Bundesverwaltungsgericht
22.03.2022
L519 2250350-1
L519 2250350-1/20E
Schriftliche Ausfertigung des am 09.02.2022 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF über die Beschwerde des römisch 40 , geb. römisch 40 , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.12.2021, Zl. römisch 40 , betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines unbefristeten Einreiseverbotes nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.02.2022 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
römisch eins.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge als BF bezeichnet), ein Staatsangehöriger der Türkei, wurde am römisch 40 in römisch 40 geboren.
römisch eins.2. Der BF hält sich seit 16.04.2003 mit Unterbrechungen im Bundesgebiet auf und verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU".
römisch eins.3. Vom LG für Strafsachen Wien wurde der BF am 03.08.2016 (rk. 09.08.2016), römisch 40 , wegen Paragraphen 83, (1), 107 (1) und 105 (1) StGB, zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt, Probezeit 3 Jahre, verurteilt.
römisch eins.4. Gegen den BF wurden im März, April und Juni 2016 sowie im Jahr 2020 wegen Gewalt in der Familie Betretungsverbote ausgesprochen.
römisch eins.5. Vom LG für Strafsachen Wien wurde der BF am 19.03.2020, römisch 40 , wegen Paragraphen 107 a, (1) und (2) Ziffer eins und Ziffer 2, StGB, zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt, Probezeit 3 Jahre, rechtskräftig verurteilt.
römisch eins.6. Vom LG für Strafsachen Wien wurde der BF am 21.04.2021 (rk. 27.04.2021), römisch 40 , wegen Paragraphen 146,, 147 (1) Ziffer eins,, 147 (2), 15, 12 zweiter und dritter Fall StGB, zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten bedingt, Probezeit 3 Jahre, verurteilt.
römisch eins.7. Vom LG für Strafsachen Wien wurde der BF am 22.01.2021 (rk. 11.10.2021), römisch 40 , wegen Paragraphen 206, (1), 207 (1), 202 (1), 107a (1) und (2) Ziffer eins und Ziffer ,, 201 (1), 201 (2) 1. Fall, 201 (2) 2. Fall, 107b (1), 107b (2), 107b (3) Ziffer eins,, 107 (4) 2. Fall, 212 (1) Ziffer eins und 105 (1) StGB, zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem. Paragraph 21, Absatz 2, StGB eingewiesen.
Einer dagegen erhobenen Berufung wurde vom OLG Wien am 11.10.2021, römisch 40 , nicht Folge gegeben.
römisch eins.8. Am 07.07.2021 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den BF eingeleitet. Gleichzeitig wurde er aufgefordert, binnen 14 Tagen 17 Fragen, überwiegend zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich, zu beantworten.
römisch eins.9. Dem BF wurde vom Bundesamt am 11.11.2021 neuerlich eine Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme hinsichtlich einer beabsichtigten aufenthaltsbeendenden Maßnahme mit der Möglichkeit zu Abgabe einer Stellungnahme innerhalb einer Frist von 14 Tagen übermittelt.
römisch eins.10. In seiner Stellungnahme führte der BF im Wesentlichen aus, dass er seit 2003 im Bundesgebiet aufhältig sei und ein jeweils auf fünf Jahre befristetes Visum habe. Er habe in der Türkei 13 Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen und er sei Kunststofftechniker. Er sei geschieden und habe zwei, 2007 bzw. 2014 geborene Kinder. Diese würden bei der Kindesmutter in Wien leben. Seine letzte Wohnanschrift in der Türkei laute: römisch 40 . Dort würden nach wie vor Eltern und Geschwister leben, zu den er auch regelmäßig Kontakt habe. Vor der Inhaftierung habe er bei der Bäckerei römisch 40 16 Jahre und zuletzt als Taxilenker gearbeitet. Er werde in der Türkei weder politisch noch strafrechtlich verfolgt. Er wolle wegen des Kontaktes zu seinen Kindern in Österreich bleiben.
römisch eins.11. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 06.12.2021 wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 5, FPG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG erlassen (Spruchpunkt römisch eins.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Türkei gemäß Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch II.). Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer 5, FPG wurde über den BF ein unbefristetes Einreiseverbot verhängt (Spruchpunkt römisch III.) und gemäß Paragraph 55, Absatz 4, FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt römisch IV.). Einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, Ziffer eins, BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt römisch fünf.).
Begründend wurde angeführt, dass der BF mehrfach verurteilt wurde und eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. So wäre der BF zuletzt wegen den Verbrechen der Vergewaltigung, geschlechtlichen Nötigung, schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen und mehrerer Vergehen zu einer unbedingten Haftstrafe von 14 Jahren und Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt worden. Aufgrund der massiven Straftaten sei auch das unbefristete Einreiseverbot notwendig.
römisch eins.12. Gegen den am 09.12.2021 zugestellten Bescheid des Bundesamtes wurde vom BF fristgerecht Beschwerde erhoben. In dieser wurden inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert. So wäre die Entscheidung ohne Durchführung einer Einvernahme erlassen worden, weswegen der Grundsatz des Parteiengehörs verletzt worden wäre. Auch hinsichtlich des Privat- und Familienlebens gem. Artikel 8, EMRK hätte das Bundesamt nicht die erforderlichen Ermittlungsschritte gesetzt. Das Einreiseverbot sei rechtswidrig erlassen worden, weil der BF nur die Möglichkeit hatte, schriftlich Stellung zu nehmen. Weiter sei nach Artikel 7, der Rückführungs-RL (RL 2008/115/EG) grundsätzlich eine Frist zur freiwilligen Ausreise zu gewähren.
Beantragt würde jedenfalls eine mündliche Verhandlung, den Bescheid im angefochtenen Umfang zu beheben, das Einreiseverbot ersatzlos zu beheben und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. In eventu das Einreiseverbot auf eine angemessene Dauer zu befristen, in eventu den Bescheid ersatzlos zu beheben und an das Bundesamt zurückzuverweisen und die ordentliche Revision zuzulassen.
römisch eins.13. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.01.2022 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gemäß Paragraph 18, Absatz 5, BFA-VG nicht zuerkannt. Begründend wurde ausgeführt, dass entsprechend der nachvollziehbaren und schlüssigen Ermittlungsergebnisse der belangten Behörde und des eigenen Vorbringens des BF davon auszugehen ist, dass der weitere Aufenthalt des BF in Österreich nach seiner Entlassung aus der Strafhaft eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen würde, zumal diesem auch geistige Abnormität attestiert wurde.
römisch eins.14. Für den 31.01.2022 wurde vom Bundesverwaltungsgericht die ehemalige Gattin des BF, römisch 40 , zu einer zeugenschaftlichen Befragung geladen, um dort Angaben zum Familienleben tätigen zu können. Die Verhandlung musste jedoch am 28.01.2022 abberaumt werden, weil bei römisch 40 ein Ansteckungsverdacht an SARS-CoV-2/COVID-19 festgestellt und diese vom zuständigen Magistrat deswegen mit Bescheid abgesondert wurde.
römisch eins.15. Au s diesem Grund wurden am 31.01.2022 an römisch 40 schriftlich 17 Fragen mit der Bitte um präzise Beantwortung übermittelt. Von der Zeugin wurde die Beantwortung der Fragen am 07.02.2022 an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.
römisch eins.16. Mit Eingabe vom 31.01.2022 langten die angeforderte Besucherliste und mehrere Einzelgesprächsnachweise des BF aus der JA Wien-Josefstadt ein.
römisch eins.17. Am 09.02.2022 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, seinen Standpunkt umfassend darzulegen.
Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen verkündet und seitens des BF mit Eingabe vom 23.02.2022 die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
römisch eins.1. Feststellungen:
römisch eins.1.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, er ist Staatsangehöriger der Türkei und somit Drittstaatsangehöriger. Der BF wurde am römisch 40 in römisch 40 geboren, wo er bis zur Ausreise im Jahr 2003 gelebt hat. Er hat in der Türkei 13 Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Anschließend absolvierte er eine Lehre zum Kunststofftechniker.
Der BF ist gesund und benötigt keine Medikamente. Er gehört nicht zu einer Covid19 Risikogruppe.
Der BF ist seit 11.09.2019 von seiner Gattin römisch 40 geschieden und Vater der gemeinsamen Kinder römisch 40 , geb. römisch 40 und römisch 40 , geb. 22.07.2014. Die geschiedene Gattin ist auch die Mutter der römisch 40 , am römisch 40 geboren, die sie in die Ehe mitgebracht hat.
römisch eins.1.2. Der BF hält sich seit 2003 mit Unterbrechungen im Bundesgebiet auf und verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU". Von 05. bis 10.8.2016 und von 29.11.2019 bis 19.01.2020 war der BF in Österreich nicht gemeldet. Von 11.8.2016 bis 12.10.2016 war der BF im Bundesgebiet lediglich mit Nebenwohnsitz gemeldet.
Der Beschwerdeführer stellte keinen Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft.
römisch eins.1.3. Der BF hat in Österreich legal gearbeitet, war allerdings teilweise nur geringfügig beschäftigt. Lediglich von 2004 bis 2019 findet sich ein längeres Dienstverhältnis bei der römisch 40 in Wien. Von August 2019 bis Juni 2020 hat der BF Arbeitslosengeld bezogen, ehe er zuletzt vor seiner Verhaftung geringfügig bei einem Taxiunternehmen beschäftigt war.
Der BF fällt in den Anwendungsbereich des Artikel 6, ARB 1/80.
römisch eins.1.4. Im Bundesgebiet leben noch die geschiedene Gattin, deren Tochter und die der damaligen Ehe entsprungenen gemeinsamen minderjährigen Kinder. Alle drei Kinder wohnen bei der Mutter und wurde dieser das alleinige Sorgerecht über die beiden minderjährigen Kinder zugesprochen. Es besteht weder von den Kindern noch deren Mutter ein Kontakt zum BF, ein solcher wird auch nicht gewünscht. Besuche in der Haftanstalt sind ebenfalls nicht erfolgt. Der BF kommt auch nicht für den Unterhalt auf.
Der BF pflegt normale soziale Kontakte, hat jedoch keinen ausgeprägten österreichischen Freundeskreis. Er konnte lediglich ein paar Namen von Nachbarn und ehemaligen Arbeitskollegen bekannt geben. Tiefer gehende Freundschaftsverhältnisse konnte er dessen ungeachtet nicht darlegen. Der BF gibt an, die Deutschprüfung auf dem Niveau A1 bestanden zu haben, konnte dies mangels Zertifikat jedoch nicht belegen. Er ist in keinem Verein Mitglied und leistet keine ehrenamtlichen Tätigkeiten. In einem Moscheeverein absolvierte er Hilfstätigkeiten.
römisch eins.1.5. In römisch 40 leben nach wie vor die Eltern des BF und ein Bruder mit seiner Frau, zu denen der BF regelmäßig Kontakt hält. Die Eltern besitzen ein Haus, in dem der BF über eine eigene Eigentumswohnung verfügt, welche derzeit leer steht. Seine Mutter und sein Vater beziehen eine Pension, der Bruder arbeitet in einem Hotel.
Der BF spricht Türkisch und gebrochen Deutsch.
Der BF verfügt somit in seinem Herkunftsstaat über eine – wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich – gesicherte Existenzgrundlage sowie über familiäre Anknüpfungspunkte in römisch 40 .
römisch eins.1.6. Der BF verfügt über ein türkisches Reisedokument im Original.
römisch eins.1.7. Der BF wurde im Bundesgebiet bis dato vier Mal rechtkräftig verurteilt:
Vom LG für Strafsachen Wien am 03.08.2016 (rk. 09.08.2016), römisch 40 , wegen Paragraphen 83, (1), 107 (1) und 105 (1) StGB, zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt, Probezeit 3 Jahre.
Vom LG für Strafsachen Wien am 19.03.2020, römisch 40 , wegen Paragraphen 107 a, (1) und (2) Ziffer eins und Ziffer 2, StGB, zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt, Probezeit 3 Jahre.
Vom LG für Strafsachen Wien am 21.04.2021 (rk. 27.04.2021), römisch 40 , wegen Paragraphen 146,, 147 (1) Ziffer eins,, 147 (2), 15, 12 zweiter und dritter Fall StGB, zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten bedingt, Probezeit 3 Jahre.
Vom LG für Strafsachen Wien am 22.01.2021 (rk. 11.10.2021), römisch 40 , wegen Paragraphen 206, (1), 207 (1), 202 (1), 107a (1) und (2) Ziffer eins und Ziffer ,, 201 (1), 201 (2) 1. Fall, 201 (2) 2. Fall, 107b (1), 107b (2), 107b (3) Ziffer eins,, 107 (4) 2. Fall, 212 (1) Ziffer eins und 105 (1) StGB, zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren. Weiter erfolgte eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem. Paragraph 21, Absatz 2, StGB.
römisch eins.1.8. Zur aktuellen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer vollständig offengelegten Quellen getroffen:
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zum Inhalt:
In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Somit ist, insbesondere was die COVID-19-Maßnahmen anlangt, das Datum der jeweiligen Quelle zu beachten, und nicht nur das Aktualisierungsdatum des Kapitels.
Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie auf die Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.
Nebst dem separaten Kapitel zur COVID-19-Situation, das eine aktuelle Momentaufnahme bzw. einen Überblick bietet, finden sich darüber hinaus spezifische Informationen zur COVID-19-Lage und deren Auswirkungen in eigenen Abschnitten folgender Kapitel bzw. Unter-Kapitel der vorliegenden Länderinformation:
● Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
● Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
● Opposition
● Haftbedingungen
● Roma
● Sexuelle Minderheiten
● Bewegungsfreiheit
● Flüchtlinge
● Grundversorgung / Wirtschaft
Auf die Justizreformstrategie 2019-2023 wird nur dann Bezug genommen, wenn tatsächlich Reformen zumindest in Gesetzestexte gegossen werden.
Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung: In der Türkei wird seitens der staatlichen Vertreter und der breiten Öffentlichkeit die Abkürzung "FETÖ", mitunter die vollständige Bezeichnung "Fetullahçı Terör Örgütü" verwendet, in deutscher Übersetzung: "Fetullahistische Terror Organisation". Da die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung weder in Österreich noch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (auch nicht in den USA) als Terrororganisation eingestuft wird, was im gegenteiligen Fall unmittelbare Auswirkungen z.B. auf das Asylverfahren nach sich ziehen würde, wird von der Verwendung der Abkürzung "FETÖ" abgesehen, bzw. ist diese zu vermeiden. Die Abkürzung "FETÖ" tritt im Bericht lediglich dort in Erscheinung, wo aus dem Kontext eindeutig hervorgeht, dass diese von Institutionen oder Vertretern des türkischen Staates verwendet wird.
Zur Form:
Wie in allen Länderinformationen wird bei staatlichen nationalen Institutionen in der Quellenangabe das Land in eckiger Klammer genannt. Aus Gründen der Stringenz geschieht dies auch, wenn aus dem Quellennamen das Land bereits eindeutig hervorgeht.
Bei einer Vielzahl von Autoren bzw. Herausgebern wird in der Quellenangabe deren Nennung in der Regel auf zwei bis drei limitiert und mit der Abkürzung "u.a." indiziert, dass es Weitere gibt.
COVID-19-Pandemie
Letzte Änderung: 10.03.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Im Februar 2022 verzeichnete die Türkei täglich im Schnitt rund 93.000 Neuinfektionen und 240 Tote. Bis Ende Februar 2022 waren rund 94.500 Menschen offiziell an den Folgen von COVID-19 verstorben (JHU 1.3.2022).
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (DS 11.3.2020). Erst am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca die Aufnahme aller positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020, S.9).
Beginnend mit 1.7.2021 wurde ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche sowie am Wochenende wurden aufgehoben. Einzig muss weiterhin ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt. Mit 15.1.2022 wurde die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests für ungeimpfte Personen beim Besuch von Kinos, Konzerten, Theater oder anderen Events aufgehoben. Bei Inlands- oder internationalen Flügen müssen ungeimpfte Personen aber weiterhin einen negativen PCR-Test vorlegen. Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn wird ein sogenannter HES-Code (Hayat Eve Sigar) benötigt. Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt (WKO 21.2.2022). Ärzte und Krankenhausangestellte kritisierten, dass die Regierung diese Lockerungen viel zu früh eingeleitet habe (DW 2.7.2021).
Die türkische Ärztekammer (TTB) kritisierte im Oktober 2021, dass die Türkei es versäumt hätte, im vergangenen Jahr mindestens 55.000 COVID-19-Todesfälle zu registrieren. Denn bei der Analyse aller Daten von Gemeinden, Regierung, Statistikamt und anderen offiziellen Quellen in 20 Provinzen (i.e. 42% der Bevölkerung) wurden im Jahr 2020 48.000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich zum Durchschnitt der letzten drei Jahre verzeichnet. Auch 2021 seien ungewöhnlich hohe Sterberaten beobachtet worden (Ahval 20.10.2021).
Quellen:
Ahval (20.10.2021): Turkey failed to register at least 55,000 COVID-19 deaths in 2020 - medical group, https://ahvalnews.com/turkey-covid-19/turkey-failed-register-least-55000-covid-19-deaths-2020-medical-group, Zugriff 28.2.2022
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (30.11.2020): Briefing Notes, KW 49, COVID-19-Zahlen, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw49-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 28.2.2022
DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkey-remains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff 28.2.2022
DW – Deutsche Welle (2.7.2021): Corona: Trügerische Entwarnung in der Türkei? https://www.dw.com/de/corona-tr%C3%Bcgerische-entwarnung-in-der-t%C3%Bcrkei/a-58136817, Zugriff 28.2.2022
JHU - Johns Hopkins University & Medicine (1.3.2022): COVID-19 Dashboard by the Center for Systems Science and Engineering (CSSE) at Johns Hopkins University (JHU), https://coronavirus.jhu.edu/map.html, Zugriff 28.2.2022
WKO – Wirtschaftskammer Österreich (21.2.2022): Coronavirus: Situation in der Türkei, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html#heading_Schutzmassnahmen_und_Geschaeftsleben, Zugriff 28.2.2022
Politische Lage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, einen „Dauerwahlkampf“ sowie den Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Die Gesellschaft bleibt stark polarisiert. Unter der Bevölkerung nimmt die Unzufriedenheit mit Präsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu (ÖB 30.11.2021, S.4). Teilweise unter Polizeigewalt aufgelöste Demonstrationen und Proteste gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und Femizide (ZO 27.3.2021, Standard 1.7.2021), studentischerseits gegen die Einmischung der Politik an den Universitäten (HRW 6.4.2021, RND 15.7.2021) sowie gegen Jahresende 2021 gegen die rapide Teuerung und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage prägten zuletzt das Land (DW 24.11.2021, DF 12.12.2021).
Die Türkei ist eine konstitutionelle Präsidialrepublik und laut Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidentiellen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident (AA 3.6.2021, S.6; vergleiche DFAT 10.9.2020, S.14).
Das Funktionieren der demokratischen Institutionen weist gravierende Mängel auf. Der Demokratieabbau hat sich ebenso fortgesetzt wie die tiefe politische Polarisierung (EC 19.10.2021, S.3, 10f). Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei AKP zugunsten des neuen präsidentiellen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert und die Institutionen verkrüppelt. Zudem herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Das Europäische Parlament zeigte sich in seiner Entschließung vom 19.5.2021 "beunruhigt darüber, dass sich die autoritäre Auslegung des Präsidialsystems konsolidiert", und "dass sich die Macht nach der Änderung der Verfassung nach wie vor in hohem Maße im Präsidentenamt konzentriert, nicht nur zum Nachteil des Parlaments, sondern auch des Ministerrats selbst, weshalb keine solide und effektive Gewaltenteilung zwischen der Exekutive, der Legislative und der Judikative gewährleistet ist" (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55). Die exekutive Gewalt ist beim Präsidenten konzentriert. Dieser verfügt überdies über umfangreiche legislative Kompetenzen und weitgehenden Zugriff auf die Justizbehörden (ÖB 30.11.2021, S.5). Beschränkungen der für eine effektive demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive erforderlichen gegenseitigen Kontrolle und insbesondere die fehlende Rechenschaftspflicht des Präsidenten bleiben ebenso bestehen wie der zunehmende Einfluss der Präsidentschaft auf staatliche Institutionen und Regulierungsbehörden. Das Parlament wird marginalisiert, seine Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen weitgehend untergraben und seine Vorrechte immer wieder durch Präsidentendekrete verletzt (EP 19.5.2021, S.20/Pt. 55; vergleiche EC 19.10.2021, S.3, 10f). Die Angriffe auf die Oppositionsparteien wurden fortgesetzt, u.a. indem das Verfassungsgericht die Annahme einer Anklage durch den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts entgegennahm, die darauf abzielt, die zweitgrößte Oppositionspartei zu verbieten, was zur Schwächung des politischen Pluralismus in der Türkei beigetragen hat (EC 19.10.2021, S.3, 10f).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Artikel ,). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9). Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der "Souveräne Wohlfahrtsfonds", sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019, S.14).
Das System des öffentlichen Dienstes ist weiterhin von Parteinahme und Politisierung geprägt. In Verbindung mit der übermäßigen präsidialen Kontrolle auf jeder Ebene des Staatsapparats hat dies zu einem allgemeinen Rückgang von Effizienz, Kapazität und Qualität der öffentlichen Verwaltung geführt (EP 19.5.2021, S.20, Pt.57). Insgesamt fehlt es an einer umfassenden Reformagenda für die öffentliche Verwaltung. Nach wie vor bestehen Bedenken hinsichtlich der Rechenschaftspflicht der Verwaltung. Es fehlt der politische Wille zur Reform. Die Politikgestaltung ist weder faktenbasiert noch partizipativ (EC 19.10.2021, S.18). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020, S.12).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vergleiche HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef, setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. PACE stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1; vergleiche EP 19.5.2021, S.7-14).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteilisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz wiederholter Empfehlungen internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des EGMR nicht gesenkt. Die noch unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-säkulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem damals noch geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt, da die regierende AKP erfolgreich eine Annullierung durch die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 erwirkte (FAZ 23.6.2019; vergleiche Standard 23.6.2019). Diese Wahl war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Das Präsidialsystem hat die legislative Funktion des Parlaments geschwächt, insbesondere aufgrund der weitverbreiteten Verwendung von Präsidentendekreten und -entscheidungen (EC 19.10.2021, S.11; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.5). Präsidentendekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 30.11.2021, S.5) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidentendekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments (EC 6.10.2020, S.12), nichtsdestotrotz hat das Parlament nur 61 von 821 vorgeschlagenen Gesetzen (im Berichtszeitraum der Europäischen Kommission) verabschiedet. Dem gegenüber stehen 77 Präsidialerlässe zu einem breiten Spektrum von Politikbereichen, einschließlich sozioökonomischer Themen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich von Präsidentendekreten fallen (EC 19.10.2021, S.11). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidentendekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidentendekreten beantragen kann (EC 29.5.2019, S.14).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemalige Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft [Stand Februar 2022], im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020) sowie einer ebensolchen nachdrücklichen Forderung des Ministerkomitees des Europarates von Anfang Dezember 2021, die unverzügliche Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten (CoE-CoM 2.12.2021). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vergleiche AAN 17.3.2021).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend sind Parlamentarier der Opposition von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum mehrheitlich die Parlamentarier der HDP betroffen sind. Auf Letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen (PACE 22.4.2021, S.2f). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von 40 Abgeordneten der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), unter ihnen auch die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden, verletzt hat, indem sie deren parlamentarische Immunität aufhob (BI 1.2.2022).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 19.10.2021, S.3, 10). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um ein weiteres Jahr (EC 19.10.2021, S.3; vergleiche HDN 19.7.2021). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 hatte das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet war, verabschiedet (NZZ 18.7.2018; vergleiche ZO 25.7.2018). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR (EC 19.10.2021, S.5).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020, S.15). Mit Stand Oktober 2021 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Seit Juni 2019 wurden 83 Ko-Bürgermeister [Anm.: In HDP-geführten Gemeinden übt immer eine Doppelspitze - ein Mann, eine Frau - das Amt aus, deshalb der Begriff Ko-BürgermeisterIn] verhaftet, sechs von ihnen befinden sich im Gefängnis und fünf unter Hausarrest (Stand Oktober 2021). Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen hätten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 19.10.2021, S.16). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Da zuvor keine Anklage erhoben worden war, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert (EC 6.10.2020, S.13). Die Justiz geht weiterhin systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben. Derzeit befinden sich 4.000 HDP-Mitglieder und -Funktionäre in Haft, darunter auch eine Reihe von Parlamentariern (EC 19.10.2021, S.11).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020, S.18).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie die linksextremistische DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht, verbunden mit erheblichen Einschränkungen der Grundfreiheiten (AA 3.6.2021). Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihren Ableger [TAK], den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Nachdem die Gewalt in den Jahren 2015/2016 in den städtischen Gebieten der Südosttürkei ihren Höhepunkt erreicht hatte, sank das Gewaltniveau. Dennoch kommt es mit einiger Regelmäßigkeit zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK in den abgelegenen Berggebieten im Südosten des Landes (NL-MFA 18.3.2021, S.12; vergleiche HRW 13.1.2022), was die dortige Lage weiterhin als sehr besorgniserregend erscheinen lässt (EC 19.10.2021, S.4, 15). Bestehende Spannungen werden auch durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak beeinflusst (EDA 11.11.2021), wo die Türkei ihre Militäraktionen einschließlich Drohnenangriffen auf die autonome Region Kurdistan im Irak konzentriert hat, in welcher sich PKK-Stützpunkte befinden (HRW 13.1.2022).
Die bewaffneten Auseinandersetzungen führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern, aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 19.10.2021, S.15). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden (EDA 10.2.2022).
Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zufolge kamen in der Türkei 2020 230 Personen bei bewaffneten Auseinandersetzungen (2019: 440) ums Leben, davon mindestens 55 Angehörige der Sicherheitskräfte (2019: 98), 167 bewaffnete Militante (2019: 324) und acht Zivilisten (2019:18) (İHD 4.10.2021, S.9, İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe rund 5.858 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis 3.2.2022. Im Jahr 2021 wurden 392 Todesopfer (2020: 396) registriert, wobei 255 Opfer auf irakischem und 137 auf türkischem Territorium vermerkt wurden; alleine die Provinz Şırnak verzeichnete 45 Tote (ICG 3.2.2022). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 19.10.2021, S.15).
Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (AA 11.11.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.25). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak, in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 10.2.2022).
Im Jänner 2022 wurden die Militäroperationen gegen die PKK im Südosten der Türkei und im Norden des Iraks fortgesetzt. Insbesondere wurden bei der Explosion eines Sprengsatzes Anfang Jänner drei türkische Soldaten im Bezirk Akçakale in Şanlıurfa an der türkisch-syrischen Grenze getötet. In den folgenden Tagen reagierte das Militär mit Operationen gegen PKK-Mitglieder im Grenzgebiet. Die Bodenoperationen im Südosten konzentrierten sich auf die ländlichen Gebiete der Provinzen Tunceli, Mardin und Şanlıurfa. Die Luftoperationen im Nordirak und in Nordsyrien wurden fortgeführt und richteten sich gegen hochrangige PKK-Mitglieder. In Syrien führten Bombenanschläge auf türkische Sicherheitskräfte und von Ankara unterstützte Rebellen in den türkisch kontrollierten Gebieten Afrin, al-Bab und Azaz Mitte des Monats zu Vergeltungsmaßnahmen des türkischen Militärs. Währenddessen wurde vermeldet, dass die Sicherheitskräfte im Jänner 2022 über 100 Verdächtige mit Verbindungen zum sog. Islamischen Staat festnahmen, allein am 12.1.2022 21 Personen in Mersin mit syrischer und irakischer Herkunft (ICG 1.2022).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte am 26.10.2021 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen, sowohl im Irak als auch in Syrien, um weitere zwei Jahre zu verlängern. Anders als in den Jahren zuvor stimmte nebst der pro-kurdischen HDP auch die größte Oppositionspartei, die säkular-republikanische CHP, erstmals gegen eine Verlängerung des Mandats (Anadolu 26.10.2021; vergleiche Duvar 26.10.2021).
Quellen:
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AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.2.2022) [gültig seit 8.10.2021]: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/tuerkeisicherheit/201962#content_1, Zugriff 10.2.2022
AJ – Al Jazeera (12.12.2016): Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, https://www.aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack/, Zugriff 10.2.2022
Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (26.10.2021): Turkish parliament extends troop deployment in Iraq, Syria for 2 years, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkish-parliament-extends-troop-deployment-in-iraq-syria-for-2-years/2403689, Zugriff 10.2.2022
Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (7.4.2021): Turkey blocks assets of 377 members of terrorist groups, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-blocks-assets-of-377-members-of-terrorist-groups/2200499, Zugriff 10.2.2022
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.4.2021): Briefing Notes KW 16, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw16-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 10.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 10.2.2022
Duvar (26.10.2021): In an unusual move, CHP refuses to back extending troop deployment in Iraq, Syria, https://www.duvarenglish.com/in-an-unusual-move-chp-refuses-to-back-extending-troop-deployment-in-iraq-syria-news-59341, Zugriff 10.2.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 10.2.2022
EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (10.2.2022) [gültig seit 30.8.2021): Reisehinweise Türkei, spezifische regionale Risiken, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 10.2.2022
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ICG - International Crisis Group (1.2022): CrisisWatch - Tracking Conflict Worldwide: Turkey, https://www.crisisgroup.org/crisiswatch/print?page=2&location%5B0%5D=58&date_ran=&t=CrisisWatch+Database+Filter, Zugriff 10.2.2022
İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (4.10.2021): Human Rights Association 2020 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2021/10/%C4%B0HD-2020-Violations-Report.pdf, Zugriff 10.2.2022
İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (18.5.2020a): 2019 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/05/2019-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf, Zugriff 10.2.2022
İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMMARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf, Zugriff 10.2.2022
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 10.2.2022
SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595, Zugriff 10.2.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 10.2.2022
Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor Kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung der Türkei war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016), und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).
Der gegenwärtige Staatspräsident Erdoğan und Gülen standen sich jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016).
Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S.4). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen an sich unterwandert zu haben (AA 24.8.2020, S.4). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020, S.4).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. die Hizmet-Bewegung, wie sie sich selber nennt, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht, i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vergleiche Sabah 17.6.2017).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Paralel Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (AA 3.6.2021, S.4; vergleiche UKHO 2.2018). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vergleiche Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000 Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen (EC 6.10.2020, S.20; vergleiche SCF 5.10.2020).
Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom Februar 2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt (SCF 4.3.2021). Mitte November berichtete der Innenminister, dass im Zeitraum vom 15.7.2016 bis 15.11.2021 rund 320.000 Personen verhaftet wurden und fast 100.000 weitere im Gefängnis landeten. Gegenwärtig (Stand 15.11.2021) befänden sich noch 22.340 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Gefängnis (SCF 22.11.2021).
Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der FETÖ "befreit" (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung im Rahmen des sog. "Kampfes gegen den Terrorismus" dauert an (AA 3.6.2021, S.7; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.23 , EC 19.10.2021, S.45). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten mittlerweile bereits verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten (ÖB 30.11.2021, S.23). Laut Innenminister würde noch nach rund 25.000 Personen (Stand November 2021) wegen terroristischer Vergehen gefahndet (SCF 22.11.2021). Oft genügen zur Einleitung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegung angehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB 30.11.2021, S.23). Allein in Ankara kamen laut Meldung der Polizei über 1.200 vermeintliche Unterstützer der Gülen-Bewegung in den Genuss einer Amnestie, da aufgrund der Aussagen von Verdächtigen 19.856 weitere Gülen-Mitglieder identifiziert werden konnten. Darüber hinaus identifizierte die Polizei in der Hauptstadt aufgrund der Informationen insgesamt 4.780 bislang unbekannte Gülen-Mitglieder (Anadolu 17.2.2022).
Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Sommer 2021 angeführt: Zwischen dem 28.6. und dem 3.7.2021 wurden in landesweit durchgeführten Razzien mindestens 146 Personen verhaftet, darunter aktive und entlassene Militär- und Polizeiangehörige, jedoch in der Mehrzahl ehemalige Beamte. Gegen 47 Personen ermittelte die Staatsanwaltschaft Istanbul wegen der konspirativen Benutzung von Münztelefonen. Basierend auf Gesprächsaufzeichnungen, ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass ein Mitglied der Gülen-Bewegung dasselbe Münztelefon benutzt hatte, um alle seine Kontakte nacheinander anzurufen, wobei angenommen wurde, dass andere Nummern, die direkt vor oder nach diesem Anruf angerufen wurden, ebenfalls zu Personen mit Gülen-Verbindungen gehörten (BAMF 5.7.2021, S.15; vergleiche SCF 2.7.2021). Zwischen dem 12. und dem 17.7.2021 wurden in 47 Provinzen mindestens weitere 256 Personen, größtenteils Militärangehörige, verhaftet (BAMF 19.7.2021, S.16; vergleiche SCF 16.7.2021). Zwischen dem 6. und 10.9.2021 ordneten die Behörden die Inhaftierung von insgesamt 279 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung an. Am 8.9.2021 erließ die Staatsanwaltschaft in mehreren Städten 65 Haftbefehle gegen Militäroffiziere, Richter und Staatsanwälte sowie Rechtsanwälte und Lehrer. Einige der Verdächtigten werden beschuldigt, über Münztelefone mit ihren Kontakten in der Gülen-Bewegung kommuniziert zu haben, weitere werden verdächtigt, die Handy-Anwendung ByLock genutzt zu haben (BAMF 13.9.2021, S.16; vergleiche SDZ 7.9.2021). Bereits am 13.9.2021 wurden 33 entlassene und aktive Soldaten (Anadolu 13.9.2021), und am 24.9.2021 35 Personen, die Teil eines geheimen Netzwerks der Gülen-Bewegung innerhalb der türkischen Streitkräfte sein sollen, verhaftet (BAMF 27.9.2021, S.15). In der ersten Oktoberwoche 2021 wurden bei landesweiten Razzien über 100 Personen festgenommen. Bei den Verdächtigten handelt es sich hauptsächlich um Staatsbedienstete, darunter Angestellte des Militärs und der Luftwaffe, sowie derzeitige oder ehemalige Mitarbeiter des Petro-Chemie-Unternehmens „Petkim“. Letztere sollen Konten bei der inzwischen geschlossenen Asya-Bank geführt haben (BAMF 11.10.2021, S.13; vergleiche DS 5.10.2021). Zudem wurden am 5.10.2021 durch den Rat der Richter- und Staatsanwälte (HSK) zehn Mitglieder der Staatsanwaltschaft und drei Mitglieder der Richterschaft ihres Amtes enthoben. Der HSK entschied, dass die Beschuldigten aufgrund ihrer mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung, nicht in der Lage seien, ihre Berufe auszuüben (BAMF 11.10.2021, S.13). Am 15.10.2021 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Ankara wegen mutmaßlicher Tätigkeiten für die Gülen-Bewegung Haftbefehle gegen 98 Personen innerhalb des Generalkommandos der Gendarmerie. Weitere 46 Personen wurden bei Polizeieinsätzen in 45 Provinzen festgenommen (BAMF 18.10.2021, S.14), und am 19.10.2021 haben türkische Sicherheitskräfte auf der Basis von 158 Haftbefehlen der Staatsanwaltschaft in Izmir mindestens 97 Personen bei gleichzeitigen Operationen in 41 Provinzen verhaftet, darunter sowohl aktive Soldaten als auch Militärschüler (Anadolu 19.10.2021). Im Rahmen einer von der Generalstaatsanwaltschaft in İzmir eingeleiteten Untersuchung wurden am 20.10.2021 Haftbefehle aufgrund eines geheimen Zeugen gegen 39 Frauen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung erlassen. Während Razzien in fünf Provinzen wurden 32 von ihnen festgenommen (BAMF 25.10.2021, S.15f; vergleiche DS 20.10.2021). Am 22.10.2021 wurde die landesweite Festnahme von 81 vermeintlichen Gülen-Mitgliedern vermeldet, nebst Militärangehörigen auch Mitarbeiter des Außenministeriums (DS 22.10.2021). Anfang November 2021 wurden 40 vermeintliche Führungsmitglieder der Gülen-Bewegung, welchen die Infiltration der Gendarmerie vorgeworfen wurde, verhaftet (Anadolu 2.11.2021). Am 23.11.21 erklärte die Polizei, bei Razzien in mehreren Städten in der Türkei mindestens 132 Personen festgenommen zu haben, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben. Hierbei handelt es sich um entlassene Kadetten und Soldaten sowie Soldaten im aktiven Dienst wie auch Angestellte der Gendarmerie (BAMF 29.11.2021, S.16; vergleiche Anadolu 23.11.2021). In der Folgewoche wurden weitere rund 60 Personen verhaftet, unter dem Verdacht, das Generalkommando der Gendarmerie unterwandert zu haben (Anadolu 30.11.2021). Auch 2022 gingen die Verhaftungswellen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder weiter: Am 4.1.2022 wurden bei Razzien in zahlreichen Provinzen zunächst 80 Personen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet, die meisten unter dem Verdacht, ein Netzwerk innerhalb der Gendarmerie aufgebaut zu haben (BAMF 10.1.2022, S.15; vergleiche DS 4.1.2022). Bereits am 11.1.2022 wurde die Verhaftung von 113 von insgesamt 185 gesuchten Gülen-Mitgliedern, insbesondere in den Reihen des Militärs, bei Razzien in über 40 Provinzen vermeldet (Anadolu 11.1.2022), gefolgt von über 50 Festnahmen am 14.1.2022 (BAMF 24.1.2022, S.14). In der zweiten Februarhälfte wurden in Ankara und Balıkesir 123 vermeintliche Gülen-Mitglieder verhaftet (Ahval 22.2.2022).
Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu geraten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (NL-MFA 18.3.2021, S.40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020; vergleiche ICJ 14.9.2020) [hierzu siehe auch Kapitel: Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen].
Mit Stand 9.4.2021 waren laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu insgesamt 4.820 Putschverdächtige verurteilt. 1.626 hatten eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen erhalten, 1.373 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und 1.821 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vergleiche ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon sechs unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vergleiche AP 7.4.2021). Somit waren von den 289 Prozessen hernach noch 14 ausständig (DPA 7.4.2021).
Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind (bzw. waren), sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020, S.9). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüsselten Kommunikations-App "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 3.6.2021, S.7; vergleiche NL-MFA 18.3.2021, S.38, JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 3.6.2021, S.7; vergleiche JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 3.6.2021, S.7). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019).
Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Verfassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, die die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Bewegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrecht erhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen. Zwar kann jeder mit einem Gülen-Hintergrund verfolgt werden, doch scheint eine Priorisierung nach Berufsgruppen zu bestehen, wonach Armee-, Polizei- und Angehörige des diplomatischen Corps, gefolgt von Juristen, stärker ins Visier genommen werden als beispielsweise Mitarbeiter im Medien- oder Bildungsbereich (NL-MFA 18.3.2021, S.38f.).
Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein. Moderate Richter tendieren zwischen "passiven" und "aktiven" Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Strafverfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (NL-MFA 18.3.2021, S.41).
Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher Gülen-Mitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekundärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Merkmale sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren, und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messenger-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).
Es ist ein soziales Stigma, ein Gülen-Mitglied zu sein, weshalb sich viele Bürger von ihnen distanzieren. Diese Haltung beruht nicht immer auf Hass und Abneigung, sondern ist eine Form des Selbstschutzes, aus Angst strafrechtlich verfolgt zu werden, wenn sie mit Personen der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden. Infolge der Anfeindungen und der Stigmatisierung haben vermeintliche oder tatsächliche Gülen-Mitglieder Schwierigkeiten, in der türkischen Gesellschaft zu überleben. Arbeitgeber sind nicht geneigt, diese einzustellen, aus Angst, selbst als Unterstützer oder Mitglieder der Gülen-Bewegung angesehen zu werden. Es gibt Berichte, wonach arbeitslose Gülen-Mitglieder zur Schattenwirtschaft auf der Straße oder zu einem Leben als Selbstversorger im Dorf ihrer Vorfahren verdammt sind (NL-MFA 18.3.2021, S.43).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 23.11.2021 ein Urteil zu 427 türkischen Richtern und Staatsanwälten gefällt, darunter Mitglieder des Kassationsgerichtshofs und des Staatsrates [oberstes Verwaltungsgericht], die wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung aus dem Staatsdienst entlassen und festgenommen worden waren. Gemäß EGMR-Urteil war deren Inhaftierung willkürlich und damit rechtswidrig. Die Türkei wurde deshalb zu Schadensersatzzahlungen von 5.000 EUR pro Person verurteilt. Im Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die besagten Vertreter der Justiz überhaupt in Untersuchungshaft genommen werden durften, da das türkische Recht dies für die Mitglieder der Justiz nicht erlaubt, mit Ausnahme bei unmittelbarer Verübung einer Straftat, worauf sich die türkische Regierung berief. Diese Begründung wies der EGMR als abwegig zurück, da die Mitgliedschaft in einer Organisation keine „in flagranti“-Tat sein könne (BAMF 6.12.2021, S.14).
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ZO – Zeit Online (30.12.2020): Über 100 Soldaten nach Putschversuch verurteilt, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-12/tuerkei-putschversuch-soldaten-verurteilung-umsturz-lebenslange-haft-tayyib-erdogan, Zugriff 11.2.2022
Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft (ÖB 30.11.2021, S.21f). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 15.6.2021, S.261; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.21f).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 30.11.2021, S.22).
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“, bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 30.11.2021, S.22). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie der Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die International Crisis Group verzeichnet seit 2015 mit Stand 3.2.2022 3.717 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Seit Anfang Januar 2022 konzentrierte sich die Eskalation zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften weiterhin auf den Nordirak, während es im Südosten der Türkei, insbesondere in den ländlichen Gebieten von Şanlıurfa, Bingöl und Muş, und an der türkisch-syrischen Grenze weiterhin zu gelegentlicher Gewalt kam. Das türkische Militär setzte in dieser Zeit seine Taktik fort, durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen auf höherrangige PKK-Mitglieder zu zielen (ICG 3.2.2022). Verschärft wurden die Auseinandersetzungen seit Juni 2020 mit dem Beginn der türkischen Militäroperationen „Adlerklaue“ und „Tigerkralle“ gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 15.6.2021, S.261).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vergleiche Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
Zu Verhaftungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern und PKK-Unterstützern kommt es weiterhin. So wurden Mitte Februar 2022, am Vorabend des 23. Jahrestages der Festnahme Abdullah Öcalans Dutzende Personen festgenommen: 27 in Diyarbakır, neun in Siirt, darunter die ehemalige Ko-Vorsitzende der örtlichen Demokratischen Partei der Völker (HDP), 43 in Mersin, 24 in Van, darunter vier Mitglieder der lokalen HDP-Jugendorganisation, sowie eine weitere unbekannte Anzahl von Personen in Istanbul, Izmir, Batman, Diyadin, Ağrı und Turgutlu (MedyaNews 14.2.2022; vergleiche NaT 14.2.2022).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein, oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 30.11.2021, S.22).
Die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK)
Anfang der 2000er-Jahre versuchte die PKK sich neue Organisationsformen zu geben, begleitet von zahlreichen Umbenennungen, an deren Ende die Union der Gemeinschaften Kurdistans, Koma Civakên Kurdistan (KCK), stand. 2005 gab sich die PKK im Rahmen des sogenannten KCK-Abkommens diese neue Organisationsform. Die Kontinuität PKK-KCK wurde im Abkommen festgeschrieben, wodurch jeder, der im Rahmen des KCK-Systems tätig ist, auch die ideologischen und moralischen Maßstäbe der PKK anwenden muss. So gesehen ist die KCK die ideologische und organisatorische Ummantelung der PKK (Posch 2016, S.140f). Bei der KCK handelt es sich um einen kurdischen Dachverband, dem neben der PKK auch ihre Schwesterparteien im Irak, im Iran und in Syrien sowie verschiedene gesellschaftliche Gruppen angehören (BMIBH 15.6.2021, S.261, FN 92). Die Türkei hat in den letzten Jahren zahlreiche kurdische Politiker, Aktivisten und Journalisten wegen ihrer angeblichen Verbindungen zur KCK inhaftiert und verurteilt (Rudaw 3.10.2021). Dieser Trend setzte sich fort. So wurden beispielsweise im Oktober 2021 im sog. KCK-Yüksekova-Fall von einem Gericht in Hakkari 30 Personen wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu Haftstrafen zwischen acht Jahren und neuen Monaten - und 17,5 Jahren - verurteilt (Bianet 4.10.2021, vergleiche WKI 5.10.2021). Remziye Yaşar, die ehemalige Ko-Bürgermeisterin von Yüksekova aus den Reihen der HDP, wurde zu 17,5 Jahren verurteilt (Rudaw 3.10.2021, vergleiche TM 2.10.2021). Am 25.1.2022 wurde der Ko-Vorsitzende der HDP des Bezirks Iskenderun, Abdurrahim Şahin, wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" zu zwei Jahren und einem Monat verurteilt (TİHV. 26.1.2022).
Quellen:
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Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Rückschritte bei den Grundfreiheiten sind schwerwiegend und die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ihren Institutionen hält an. Die Verschlechterung der Lage der Grundfreiheiten hat bereits vor dem infolge des Putschversuchs von 2016 verhängten Ausnahmezustands eingesetzt (EP 19.5.2021, S.7, Pt.10, 12; vergleiche HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) und markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken, beispielsweise der EU, hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern es kam gar zu Rückschritten (EC 19.10.2021, S.2, 21; vergleiche CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vergleiche EC 19.10.2021, S.21, USDOS 30.3.2021, S.1, 14f.). Das Europäische Parlament sah in der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und im systemischen Mangel an der Unabhängigkeit der Justiz die zwei dringlichsten und besorgniserregendsten Probleme und verurteilte die zunehmende Kontrolle durch die Exekutive sowie den politischen Druck, durch den die Tätigkeit von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsbeiständen und Anwaltskammern beeinträchtigt wird (EP 19.5.2021, S.9, Pt.17).
Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2021 betrafen von den 76 Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 22 das Recht auf ein faires Verfahren (ECHR 2.2022, S.11).
Eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands ergriffen wurden, sind in das Gesetz aufgenommen worden und haben tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Menschen in der Türkei (CoEU 14.12.2021, S.16, Pt.34). Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezustandes zählen insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch sind vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen und Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Europäische Parlament (EP) betrachtet die aktuellen Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung als zu weit gefasst, sodass "der Missbrauch der Antiterrormaßnahmen zum Fundament dieser staatlichen Politik der Unterdrückung der Menschenrechte und jeglicher kritischen Stimme im Land geworden sind, unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzudämmen", und "fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen" (EP 19.5.2021, S.9, Pt.14).
Unter anderem auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland entführt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht. Das EP verurteilt "die Auslieferung [durch Drittstaaten] bzw. Entführung türkischer Staatsangehöriger in die Türkei aus politischen Gründen unter Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte" (EP 19.5.2021, S.16, Pt.40). Die Europäische Kommission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingsstatus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. "Red Notices" bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S.44). [Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 19.5.2021 auch eine Reform des Artikels 299 des Strafgesetzbuches (über die Beleidigung des Präsidenten), der ständig zur Verfolgung von, insbesondere Schriftstellern, Reportern, Kolumnisten und Redakteuren missbraucht wird (EP 19.5.2021, S.11, Pt.25). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Artikel 299 erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert. Dieses Privileg steht im Widerspruch zur Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der in seiner Stellungnahme vom 19.10.2021 (Fall Vedat Şorli vs. Turkey) feststellte, dass ein Straftatbestand, der schwerere Strafen für verleumderische Äußerungen vorsieht, wenn sie an den Präsidenten gerichtet sind, grundsätzlich nicht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (LoC 7.11.2021). Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (DW 9.2.2022) und 9.773 strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger (Ahval 20.7.2021). Seit der Amtsübernahme Erdoğans 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, 3.600 wurden zu Haftstrafen verurteilt. Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (DW 9.2.2022).
Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 30.11.2021, S.6). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie desEGMR (bianet 24.2.2020). Hinzu kommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021). Das Europäische Parlament sah darin die Gefahr einer weiteren Politisierung des Rechtsanwaltsberufs, was zu einer Unvereinbarkeit mit dem Unparteilichkeitsgebot des Rechtsanwaltsberufs führt und die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet. Außerdem erkannte das EP darin "einen Versuch, die bestehenden Anwaltskammern zu entmachten und die verbliebenen kritischen Stimmen auszumerzen" (EP 19.5.2021, S.10, Pt.19).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2021 auf Rang 117 von 139 Ländern (2020: Platz 107 von 128 untersuchten Ländern). Der statistische Indikator verschlechterte sich von 0,43 auf 0,42 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,31 (Rang 133 von 139) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,28 (Platz 134 von 139) sowie bei der Strafjustiz mit 0,36 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,70, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 29.10.2021).
Gemäß Artikel 138, der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfach-gesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020, S.6). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK) infrage gestellt (AA 14.6.2019). Der HSK ist das oberste Justizverwaltungsorgan, das in Fragen der Ernennung, Beauftragung, Ermächtigung, Beförderung und Disziplinierung von Richtern wichtige Befugnisse hat (SCF 3.2021, S.5). Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung Tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden laut dem letzten Bericht der Europäischen Kommission 3.968 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen. Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken (EC 19.10.2021, S.4f, 23f).
Die in der Stellungnahme der Venedig-Kommission vom Dezember 2016 festgestellten Mängel in Bezug auf die Mindeststandards für die Entlassung von Richtern sowie die rechtlichen Garantien für die Versetzung von Richtern und Staatsanwälten wurden nicht behoben. Einsprüche gegen solche Versetzungen sind möglich, aber in der Regel erfolglos. Während des gesamten Jahres 2020 wurden weiterhin Richter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung und ohne jegliche Rechtfertigung, abgesehen von dienstlichen Erfordernissen, versetzt. Im Mai 2021 versetzte der HSK 3.070 Richter und Staatsanwälte (EC 19.10.2021, S.23). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch wird die Praxis der Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten ohne deren Zustimmung und ohne Angabe von Gründen fortgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.8). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weitverbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020, S.6, 21). Umgekehrt jedoch hat der HSK keine Maßnahmen gegen Richter ergriffen, welche Urteile des Verfassungsgerichts ignoierten (EC 19.10.2021, S.23).
Seit der Verfassungsänderung werden vier der 13 HSK-Mitglieder durch den Staatspräsidenten ernannt und sieben mit qualifizierter Mehrheit durch das Parlament. Die verbleibenden zwei Sitze im HSK gehen ex officio an den ebenfalls vom Präsidenten ernannten Justizminister und seinen Stellvertreter. Keines seiner Mitglieder wird folglich durch die Richterschaft bzw. die Staatsanwälte selbst bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.7f; vergleiche SCF 3.2021, S.46), wie dies vor 2017 noch der Fall war (SCF 3.2021, S.46). Im Mai 2021 tauschten Präsident und Parlament insgesamt elf HSK-Mitglieder und damit fast das gesamte HSK-Kollegium aus. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt (ÖB 30.11.2021, S.7f).
Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch zwölf der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 30.11.2021, S.7f). Mit Stand Juni 2021 verdankten bereits acht der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. Fünf Richter hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, zwei hatte 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht (SWP 10.6.2021, S.3).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 30.11.2021, S.8).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 30.11.2021, S.6).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht. Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Der Kritik am Umstand, dass Einsprüche gegen Anordnungen eines Friedensrichters nicht von einem Gericht, sonder wiederum von einem Friedensrichter geprüft wurde, wurde allerdings Rechnung getragen. Das Parlament beschloss im Rahmen des am 8.7.2021 verabschiedeten vierten Justizreformpakets, wonach Einsprüche gegen Entscheidungen der Friedensrichter nunmehr durch Strafgerichte erster Instanz behandelt werden. Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig-Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 30.11.2021, S.6f). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019, S.24).
Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 3.6.2021), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern (HDN 18.1.2021). Letzteres bestätigt auch die Statistik des türkischen Verfassungsgerichts. Seit der Gewährung des Individualbeschwerderechts 2012 bis Ende 2021 sind beim Verfassungsgericht 361.159 Einzelanträge eingelangt. In 302.429 Fällen wurde eine Entscheidung getroffen. Das Gericht befand 261.681 Anträge für unzulässig, was 86,5% seiner Entscheidungen entspricht, und stellte in 25.857 Fällen mindestens einen Verstoß fest. Alleinig im Jahr 2021 erhielt das Gericht 66.121 Anträge und bearbeitete 45.321 davon, wobei in 11.880 Fällen mindestens ein Grundrechtsverstoß festgestellt wurde, zum weitaus überwiegenden Teil betraf dies die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (TM 18.1.2022).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100% (ÖB 30.11.2021, S.7).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nichtbeachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vergleiche IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 3.6.2021).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und sieben weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 30.11.2021, S.9). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 19.10.2021, S.31).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Artikel 102, (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Artikel 102, (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehnjährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 30.11.2021, S.9).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es laut offiziellen Angaben zur unehrenhaften Entlassung oder Suspendierung per Dekret von 125.678 öffentlich Bediensteten, darunter ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte. Deren Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht (ÖB 30.11.2021, S.15).
Die 2017 durch ein Referendum angenommenen Änderungen der türkischen Verfassung verleihen dem Präsidenten der Republik die Befugnis, Präsidentendekrete zu erlassen. Das Präsidentendekret ist ein Novum in der türkischen Verfassungsgeschichte, da es sich um eine Art von Gesetzgebung handelt, die von der Exekutive erlassen wird, ohne dass eine vorherige Befugnisübertragung durch die Legislative oder eine anschließende Genehmigung durch die Legislative erforderlich ist, und es muss nicht auf die Anwendung eines Gesetzgebungsakts beschränkt sein, wie dies bei gewöhnlichen Verordnungen der Exekutivorgane der Fall ist. Die Befugnis zum Erlass von Präsidentenverordnungen ist somit eine direkte Regelungsbefugnis der Exekutive, die zuvor nur der Legislative vorbehalten war. [Siehe auch Kapitel: Politische Lage] Allerdings wurden im Juni 2021 im Amtsblatt drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts veröffentlicht, in denen bestimmte Bestimmungen von Präsidentendekreten aus verfassungsrechtlichen Gründen aufgehoben wurden (LoC 6.2021).
Quellen:
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HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html, Zugriff 21.2.2022
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ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik [Can, Osman] (10.6.2021): Der Antrag auf das Verbot der prokurdischen HDP beim türkischen Verfassungsgericht, SWP-Aktuell 2021/A 44,
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USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.2.2022
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Nationale Polizei und die "Jandarma" (Gendarmerie), die dem Innenministerium unterstellt sind, sind für die Sicherheit in städtischen Gebieten respektive in ländlichen und Grenzgebieten zuständig (AA 3.6.2021, S.7; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 30.11.2021, S.16), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Polizei weist eine stark zentralisierte Struktur auf. Durch die polizeiliche Rechenschaftspflicht gegenüber dem Innenministerium untersteht sie der Kontrolle der jeweiligen Regierungspartei (BICC 12.2021, S.2). Die Jandarma mit einer Stärke von - je nach Quelle - zwischen 152.000 und 186.170 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 30.11.2021, S.16; vergleiche BICC 12.2021, S.25). Selbiges gilt für die 4.700 Mann starke Küstenwache (BICC 12.2021, S.17, 25). Die Verantwortung für die Jandarma wird jedoch in Kriegszeiten dem Verteidigungsministerium übergeben (BICC 12.2021, S.18). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sogenannten "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten des Landes sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei, zunehmend mit schweren Waffen ausgerüstet, nimmt immer mehr militärische Aufgaben wahr. Dies untermauert sowohl deren Einsatz in den kurdisch dominierten Gebieten im Südosten der Türkei als auch, gemeinsam mit der Jandarma, im Rahmen von Militäroperationen im Ausland, wie während der Intervention in der syrischen Provinz Afrin im Jänner 2018 (BICC 12.2021, S.19). Polizei, Jandarma und auch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 3.6.2021, S.7).
Die 2008 abgeschaffte "Nachtwache" (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse erweitert (BI 10.6.2020; vergleiche Spiegel 9.6.2020). Das neue Gesetz gibt ihnen die Befugnis, Schusswaffen zu tragen und zu benutzen, Identitätskontrollen durchzuführen, Personen und Autos zu durchsuchen, sowie Verdächtige festzunehmen und der Polizei zu übergeben (NL-MFA 18.3.2021; S.19). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert, und sollen für ihre Aufgaben kaum (lediglich ein 90-tägiges Training) ausgebildet sein (AA 3.6.2021, S.7; vergleiche BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnviertel sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weitverbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Hinweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte gesetzliche Immunität. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 30.11.2021, S.18).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vergleiche FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Nachrichtendiensten sind nach wie vor sehr eingeschränkt. Die Kultur der Straflosigkeit ist weiterhin verbreitet. Das Sicherheitspersonal genießt in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung weiterhin einen erheblichen gerichtlichen und administrativen Schutz. Im Juni 2021 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, mit dem Rechtsschutz und Ausnahmen für das Militärpersonal eingeführt wurden. Mit Ausnahme der Fälle von in flagranti begangenen Straftaten unterliegt die Untersuchung von Straftaten, die von Militärangehörigen begangen wurden, einer vorherigen Genehmigung. Die parlamentarische Aufsicht über die Sicherheitsbehörden ist unwirksam (EC 19.10.2021, S.15).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vergleiche Ahval 7.1.2021). Das Europäische Parlament zeigte sich über die neuen Rechtsvorschriften besorgt (EP 19.5.2021, S.15, Pt.38).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 15.2.2022
Ahval (7.1.2021): Turkish police and intelligence allowed to use military weapons domestically, https://ahvalnews.com/police-violence/turkish-police-and-intelligence-allowed-use-military-weapons-domestically, Zugriff 15.2.2022
Anadolu – Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 15.2.2022
BI – Balkan Insight (10.6.2020): Turkey Opposition Condemns Move to Arm Night Watchmen, https://balkaninsight.com/2020/06/10/turkey-opposition-condemns-move-to-arm-night-watchmen/, Zugriff 15.2.2022
BICC - Internationales Konversionszentrum Bonn/ Bonn International Center for Conversion (12.2021): Länderinformation - Türkei, https://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/tuerkei/2021_Tuerkei.pdf, Zugriff 15.2.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 15.2.2022
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf, Zugriff 15.2.2022
FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 15.2.2022
Guardian – The Guardian (8.6.2020): Alarm at Turkish plan to expand powers of nightwatchmen, https://www.theguardian.com/world/2020/jun/08/alarm-at-turkish-plan-to-expand-powers-of-nightwatchmen, Zugriff 15.2.2022
HDN – Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 15.2.2022
HRW – Human Rights Watch (29.7.2020): Turkey: Police, Watchmen Involved in Torture, Ill-Treatment, https://www.hrw.org/news/2020/07/29/turkey-police-watchmen-involved-torture-ill-treatment, Zugriff 15.2.2022
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
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NZZ – Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712, Zugriff 15.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022
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Spiegel (9.6.2020): Erdogans Parallel-Polizei, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-nachbarschaftswache-recep-tayyip-erdogans-parallel-polizei-a-ece122d1-5df6-4fb9-bd24-fa44b687e5fd, Zugriff 15.2.2022
TM – Turkish Minute (28.11.2020): Erdoğan's army, https://www.turkishminute.com/2020/11/28/erdogans-army/, Zugriff 30.11.2020
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Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 3.6.2021, S.17). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 30.11.2021, S.31).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin (ÖB 30.11.2021, S.31). Folter und Misshandlung kommen weiterhin in Haftzentren der Polizei, Gendarmerie, des Militärs sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor (NL-MFA 18.3.2021, S.34; vergleiche EC 19.10.2021, S.16; İHD 4.10.2021, S.11, İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibeamte abgenommen. Von systematischer Anwendung von Folter kann dennoch nicht die Rede sein (ÖB 30.11.2021, S.31). Die Zahl der Vorkommnisse stieg insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, wobei das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen, zu einer weitverbreiteten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte geführt hat (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzuführen, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Davon abgesehen kommt es zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 4.10.2021, S.11; vergleiche TİHV 6.2021, S.13). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen (HRW 13.1.2021, vergleiche İHD/OMCT/CİSST/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). In einer Entschließung vom 19.5.2021 zeigte sich auch das Europäische Parlament "zutiefst besorgt über die anhaltenden Vorwürfe von gewaltsamen Verhaftungen, Schlägen, Folter, Misshandlungen und grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizei- und Militärgewahrsam und in Gefängnissen sowie über Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen in den vergangenen vier Jahren, über das Versäumnis der Staatsanwaltschaft, effektive Ermittlungen zu diesen Vorwürfen aufzunehmen, und über die allgegenwärtige Kultur der Straflosigkeit für die involvierten Mitglieder der Sicherheitskräfte und Amtsträger" (EP 19.5.2021; S.15, Pt.37). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte. Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 13.1.2022).
Allerdings urteilte das Verfassungsgericht 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten jener Kläger, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Beide wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021, SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verabsäumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022).
Opfer von Misshandlungen und Folter haben formal die Möglichkeit, sich bei verschiedenen Stellen zu beschweren, darunter bei der Ombudspersonstelle und der Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu - HREI). Beide Behörden stehen jedoch unter der Kontrolle der Regierung und sind nicht dafür bekannt, dass sie effizient gegen Missbräuche durch Regierungsmitarbeiter vorgehen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen. Es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (NL-MFA 18.3.2021, S.34). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Artikel 9, des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vergleiche EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Nach Angaben der İHD wurden im Jahr 2020 776 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 358 weitere in den Gefängnissen. 2.980 Demonstranten wurden während rund 850 Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 4.10.2021, S.11). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Beispiele:
Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmeriewache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vergleiche WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 21.2.2022
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WE – Washington Examiner (3.6.2019): A new phase in Turkey's crackdown: Torturing diplomats, https://www.washingtonexaminer.com/opinion/op-eds/a-new-phase-in-turkeys-crackdown-as-recep-tayyip-erdogan-tortures-diplomats, Zugriff 21.2.2022
Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Letzte Änderung: 10.03.2022
Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand Oktober 2021 gab es über 121.920 Vereine und 5.906 Stiftungen sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen (ICNL 20.11.2021).
Infolge des Ausnahmezustands und der Anti-Terror-Maßnahmen der türkischen Regierung gerieten mehrere Aktivisten jedoch zunehmend unter Druck, unter anderem wurden sie festgenommen und inhaftiert. Vor allem jene NGOs, die ausländische Gelder erhalten, laufen Gefahr, der Spionage und Kollaboration mit ausländischen Feinden beschuldigt zu werden (BS 29.4.2020). Menschenrechtsverteidiger, etwa der türkischen "Menschenrechtsvereinigung" (İHD) sowie zivilgesellschaftliche Akteure werden in der Türkei seit langem von Regierungsvertretern und regierungsnahen Medien als Verfechter ausländischer Interessen porträtiert, welche eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen und/oder die Ziele "terroristischer Organisationen" fördern (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.11). Im Juli 2020, beispielsweise, verurteilte ein Gericht vier Menschenrechtsverteidiger, darunter den ehemaligen Vorsitzenden von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation (FH 3.3.2021). Durch Notverordnungen wurden rund 1.400 bis 1.500 Vereinigungen ohne jeden Rechtsbehelf geschlossen (BS 29.4.2020; vergleiche AA 3.6.2021, S.7, FH 3.3.2021) und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. NGO-Führungskräfte sehen sich regelmäßig Schikanen, Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt (FH 3.3.2021). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 3.6.2021, S.7).
