein Kraftfahrer gewesen und habe mit AMISOM nichts zu tun gehabt. Aus Angst von Al-Shabaab habe er Somalia verlassen. Weitere Fluchtgründe habe er nicht. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass er von Al-Shabaab getötet werde vergleiche AS 35).

In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er Somalia verlassen habe, da eines Tages Al-Shabab-Mitglieder zu ihnen nachhause gekommen seien. Sie hätten versucht, seinen Vater zu entführen, was die Familie verhindern habe wollen. Sein Vater habe gesagt, dass er ein Arbeiter sei und sich um seine Kinder kümmern müsse und daher nicht mitgehen könne. Sie hätten seinen Vater und dessen Lkw mitgenommen, auch den Beschwerdeführer hätten sie mitnehmen wollen. Seine Mutter, die versucht habe, es zu verhindern, sei von den Al-Shabab-Mitgliedern zusammengeschlagen und verletzt worden. Am nächsten Tag sei sie zur örtlichen Polizei gegangen und habe eine Anzeige erstattet und Angaben zu den Tätern gemacht. Sie sei gebeten worden, in zwei Tagen zurückzukommen. Zwei Tage später habe seine Mutter bei der Polizei erfahren, dass der Lkw völlig ausgebrannt gefunden worden sei und dass die Leiche des Vaters, der erschossen worden sei, auch gefunden worden sei. Sie hätten sehen können, dass Blut auf dem Hemd seines Vaters gewesen sei, sodass sie angenommen hätten, dass er erschossen worden sei. Sie hätten seine Mutter gebeten, von römisch 40 wegzugehen. Deshalb habe diese zum Beschwerdeführer gesagt, dass er Somalia verlassen solle, da sie ihn nicht beschützen könne. Sie habe einen Schlepper organisiert, der ihn nach Mogadischu gebracht habe, von wo aus er nach zehn Tagen nach Kenia weitergeschleppt worden sei. Es sei mehrmals, insgesamt dreimal, zu Vorfällen mit der Al-Shabab gekommen. Der Beschwerdeführer sei immer im Auto mit seinem Vater dabei gewesen. Beim ersten Vorfall habe Al-Shabab seinen Vater gefragt, ob er mit der AMISOM zusammenarbeite. Sie hätten gesagt, dass sie ihn die ganze Zeit verfolgt hätten und er für die AMISOM spionieren würde. Beim zweiten Vorfall hätten sie ihnen wieder vorgeworfen, dass sie die AMISOM unterstützen würden. Nach dem zweiten Vorfall hätten sie ohne Probleme weiterfahren dürfen. Beim dritten Vorfall, am 05.11.2020, sei Al-Shabab zu ihnen nachhause gekommen. Er persönlich sei nicht der Zusammenarbeit mit AMISOM beschuldigt worden vergleiche AS 140-144).

