Bundesverwaltungsgericht
19.08.2022
W283 2235914-1
W283 2235914-1/18E
W283 2235917-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Stefanie KUSCHNIG als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) römisch 40 , geb. römisch 40 , vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx und 2.) römisch 40 , geb. römisch 40 , vertreten durch die Mutter römisch 40 als gesetzliche Vertreterin, diese vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, beide StA. Afghanistan, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.09.2020, Zlen. 1.) 1228326508-200211934 und 2.) 1261566407-200211942, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Gemeinsam werden sie in der Folge als Beschwerdeführer bezeichnet. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige Afghanistans.
1. Die Erstbeschwerdeführerin stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet für sich und den Zweitbeschwerdeführer als dessen gesetzliche Vertreterin am 24.02.2020 Anträge auf internationalen Schutz.
Die Erstbefragung fand am selben Tag statt. Die Erstbeschwerdeführerin gab darin nach ihren Fluchtgründen befragt an, dass ihre Familie sie gegen ihren Willen verheiraten habe wollen. Ihr derzeitiger Ehemann und sie würden sich seit ihrer Kindheit kennen und sie habe den anderen Mann nicht heiraten wollen. Deswegen sei sie geflüchtet. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde sie von ihrer Familie getötet werden.
2. Am 26.08.2020 wurde die Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie nach ihren Fluchtgründen befragt an, dass ihr Vater sehr streng gewesen sei und sie geschlagen habe. Ihr Vater und ihre Brüder hätten mehrmals pro Tag Gründe gefunden, um die Erstbeschwerdeführerin, ihre Mutter und ihre Schwestern zu schlagen. Ihr Vater habe sie zudem an eine Familie verheiraten wollen, die ebenfalls streng und aggressiv gewesen sei. Diese Familie habe für die Regierung gearbeitet. Die Erstbeschwerdeführerin habe sich gegen die Eheschließung ausgesprochen und sei deswegen verprügelt worden. Diese Familie und der Vater der Erstbeschwerdeführerin hätten die Erstbeschwerdeführerin zur Eheschließung zwingen wollen, sie habe daher flüchten müssen. Die Tante der Erstbeschwerdeführerin habe von dieser Situation gewusst, die Erstbeschwerdeführerin habe ihr leid getan und sie habe ihr geholfen. Ferner gab sie an, dass Frauen in Afghanistan keine Rechte hätten und dass Weglaufen vor der Familie strafbar sei. Ihr Vater habe das Recht die Erstbeschwerdeführerin zur Aufrechterhaltung der Familienehre zu töten. Die Regierung sei sehr bestechlich, daher würden sie die Erstbeschwerdeführerin überall finden.
3. Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 10.09.2020 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 24.02.2020 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Ihnen wurde der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch II. und römisch III.).
4. Mit Schriftsatz vom 30.09.2020 erhoben die Beschwerdeführer innerhalb offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde. Darin gaben sie im Wesentlichen an, dass die Erstbeschwerdeführerin Verfolgung aufgrund von Vorfällen im Zusammenhang mit der Unterdrückung von Frauen in Afghanistan befürchte, die sie in massiver Weise selbst erfahren habe. Die Erstbeschwerdeführerin könne als westlich orientierte Frau und mit einer Haltung, die den konventionellen afghanischen Werten widerspreche, keinen Schutz staatlicher Behörden erwarten.
5. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.06.2022 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die afghanische Sprache und im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine mündliche Verhandlung durch.
6. Mit Schreiben vom 11.08.2022 wurde den Beschwerdeführern das Länderinformationsblatt zu Afghanistan der Staatendokumentation in der Version vom 10.08.2022 als Parteiengehör zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Eine Stellungnahme dazu ist nicht ergangen.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:
Die Erstbeschwerdeführerin führt den Namen römisch 40 und das Geburtsdatum römisch 40 . Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer führt den Namen römisch 40 und das Geburtsdatum römisch 40 (BF1 = Verfahrensakt der Erstbeschwerdeführerin, AS 11; VP = Verhandlungsprotokoll vom 24.06.2022, Sitzung 9, Sitzung 10). Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und gemeinsam mit ihrem Ehemann gesetzliche Vertreterin des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers (VP Sitzung 3). Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige und gehören der Volksgruppe der Tadschiken an. Sie bekennen sich zum muslimischen Glauben sunnitischer Richtung (BF1 AS 11, AS 131, VP Sitzung 9 f). Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari (BF1 AS 11, VP Sitzung 11).
Die Erstbeschwerdeführerin wurde in römisch 40 (andere Schreibweise: römisch 40 ), in Afghanistan geboren, ist dort aufgewachsen und lebte bis zu ihrer Ausreise dort (BF1 AS 11, AS 13, AS 130, VP Sitzung 12). Der Zweitbeschwerdeführer wurde in Griechenland geboren (BF1 AS 15, AS 133, VP Sitzung 11).
Die Erstbeschwerdeführerin ist Analphabetin. Sie hat im Herkunftsstaat keine Schule besucht. Sie hat auch keine Berufsausbildung. Vor ihrer Ausreise aus Afghanistan war die Erstbeschwerdeführerin Hausfrau. Der Vater der Erstbeschwerdeführerin ist in Afghanistan für ihren Lebensunterhalt aufgekommen (BF1 AS 11, AS 133, 134; VP Sitzung 11 f).
Die Eltern, ein Bruder und die fünf Schwestern der Erstbeschwerdeführerin leben nach wie vor in Afghanistan (BF1 AS 13, AS 131, VP Sitzung 13). Zwei Schwestern der Erstbeschwerdeführerin sind verheiratet und sind Hausfrauen (BF1 AS 131). Drei Schwestern sind ledig, leben beim Vater, gehen nicht zur Schule und arbeiten nicht (BF1 AS 131). Ein Bruder der Erstbeschwerdeführerin lebt in Griechenland (BF1 AS 13). Ein Bruder der Erstbeschwerdeführerin lebt in der Türkei (BF1 AS 131). Ein Onkel und zwei Tanten väterlicherseits der Erstbeschwerdeführerin leben in Afghanistan. Zudem leben drei Tanten und zwei Onkel mütterlicherseits der Erstbeschwerdeführerin in Afghanistan. Ein Onkel mütterlicherseits der Erstbeschwerdeführerin lebt im Iran (BF1 AS 132). Zudem hat sie viele Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen väterlicherseits im Herkunftsstaat (BF1 AS 133). Drei Cousins der Erstbeschwerdeführerin leben in England, zwei Cousins leben in Deutschland (Akt BF1 AS 135).
Die Erstbeschwerdeführerin steht nicht in Kontakt zu ihren Familienangehörigen im Herkunftsstaat (BF1 AS 133, VP Sitzung 14).
Die Erstbeschwerdeführerin ist mit dem Vater des Zweitbeschwerdeführers, römisch 40 , geb. römisch 40 , traditionell verheiratet (BF1 AS 13, 132, 139 – 155, VP Sitzung 10, Sitzung 32 f). Dieser ist in Wien wohnhaft und ist in Österreich subsidiär schutzberechtigt (BF1 AS 132, VP Sitzung 32 f, Zentrales Fremdenregister). Er ist auch Vater der am römisch 40 geborenen Tochter der Erstbeschwerdeführerin namens römisch 40 . Diese ist in Österreich ebenfalls subsidiär schutzberechtigt (VP Sitzung 11, Sitzung 39).
Die Beschwerdeführer sind gesund (BF1 AS 133; VP Sitzung 7, Sitzung 8).
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
1.2.1. Der Erstbeschwerdeführerin drohte bzw. droht in Afghanistan keine Zwangsverheiratung durch ihren Vater. Sie hat sich einer solchen Zwangsverheiratung auch nicht widersetzt und wird aus diesem Grund weder von ihrem Vater, noch von anderen Familienangehörigen, noch von der Regierung in Afghanistan verfolgt. Die Familie der Erstbeschwerdeführerin war nicht gegen eine Heirat der Erstbeschwerdeführerin mit ihrem jetzigen Ehemann.
1.2.2. Die Erstbeschwerdeführerin ist keiner Gefahr einer Bedrohung oder Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts oder einer westlichen Orientierung in Afghanistan ausgesetzt. Es sind keine Umstände hervorgekommen, die darauf schließen lassen, dass die Erstbeschwerdeführerin in Österreich bereits in einem solchen Maße eine („westliche“) Lebensweise führt und diese verinnerlicht hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreitet gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Die Erstbeschwerdeführerin führt in Österreich den Haushalt und kümmert sich um ihre Kinder (VP Sitzung 15). Sie trifft sich mit Freundinnen, mit denen sie sich auf Dari unterhält (VP Sitzung 17, Sitzung 19). Sie hat bis dato keinen Alphabetisierungskurs und keinen Deutschkurs besucht (VP Sitzung 15). Sie verfügt lediglich über geringe Deutschkenntnisse und konnte in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die auf Deutsch gestellten Fragen nicht verstehen beziehungsweise nicht oder nur schlecht beantworten (VP Sitzung 15). Die Erstbeschwerdeführerin war bisher in Österreich nicht erwerbstätig und lebt von dem Einkommen ihres Ehemannes (VP Sitzung 16 f). Sie hat sich in Österreich substantiiert weder über Berufs- noch über Ausbildungsmöglichkeiten erkundigt und sich mit diesem Thema nicht auseinandergesetzt (VP Sitzung 16). Sie kümmert sich in Österreich hauptsächlich um den Haushalt und ihre Kinder (VP Sitzung 17). Sie bewegt sich nur innerhalb eines geringen Bewegungsradius (VP Sitzung 15, Sitzung 17).