Trotz dieses gravierenden Rückschritts sind zivilgesellschaftliche Organisationen nach wie vor aktiv. Es ist jedoch offensichtlich, dass regierungsnahe Organisationen eine größere Rolle übernehmen und sichtbarer sind (BS 29.4.2020). Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise solche, die sich für Frauen- und Kinderrechte einsetzen, werden gegenüber regierungsnahen Organisationen benachteiligt. Zahlreiche NGOs mit Schwerpunkt auf Menschenrechten berichten, dass sie nicht in den Genuss öffentlicher Förderungen kommen. Sie sehen sich auch bürokratischen Hürden bei der Spendensammlung und der Finanzierung durch EU-Gelder ausgesetzt (ÖB 30.11.2021, S.30). Im zunehmend repressiven politischen Umfeld verhindern die rechtlichen, politischen, finanziellen und administrativen Belastungen, die den zivilgesellschaftlichen Organisationen auferlegt werden, die Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft (BS 29.4.2020). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand Juli 2021 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,22% (1.488 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 20.11.2021).
Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Türkei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit 2008 keine weitreichenden Reformen durchgeführt. Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe personenbezogener Daten, sowie auch die Verständigung über einen Ausschluss oder Ausscheiden der Person binnen 30 Tagen (ICNL 20.11.2021).
Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet. Einige Menschenrechtsorganisationen und ihre Mitglieder sind (Ermittlungs-)Verfahren mit zum Teil fragwürdiger rechtlicher Grundlage ausgesetzt (AA 3.6.2021; S.6). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll. Dieses erlaubt dem Innenministerium, NGOs ohne Gerichtsbeschluss jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden (AP 27.12.2020, vergleiche DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Innenministerium und die Provinz-Gouverneure sind außerdem befugt, die Spendensammlungen der NGOs zu überwachen und Strafen für nicht genehmigte Kampagnen zu verhängen (EC 19.10.2021, S.36). Dem Innenminister und den Provinzgouverneuren werden weitreichende Kompetenzen bei der Kontrolle von NGOs eingeräumt. Der Innenminister kann durch Verwaltungsentscheidung ohne vorhergehende Gerichtsverfahren die Tätigkeiten von NGOs suspendieren sowie Vereinsorgane ihrer Funktion entheben und durch Treuhänder ersetzen, wenn der Verdacht bestimmter Verbrechen vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.30). Darüber hinaus werden alle Vereinigungen und Stiftungen verpflichtet, das Ministerium über Spenden aus dem Ausland zu informieren. Vor Verabschiedung des Gesetzes gaben 694 unabhängige Organisationen der Zivilgesellschaft eine Erklärung gegen den Gesetzentwurf ab. Selbst mehrere AKP-nahe Vereine und -Stiftungen führten ebenfalls eine Kampagne gegen das Gesetz. Nach der Verabschiedung des Gesetzes sahen sich viele NGOs mit Prüfungen durch das Ministerium konfrontiert, insbesondere diejenigen, die ausländische Mittel erhalten (EC 19.10.2021, S.36). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von einst maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira erhöht (Independent 27.12.2020).
Quellen:
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CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 21.2.2022
DW – Deutsche Welle (27.12.2020): Umstrittenes NGO-Gesetz in der Türkei beschlossen, https://www.dw.com/de/umstrittenes-ngo-gesetz-in-der-t%C3%BCrkei-beschlossen/a-56068756, Zugriff 21.2.2022
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Independent (27.12.2020): Turkish human rights groups face being shut down as Erdogan passes law stifling NGOs, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkey-oversight-law-ngos-b1779231.html, Zugriff 21.2.2022
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (30.12.2020): Neues Gesetz alarmiert türkische Zivilgesellschaft, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-neues-gesetz-alarmiert-die-zivilgesellschaft-ld.1594276, Zugriff 21.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 4.2.2022
Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Seit 2012 verfügt die Türkei über das Amt einer Ombudsperson (Kamu Denetçiliği Kurumu/ Ombudsmanlık), das organisatorisch beim türkischen Parlament verortet ist. Gemäß Eigendefinition besteht die Hauptaufgabe des Amtes der Ombudsperson darin, sich für Einzelpersonen gegenüber der Verwaltung einzusetzen sowie die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Explizit außerhalb der Zuständigkeit des Organs sind Handlungen, die die Ausübung der gesetzgebenden und justiziellen Gewalt betreffen, sowie die Handlungen der türkischen Streitkräfte, die rein militärischer Natur sind (OI o.D.).
Trotz des Anstiegs der Fallzahlen blieb die Institution bei politisch heiklen Fragen, die die Grundrechte betreffen, stumm. Die Ombudsperson ist immer noch nicht befugt, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in Fällen mit Rechtsbehelfen zu intervenieren (EC 19.10.2021, S.12). Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 19.10.2021, S.29), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 30.3.2021, S.60).
Die 2012 gegründete Menschenrechtsinstitution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 3.6.2021, S.7). Einige HREI-Mitglieder zeigten eine negative Haltung gegenüber den grundlegenden Menschenrechten, einschließlich der Gleichstellung der Geschlechter, der Rechte der Frauen und der Rechte von sexuellen Minderheiten. Zudem sprachen sie sich für den Austritt aus der Istanbul-Konvention aus. All dies widerspricht den erklärten Zielen dieser Institution (EC 19.10.2021, S.29).
Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt und sie entspricht nicht der Empfehlung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Standards für Gleichbehandlungsstellen. Beide Institutionen zeigten sich hinsichtlich ihrer Effektivität bei der Behandlung von Anträgen als begrenzt (EC 19.10.2021, S.29).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 14.6.2021
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 3.11.2021
OI - Ombudsman Institution of the Republic of Turkey (o.D.): About The Institution, https://www.ombudsman.gov.tr/English/about-the-institution, Zugriff 7.2.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 2.4.2021
Wehrdienst
Letzte Änderung: 10.03.2022
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden (MFA-NL 11.7.2019). Im Ausland lebende türkische/doppelte Staatsangehörige sind vom 20. Lebensjahr bis zum Ende des 35. Lebensjahres verpflichtet, den Wehrdienst abzuleisten oder diesen mittels Antrag beim zuständigen türkischen Konsulat bis zum Ende des 35. Lebensjahres aufschieben zu lassen (Artikel 38). Sie haben auch die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung von der Wehrpflicht frei zu kaufen. Sie müssen dann lediglich eine Fernausbildung absolvieren (ÖB 30.11.2021, S.18). Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder, während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 30.11.2021, S.21). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).
Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt. Es sieht die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst für alle Wehrpflichtigen vor (ÖB 30.11.2021, S.18). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlenden Summe beläuft sich mit Stand November 2021 auf rund 3.900 Euro (ÖB 30.11.2021, S.18). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahren im Ausland arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 30.11.2021, S.19). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (DFAT 10.9.2020) sind u.a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 30.11.2021, S.20).
Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 30.11.2021, S.36; vergleiche EC 6.10.2020, S.40). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB 30.11.2021, S.36; vergleiche AA 24.8.2020).
Berichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Menschenrechtsgruppen berichten, dass verdächtige Todesfälle im Militär weit verbreitet sind. Die Regierung untersuchte sie nicht systematisch und gibt keine Informationen hierzu frei. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) und Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) meldeten mindestens 18 verdächtige Todesfälle im Jahr 2020 (USDOS 30.3.2021, S.7).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 22.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 22.2.2022
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 22.2.2022
HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliament-ratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 22.2.2022
MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 22.2.2022
Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 10.03.2022
Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (MFA-NL 11.7.2019; vergleiche AA 3.6.2021, S.14, S.14, DFAT 10.9.2020). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 30.11.2021, S.18). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019). Seit Änderung von Artikel 63, des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 3.6.2021, S.14; vergleiche DFAT 10.9.2020). Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Artikel 26, dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden können (AA 3.6.2021, S.14).
Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 30.11.2021, S.18). Der Europarat, insbesondere dessen Ministerkomitee kritisiert die wiederholten Verurteilungen und Inhaftierungen von Kriegsdienstverweigerern wegen Verweigerung des Wehrdienstes; das Fehlen eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens zur Feststellung des Status als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und das Fehlen einer Alternative zum obligatorischen Militärdienst in der Türkei (CoE 27.9.2021, S.3).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 22.2.2022
CoE - Council of Europe (Department For The Execution Of Judgments Of The European Court Of Human Rights) (27.9.2021): Turkey - main issues before the Committee of Ministers - ongoing supervision, https://rm.coe.int/mi-turkey-eng/1680a23cae#page=1&zoom=auto,-275,848, Zugriff 22.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 22.2.2022
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplicht-turkije-juli-2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+bronnen.pdf, Zugriff 22.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 10.03.2022
Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 19.10.2021, S.18, 21, 28, 31, 36, 40). Viele Menschenrechtsverletzungen werden zudem nicht geahndet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen (ÖB 30.11.2021, S.30). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021; vergleiche EC 19.10.2021, S.4, 13). Sie "und ihre Organisationen sind bei ihren Tätigkeiten anhaltendem Druck ausgesetzt und arbeiten in einem zunehmend schwierigen Umfeld" (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34). Menschenrechtsverteidiger sehen sich zunehmendem Druck durch Einschüchterung, gerichtliche Verfolgung, gewalttätige Angriffe, Drohungen, Überwachung, längere willkürliche Inhaftierung und Misshandlung ausgesetzt (EC 19.10.2021, S.29f). Daraus schlussfolgernd bekräftigte der Rat der Europäischen Union Mitte Dezember 2021, dass der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit und der unzulässige Druck auf die Justiz nicht hingenommen werden können, genauso wenig wie die anhaltenden Restriktionen, Festnahmen, Inhaftierungen und sonstigen Maßnahmen, die sich gegen Journalisten, Akademiker, Mitglieder politischer Parteien – auch Parlamentsabgeordnete –, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger, Nutzer von sozialen Medien und andere Personen, die ihre Grundrechte und -freiheiten ausüben, richten (EU-Rat 14.12.2021, S.16, Pt.34).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 19.10.2021, S.5). Obgleich die EMRK aufgrund Artikel 90, der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar ist, werden Konvention und Rechtsprechung des EGMR bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 3.6.2021, S.16), denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020, S.10).
Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021).
Entführungen und gewaltsames Verschwinden von Personen werden weiterhin gemeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht. Hiervon sind vor allem mutmaßliche Mitglieder der Gülenbewegung betroffen (HRW 13.1.2022; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.31).
Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).
Die Menschenrechtslage von Minderheiten jeglicher Art sowie von Frauen und Kindern drückt sich in der Forderung des Europäischen Parlamanets vom Mai 2021 an die türkische Regierung aus, wonach "die Rechte von Minderheiten und besonders gefährdeten Gruppen wie etwa Frauen und Kinder, LGBTI-Personen, Flüchtlinge, ethnische Minderheiten wie Roma, türkische Bürger griechischer und armenischer Herkunft und religiöse Minderheiten wie Christen zu schützen [sind]; [das EP] fordert die Türkei daher auf, dringend umfassende Gesetze zur Bekämpfung der Diskriminierung, einschließlich des Verbots der Diskriminierung wegen ethnischen Herkunft, Religion, Sprache, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung und Geschlechtsidentität, zu verabschieden und Maßnahmen gegen Rassismus, Homophobie und Transphobie zu treffen" (EP 19.5.2021, S.17, Pt.45).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 30.11.2021, S.30) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen im großen Umfang hält an. Neben Tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen (AA 24.8.2020; S.20). Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte die Weigerung der Türkei, die EGMR-Urteile in den Fällen des HDP-Politikers Selahattin Demirtaş (1. Instanz: November 2018; rechtskräftig: Dezember 2020) sowie des Mäzens Osman Kavala (1. Instanz: Dezember 2019; rechtskräftig: Mai 2020) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Artikel 18, EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala). Das Ministerkomitee des Europarates forderte die Türkei im März 2021 zur Umsetzung der beiden EGMR-Urteile auf (AA 3.6.2021; S.16f). Der Europarat setzte der Türkei im Dezember 2021 eine Frist, Kavala bis 19.1.2022 freizulassen oder eine Begründung für seine Inhaftierung vorzulegen. Ein Gericht in Istanbul lehnte dem zum Trotz die Enthaftung Kavalas ab (DW 17.1.2022). Nachdem das Ministerkomitee des Europarats im Dezember 2021 die Türkei förmlich von seiner Absicht in Kenntnis gesetzt hatte, den EGMR mit der Frage zu befassen (CoE 3.12.2021), verwies dieses nach andauernder Weigerung der Türkei der Freilassung Kavalas nachzukommen, den Fall Anfang Februar 2022 tatsächlich an den EGMR, um festzustellen, ob die Türkei ihrer Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs nicht nachgekommen sei, wie es in Artikel 46.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist (CoE 3.2.2022).