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er Somalia verlassen habe, weil ihm und seiner Familie Probleme passiert seien. Eines Abends seien bewaffnete Männer zu ihnen nachhause gekommen, sie hätten Gewehre in der Hand gehabt und seien vermummt gewesen. Sie seien gewaltsam in das Haus eingedrungen und hätten seinen Vater herausgeholt und mitgenommen. Sie hätten seine Mutter gefragt, ob sein Vater mit den AMISOM-Truppen arbeite, und warum er einen Lkw habe und zwischen den Städten hin- und herfahre und Sachen transportiere, ohne dass er Probleme mit den AMISOM-Truppen bekomme. Al-Shabaab habe seinen Vater beobachtet und geglaubt, dass er Infos über sie weiterleite. Seine Mutter habe gesagt, dass ihr Mann nichts mit den ganzen Sachen zu tun habe. Er arbeite und versorge seine Kinder. Aufgrund der lauten Stimmen sei der Beschwerdeführer hinausgegangen. Die Al-Shabaab-Männer hätten ihn dann gesehen und gesagt, dass er seinen Vater immer begleitet habe. Er habe sicher auch Informationen über sie weitergeleitet. Sie hätten ihn dann ebenfalls mitnehmen wollen. Seine Mutter habe das verhindern wollen, woraufhin sie sie geschlagen hätten. Sie habe geschrien und die Männer gebeten, nicht auch noch ihren Sohn mitzunehmen. Dann hätten sie ihn zuhause gelassen. In der Früh sei seine Mutter zur Polizei gegangen und habe alles erzählt. Die Polizei habe gesagt, sie solle in zwei Tagen zurückkommen. Dann nach zwei Tagen habe die Polizei ihr erzählt, dass die Leiche des Vaters außerhalb der Stadt gefunden worden sei. Sein Wagen sei auch verbrannt gewesen. Sie hätten nicht die Leiche des Vaters gefunden, aber seine Kleidung sei voll Blut gewesen. So habe die Polizei bestätigt, dass er getötet worden sei. Sein Wagen sei außerhalb der Stadt verbrannt gefunden worden. Die Polizei habe zu seiner Mutter gesagt, dass sie sie nicht schützen könnten. Sie sollten aus der Stadt weg. Weil er das älteste Kind der Familie sei, habe ihm seine Mutter davon erzählt und gesagt, dass sie ihn auch umbringen würden. Sie habe Kontakt zu einem Mann hergestellt, der ihn nach Mogadischu und zehn Tage später nach Kenia gebracht habe. Bereits vor diesem Vorfall seien die Männer zwei Mal zu seinem Vater gekommen und hätten ihm vorgeworfen, für die Truppen zu arbeiten und Informationen über sie an die Truppen weiterzuleiten. Sein Vater habe das jeweils abgestritten und dann seien sie wieder gegangen vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 7-10).

2.2.3. Diese Angaben des Beschwerdeführers weisen zum einen eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten in für das Fluchtvorbringen zentralen Punkten auf. So verneinte er in der behördlichen Einvernahme auf entsprechende Nachfrage zunächst noch ausdrücklich, auch persönlich der Zusammenarbeit mit AMISOM beschuldigt worden zu sein vergleiche AS 141). Als die belangte Behörde dies unter Hinweis auf seine Rolle als Beifahrer seines Vaters hinterfragte, antwortete er zwar – in plötzlicher Abkehr von seiner vorherigen Antwort – vage, sie hätten ihm „das gesagt“, als sie ihn entführen hätten wollen vergleiche AS 142). In seinen sonstigen Angaben in der Einvernahme erwähnte er aber mit keinem Wort, dass auch er von Al-Shabaab beschuldigt worden sei. Als er etwa gefragt wurde, wie die Bedrohung der Al-Shabaab ihm gegenüber gelautet habe, sagte er nur, sie hätten ihm gesagt, dass „der Vater für die AMISOM arbeiten würde“ vergleiche AS 143). In der mündlichen Verhandlung hingegen gab der Beschwerdeführer an, dass die Al-Shabaab-Mitglieder ihn (am Abend der Entführung seines Vaters) gesehen und gesagt hätten, dass er immer seinen Vater begleitet habe. Er sei „auch dabei“ gewesen und habe sicher Informationen über sie weitergeleitet. Deshalb hätten sie ihn ebenfalls mitnehmen wollen vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 8). Dies steht in klarem Widerspruch zu seinen Angaben in der behördlichen Einvernahme, in denen er einen solchen Austausch nicht nur nicht erwähnt, sondern sogar ausdrücklich verneint hat, persönlich beschuldigt worden zu sein. Aufgrund der Abfolge der Angaben liegt nahe, dass der Beschwerdeführer mit seiner späteren Version bloß auf den Vorhalt der Behörde („Wieso nicht, da Sie der Beifahrer des Vaters waren?“, vergleiche AS 142) reagieren wollte, die zum Ausdruck gebracht hatte, seine erste Antwort nicht für plausibel zu halten.