1.2.3. Die Beschwerdeführer werden im Herkunftsstaat weder wegen ihrer Volksgruppen-, noch wegen ihrer Religionszugehörigkeit bedroht oder verfolgt.
1.3. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:
Die Beschwerdeführer sind unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und halten sich seit zumindest Februar 2020 in Österreich auf. Sie stellten am 24.02.2020 Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet (BF1 AS 11 ff, AS 134).
Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 10.09.2020 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Ihnen wurde der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihnen wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III., BF1 AS 163 ff; BF2 = Akt des Zweitbeschwerdeführers, AS 57 ff).
Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 15.03.2021 wurden die befristeten Aufenthaltsberechtigungen der Beschwerdeführer für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre verlängert (BF1 OZ 3; BF2 OZ 1).
Die Erstbeschwerdeführerin spricht kaum Deutsch (VP Sitzung 14 ff). Sie hat seit ihrer Einreise keinen Alphabetisierungskurs und keine Deutschkurse besucht und auch keine Deutschprüfungen abgelegt (VP Sitzung 15). Sie ist kein Mitglied in einem Verein und hat keine ehrenamtliche Tätigkeit in Österreich geleistet. Sie war in Österreich bis dato auch nicht erwerbstätig und hat keine Einstellungszusagen vorgelegt (BF1 AS 135, VP Sitzung 15, Sitzung 17). Die Erstbeschwerdeführerin geht in ihrer Freizeit einkaufen, trifft sich in ihrer Freizeit mit Freundinnen und geht mit diesen oder ihrem Mann spazieren (BF1 AS 135, VP Sitzung 17). Sie wird darüber von ihrem Ehemann finanziell versorgt, der im Bundesgebiet berufstätig ist. Er verdient römisch 40 Euro pro Monat (VP Sitzung 16, Sitzung 34).
Die Erstbeschwerdeführerin lebt mit dem Zweitbeschwerdeführer und ihrem Ehemann sowie ihrer Tochter im gemeinsamen Haushalt (VP Sitzung 18, Zentrales Melderegister). Die Erstbeschwerdeführerin ist seit dem römisch 40 in Österreich behördlich gemeldet (Zentrales Melderegister).
Eine Cousine der Erstbeschwerdeführerin lebt in Österreich (BF1 AS 135, VP Sitzung 18). Die Erstbeschwerdeführerin steht nicht in Kontakt zu dieser (VP Sitzung 18).
Die Erstbeschwerdeführerin ist strafgerichtlich unbescholten (Strafregister). Der Zweitbeschwerdeführer ist strafunmündig.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die aktuellen Länderinformationen werden der Entscheidung zu Grunde gelegt (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 10.08.2022; UNHCR Richtlinien sowie die aktuellen EASO Country Guidance Afghanistan und EASO Reports zugrunde gelegt werden) auszugsweise:
1.4.1. Politische Lage
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses.
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab.
Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Als letzte Provinz steht seit dem 5.9.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban.
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen.
Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 7. September, 21. September und 4. Oktober - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung. Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine „inklusive“ Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine Taliban Regierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er-Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura.
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für Laster und Tugend“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden.
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine sogenannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen. Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt.
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75 % bis 80 % des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt. Diese Finanzierungsquellen werden zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar.
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offen gehalten.
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen.
Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigungen einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar. Das Regierungshandeln zeigte sich bisher uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab.
Im Juni 2022 berichtet der UN-Sicherheitsrat, dass sich die Taliban mit einer wachsenden Zahl von Problemen bei der Staatsführung und Sicherheitsproblemen konfrontiert sehen, unter anderem mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bewegung selbst, dem Auftauchen weiterer bewaffneter Oppositionsgruppen, erneuten Angriffen des Islamischen Staats und Grenzspannungen mit mehreren Nachbarländern.
Die Taliban haben die Umstrukturierung staatlicher Einrichtungen auch 2022 fortgesetzt und ehemaliges Regierungspersonal durch Taliban-Mitglieder ersetzt, wobei sie häufig versuchten, verschiedenen Gruppen entgegenzukommen und durch diese Ernennungen interne Spannungen zu lösen. Im Januar verkleinerten die Behörden die frühere unabhängige Kommission für Verwaltungsreform und öffentlichen Dienst und legten sie mit dem Büro für Verwaltungsangelegenheiten zusammen. Am 7.4.2022 kündigte das Justizministerium der Taliban die Abschaffung der Abteilung für politische Parteien an und schloss damit die Registrierung von politischen Parteien aus. Am 4.5.2022 wurden die Unabhängige Menschenrechtskommission, die Kommission für die Überwachung der Umsetzung der Verfassung und die Sekretariate von Ober- und Unterhaus des Parlaments aufgelöst. Trotz der Forderungen der Afghanen, der Länder in der Region und der internationalen Gemeinschaft nach größerer ethnischer, politischer und geografischer Vielfalt sowie der Einbeziehung von Frauen in die Verwaltungsstrukturen der Taliban blieben das 25-köpfige Kabinett (bestehend aus 21 Paschtunen, drei Tadschiken und einem Usbeken) und die 34 durch die Taliban ernannten Provinzgouverneure (27 Paschtunen, vier Tadschiken und je ein Usbeke, Turkmene und Paschayi) alle männlich und den Taliban verbunden. Viele der Kabinettsmitglieder haben einen religiösen Hintergrund und begrenzte Verwaltungserfahrung und stehen auf der Sanktionsliste gemäß der Sicherheitsratsresolution 1988 (2011).
Am 29.4.2022, zum Eid al-Fitr, dem Ende des heiligen Monats Ramadan, gab der Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada eine Erklärung ab, in der er das Engagement der Taliban-Behörden für „alle Scharia-Rechte von Männern und Frauen“ darlegte und insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung, die Sicherheit, die Bemühungen um einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Rückkehr von Afghanen aus dem Ausland und die Bemühungen um die nationale Einheit hervorhob. Am 11.5.2022 leitete der stellvertretende Ministerpräsident Kabir die erste Sitzung der Kommission für Rückkehr und Kommunikation mit ehemaligen afghanischen Beamten und politischen Persönlichkeiten, die daraufhin ihr Mandat annahm und die Absicht ankündigte, eine Loya Jirga einzuberufen. Am 18.5.2022 trafen sich Vertreter der bislang zersplitterten politischen Opposition aus verschiedenen ethnischen Gruppen in der Türkei unter dem Dach des Hohen Rates des Nationalen Widerstands zur Rettung Afghanistans und forderten die Taliban auf, sich zu Verhandlungen bereit zu erkläre.
Exilpolitische Aktivitäten
Am 28.9.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an. Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv.
Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen. Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (LIB vom 10.08.2022, Kapitel „Politische Lage“, Sitzung 8 - 15).
1.4.2. Sicherheitslage
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor war schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weitverbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt.
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes deutlich zurückgegangen - mit weniger zivilen Opfern und weniger sicherheitsrelevanten Vorfällen im restlichen Verlauf des Jahres. Nach Angaben der UN sind konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert. Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 985 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einem Rückgang von 91% gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2020 entspricht. Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat.
Die Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle ging nach dem 15.8.2021 deutlich zurück, von 600 auf weniger als 100 Zwischenfälle pro Woche. Aus den verfügbaren Daten für den Zeitraum bis Ende 2021 geht hervor, dass bewaffnete Zusammenstöße gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr um 98% von 7.430 auf 148 Vorfälle zurückgingen, Luftangriffe um 99% von 501 auf 3, Detonationen von improvisierten Sprengsätzen um 91% von 1.118 auf 101 und gezielte Tötungen um 51% von 424 auf 207. Andere Arten von Sicherheitsvorfällen wie Kriminalität haben jedoch zugenommen, während sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage rapide verschlechtert hat. Auf die östlichen, zentralen, südlichen und westlichen Regionen entfielen 75% aller registrierten Vorfälle, wobei Nangarhar, Kabul, Kunar und Kandahar die am stärksten konfliktbetroffenen Provinzen sind.
Trotz des Rückgangs der Gewalt sahen sich die Taliban-Behörden mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, darunter eine Zunahme der Angriffe auf deren Mitglieder. Einige der Angriffe werden der National Resistance Front (NRF) zugeschrieben, der einige Persönlichkeiten der ehemaligen Regierung und der Opposition angehören. Diese formierte sich im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 und wird von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei. Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF in den Provinzen Parwan, Baghlan und Samangan berichtet. Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll.
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen.
Seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul. Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung. Am 26.8.2021 wurden durch einen Anschlag des ISKP am Flughafen Kabul 170 Personen getötet und zahlreiche weitere verletzt. Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP, sowie zehn Zivilisten getötet wurden. Am 8. und 15. Oktober 2021 kamen in Kunduz und Kandahar jeweils bei Selbstmordanschlägen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt. Ein weiterer Anschlag am 3.10.2021 in Kabul zielte auf eine Trauerfeier, an der hochrangige Taliban teilnahmen und tötete mindestens fünf Personen. Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.9.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen. Zwischen 19.8.2021 und 31.12.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 152 Angriffe der Gruppe in 16 Provinzen, verglichen mit 20 Angriffen in 5 Provinzen im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es auch einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt.
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchen Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken im Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. Im Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw. 70,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z.B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien.
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden. Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse. Obwohl die Taliban eine „Generalamnestie“ für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben. Es gibt auch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird. Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen. Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen. Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist. Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden.
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet. In vielen Städten suchten die Taliban nach ehemaligen Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF), Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen, bedrohten sie und nahmen sie manchmal fest oder richteten sie hin. In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein. Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin. Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen. Eine Richterin wie auch eine Polizistin gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein. Weiters wird berichtet, dass die Taliban die Familienangehörigen der Geflüchteten bedrohen, unter anderem mit dem Tod, oder Lösegeld fordern, falls die Geflüchteten nicht zurückkehren.
Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Angaben der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hat die Zahl der zivilen Opfer in der ersten Jahreshälfte 2021 einen Rekordwert erreicht, der im Mai mit dem Beginn des Abzugs der internationalen Streitkräfte stark anstieg. Bis Juni wurden 5.183 tote oder verletzte Zivilisten gezählt, darunter 2.409 Frauen und Kinder. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013.
Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindlichen Elementen verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfern durch gezielte Tötungen, durch Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht. Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams und zehn Minenräumer getötet.
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe.
High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.5. und dem 31.7.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen, die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten. Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul.
Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: Der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt. Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein.
Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.5. und dem 18.8.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab.
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt. Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt. Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.5.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.5.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 1. und 12.6.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren. Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (LIB vom 10.08.2022, Kapitel „Sicherheitslage“, Sitzung 15 – 26).
1.4.3. Rechtsschutz/Justizwesen
Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia. Beim Übergang der Taliban von einem Aufstand zu einer Regierung fehlten dem afghanischen Justizsystem eine offizielle Verfassung und offizielle Gesetze. Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. „Scharia“ bedeutet auf Arabisch „der Weg“ und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus den Aussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen. Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden. Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten.
Bereits vor der Machtübernahme unterhielten die Taliban Schattengerichte unter strikter Auslegung der Scharia in den von ihnen kontrollierten Gebieten, die von der Bevölkerung zum Teil als effizienter und verlässlicher als das korruptionsbelastete Justizsystem der Republik empfunden wurden. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Taliban auf lokaler Ebene gegen Kriminalität vorgehen und Täter öffentlich bestrafen. Darüber, was im Anschluss weiter mit den Tätern passiert, liegen keine Erkenntnisse vor. Während des Übergangs der Taliban von Aufständischen zu einer Regierung fehlte es dem afghanischen Justizsystem an einer offiziellen Verfassung und offiziellen Gesetze.
Nach der Absetzung der gewählten Regierung im August 2021 übernahmen die Taliban die vollständige Kontrolle über das Justizsystem des Landes und ernannten Richter an Zivil- und Militärgerichten. Es wurden ein Justizminister und ein Oberster Richter und Leiter des Obersten Gerichtshofs durch die Taliban ernannt. Der geltende Rechtsrahmen ist nach wie vor unklar, obwohl eine Überprüfung der Vereinbarkeit der bestehenden Rechtsvorschriften mit dem mit dem islamischen Recht läuft. Am 16.12.2022 erließ die Taliban-Führung ein Dekret zur Ernennung von 32 Direktoren, Abteilungsleitern, Richtern und anderen wichtigen Beamten im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof. Am 25.12.2022 wurde ein Generalstaatsanwalt ernannt, der sich zur Rechenschaftspflicht und Unabhängigkeit seines Amts nach der Scharia verpflichtet. Richter, die unter der ehemaligen Regierung gedient haben, insbesondere Richterinnen, sind arbeitslos; eine beträchtliche Anzahl ist untergetaucht. Während in den Provinzen zahlreiche Richterstellen neu besetzt wurden, wurden ehemalige Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte nicht in das Justizsystem der Taliban-Behörden integriert. Frauen sind nach wie vor von der Arbeit im Justizsektor ausgeschlossen.
Unter der Republik waren informelle Rechtssysteme, die sich auf Varianten des Gewohnheitsrechts und der Scharia stützten, zur Schlichtung von Streitigkeiten weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versuchen, einige lokale Streitbeilegungsverfahren zu kontrollieren.
Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft. Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (LIB vom 10.08.2022, Kapitel „Rechtsschutz/Justizwesen, Sitzung 94-95).
1.4.4. Allgemeine Menschenrechtslage
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen. Die gewählte Regierung Afghanistans, die durch einen von den Taliban geführten Aufstand sowie durch Gewalt, Korruption und mangelhafte Wahlverfahren unterminiert wurde, bot vor ihrem Zusammenbruch im Jahr 2021 dennoch ein breites Spektrum an individuellen Rechten. Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban den politischen Raum des Landes geschlossen; Opposition gegen ihre Herrschaft wird nicht geduldet, während Frauen und Minderheitengruppen durch das neue Regime in ihren Rechten beschnitten wurden. Unter der Taliban-Herrschaft werden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Versammlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt, und jede Form von Dissens wird mit Verschwindenlassen, willkürlichen Verhaftungen und unrechtmäßiger Inhaftierung bestraft.
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021, wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen. Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet. Ebenso deuteten seit August zahlreiche Berichte darauf hin, dass die Taliban gewaltsam in Wohnungen und Büros eindrangen, um nach politischen Gegnern und nach Personen zu suchen, die die NATO- und US-Missionen unterstützt hatten. Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, dass sie Repressalien fürchten, und es gibt Berichte über das gewaltsame Verschwindenlassen von Frauen, willkürliche Verhaftungen von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft durch die Taliban sowie über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen und Ähnliches durchführen. Im Juni 2022 wurde berichtet, dass einige der Männer, die in der britischen Botschaft in Afghanistan arbeiteten und im Land geblieben waren, geschlagen und gefoltert wurden.
UNAMA, AIHRC und andere Beobachter berichteten, dass es sowohl unter der früheren Regierung als auch unter den Taliban im ganzen Land zu willkürlichen und lang andauernden Inhaftierungen kam, einschließlich von Personen, die ohne richterliche Genehmigung festgehalten wurden. Die ehemaligen Regierungsbehörden informierten die Inhaftierten häufig nicht über die gegen sie erhobenen Anschuldigungen.
Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.7.2021 getötet, ein Folksänger von den Taliban erschossen und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen.
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (LIB vom 10.08.2022, Kapitel „Allgemeine Menschenrechtslage“, Sitzung 106 - 108).
1.4.5. Zur aktuellen Situation von Frauen in Afghanistan
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass im Namen der Frauenrechte Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres ersten Regimes [Anm.: 1996-2001] afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Auch in der zweiten Herrschaft der Taliban wurden die Grundrechte und -freiheiten afghanischer Frauen und Mädchen trotz der Zusagen der Taliban, die Rechte der Frauen im Rahmen der Scharia zu schützen, stark beschnitten. Nach Angaben einer Gruppe von UN-Menschenrechtsexperten hat die Taliban-Führung in Afghanistan in großem Umfang und systematisch geschlechtsspezifische Gewalt und Diskriminierung institutionalisiert.
1.4.5.1. Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Nach der Machtübernahme der Taliban äußerten viele Experten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde. Viele waren deshalb gezwungen, das Land zu verlassen. Die Taliban haben keine landesweite Politik für Frauen und Arbeit festgelegt, und die Möglichkeiten der Frauen, zu arbeiten, sind in den verschiedenen Regionen des Landes sehr unterschiedlich. Dennoch haben sich in den Richtlinien der Taliban zu diesem Thema einige Muster herauskristallisiert. Die meisten weiblichen Regierungsangestellten wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben, mit Ausnahme derjenigen, die in bestimmten Sektoren, wie Gesundheit und Bildung, tätig sind. Viele der Frauen, die weiterhin arbeiten, empfinden dies als schwierig und belastend, weil die Taliban Einschränkungen in Bezug auf ihre Kleidung, ihr Verhalten und ihre Möglichkeiten erließen. Eine afghanische Richterin beschreibt, wie sie von Männern gejagt wurde, die sie einst inhaftiert hatte und die nun von den Taliban-Kämpfern freigelassen wurden und es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten. Anfang November 2021 wurden bis zu vier Frauen in Mazar-e Sharif getötet, darunter eine Frauenrechtsaktivistin. Berichten zufolge hätten die Frauen einen Anruf erhalten, den sie für eine Einladung zu einem Evakuierungsflug hielten. Sie wurden später tot aufgefunden. Es gibt weitere Berichte, dass afghanische Frauen aus ihren Häusern geholt und verhaftet wurden, nachdem sie an Protesten teilgenommen hatten . Wochen später wurden verhaftete Frauen wieder freigelassen.