Des Weiteren machte der Beschwerdeführer völlig widersprüchliche Angaben dazu, ob die Leiche seines Vaters nach der vermeintlichen Ermordung durch Al-Shabaab gefunden werden konnte. In seiner Einvernahme vor der belangten Behörde gab er an, seine Mutter habe von der Polizei erfahren, dass die Leiche des Vaters erschossen aufgefunden worden sei vergleiche AS 140). In der mündlichen Verhandlung sagte er zunächst ebenfalls, die Polizei habe seiner Mutter erzählt, dass die Leiche außerhalb der Stadt gefunden worden sei. Kurz darauf rückte er davon jedoch wieder ab und gab widersprüchlich an, sie hätten die Leiche nicht gefunden. Seine Kleidung sei voller Blut gewesen und (nur) so habe die Polizei bestätigt, dass der Vater getötet worden sei vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 8). Der Beschwerdeführer erläuterte nicht, warum er von seinen diesbezüglichen Angaben in der Einvernahme und anfänglich auch in der Verhandlung in deren Verlauf plötzlich abging und das Gegenteil behauptete. Dieser unaufgelöste Widerspruch betrifft ebenso einen zentralen Aspekt des Fluchtvorbringens und wiegt entsprechend schwer.

Auch die Frage, wie und wo er die Zeit zwischen seiner Flucht aus der Heimatstadt und der endgültigen Ausreise aus Somalia verbracht habe, beantwortete der Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens unterschiedlich. In der behördlichen Einvernahme sagte er zunächst, dass er die letzten zwei Wochen vor der Ausreise bei Verwandten in Mogadischu gelebt habe vergleiche AS 139). Später in derselben Einvernahme gab er jedoch an, die zehn Tage vor der Ausreise in Mogadischu an einem ihm unbekannten Ort in der Schlepperunterkunft verbracht zu haben vergleiche AS 144). Diese beiden Darstellungen schließen einander jedenfalls aus, was nahelegt, dass sich der Beschwerdeführer überhaupt nicht – wie bei einer plötzlichen Flucht zu erwarten wäre – vorübergehend, bis seine Ausreise organsiert werden konnte, in Mogadischu aufhalten musste. In der mündlichen Verhandlung sagte er, dass er diese Angabe aus der behördlichen Einvernahme richtigstellen wolle. Er sei in Mogadischu nicht bei seiner Familie, sondern bei einem Schlepper gewesen vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 4-5). Der Beschwerdeführer erklärte jedoch nicht, warum er dies in der Einvernahme dann anders angegeben hat. Dass seine Aussage bloß falsch übersetzt oder protokolliert worden wäre, behauptete er im gesamten Verfahren nicht. Insofern löst die „Richtigstellung“ den genannten Widerspruch nicht auf, sondern ist vielmehr als Reaktion auf die Berücksichtigung des Widerspruchs in der Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides vergleiche AS 206) zu sehen.

Als unter Berücksichtigung des übrigen Vorbringens absolut nicht nachvollziehbar erwies sich auch die Aussage des Beschwerdeführers, dass er die ihm gegenüber geäußerte Drohung von Al-Shabaab „nicht ernst genommen“ habe vergleiche AS 143-144). Diese hätten zu ihm gesagt, dass sein Vater für AMISOM arbeite und dass sie ihn (den Beschwerdeführer) töten würden. Dies sei am Abend des 05.11.2020, somit im Zuge der Entführung seines Vaters, gewesen. Es ist aber nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer eine Todesdrohung durch Al-Shabaab nicht ernst genommen hätte, zumal diese zugleich seinen Vater entführt, seine Mutter geschlagen und auch versucht hätten, ihn selbst mitzunehmen. In der mündlichen Verhandlung beschrieb er die Al-Shabaab-Mitglieder als mit Gewehren bewaffnete, vermummte Männer, die gewaltsam in das Haus eingedrungen seien vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 7). Unter diesen Umständen ist die Behauptung, er habe die Drohung der Al-Shabaab nicht ernst genommen, nicht plausibel und lebensnah und damit letztlich nicht glaubhaft.

Ebenso nicht nachvollziehbar ist die Behauptung, der Mutter des Beschwerdeführers sei es gelungen, Al-Shabaab von seiner Mitnahme abzuhalten. In der Verhandlung gab er dazu an, seine Mutter habe geschrien und die Männer gebeten, nicht auch noch ihren Sohn mitzunehmen, woraufhin diese ihn zuhause gelassen hätten vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 8). Wären die Al-Shabaab-Mitglieder aber wie behauptet davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer „sicher“ Informationen über sie weitergeleitet habe, wäre nach den vorliegenden Länderinformationen aber anzunehmen, dass sie ihn keinesfalls bloß aus Mitleid mit seiner Mutter verschont hätten. Den Länderberichten (siehe Punkt 1.4.8.1.) ist zu entnehmen, dass „mutmaßliche Kollaborateure und Spione“ zu jenen Personengruppen gehören, die besonders von gezielten Attentaten durch Al-Shabaab bedroht sind. Kollaborateure werden demnach – meist nach unfairen Verfahren – getötet, wobei die Schwelle dafür, was Kollaboration sei, sehr niedrig angesetzt wird. Das vom Beschwerdeführer geschilderte Vorgehen von Al-Shabaab erscheint daher insbesondere auch vor dem Hintergrund der Länderberichte nicht glaubhaft. Dasselbe gilt für die Behauptung, sein Vater und er hätten nach den ersten beiden Anhaltungen durch Al-Shabaab, bei denen seinem Vater ebenfalls schon vorgeworfen worden sei, mit AMISOM zusammenzuarbeiten und für diese zu spionieren, „ohne Probleme weiterfahren“ dürfen vergleiche AS 141).

Zudem schilderte der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen in wichtigen Punkten auch auffällig oberflächlich und vage und damit im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht ausreichend substantiiert. Nähere Details zum Ablauf der behaupteten Ereignisse brachte er sowohl vor der belangten Behörde als auch in der mündlichen Verhandlung wiederholt nicht von selbst, sondern, wenn überhaupt, erst auf ausdrückliche Nachfrage bzw. Aufforderung des Einvernahmeleiters bzw. der erkennenden Richterin vor. Besonders augenscheinlich war dies jeweils betreffend die der Entführung vermeintlichen vorausgegangenen, früheren Begegnungen mit Al-Shabaab. In beiden Befragungen erwähnte er diese nicht von sich aus in der freien Erzählung der Fluchtgründe, sondern erst auf Nachfrage, ob es öfter bzw. wie oft es zu derartigen Vorfällen gekommen sei. Der Beschwerdeführer konnte diese Vorfälle zugleich nicht einmal mit grundlegenden zeitlichen und örtlichen Details plausibilisieren. Von der Behörde befragt, wann es zum zweiten derartigen Vorfall mit Al-Shabaab gekommen sei, antwortete er, dass sie am 05.11.2020 zu ihnen gekommen seien. Das sei am Tag gewesen, als er geflüchtet sei vergleiche AS 141). Damit bezog er sich aber offensichtlich auf den letzten („dritten“) Vorfall, die Entführung seines Vaters. Als er daraufhin befragt wurde, wann es zum dritten Vorfall gekommen sei, sagte er nur, dass er das nicht wisse. Er konnte oder wollte damit keine der beiden früheren Begegnungen zeitlich einordnen. Es wäre nicht erforderlich gewesen, ein exaktes Datum zu nennen, aber der Beschwerdeführer hätte zumindest in der Lage sein müssen, diese Vorfälle relativ zur späteren Entführung einzuordnen, also anzugeben, ob sie sich etwa Tage, Wochen oder Monate vor dieser ereignet hätten. Auch in der mündlichen Verhandlung nannte er betreffend diese Begegnungen keine weiteren Details, sondern wiederholte nur in verschiedenen Formulierungen die gegen seinen Vater erhobenen Vorwürfe vergleiche Niederschrift 30.06.2022, Sitzung 8-9). Durch dieses Aussageverhalten entstand insgesamt der Eindruck, dass der Beschwerdeführer bewusst von selbst nur wenige Einzelheiten vorbrachte, um sich nicht in (weitere) Widersprüche zu verstricken und seine Antworten besser abwägen zu können.