Frauen, die vor der Machtübernahme durch die Taliban in der Regierung waren, sind größtenteils aus dem Land geflohen. Allerdings gab es bereits mehrere Fälle von Repressalien gegen ihre Mitarbeiter, Kollegen und Familienmitglieder, die in Afghanistan geblieben sind. Ein Erlass der Regierung vom 17.9.2021, dessen Authentizität bisher nicht bestätigt werden konnte, soll die öffentliche Verwaltung anweisen, männlichen Kandidaten prioritär Zugang zu bestimmten Laufbahnen im öffentlichen Dienst zu gewähren. Frauen werden aufgefordert, ihre Kündigung einzureichen. Die Auswirkungen auf die Beschäftigung von Frauen sind auch Ende des Jahres 2021 gravierend. Die Beschäftigung von Frauen ging im dritten Quartal 2021 um schätzungsweise 16 % zurück und es wird geschätzt, dass bei einer unveränderten Politik, die Verluste bei der Beschäftigung von Frauen bis Mitte 2022 voraussichtlich auf 21 % ansteigen werden. Die meisten von Frauen geführten Unternehmen haben ihre Tätigkeit aufgrund der anhaltenden Liquiditätskrise und aus Angst vor Verstößen gegen die Erlasse der Taliban gegen Frauen auf dem Markt eingestellt.
Seit September 2021 kam es in mehreren Städten, darunter Kabul und Herat, immer wieder zu Protesten von Frauen gegen die Taliban. Es gibt Berichte, wonach solche Proteste durch die Taliban teils gewaltsam aufgelöst wurden, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten sowie Tränengas und Pfefferspray bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzten. Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Anti-Taliban-Proteste verschärft und haben alle nicht offiziell genehmigten Demonstrationen verboten, und zwar sowohl die Versammlung selbst, als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor „schweren rechtlichen Konsequenzen“, sollte man sich nicht daran halten. Am 11.9.2021 kam es zu einem Pro-Taliban-Protest durch einige Hundert komplett verschleierte Frauen. Die Taliban erklärten, die Demonstration an der Shaheed Rabbani Education University sei von Dozentinnen und Studentinnen der Universität organisiert worden. Zwischen Oktober und Dezember 2021 ebbten die Proteste weitgehend ab. Frauengruppen griffen zunehmend darauf zurück, friedliche Versammlungen hinter verschlossenen Türen abzuhalten und ihre Botschaften über soziale Medien zu verbreiten. Mehrere Dutzend Menschen protestierten Ende März in Kabul gegen den Beschluss der Taliban, Mädchen vom Besuch weiterführender Schulen auszuschließen.
Im November 2021 wiesen die Taliban Fernsehsender in Afghanistan an, keine Seifenopern oder andere Unterhaltungsprogramme auszustrahlen, in denen Frauen auftreten. Des Weiteren wurde erklärt, dass Journalistinnen einen Hijab tragen müssen.
1.4.5.2. Bildung für Frauen und Mädchen
Einige öffentliche Universitäten in Afghanistan wurden im Februar 2022 wiedereröffnet, nachdem sie seit der Machtübernahme der Taliban geschlossen waren, und auch einige Studentinnen nahmen den Unterricht auf. Andere Universitäten, beispielsweise in Zabul, Uruzgan und in Panjshir, blieben geschlossen. Die Beschränkungen, die die Taliban für den Universitätsbesuch von Frauen auferlegt haben, sind zahlreich und variieren je nach Region und Universität. Berichten zufolge ist der Unterricht für männliche und weibliche Studenten getrennt und findet in verschiedenen Schichten statt. Frauen müssen sich an die islamische Kleiderordnung halten, d. h. eine Burka und eine schwarze Abaya im arabischen Stil tragen. Mehrere Studentinnen erschienen jedoch nicht anders gekleidet, als vor der Machtübernahme durch die Taliban, mit einem einfachen Schal, der ihren Kopf bedeckte. Studenten der Universität Kabul sagten, die Trennung von männlichen und weiblichen Klassen habe sich auf die Lehrmethoden ausgewirkt. Ein weiteres Problem, mit dem die Studentinnen zu kämpfen haben, ist der Mangel an Lehrkräften, um zu zwei verschiedenen Zeiten unterrichten zu können, sowie finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der allgemeinen Wirtschaftskrise und der Tatsache, dass viele Frauen nicht mehr arbeiten dürfen. Am 23.3.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen zum ersten Mal nach sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben werden, „bis die Schuluniformen im Einklang mit den afghanischen Bräuchen, der Kultur und der Scharia gestaltet sind“. Die Mädchen mussten die Schulen daraufhin wieder verlassen. Mehrere Dutzend Personen haben Ende März 2022 in Kabul gegen die Entscheidung der Taliban protestiert, Mädchen den Besuch weiterführender Schulen zu verwehren.
In der Provinz Balkh blieben die weiterführenden Schulen für Mädchen jedoch geöffnet. Aber offenen Schulen in Balkh und anderswo wurde mit der Schließung gedroht, wenn sie sich weigerten, die immer strengeren Kleidervorschriften einzuhalten. Die Taliban schlossen eine Schule in Balkh für mehrere Tage, nachdem einige Schülerinnen ihr Gesicht unbedeckt gelassen hatten. Ein Beamter der Schule teilte eine Sprachnachricht eines Taliban-Beamten, in der er den Schulleiter aufforderte, eine Lehrerin wegen ihrer „unanständigen“ Kleidung zu entlassen. Eine Schule hat jetzt einen Lehrer, der „Laster verhindern und Tugend fördern“ soll.
In der Provinz Takhar wurden am 17.6.2022 ca. 30 Studentinnen von den Taliban inhaftiert, weil sie in einer Unterrichtspause ohne männliche Begleitung ihr Wohnheim verlassen und in einen Park gegangen waren. Wenige Tage später drangen Taliban in das Wohnheim dieser Studentinnen ein, um Studentinnen nach eigenen Aussagen zu disziplinieren. Vor ein paar Wochen hatten die Taliban eine Veranstaltung in der Universität ausgerichtet, die den Frauen das Tragen einer Verschleierung nahelegen sollte. Dabei hatten sich einige Studentinnen dessen verwehrt und wurden danach von den Taliban verhaftet.
1.4.5.3. Rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung und Bewegungsfreiheit
In den Wochen nach der Machtübernahme durch die Taliban verkündeten die Taliban-Behörden einen stetigen Strom von Maßnahmen und Verordnungen, welche die Rechte von Frauen und Mädchen einschränken, darunter den Zugang zu Beschäftigung und Bildung, das Recht auf friedliche Versammlung und die Bewegungsfreiheit. Der Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen ist bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig, es zeichnen sich aber deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Berichte über unterschiedlich ausgeprägte Repressionen und Einschränkungen für Frauen betreffen Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkung von Schulbesuch und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern. Bei der Ernennung der Übergangsregierung wurde das unter der Vorgängerregierung vorhandene Frauenministerium nicht berücksichtigt. Am 17.9.2021 wurde der ehemalige Sitz des Frauenministeriums in den Sitz des neuen „Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“ umgewandelt. Diese Institution hatte bereits im ersten Talibanregime Verstöße gegen die Einhaltung religiöser Vorschriften verfolgt.
Ende Oktober 2021 berichtete Human Rights Watch (HRW), dass die Taliban strengere Tugendregeln aufstellen, als zunächst öffentlich angekündigt. In vielen Provinzen gelten per Gesetz die Regeln eines „Tugendhandbuches“, welches z. B. vorgibt, welche Frauen als Anstandsdamen für andere Frauen gelten dürfen und Partys mit Musik sowie Ehebruch und gleichgeschlechtliche Beziehungen verbietet. Zusätzlich gibt es Berichte, wonach in den meisten Provinzen Entwicklungshelferinnen an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert würden.
Im November wiesen die Taliban Fernsehsender in Afghanistan an, keine Seifenopern oder andere Unterhaltungsprogramme auszustrahlen, in denen Frauen auftreten. Des Weiteren wurde erklärt, dass Journalistinnen einen Hijab tragen müssen.
Die Religionspolizei der Taliban veröffentlichte in der afghanischen Hauptstadt Kabul im Januar 2022 Plakate, auf denen Frauen aufgefordert werden, sich zu verschleiern.
Anfang Mai 2022 erließ das Taliban-Ministerium für die Verhütung von Lastern und die Förderung der Tugend einen Erlass, der Frauen zum Tragen eines Gesichtsschleiers verpflichtet. Taliban-Beamte bezeichneten den Erlass als „Ratschlag“, legten aber eine Reihe von Schritten fest, die bei Nichtbefolgung vorgesehen sind. Beim ersten Verstoß würde die Frau zu Hause aufgesucht und mit ihrem Ehemann, Bruder oder Vater gesprochen werden. Beim zweiten Verstoß würde der männliche Vormund in das Ministerium bestellt werden. Beim dritten Verstoß wird der männliche Vormund vor Gericht gestellt und kann für drei Tage inhaftiert werden. Wenn Frauen, die für die Regierung arbeiten, unverschleiert auf die Straße gehen, würden sie entlassen werden, und auch Taliban-Kämpfer verlieren ihren Job, wenn ihre weiblichen Verwandten sich nicht an die neuen Einschränkungen halten.
Am 16.6.2022 wurde berichtet, dass die Taliban in der Provinz Herat Frauen verbieten, ihre Ehemänner vor Gericht zu verklagen, wenn sie z.B. Opfer häuslicher Gewalt geworden sind.