Das Bundesverwaltungsgericht übersieht bei der Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen nicht, dass er im Zeitpunkt der vorgebrachten Ereignisse und des Verlassens seines Heimatlandes noch minderjährig gewesen wäre bzw. war. Der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend ist in diesen Fällen eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich und die Dichte dieses Vorbringens kann nicht mit „normalen Maßstäben“ gemessen werden vergleiche VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0150). Allerdings wäre der Beschwerdeführer auch zum Zeitpunkt der behaupteten Ereignisse im November 2020 bereits 17 Jahre alt gewesen. Es kann durchaus erwartet werden, dass sich jemand an in diesem Alter erlebte bedeutsame Erlebnisse knapp drei Jahre später zumindest noch einigermaßen detailliert erinnern würde. Die Ungereimtheiten im Vorbringen des Beschwerdeführers betreffen wie dargelegt nicht bloße Details, sondern zentrale Aspekte der Fluchtgeschichte, und waren damit zu groß, um allein durch seine Minderjährigkeit bei Ausreise erklärt werden zu können. Es ist auch maßgeblich zu beachten, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Asylantragstellung und damit bei all seinen Einvernahmen in Österreich bereits volljährig war.

In einer Gesamtschau dieser beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere der genannten Widersprüche und Ungereimtheiten in zentralen Punkten, der vagen und detailarmen Schilderung und der fehlenden Plausibilität vor dem Hintergrund der Länderberichte, konnte der Beschwerdeführer eine ihm und seinem Vater durch Al-Shabaab unterstellte Kollaboration mit AMISOM und darauffolgende Entführung und Ermordung seines Vaters nicht glaubhaft machen.

Daraus ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer auch bei einer Rückkehr nach Somalia individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Al-Shabaab oder andere Personen droht.

2.2.4. Als weiteren Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer erstmals in der Beschwerde vor, er sei sein ganzes Leben lang aufgrund seiner Clanzugehörigkeit zu den Madhibaan Diskriminierungen ausgesetzt gewesen, die ihm das Leben in Somalia unzumutbar gemacht hätten. Die Madhibaan seien schweren sozialen, politischen, gerichtlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt und unverhältnismäßig stark von Gewalt betroffen, auch in Mogadischu vergleiche AS 248). In der mündlichen Verhandlung gab er dazu an, dass er wegen seiner Clanzugehörigkeit nicht die Schule besucht habe, auch nicht die Koranschule. Seine jüngeren Geschwister hätten nur die Koranschule besucht. Er habe sich wegen der Clanzugehörigkeit mit den anderen Kindern nicht einleben können, diese hätten ihn diskriminiert und rassistische Äußerungen gemacht, etwa am Spielplatz vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 10).

Den vorliegenden Länderberichten (siehe Punkt 1.4.7.3.) ist betreffend die Madhibaan zusammengefasst zu entnehmen, dass diese zu den berufsständischen Gruppen gehören und zusammen mit weiteren Gruppen auch unter dem Sammelbegriff Gabooye bekannt sind. Diese Gruppen werden von den traditionellen somalischen Clan-Lineages ausgeschlossen und ihre traditionellen Berufe als unrein oder unehrenhaft erachtet, weshalb sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie stehen. Die berufsständischen Kasten werden diskriminiert und als „Bürger zweiter Klasse“ erachtet. Zu ihrer Diskriminierung trägt bei, dass sie sich weniger strikt organisieren und sie viel ärmer sind. Insgesamt sind die soziale Stufe und die damit verbundene Armut für viele das Hauptproblem. Der Zugang berufsständischer Gruppen zur Bildung ist erschwert, weil an ihren Wohnorten z. B. Schulen fehlen, sie verfügen auch über geringere Kenntnis des Rechtssystems.

Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, aber gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden. Mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye. Vereinzelt sind auch Angehörige berufsständischer Gruppen wirtschaftlich erfolgreich. Auch wenn sie weiterhin die ärmste Bevölkerungsschicht stellen, finden sich einzelne Angehörige in den Regierungen, im Parlament und in der Wirtschaft.

Diese Länderfeststellungen decken sich im Wesentlichen mit den diesbezüglich glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers, weshalb festzustellen war, dass er in Somalia wegen seiner Clanzugehörigkeit als Madhibaan diskriminiert sowie von anderen Kindern beschimpft wurde und aus diesem Grund keine Schule besucht hat. Zugleich lässt sich aber weder seinen eigenen Angaben noch den Länderberichten entnehmen, dass er aufgrund seiner Clanzugehörigkeit in Somalia von Gewalt bedroht wäre, es ist auch bisher aus diesem Grund zu keinen Übergriffen gekommen. Die Angabe des Beschwerdeführers, dass seine jüngeren Geschwister anders als er (zumindest) die Koranschule besucht haben, deckt sich auch mit der Einschätzung der Länderberichte, dass sich die Situation der Gabooye in den letzten Jahrzehnten gebessert hat.

Es war daher festzustellen, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr aufgrund seiner Clanzugehörigkeit weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität droht und die Diskriminierung der Madhibaan nicht das Ausmaß einer Gruppenverfolgung erreicht.

2.3.      Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich, insbesondere zu Aufenthaltsdauer und -titel, seinen Integrationsbemühungen und seinen fehlenden familiären oder vergleichbar engen sozialen Anknüpfungspunkten, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung sowie auf die von ihm im Laufe des Verfahrens vorgelegten Unterlagen.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister. Die gegen ihn erhobene Anklage ergibt sich aus der Verständigung der Staatsanwaltschaft römisch 40 vom 19.07.2022 vergleiche OZ 12).

2.4.      Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia aktuell.

Das Bundesverwaltungsgericht legt der gegenständlichen Entscheidung das erst nach der mündlichen Verhandlung veröffentliche Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Somalia, Version 4 vom 27.07.2022, zugrunde, ohne dass dieses dem Beschwerdeführer erneut zur Stellungnahme übermittelt wurde. Der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung erklärten sich mit dieser Vorgangsweise in der Verhandlung ausdrücklich einverstanden vergleiche Niederschrift vom 30.06.2022, Sitzung 11). Mit E-Mail vom 05.08.2022 wurden die Verfahrensparteien überdies auf das neue Länderinformationsblatt und die Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme hingewiesen.

3.          Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.      Zu Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.              dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2.              der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.

…“

3.1.2. Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.3. Wie festgestellt wurden der Beschwerdeführer und sein Vater in Somalia nicht von Al-Shabaab beschuldigt, Informationen über diese weitergeleitet zu haben. Sein Vater wurde nicht aus diesem Grund entführt und getötet. Da die vom Beschwerdeführer geschilderte Verfolgung sich nicht ereignet hat, droht dem Beschwerdeführer aus diesem Grund auch keine Gefahr bei einer Rückkehr nach Somalia. Es liegt beim Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund vor.

3.1.4. Wie ebenfalls festgestellt wurde der Beschwerdeführer in Somalia aufgrund seiner Clanzugehörigkeit als Madhibaan zwar diskriminiert und beschimpft, er ist aber aus diesem Grund nicht in seiner körperlichen Integrität bedroht. Die Diskriminierung der Madhibaan erreicht nicht das Ausmaß einer Gruppenverfolgung. Es besteht daher auch in diesem Zusammenhang keine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung.

3.1.5. Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers erlaubt es nicht anzunehmen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen.

3.1.6. Im Ergebnis droht dem Beschwerdeführer aus den von ihm ins Treffen geführten oder sonstigen Gründen im Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung.

3.1.7. Die Beschwerde war daher betreffend Spruchpunkt römisch eins. und somit – da sie sich ausdrücklich nur gegen diesen richtete vergleiche AS 243) – zur Gänze als unbegründet abzuweisen.

Zu B)       Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.

In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2022:W261.2252452.1.00