1.4.5.4. Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im Jahr 2021 hatte Afghanistan eine der höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen, neun von zehn Frauen erlebten mindestens eine Form von Gewalt in der Partnerschaft in ihrem Leben. Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, brach das Netz zur Unterstützung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt - einschließlich rechtlicher Vertretung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung - zusammen. Schutzräume wurden geschlossen, und viele wurden von Taliban-Mitgliedern geplündert und in Beschlag genommen. In einigen Fällen belästigten oder bedrohten Taliban-Mitglieder Mitarbeiter. Als die Unterkünfte geschlossen wurden, waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken. Andere Überlebende waren gezwungen, bei Mitarbeitern der Unterkünfte, auf der Straße oder in anderen unhaltbaren Situationen zu leben.
Am 19.9.2021 drangen bewaffnete Taliban gewaltsam in ein Frauenhaus in Kabul ein, verhörten das Personal und die Bewohnerinnen mehrere Stunden lang und zwangen die Leiterin des Frauenhauses, einen Brief zu unterschreiben, in dem sie versprach, die Bewohnerinnen nicht ohne Erlaubnis der Taliban gehen zu lassen. Die Taliban teilten dem Betreiber des Frauenhauses mit, dass sie die verheirateten Bewohnerinnen des Frauenhauses zu ihren Peinigern zurückbringen und die ledigen Bewohnerinnen mit Taliban-Soldaten verheiraten würden. Darüber hinaus berichteten Quellen im September 2021, dass die Taliban „Überprüfungen“ von Frauenhäusern und Frauenrechtsorganisationen, einschließlich solcher, die Schutzdienste anbieten, durchführten. Diese Überprüfungen wurden mit Einschüchterung durch das Schwenken von Waffen und Androhung von Gewalt durchgesetzt. Ausrüstungsgegenstände, darunter Computer, Akten und andere Unterlagen, wurden beschlagnahmt, und die Mitarbeiter berichteten, dass sie aggressiv zu ihren Aktivitäten und möglichen Verbindungen zu den Vereinigten Staaten befragt wurden. Wesentliche Dienstleistungsanbieter reduzierten ihre Dienste oder stellten sie ganz ein, da sie befürchteten, misshandelte Frauen, die ohnehin schon gefährdet sind, einem größeren Risiko von Gewalt und Schaden auszusetzen.
Anfang Dezember 2021 verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister der Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären. Währenddessen sind weiterhin Tausende Mädchen vom Besuch der siebenten bis zwölften Schulstufe ausgeschlossen und der Großteil der Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban nicht an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. UN-Menschenrechtsexperten wiesen auf das erhöhte Risiko der Ausbeutung von Frauen und Mädchen hin, einschließlich des Handels zum Zwecke der Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung und der Zwangsarbeit (LIB vom 10.08.2022, Kapitel „Relevante Bevölkerungsgruppen – Frauen“, Sitzung 133 – 142).
1.4.6. Zur aktuellen Situation von Kindern in Afghanistan:
Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 47 % der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und davon 46 % (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren. Das Durchschnittsalter in Afghanistan liegt bei 18,4 Jahren. Die Volljährigkeit begann vor der Machtübernahme durch die Taliban mit dem 18. Geburtstag, wobei einige politische Kräfte dies mit Verweis auf die Scharia ablehnen. Die Zwangsverheiratung auch von Kindern unter dem gesetzlichen Mindestalter der Ehefähigkeit - 18 Jahre für Männer, 16 für Frauen (mit Zustimmung des Vaters 15 Jahre) - ist weit verbreitet. Ein afghanischer Vater überträgt die Staatsbürgerschaft auf sein Kind. Die Geburt im Land oder durch eine Mutter mit Staatsbürgerschaft allein verleiht nicht die Staatsbürgerschaft. Eine Adoption wird rechtlich nicht anerkannt.
Anfang Dezember verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Zwangsverheiratungen sind eine sozial akzeptierte Bewältigungsstrategie in wirtschaftlichen Notlagen und finden in Folge der desaströsen Wirtschaftslage weiter Verbreitung, wobei Mädchen in die Zwangsheirat verkauft werden, um das wirtschaftliche Überleben der Familie zu sichern. Es existieren Berichte über die Zwangsverheiratung von Mädchen mit Talibankämpfern nach der Machtübernahme und nach Angaben der Vereinten Nationen sind Mädchen zunehmend von Zwangsheirat bedroht.
Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Heim und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen.
Kinder litten bis zur Machtübernahme der Taliban besonders unter dem bewaffneten Konflikt und wurden Opfer von Zwangsrekrutierung, vor allem von Seiten der Taliban. In den vergangenen fünf Jahren haben bewaffnete Kräfte und Gruppen in Afghanistan Berichten zufolge Tausende von Kindern sowohl für Kampf- als auch für Unterstützungsaufgaben rekrutiert, auch für sexuelle Zwecke. Während des gesamten Jahres 2020 rekrutierten die Taliban, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2020 verifizierte UNAMA die Rekrutierung und den Einsatz von 196 Jungen, wobei die meisten Fälle in den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes auftraten. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Rekrutierung und Einsatz von Kindern in Afghanistan oft nicht gemeldet werden.
In der ersten Hälfte des Jahres 2021 machten Kinder 32 % aller zivilen Opfer aus, darunter die höchste Zahl von Mädchen, die jemals von UNAMA erfasst wurde. Unter den zivilen Opfern des Angriffs auf den Flughafen von Kabul am 26.8.2021 waren Berichten zufolge auch Kinder.
Weiterhin fortbestehende Probleme sind sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und Kinderarbeit. Es ist noch unklar, inwieweit die Taliban die dahin gehende bisher vorhandene Gesetzgebung und Strafverfolgung übernehmen. Berichten zufolge hat die Polizei Kinder geschlagen und sexuell missbraucht. Kinder, die wegen Missbrauchs die Polizei um Hilfe baten, berichteten auch, dass sie von Strafverfolgungsbeamten weiter schikaniert und misshandelt wurden, insbesondere in bacha bazi-Fällen, was die Opfer davon abhielt, ihre Ansprüche anzuzeigen.
Eine Prognose der IPC vom Oktober 2021 ging davon aus, dass bis Ende des Jahres 2021 bis zu 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren an akuter Unterernährung leiden würden. Auch das WFP (World Food Programm) und die FAO (Food and Agriculture Organization) warnten, dass eine Million Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohten, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhielten. Von 1.2022 bis 3.2022 sind bereits etwa 13.000 Neugeborene an Unterernährung und hungerbedingten Krankheiten gestorben.
1.4.6.1. Schulbildung in Afghanistan
Am 18.9.2021 hat auf Weisung der Regierung der Schulunterricht für Jungen ab der siebten Klasse wieder begonnen. Zur Wiederaufnahme des Unterrichts für Mädchen äußerten sich die Taliban bisher gar nicht bis hinhaltend - hierfür müssten erst die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. In einigen Provinzen sind Mädchenschulen dennoch weiterhin oder wieder geöffnet. Der Zuspruch ist aufgrund von Sicherheitsbedenken oftmals niedrig. Zuvor hatten die Taliban zugesichert, dass auch Mädchen und Frauen unter Einhaltung strikter Geschlechtertrennung Bildungsmöglichkeiten erhalten würden. Faktisch findet - aus einer Reihe von Gründen (ausbleibende Lohnzahlungen, Unsicherheit und Flucht der Lehrer etc.) auch der Schulunterricht für Jungen häufig nicht statt. Die schwierige wirtschaftliche Lage hat viele Familien dazu gezwungen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen und sie zur Arbeit zu schicken. Millionen von Afghanen wurden während und nach der Übernahme des Landes durch die Taliban vertrieben, und viele vertriebene Kinder gehen nicht zur Schule.
Am 23.3.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen (über dem sechsten Schulgrad) zum ersten Mal seit sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben werden, „bis die Schuluniformen im Einklang mit den afghanischen Bräuchen, der Kultur und der Scharia gestaltet sind“. Die Mädchen mussten die Schulen daraufhin wieder verlassen. In der Provinz Balkh blieben die weiterführenden Schulen für Mädchen jedoch geöffnet. Aber offenen Schulen in Balkh und anderswo wurde mit der Schließung gedroht, wenn sie sich weigerten, die immer strengeren Kleidervorschriften einzuhalten. Die Taliban schlossen eine Schule in Balkh für mehrere Tage, nachdem einige Schülerinnen ihr Gesicht unbedeckt gelassen hatten. Ein Beamter der Schule teilte eine Sprachnachricht eines Taliban-Beamten, in der er den Schulleiter aufforderte, eine Lehrerin wegen ihrer „unanständigen“ Kleidung zu entlassen. Eine Schule hat jetzt einen Lehrer, der „Laster verhindern und Tugend fördern“ soll (LIB vom 04.05.2022, Kapitel „Relevante Bevölkerungsgruppen – Kinder“, Sitzung 142 – 146).
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in die Verwaltungsakten der Beschwerdeführer, in die Gerichtsakten sowie in die vorgelegten Urkunden und durch Befragung der Erstbeschwerdeführerin sowie des als Zeugen befragten Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung. Die Feststellungen basieren auf den in den Klammern angeführten Beweismitteln.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:
Mangels Vorlage von Dokumenten, die die Identität der Beschwerdeführer bestätigen würden, liegt hinsichtlich des Namens und des Geburtsdatums der Beschwerdeführer Verfahrensidentität vor. Die Erstbeschwerdeführerin gab in ihrer Erstbefragung den römisch 40 als ihr Geburtsdatum an (BF1 AS 11). In ihrer niederschriftlichen Einvernahme gab sie jedoch an, dass sie am römisch 40 geboren sei und ihr Geburtsdatum in der Erstbefragung falsch protokolliert worden sei (BF1 AS 130). In der mündlichen Verhandlung gab die Erstbeschwerdeführerin mehrfach an, dass sie römisch 40 Jahre alt sei und führte zudem an, dass sie nicht wisse, wann sie geboren sei. Ihre Rechtsvertretung gab zudem an, dass das Geburtsdatum auf ihrer Heiratsurkunde willkürlich als römisch 40 festgestellt worden sei und die Erstbeschwerdeführerin keine Dokumente habe (VP Sitzung 9, Sitzung 10). In der Folge war daher für das Verfahren festzustellen, dass die Erstbeschwerdeführerin am römisch 40 geboren wurde.
Dass die Erstbeschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem Ehemann die gesetzliche Vertreterin des Zweitbeschwerdeführers ist, kann den übereinstimmenden Angaben der Erstbeschwerdeführerin und des Zeugen in der mündlichen Verhandlung entnommen werden (VP Sitzung 3). Die Feststellungen betreffend die Staats-, Volksgruppen sowie die Religionszugehörigkeit der Beschwerdeführer konnten auf den gleichbleibenden und glaubhaften Angaben im Verfahren der Erstbeschwerdeführerin entnommen werden (BF1 AS 11, AS 131; VP Sitzung 9, Sitzung 10). Die Muttersprache der Erstbeschwerdeführerin ergibt sich aus den Angaben der Erstbeschwerdeführerin in ihrer Erstbefragung (BF1 AS 11) und der mündlichen Verhandlung (VP Sitzung 11).
Die Feststellungen betreffend den Geburts- und den Aufenthaltsort der Erstbeschwerdeführerin in Afghanistan konnten ihren glaubhaften Angaben in ihrer Erstbefragung (BF1 AS 11, AS 13), der niederschriftlichen Einvernahme (BF1 AS 130) und der mündlichen Verhandlung entnommen werden (VP Sitzung 12). Dass der Zweitbeschwerdeführer in Griechenland geboren wurde, konnte der glaubhaften Angabe der Erstbeschwerdeführerin in der Erstbefragung (BF1 AS 15), der niederschriftlichen Einvernahme (BF1 AS 133) und der mündlichen Verhandlung entnommen werden (VP Sitzung 11).
Dass die Erstbeschwerdeführerin Analphabetin ist, sie keine Schul- und Berufsausbildung hat und vor ihrer Ausreise Hausfrau war, kann ihren gleichbleibenden Angaben im Verfahren entnommen werden (BF1 AS 11, AS 133, 134, VP Sitzung 11, Sitzung 12).
Die Feststellungen zu den Familienangehörigen der Erstbeschwerdeführerin und deren Aufenthaltsorte waren ihren glaubhaften Angaben im Verfahren zu entnehmen (BF1 AS 13, 131, 132, 133, 135, VP Sitzung 13).
Dass die Erstbeschwerdeführerin nicht in Kontakt zu ihren Familienangehörigen im Herkunftsstaat steht, gab diese gleichbleibend in der niederschriftlichen Einvernahme (BF1 AS 133) sowie in der mündlichen Verhandlung an (VP Sitzung 14).
Dass die Erstbeschwerdeführerin mit dem Vater des Zweitbeschwerdeführers traditionell verheiratet ist, kann ihren gleichbleibenden Angaben im Verfahren, den damit übereinstimmenden Angaben ihres Ehemannes in der mündlichen Verhandlung sowie der von ihr vorgelegten Heiratsurkunde entnommen werden (BF1 AS 13, 132, 139 – 155; VP Sitzung 10, Sitzung 32, Sitzung 33). Dass der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin in Wien wohnhaft ist und in Österreich subsidiär schutzberechtigt ist, kann den glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin in der niederschriftlichen Einvernahme sowie in der mündlichen Verhandlung, den Angaben des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung sowie einem Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister entnommen werden (Akt BF1 AS 132, VP Sitzung 33). Die Feststellungen betreffend die Tochter der Erstbeschwerdeführerin fußen auf den übereinstimmenden Angaben der Erstbeschwerdeführerin sowie ihres Ehemannes in der mündlichen Verhandlung (VP Sitzung 11, Sitzung 39).
Dass die Beschwerdeführer gesund sind, war den eigenen Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Verfahren zu entnehmen (BF1 AS 133; VP Sitzung 7, Sitzung 8).
2.2. Zu den Feststellungen zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
2.2.1. Die Erstbeschwerdeführerin konnte ihr Vorbringen, aufgrund der Verweigerung einer Zwangsverheiratung durch ihren Vater von diesem, sowie der Regierung in Afghanistan verfolgt zu werden, aus folgenden Gründen nicht glaubhaft machen:
Das Gericht geht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung aufgrund des persönlichen Eindrucks der Erstbeschwerdeführerin und des als Zeugen befragten Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin davon aus, dass ihnen hinsichtlich des vorgebrachten Fluchtvorbringens keine Glaubwürdigkeit zukommt. Die Erstbeschwerdeführerin wurde zu Beginn der Verhandlung angehalten, ihr Vorbringen detailliert, konkret und nachvollziehbar zu gestalten. Diesen Anforderungen die Erstbeschwerdeführerin jedoch nicht gerecht geworden, zumal sich die Erstbeschwerdeführerin in grobe Widersprüche verstrickte. Es machte nicht den Eindruck, als würde es sich um tatsächlich erlebte Ereignisse handeln. Zudem ergaben sich mehrfache Unplausibilitäten, die ihre Angaben unglaubhaft scheinen lassen. Das Gericht verkennt zwar nicht, dass die behaupteten Vorfälle schon einige Zeit zurückliegen und deshalb Erinnerungslücken einer vollkommen detaillierten Erzählung entgegenstehen können. Dass die Erstbeschwerdeführerin die Ereignisse jedoch in einer derart widersprüchlichen und nicht stringenten Weise wie in der mündlichen Verhandlung schildern würde und ihre Schilderungen nicht mit den Angaben des als Zeugen befragten Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin in Einklang zu bringen waren, wäre allerdings nicht anzunehmen, hätten sich die Ereignisse tatsächlich so zugetragen und wären sie von fluchtauslösender Intensität. Die Erstbeschwerdeführerin vermochte es nicht, einen persönlich glaubwürdigen Eindruck zu machen.
Die Angaben zur drohenden Zwangsverheiratung der Erstbeschwerdeführerin sind aufgrund der massiven Widersprüchlichkeiten nicht glaubhaft. Sie machte vage Angaben und erweckte nicht den Eindruck, dass es sich um tatsächlich erlebte Ereignisse handelt. Außerdem war das Fluchtvorbringen der Erstbeschwerdeführerin im gesamten Verfahren von Steigerungen geprägt:
Zunächst ist anzumerken, dass die Erstbeschwerdeführerin zu dem Mann, an den sie zwangsverheiratet werden hätte sollen, beim Bundesamt lediglich angab, dass die Familie des Mannes für die Regierung gearbeitet hätte (BF1 AS 136). In der mündlichen Verhandlung gab die Erstbeschwerdeführerin erstmalig an, dass die Familie des Mannes sehr mächtig gewesen sei, sie Waffen besessen hätten, höhere Ränge gehabt hätten, Kommandanten und „vieles mehr“ gewesen seien (VP Sitzung 19). Ferner gab sie an, dass er der „Sohn des Kommandanten“ gewesen sei (VP Sitzung 24). Die erstmaligen Schilderungen der Erstbeschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung zur Person dieses Mannes waren im Hinblick auf den Waffenbesitz der Familie und die Stellung als Sohn des Kommandanten im Vergleich zu den Angaben beim Bundesamt ein gesteigertes Vorbringen. Die Erstbeschwerdeführerin konnte zudem kaum weitere Angaben zu diesem Mann machen: So gab sie in der mündlichen Verhandlung lediglich an, dass er der „Sohn des Kommandanten“ gewesen sei und er aus keiner guten Familie gestammt hätte. Nach dem Namen des Mannes befragt gab sie an, dass sie nicht nach dem Namen gefragt hätte, er immer nur als „Sohn des Kommandanten“ bezeichnet worden sei und Menschen, die einen höheren Rang hätten, nicht namentlich genannt, sondern als „Herr Kommandant“ oder „Sohn des Kommandanten“ bezeichnet worden sei (VP Sitzung 24). Nach dem Alter des Mannes befragt gab die Erstbeschwerdeführerin lediglich Folgendes an: „Ich habe nicht gefragt, wie alt er ist.“ (VP Sitzung 25). Vor allem vor dem Hintergrund der Angabe der Erstbeschwerdeführerin, dass bei ihr zu Hause ständig von der Eheschließung gesprochen worden sei (VP Sitzung 25) ist nicht nachvollziehbar und plausibel, warum die Erstbeschwerdeführerin gar keine Angaben zu dem Mann machen konnte, an den sie verheiratet werden hätte sollen. Hätte die Erstbeschwerdeführerin diese Ereignisse tatsächlich wie von ihr geschildert erlebt, so wäre davon auszugehen, dass sie zumindest den Namen und das Alter des Mannes, an den sie zwangsverheiratet werden hätte sollen, angeben hätte können. Auch in Bezug auf die von der Erstbeschwerdeführerin vorgebrachten Gewalttätigkeiten ihres Vaters machte diese in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht im Vergleich zur Einvernahme vor dem Bundesamt deutlich dramatischere Angaben vergleiche BF1 AS 136; VP Sitzung 19, VP Sitzung 25 „ins Feuer werfen“, „ins Wasser schmeißen“, „blaue Flecken am ganzen Körper“).
Die Erstbeschwerdeführerin schilderte in der mündlichen Verhandlung, dass sie einige Jahre lang, als ihr jetziger Ehemann bereits in Österreich aufhältig war, mit diesem über das Handy ihrer Mutter bzw. Tante Kontakt gehalten hätte. Diese Angaben standen jedoch im Widerspruch zu den dazu gemachten Angaben des Zeugen, der explizit angab, dass er in diesem Zeitraum nicht in Kontakt mit der Erstbeschwerdeführerin gestanden sei (VP Sitzung 28 und VP Sitzung 37). Diese widersprüchlichen Angaben der Erstbeschwerdeführerin erschüttern ihre Glaubwürdigkeit schwer.
In ihrer niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt schilderte die Erstbeschwerdeführerin ihr Fluchtvorbringen vage und detaillos obwohl sie explizit dazu aufgefordert wurde, alle Gründe für das Verlassen ihres Herkunftsstaates zu nennen (BF1 AS 136). In der mündlichen Beschwerdeverhandlung machte die Erstbeschwerdeführerin umfassendere Angaben zu den Fluchtgeschehnissen, die aber auch im Widerspruch zu den Angaben ihres als Zeugen befragten Ehemannes standen. Die Erstbeschwerdeführerin konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung insgesamt nicht den Eindruck erwecken, von tatsächlich erlebten Ereignissen zu erzählen:
Widersprüchliche Angaben machten die Erstbeschwerdeführerin auch zu ihrer Verlobungsfeier mit ihrem jetzigen Ehemann. Sie gab in der mündlichen Verhandlung an, dass sie im Alter von römisch 40 sohin im Jahr römisch 40 mit ihrem jetzigen Ehemann verlobt worden sei. Es habe eine kleine Feier gegeben im Haus der Erstbeschwerdeführerin in römisch 40 gegeben, sie hätten ihr Geschenke mitgebracht und die Erstbeschwerdeführerin sei mit einem grünen Schal bedeckt worden (VP Sitzung 29). Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin gab in der mündlichen Verhandlung hingegen an, dass die Verlobungsfeier von seinen Eltern organisiert worden sei und die Feier in römisch 40 stattgefunden habe, wo er früher gelebt habe (VP Sitzung 38). Bereits hinsichtlich des Ortes der Verlobungsfeier waren die Angaben des Zeugen und der Erstbeschwerdeführerin nicht in Einklang zu bringen. Ferner habe die Verlobungsfeier, den Angaben des Zeugen folgend, innerhalb der letzten fünf Jahre – also im Zeitraum seit dem Jahr römisch 40 stattgefunden, wohingegen die Erstbeschwerdeführerin die Verlobungsfeier im Jahr römisch 40 zeitlich einordnete. Zudem gab der Zeuge entgegen der Angaben der Erstbeschwerdeführerin an, dass die Erstbeschwerdeführerin bei der Verlobungsfeier gar nicht anwesend gewesen sei, was zu den Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Widerspruch steht (VP Sitzung 38, Sitzung 39). Die äußerst widersprüchlichen Angaben der Erstbeschwerdeführerin erschüttern ihre Glaubwürdigkeit weiters schwer.
Ferner ist anzuführen, dass der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung auf die Frage, warum die Erstbeschwerdeführerin Afghanistan verließ, Folgendes angab (VP Sitzung 40): „Weil sie unterdrückt worden ist und ein Leben geführt hat, das sehr schlecht war. Sie durfte nicht in die Schule gehen, hinausgehen oder Einkäufe erledigen. Der Mensch muss frei sein und ein freies Leben nach dem eigenen Willen gestalten.“ Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin gab jedoch mit keinem Wort an, dass eine drohende Zwangsverheiratung der Grund für die Ausreise der Erstbeschwerdeführerin aus Afghanistan gewesen sei. In Zusammenschau mit ihren widersprüchlichen Angaben betreffend ihre Verlobungsfeier konnte die Erstbeschwerdeführerin daher nicht glaubhaft machen, dass ihr Vater gegen ihre Eheschließung mit ihrem jetzigen Ehemann gewesen sei und eine Zwangsverheiratung der Erstbeschwerdeführerin mit einem anderen Mann forciert hätte.
Die Erstbeschwerdeführerin konnte zudem nicht glaubhaft und nicht nachvollziehbar angeben, warum ihre Tante ihr zur Flucht verhelfen hätte sollen. So gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Tante bereits etwa 20 Jahre im Iran lebe. Die Erstbeschwerdeführerin sei demnach im Alter eines Kleinkindes gewesen, als ihre Tante in den Iran gezogen sei (VP Sitzung 22). Die Erstbeschwerdeführerin habe nur wenig telefonischen und keinen persönlichen Kontakt zu dieser Tante gehabt (VP Sitzung 23). Den Angaben der Erstbeschwerdeführerin konnte kein derartiges Naheverhältnis entnommen werden, welches die vorgebrachte Unterstützung bei der Flucht der Erstbeschwerdeführerin durch die Tante nachvollziehbar und plausibel erscheinen lassen würde.
Dem Länderinformationsblatt kann entnommen werden, dass Zwangsverheiratungen eine sozial akzeptierte Bewältigungsstrategie in wirtschaftlichen Notlagen sind und Mädchen in die Zwangsheirat verkauft werden, um das wirtschaftliche Überleben der Familie zu sichern (LIB Sitzung 144). Die Erstbeschwerdeführerin gab jedoch an, aus einer Familie zu stammen, die wirtschaftlich gut situiert gewesen sei (BF1 AS 133). Es ist daher nicht nachvollziehbar und pausibel, warum ihr Vater eine Zwangsheirat derart forcieren hätte sollen, wenn diese wirtschaftlich für die Familie gar nicht notwendig gewesen sei und die Erstbeschwerdeführerin bereits einen anderen Mann gehabt habe, den sie heiraten hätte wollen und dem sie auch bereits seit ihrer Kindheit versprochen gewesen sei (BF1 AS 132, VP Sitzung 36). Es ist dabei auch nicht nachvollziehbar, dass die Erstbeschwerdeführerin ihren jetzigen Mann nicht heiraten hätte dürfen, weil dieser finanziell nicht stabil gewesen sei, wenn die Familie der Erstbeschwerdeführerin keine finanziellen Probleme hatte und die Erstbeschwerdeführerin nicht aus wirtschaftlichen Gründen verheiraten hätte müssen (BF1 AS 132, 133; VP Sitzung 24). Dabei ist auch ins Kalkül zu ziehen, dass der jetzige Ehemann der Erstbeschwerdeführerin als Zeuge befragt angab, dass die wirtschaftliche Situation seiner Familie bereits seit 20 Jahren äußerst schlecht sei. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache, ist es nicht plausibel, dass die Erstbeschwerdeführerin ihrem jetzigen Ehemann im Kindesalter versprochen worden sei, wobei auch die damalige wirtschaftliche Situation der Familie ihres jetzigen Ehemannes schlecht war und es seitdem keine diesbezüglich keine Verschlechterung eingetreten ist, sondern im Gegenteil der jetzige Ehemann der Erstbeschwerdeführerin seine Familie in Afghanistan seit dem Jahr römisch 40 monatlich finanziell unterstützt (VP Sitzung 34, VP Sitzung 41).
Die Erstbeschwerdeführerin konnte aufgrund ihrer widersprüchlichen und unplausiblen Angaben somit nicht glaubhaft machen, dass sie in Afghanistan zwangsverheiratet hätte werden sollen. Eine dahingehende Bedrohung oder Verfolgung durch ihren Vater, sonstige Familienangehörige oder die Regierung in Afghanistan konnte die Erstbeschwerdeführerin nicht glaubhaft machen.
Das Gericht geht daher davon aus, dass die Ehe der Erstbeschwerdeführerin und des als Zeugen befragten jetzigen Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin bereits im Iran geschlossen wurde und die Familien der Erstbeschwerdeführerin sowie des Zeugen mit der Ehe einverstanden waren. Zudem ist aufgrund weiters davon auszugehen, dass die Erstbeschwerdeführerin ihrem jetzigen Ehemann bereits seit ihrer Kindheit versprochen war und diesen auch heiraten wollte, was sich aufgrund der dazu gemachten übereinstimmenden und widerspruchsfreien Angaben der Erstbeschwerdeführerin und des Zeugen ergibt. Daher geht das Gericht davon aus, dass die Erstbeschwerdeführerin niemals von ihrem Vater mit einem anderen Mann zwangsverheiratet werden hätte sollen.
2.2.2. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan haben sich keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, einer Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe ausgesetzt zu sein.
Es haben sich im Verfahren auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Erstbeschwerdeführerin verwestlicht sei. Die Erstbeschwerdeführerin hat seit ihrer Einreise bis dato keinen Deutschkurs besucht und auch keine Deutschprüfung abgelegt. Sie spricht kein Deutsch. Sie ist auch kein Mitglied in einem Verein, übt keine ehrenamtliche Tätigkeit aus und geht auch sonst keiner beruflichen Tätigkeit nach. Zudem unternimmt die Erstbeschwerdeführerin – ihren eigenen Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt zufolge – in ihrer Freizeit nie etwas alleine, sondern erledigt nur Hausarbeiten alleine, wenn ihr Mann arbeiten geht (BF1 AS 135). Zwar gab die Erstbeschwerdeführerin an, alleine einkaufen zu gehen (BF1 AS 135), dieser Umstand alleine reicht jedoch nicht aus, um von einer Verwestlichung der Erstbeschwerdeführerin auszugehen. In ihrer mündlichen Verhandlung gab sie zwar an, dass sie sich mit Freunden treffe und nannte diese auch namentlich (VP Sitzung 18). Sie unterhält sich mit diesen jedoch nur in der Sprachen Dari (VP Sitzung 19) und es handelt sich dabei um Frauen, mit deren Ehemännern der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin befreundet ist (VP Sitzung 18). Zwar konnte sowohl in der niederschriftlichen Einvernahme (BF1 AS 136), als auch in der mündlichen Verhandlung (VP Sitzung 17) wahrgenommen werden, dass sich die Erstbeschwerdeführerin „westlich“ kleidet. Dieser Umstand alleine reicht jedoch nicht aus um davon auszugehen, dass die Erstbeschwerdeführerin in Österreich ein selbstständiges, eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führt: Die Erstbeschwerdeführerin hat in der mündlichen Verhandlung zwar angeben, dass sie entweder als Friseurin oder als Verkäuferin arbeiten wollen würde. Sie konnte jedoch keinerlei Angaben dazu machen, warum sie diese Berufe ausüben wolle und welche Voraussetzungen sie erfüllen müsse bzw. welche Ausbildungen sie benötigen würde, um diese Berufe auszuüben. Die Erstbeschwerdeführerin konnte diese Absicht nicht glaubhaft darlegen, zumal aus ihren Angaben dazu jedoch weder hervorging, warum die Erstbeschwerdeführerin diese Berufe ausüben wolle, noch hat sich die Erstbeschwerdeführerin ernsthaft erkundigt, welche Schritte sie unternehmen müsste bzw. welche Ausbildung sie machen müsste, um diese Berufe ausüben zu können. Sie machte bei Gericht insgesamt den Eindruck, dass sie sich nur sehr oberflächlich mit Berufen und Ausbildungsmöglichkeiten in Österreich beschäftigt hat (VP Sitzung 16).
Zusammenfassend ergab sich, dass die Erstbeschwerdeführerin eine "westliche Orientierung", der eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise immanent ist, weder verinnerlicht noch in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert hat. Die Erstbeschwerdeführerin ist eine zum Entscheidungszeitpunkt unselbständige Frau, mit lediglich geringen Deutschkenntnisse, die in Österreich nur den kleinstmöglichen Bewegungsradius wahrnimmt. Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen und aus dem im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnenen Gesamteindruck, den die Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, ließ sich eine Verinnerlichung einer "westlichen Lebensweise", die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt, nicht ableiten.
Eine westliche Orientierung der Erstbeschwerdeführerin konnte somit nicht erkannt werden. Eine Bedrohung oder Verfolgung der Erstbeschwerdeführerin aufgrund einer westlichen Orientierung kann ebenso ausgeschlossen werden, zumal die Erstbeschwerdeführerin in Österreich kein selbstbestimmtes Leben führt und bis dato noch keine Verwestlichung stattgefunden haben kann.
2.2.3. Dass die Beschwerdeführer in Afghanistan weder aufgrund ihrer Volksgruppen- noch Religionszugehörigkeit verfolgt werden, ist dem Umstand zu entnehmen, dass die Erstbeschwerdeführerin weder in der Erstbefragung noch in der niederschriftlichen Einvernahme dahingehende Angaben machte. Zudem gab sie in der mündlichen Verhandlung explizit an, dass sie im Herkunftsstaat nicht aufgrund ihrer Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit verfolgt worden sei (VP Sitzung 31, Sitzung 32). Eine Verfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Tadschiken sowie der Angehörigen der sunnitisch-muslimischen Religion war auch dem Länderinformationsblatt nicht zu entnehmen.
2.3. Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben der Beschwerdeführer in Österreich:
Die Feststellungen betreffend die Einreise der Beschwerdeführer, ihren durchgehenden Aufenthalt in Österreich seit Februar 2020 und ihre Asylantragsstellung ergeben sich aus der Erstbefragung vom 24.02.2020 sowie der diesbezüglichen Angabe der Erstbeschwerdeführerin in der niederschriftlichen Einvernahme (BF1 AS 11ff, AS 134).
Die Feststellung betreffend die Bescheide des Bundesamtes vom 10.09.2020 (BF1 AS 163ff) sowie die Bescheide des Bundesamtes vom 15.03.2021 (BF1 OZ 3) können dem unbestrittenen Akteinhalt entnommen werden.
Dass die Erstbeschwerdeführerin kein Deutsch spricht, ergibt sich aus dem Umstand, dass sie die in der mündlichen Verhandlung auf Deutsch gestellten Fragen nicht beantworten konnte (VP Sitzung 14). Dass sie seit ihrer Einreise keine Alphabetisierungskurse und Deutschkurse besucht hat sowie keine Deutschprüfungen abgelegt hat, kann ihrer glaubhaften Angabe in der mündlichen Verhandlung entnommen werden (VP Sitzung 15). Dass die Erstbeschwerdeführerin keine ehrenamtliche Tätigkeit in Österreich geleistet hat, sie in Österreich bis dato nicht erwerbstätig war und auch keine Einstellungszusagen vorgelegt hat, konnte ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung entnommen werden (BF1 AS 135, VP Sitzung 15, Sitzung 17). Dass die Erstbeschwerdeführerin in ihrer Freizeit einkaufen geht und sich mit Freundinnen trifft und mit diesen oder ihrem Mann spazieren geht kann ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung entnommen werden (VP Sitzung 17). Dass ihr Lebensunterhalt durch das Einkommen ihres Ehemannes finanziert wird, kann den glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin sowie des Zeugen in der mündlichen Verhandlung entnommen werden. Ebenso verhält es sich mit der Feststellung zum Einkommen des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin (VP Sitzung 16, Sitzung 34).
Dass die Erstbeschwerdeführerin mit dem Zweitbeschwerdeführer sowie mit ihrem Ehemann im gemeinsamen Haushalt lebt, kann den glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin sowie des Zeugen in der mündlichen Verhandlung (VP Sitzung 18) sowie einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister entnommen werden. Die Feststellung, dass die Beschwerdeführer seit dem römisch 40 in Österreich behördlich gemeldet sind, kann ebenso einem Auszug aus dem Zentralen Melderegister entnommen werden.
Dass eine Cousine der Erstbeschwerdeführerin in Österreich lebt, kann ihrer glaubhaften Angabe in der niederschriftlichen Einvernahme (BF1 AS 135) sowie in der mündlichen Verhandlung entnommen werden (VP Sitzung 18). Dass die Erstbeschwerdeführerin zu dieser nicht in Kontakt steht, konnte ihrer diesbezüglichen Angabe in der mündlichen Verhandlung entnommen werden (VP Sitzung 18).
Dass die Erstbeschwerdeführerin strafgerichtlich unbescholten ist, kann einem Auszug aus dem Strafregister entnommen werden. Dass der Zweitbeschwerdeführer strafunmündig ist, ergibt sich aus dessen Alter.
2.4. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zu Spruchteil A) Spruchpunkt römisch eins. der angefochtenen Bescheide – Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten
3.1.1. Gesetzliche Grundlagen
Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
…“
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
3.1.2. Die von der Erstbeschwerdeführerin geschilderten Vorfälle, genauer eine drohende Zwangsverheiratung durch ihren Vater sowie die Verhinderung der Eheschließung mit ihrem jetzigen Ehemann durch ihren Vater, haben nicht stattgefunden. Die Erstbeschwerdeführerin wird im Herkunftsstaat weder durch ihren Vater, noch durch ihre Brüder, noch durch die Regierung oder sonstige Personen verfolgt.
Die Beschwerdeführer konnten ihr Fluchtvorbringen nicht glaubhaft machen.
Zudem brachten die Beschwerdeführer keinen Fluchtgrund vor, der einem der gemäß Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK relevanten Gründen entspricht.
Die Beschwerdeführer sind auch aufgrund ihrer Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit keiner Gefahr einer persönlichen Bedrohung oder Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt.
Die Erstbeschwerdeführerin wird ferner auch nicht aufgrund einer westlichen Orientierung verfolgt. Sie machte im Verfahren keine Angaben, die für eine Verwestlichung sprechen würden.
Den Beschwerdeführern ist es deshalb nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.
Da insgesamt weder eine individuell-konkrete Verfolgung, eine Gruppenverfolgung oder Verfolgungsgefahr noch eine begründete Furcht festgestellt werden konnten, liegen die Voraussetzungen des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG nicht vor.
Die Beschwerden gegen Spruchpunkt römisch eins. der angefochtenen Bescheide sind daher gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlichen Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
ECLI:AT:BVWG:2022:W283.2235914.1.00