Mit Stand 30.11.2021 waren 14.950 Verfahren beim EGMR aus der Türkei, das waren 21,4% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 30.11.2021), was neuerlich eine Steigerung zum Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutete, als mit Stand 30.11.2020 11.150 Verfahren aus der Türkei, das waren damals 18,1% aller am EGMR anhängigen Fälle, stammten (ECHR 30.11.2020). Im Jahr 2020 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 104) Verletzungen der EMRK fest (EC 19.10.2021, S.28). Hiervon betrafen 31 Urteile das Recht auf freie Meinungsäußerung, 21 Urteile das Recht auf ein faires Verfahren und 16 das Recht auf Freiheit und Sicherheit (ECHR 17.2.2021).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 28.2.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 28.2.2022
AI – Amnesty International (7.4.2021): Türkei 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048610.html, Zugriff 28.2.2022
CoE - Council of Europe (3.2.2022): Committee of Ministers refers Kavala v. Turkey case to the European Court of Human Rights, https://www.coe.int/en/web/portal/-/committee-of-ministers-refers-kavala-v-turkey-case-to-the-european-court-of-human-rights, 28.2.2022
CoE - Council of Europe (3.12.2021): Implementing ECHR judgments: Council of Europe ministers serve formal notice on Turkey in the Kavala case [Ref. DC 224(2021)], https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680a4c19d, Zugriff 21.1.2022
CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights: Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović (19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019 [CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommDH%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 28.2.2022
DW - Deutsche Welle (17.1.2022): Türkei ignoriert Frist zur Freilassung von Kavala, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-ignoriert-frist-zur-freilassung-von-kavala/a-60455412, Zugriff 21.1.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 28.2.2022
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 28.2.2022
ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2021): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/11/2021, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2021_BIL.PDF, Zugriff 21.1.2022
ECHR – European Court of Human Rights (17.2.2021): Violations by Article and by State, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_2020_ENG.pdf, Zugriff 21.1.2022
ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2020): Pending Applications Allocated To A Judicial Formation 30/11/2020, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2020_BIL.PDF, Zugriff 21.1.2022
EP - Europäisches Parlament (19.5.2021): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai 2021 zu den Berichten 2019–2020 der Kommission über die Türkei, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0243_DE.pdf, Zugriff 28.2.2022
EP - European Parliament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience [(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0028_EN.pdf, Zugriff 28.2.2022
EU-Rat - Rat der Europäischen Union (14.12.2021): Schlussfolgerungen des Rates zur Erweiterung sowie zum Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess [15033/21], https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15033-2021-INIT/de/pdf, Zugriff 21.1.2022
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066478.html, Zugriff 7.2.2022
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043511.html, Zugriff 7.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 7.2.2022
Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die gesamte traditionelle Medienlandschaft, vom Fernsehen über das Radio bis hin zu den Printmedien, steht unter mehr oder weniger direkter Kontrolle der Regierung (EJO 5.8.2020; vlg. ÖB 30.11.2021, S.33). Der Druck auf unabhängige Medienorganisationen ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden (DW 4.5.2021; vergleiche FH 2.2022, D1). Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), eine Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk, wurde zu einem Überwachungs- und Kontrollinstrument umfunktioniert. Lizenzen und Genehmigungen, die von Medien beantragt werden, müssen vom RTÜK abgesegnet werden (DW 4.5.2021). Die Mitglieder des RTÜK werden vom Parlament ernannt und sind fast ausschließlich Mitglieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) oder ihres politischen Verbündeten, der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) (FH 3.3.2021). Im Jahr 2021 verhängte der RTÜK insgesamt 71 Bußgelder, die sich alle gegen fünf kritische Fernsehsender richteten, während regierungsfreundliche Medien keine Strafen erhielten. Seit 2019 müssen auch Online-Videoproduzenten eine RTÜK-Lizenz erhalten, um in der Türkei zu senden (FH 2.2022, D1). Das Europäische Parlament zeigte sich "zutiefst besorgt über die mangelnde Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von öffentlichen Einrichtungen wie dem Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) und der staatlichen Werbeagentur (BİK), die als Instrument benutzt werden, um als regierungskritisch geltende Medien willkürlich auszusetzen, zu verbieten, mit Geldstrafen zu belegen oder durch die Auferlegung finanzieller Bürden in ihrer Arbeit zu behindern, was ihr eine fast vollständige Kontrolle der Massenmedien ermöglicht" (EP 19.5.2021, S.12, Pt.27; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.33).
In den letzten zehn Jahren haben Präsident Erdoğans Familie und Verbündete aus der Privatwirtschaft mehr als 90% der türkischen Nachrichtensender und Zeitungen erworben und kontrolliert (MDC 15.6.2020; vergleiche FH 2.2022, D1). Diese Kontrolle verschafft Erdoğan einen entscheidenden Vorteil bei der Gestaltung des öffentlichen Diskurses zu seinen Gunsten. Die beiden meistverkauften Zeitungen, Sabah und Hürriyet, sind mittlerweile im Besitz von regierungsfreundlichen Medienmogulen (MDC 15.6.2020). Die wichtigsten Printmedien und Fernsehsender werden weitgehend von staatlichen Holdinggesellschaften kontrolliert, die wiederum unter massivem Einfluss der regierenden AKP stehen (USDOS 30.3.2021, S.30). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen. Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormem politischen Druck, werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 2.2022, D1; vergleiche HRW 13.1.2022, BS 29.4.2020) oder deren Inhalte werden entfernt, insbesondere bei Nachrichten, die sich kritisch über hochrangige Regierungsmitglieder und Mitglieder der Familie von Präsident Erdoğan äußern, oder die nach dem äußerst restriktiven Anti-Terror-Gesetz als strafbar gelten (HRW 13.1.2022). Der Druck auf Journalisten dauert an. Sie sehen sich Einschüchterungen, Festnahmen, Anklagen und Entlassungen ausgesetzt. Auch werden immer wieder gewaltsame Übergriffe gegen Journalisten verzeichnet, welche jedoch oftmals nicht geahndet werden (ÖB 30.11.2021, S.33). Human Rights Watch zählte Anfang 2022 58 Journalisten und Medienmitarbeiter, welche wegen ihrer journalistischen Arbeit in Untersuchungshaft waren oder Strafen wegen Terrorismusdelikten verbüßten (HRW 13.1.2022).
Während die Regierung 90% der nationalen Medien mit Hilfe von Regulierungsbehörden wie dem RTÜK kontrolliert, wenden der Pressewerberat (BİK), der staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Präsidialdirektion für Kommunikation (CIB), die Presseausweise ausstellt, eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021). Von Dezember 2018 bis Dezember 2020 wurden z.B. 1.239 Pressekarten türkischer Journalisten annulliert. Ausländische Journalisten, die jährlich eine neue Pressekarte beantragen müssen, warten zum Teil mehrere Monate auf deren Ausstellung (ÖB 30.11.2021, S.34).
In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagiert die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft. Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62% die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S.28f.). Im Jahr 2020 betrafen laut Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein 31 von insgesamt 97 Fällen von Verletzungen der EMRK durch die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung (ECHR 17.2.2021).
Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches (ÖB 30.11.2021, S.32). Die geltenden Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten und zum Strafgesetzbuch behindern die freie Meinungsäußerung und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, S.33). Problematisch ist die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs durch die Gerichte. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.6.2021, S.9f.). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, welche nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) übereinstimmt (PACE 22.4.2021, S.3).
Politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen Journalisten und Medienschaffende, wie z. B. der Fall der Journalistin Melis Alphan, die wegen Verbreitung terroristischer Propaganda angeklagt wurde und mit bis zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis rechnen muss, halten an (EP 21.1.2021). Die unverhältnismäßige Umsetzung der restriktiven Maßnahmen wirkt sich weiterhin negativ auf die freie Meinungsäußerung und die Verbreitung der Stimmen der Opposition aus. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen nach wie vor gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere internationale Standards und weichen von der Rechtsprechung des EGMR ab. Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Schriftstellern und Nutzern sozialer Medien finden nach wie vor statt (EC 19.10.2021, S.5, 32; vergleiche PACE 3.1.2020). Laut Media and Law Studies Association (MLSA) ist in der zweiten Jahreshälfte 2020 die Zahl der Beschuldigten, die sich in Untersuchungshaft befanden, deutlich zurückgegangen. Allerdings wurden Journalisten weiterhin wegen ihrer Berichterstattung oder Beiträgen in den sozialen Medien nach dem Anti-Terrorgesetz angeklagt. Im erwähnten Zeitraum machten Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus 46% der Fälle gegen Journalisten aus, während Anklagen wegen "Beleidigung des Präsidenten" 10% umfassten. In 71 der 74 beobachteten Fälle, die unter das Anti-Terrorgesetz fielen, wurden Medienberichte der Angeklagten als Beweismittel für die vermeintliche Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder terroristische Propaganda angeführt (MLSA 7.9.2021, S.4). Dem BIA Media Monitor 2021 Report des unabhängigen Nachrichtenportals Bianet zufolge wurden 35 Journalisten in der Türkei im Jahr 2021 zu insgesamt 92 Jahren Gefängnis verurteilt (BI 25.1.2022). Die Türkei verbesserte sich lediglich um einen Rang im World Press Freedom Index 2021 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang], den Platz 153 von 180 Ländern belegend (RSF 4.2021).
Der EGMR hat am 13.4.2021 im Sinne zweier prominenter Journalisten, Ahmet Altan und Murat Aksoy, entschieden, dass deren Inhaftierung unter anderem einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Sicherheit darstelle, und die Türkei beiden Männern eine Entschädigung zahlen müsse, denn in beiden Fällen habe es keine konkreten Beweise für die zur Last gelegten Straftaten gegeben (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Das Gericht stellte im Falle Aksoy, der nach dem Putschversuch wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung bis 2017 - bzw. neuerlich bis Jänner 2019 - in Haft saß, fest, dass es keine plausiblen Gründe für die Inhaftierung gegeben hätte. Altan wurde hingegen wegen Unterstützung des Putschversuches zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem Freispruch durch das Oberste Berufungsgericht (Kassationsgericht) wurde er 2019 wegen "Unterstützung einer Terrorgruppe" zu zehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (DW 13.4.2021; vergleiche bianet 13.4.2021). Der EGMR stellte in seinem Urteil fest, dass kein "hinreichender Verdacht" vorlag, dass Altan vom Putschversuch im Vorhinein wusste, weshalb dessen Inhaftierung unbegründet war (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Bereits tagsdarauf, am 14.4.2021 wurde Altan freigelassen, da das Kassationsgericht die bestehende Verurteilung mit der Begründung aufhob, dass Artikel 220/7 des Strafgesetzbuches, der eine Strafminderung vorsieht, ignoriert wurde bzw. die bereits verbüßte Haft ausreiche (Duvar 14.4.2021; vergleiche SDZ 14.4.2021). Zudem hätte es für die Altan zur Last gelegten Straftaten wie Terrorunterstützung keine Beweise gegeben (DW 14.4.2021).
Im Oktober 2019 führte die Justizreformstrategie zu einer geringfügigen Einengung der Definition terroristischer Propaganda und zu einer Ausweitung des Rechts auf Berufung für diejenigen, die zu einer Haftstrafe von weniger als fünf Jahren verurteilt wurden. Trotzdem wird die überarbeitete Definition von terroristischer Propaganda weiterhin zur Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von Journalisten verwendet. Entgegen klarer Bestimmungen hinsichtlich der Dauer einer Untersuchungshaft werden Journalisten weiterhin willkürlich verhaftet und monatelang eingesperrt (IPI 30.11.2020).
Aufgrund ihrer Berichterstattung werden Journalisten, meist aus den pro-kurdischen Medien, der Beleidigung des Präsidenten und der Nation, der Gefährdung der nationalen Sicherheit und in den letzten Jahren mehr denn je der Propaganda, der Kollaboration mit oder der Zugehörigkeit zu terroristischen Organisationen beschuldigt (EJO 5.8.2020). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 30.3.2021, S.28; vergleiche EJO 5.8.2020). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als Terrorismus-bezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 13.1.2022; vergleiche IPI 30.11.2020). Hinzukommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020). Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020). Einige Personen, die in der linken oder kurdischen Politik aktiv sind, berichteten, dass sie von Sicherheitskräften in Zivil entführt und an unbekannten Orten für kürzere Zeit festgehalten wurden (HRW 13.1.2022). Mehr als ein Jahr vor dem Prozess im Gefängnis zu verbringen, ist die neue Norm, und lange Gefängnisstrafen sind üblich, in einigen Fällen bis zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung (RSF 2020). Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen, Social Media-Posts oder TV-Auftritten (SCF 3.1.2022; vergleiche IPI 18.11.2019).
Journalisten, welche vormalige Aktionen der Regierung, die angeblich der Unterstützung des sogenannten Islamischen Staat dienten - z.B. Waffenlieferungen nach Syrien - oder Missstände bei den Sicherheitskräften untersuchen, werden systematisch der "Spionage", der "terroristischen Propaganda", der "Diffamierung" des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte oder sogar des "Angriffs auf einen Anti-Terror-Agenten" beschuldigt (RSF 15.6.2021). Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die z.B. über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichteten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass (IPI 30.11.2020). Auch die Kritik an der Wirtschaftspolitik kann zur Verhaftung führen. Am 12.12.2021 wurden drei Youtube-Journalisten in der türkischen Provinz Antalya verhaftet, nachdem sie Passanten auf der Straße zu deren Meinung zur Wirtschaftskrise in der Türkei interviewt hatten. Bei Razzien in ihren Wohnungen wurden Mobiltelefone und Computer beschlagnahmt. Den festgenommenen Personen wird vorgeworfen, „den Staat und die Regierung zu verunglimpfen“. Sie wurden zwischenzeitlich wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt (BAMF 20.12.2021, S.12; vergleiche Independent 13.12.2021).
Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (PACE 22.4.2021, S.4; vergleiche CCRT 8.4.2021, TM 8.4.2021). Unbenommen der rechtlich möglichen Einschränkungen der Grundfreiheiten während des Ausnahmezustandes sah das Verfassungsgericht infolge der Beendigung des letzteren, die verfassungsmäßig garantierten grundlegenden Freiheiten ab diesem Zeitpunkt als verletzt an (CCRT 8.4.2021). Das Urteil könnte laut Aussagen von Juristen für mehr als zehn Medien positive rechtliche Konsequenzen haben, nicht jedoch für jene Medienhäuser, denen meist ein Naheverhältnis zur Gülen-Bewegung unterstellt wurde, die namentlich im Dekret genannt werden (TM 8.4.2021).
Soziale Medien
Die Internetfreiheit in der Türkei hat weiter abgenommen. Hunderte von Websites wurden gesperrt, in einigen Fällen aufgrund eines neuen Gesetzes über soziale Medien. Online-Inhalte, die als kritisch gegenüber der regierenden AKP oder Präsident Erdoğan angesehen wurden, wurden von Webseiten und Social-Media-Plattformen entfernt. Online-Aktivisten, Journalisten und Social-Media-Nutzer wurden sowohl physisch als auch online wegen ihrer Social-Media-Beiträge schikaniert. Staatlich geförderte Medien und die Manipulation von Inhalten sozialer Medien durch die Regierung haben sich negativ auf die Online-Informationslandschaft ausgewirkt. Insbesondere die Medienberichterstattung über die kurdisch besiedelte südöstliche Region wird stark von der Regierung beeinflusst (FH 21.9.2021, B5). Die Sperrung und Löschung von Online-Inhalten ohne gerichtliche Anordnung aus einer unangemessen breiten Palette von Gründen, die sich auf das Internetgesetz und den allgemeinen Rechtsrahmen stützen, wurde fortgesetzt. Die derzeitige Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten sowie das Strafgesetzbuch behindern die Meinungsfreiheit und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 19.10.2021, S.32f). Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social Media-Konten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021). Freedom House sah die Türkei 2021 nur mehr bei 34 von 100 möglichen Punkten hinsichtlich der Freiheit im Internet (FH 21.9.2021).
Staatspräsident Erdogan bezeichnete im Dezember 2021 die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie und verkündete, dass die Regierung eine Gesetzgebung plane, um die Verbreitung von Fake News und Desinformationen im Internet zu kriminalisieren. Kritiker jedoch sahen die vorgeschlagenen Änderungen als Verschärfung der Einschränkung der Meinungsfreiheit (AP 11.12.2021; vergleiche AM 13.12.2021).
Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz Nr. 7253 über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen mit mehr als einer Million Nutzer täglich, mindestens einen Repräsentanten in der Türkei zu ernennen. Dieser muss türkischer Staatsbürger sein und seine Daten müssen auf der Webseite angegeben sein. Bei Nicht-Einhaltung der Vorgaben drohen Geldstrafen, Bandbreitenreduktion oder auch Verbot von Werbeanzeigen. Bei Anträgen von Einzelnen betreffend die Entfernung von Inhalten oder Zugriffsblockierung wegen Verletzungen der Privatsphäre muss der Provider dem Antragsteller innerhalb von längstens 48 Stunden antworten, andernfalls kann die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie eine Strafe von fünf Mio. Lira verhängen. Das Gesetz fordert, dass Unternehmen alle Daten türkischer Kunden in der Türkei speichern müssen (ÖB 30.11.2021, Sitzung 32). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK wird die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet sein, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020). Trotz durchaus begrüßenswerter Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 30.11.2021, S.32). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Repräsentanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020).
Klagen gegen Internetzensur vor dem Verfassungsgericht werden meist zugunsten der Kläger entschieden, jedoch fällt das Verfassungsgericht jährlich nur wenige Urteile. Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass der vom Verfassungsgericht entwickelte prinzipielle Ansatz im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit von den Friedensrichtern in Strafsachen in deren Rechtssprechung ignoriert wird. Diese verhängen Sperren regelmäßig so, als ob das Verfassungsgericht kein Urteil zu irgendeiner Praxis in dieser Angelegenheit erlassen hätte (IFÖD 10.2021, S.101-104).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht, die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (AM 24.3.2020). So teilte das türkische Innenministerium am 21.5.2020 mit, dass in den 65 Tagen zuvor 510 Personen wegen „haltloser“ und „provokativer“ Beiträge im Netz betreffend COVID-19 festgenommen worden wären. 10.111 Social Media Accounts wären überprüft, und dabei 1.105 Verdächtige identifiziert worden. Von diesen wären wiederum 510 festgenommen worden (ÖB 30.11.2021, S.32). Zu den Betroffenen gehörten auch Mediziner, die in ihren Beiträgen die Bürger über grundlegende Gesundheitsvorkehrungen informierten, und vor der Unzulänglichkeit staatlich empfohlener Maßnahmen warnten (POMED 17.4.2020).
Der Ausbruch des Coronavirus in der Türkei veranschaulichte den Anstieg des öffentlichen Misstrauens gegenüber den Medien als auch die Fragmentierung hinsichtlich des Weges, wie die Bürger ihre Informationen beziehen. Viele Türken, die an der Integrität der traditionellen Medien zweifeln, haben die rosige Berichterstattung über die Reaktion der Türkei auf die Pandemie mit Skepsis betrachtet und sich stattdessen den sozialen Medien zugewandt (CAP 10.6.2020).
Im Herbst 2020 standen medizinische Vereinigungen, wie die Türkische Ärztekammer (TTB), im Schussfeld der Kritik seitens der Staatsspitze, da sie die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Corona-Krise ebenso kritisierten, wie etwa die mangelnde Daten-Transparenz des Gesundheitsministeriums. Mitte Oktober 2020 verlangte Staatspräsident Erdoğan den Einfluss der Ärztekammer und anderer Berufsverbände gesetzlich einzuschränken, da diese seiner Meinung nach in einem unerträglichen Ausmaß gegen die Verfassung handelten. Überdies warf der Staatspräsident der Spitze der Ärztekammer die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Der Vorsitzende der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Regierungspartner der AKP, Davlet Bahçeli, beschuldigte die Ärztekammer, "den Terrorismus zu preisen" (AM 15.10.2020; vergleiche BI 14.10.2020).
Quellen:
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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020, S.16, 27; vergleiche AA 3.6.2021), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Im Bereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gab es weitere gravierende Rückschritte angesichts wiederholter Verbote, unverhältnismäßiger Eingriffe und übermäßiger Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Bußgelder und strafrechtlicher Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf terrorismusbezogener Aktivitäten. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung stehen nicht im Einklang mit der türkischen Verfassung, den europäischen Standards und den internationalen Konventionen (EC 19.10.2021, S.5). Infolgedessen haben viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt, sodass mittlerweile auch bekanntermaßen friedliche Kundgebungen mit langer Tradition verboten werden. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 30.11.2021, S.34; vergleiche EC 19.10.2021, S.16, 37). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2020 in Kraft. Das ganze Jahr 2020 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 30.3.2021, S.42). Im Jahr 2020 wurden 253 Mal pauschale und 115 Mal gezielte Versammlungsverbote verhängt (EC 19.10.2021, S.37).
In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 3.6.2021, S.9). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, werden regierungskritische Versammlungen routinemäßig verboten. Die Stadt Ankara schränkte 2021 Feierlichkeiten zum 1. Mai ebenso ein wie Studentenproteste (FH 2.2022, E1). Versammlungen von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition wurden ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021, E1; vergleiche BS 29.4.2020). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI-Personen und Minderheiten (ÖB 30.11.2021, S.34; vergleiche FH 2.2022, E1). Auch Proteste für politische und sozio-ökonomische Rechte wurden in mehreren Provinzen immer wieder verboten. Demonstrationen entlassener Beamter, die ihre Wiedereinstellung forderten, und von Arbeitnehmern, die für ihre Gesundheitsrechte demonstrierten, wurden unterbunden (EC 19.10.2021, S.36). Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020, S.37).
Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2020 Ermittlungen gegen 6.770 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 3.171 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 4.10.2021, S.28). Unabhängigen Angaben zufolge nahmen die Behörden bei mindestens 320 friedlichen Versammlungen mindestens 2.123 Demonstranten wegen des Verdachts der "Aufstachelung zum Hass", des "Verstoßes gegen das Demonstrationsgesetz" und des "Widerstands gegen polizeiliche Anordnungen" fest (EC 19.10.2021, S.34).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 30.3.2021, S.40).
Am 30.4.2021 erließ das Innenministerium ein Verbot der Sprach- und Filmaufnahme von Polizeibeamten während Protesten und Demonstrationen. Verstöße gegen das Verbot sollten künftig strafrechtlich geahndet werden (BAMF 3.5.2021, S.12; vergleiche BI 30.4.2021). Allerdings entschied der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof] am 15.12.2021 infolge einer Klage der Media and Law Studies Association (MLSA), dass der Vollzug des Rundschreibens auszusetzen sei, weil dieses die Informations- und Pressefreiheit einschränke. Der Staatsrat wies in seinem Urteil darauf hin, dass Einschränkungen der Grundrechte nur in vom Gesetzgeber vorgesehenen Fällen verhängt werden können. Außerdem verstoße das Rundschreiben gegen Artikel 7 der türkischen Verfassung, nach dem jegliche Handlungen verboten sind, die keine Grundlage in der Verfassung haben, sowie gegen Artikel 13, der die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger schützt (FNS 1.2.2022).
Die extensive Auslegung des unklar formulierten Artikel 220, des Strafgesetzbuches hinsichtlich krimineller Vereinigungen durch den Kassationsgerichtshof führte zur Kriminalisierung von Teilnehmern an Demonstrationen, bei denen auch PKK-Symbole gezeigt wurden bzw. zu denen durch die PKK aufgerufen wurde, unabhängig davon, ob dieser Aufruf bzw. die Nutzung dem Betroffenen bekannt war. Teilnehmer müssen, auch bei Demonstrationen im Ausland, mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung rechnen (AA 3.6.2021).
Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies war das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020, S.37). In einem weiteren Fall urteile das Verfassungsgericht am 8.9.2021, dass das vom Gouverneursamt verhängte Verbot aller Proteste in der südöstlichen Stadt Kahramanmaraş das verfassungsmäßige Recht der Kläger auf Versammlung und Demonstration verletzt habe. Das Verfassungsgericht ordnete zudem eine Schadensersatzzahlung an jeden der vier Kläger an, welche eine Klage beim Verfassungsgericht einbrachten, nachdem andere Rechtsmittel nicht dazu geführt hatten, dass die Entscheidung des Gouverneursamtes von Kahramanmaraş, alle Proteste in der Stadt für einen Monat zu verbieten und anschließend viermal zu verlängern, aufgehoben wurde (BAMF 13.9.2021, S.16f; vergleiche TM 8.9.2021).
Ein türkisches Gericht in der östlichen Provinz Erzincan hat im Oktober 2021 15 Angeklagte zu insgesamt 93 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den massiven regierungsfeindlichen Demonstrationen von 2013, den sogenannten Gezi-Protesten, teilgenommen hatten. Die Angeklagten bekamen Haftstrafen zwischen sechs Jahren und acht Monaten und zweieinhalb Jahren wegen der Teilnahme an einer illegalen Demonstration, Widerstand gegen einen diensthabenden Polizeibeamten und Beschädigung öffentlichen Eigentums (Ahval 27.10.2021)
[Anm.: Zum Thema Versammlungsfreiheit siehe auch die Kapitel "Frauen" sowie "Sexuelle Minderheiten"]
Vereinigungsfreiheit
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 30.3.2021, S.42).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020, S.15; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.44). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine, die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S.44).
Gesetze und Verordnungen erlegen Vereinigungen zahlreiche administrative Anforderungen auf. Komplexe Bestimmungen, die unterschiedlich ausgelegt werden können und über verschiedene Rechtsvorschriften verstreut sind, sowie der Mangel an Fachleuten, die sich mit diesem Bereich befassen, führen dazu, dass Vereinigungen in ihrem Bemühen um die Einhaltung der Gesetze in einem Zustand der Unsicherheit verharren. Die Vereinigungen unterliegen der Prüfung durch mehrere Behörden, darunter das Finanzamt, die Nationale Bildungsdirektion, die zuständigen Gouvernements sowie die Direktion für Zivilgesellschaft, zuständig für Vereinigungen im Innenministerium sowie die Generaldirektion für Stiftungen im Kulturministerium (FIDH/OMCT/İHD 5.2021, S.26).
Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle, ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands war. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand [türk. OHAL] waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurde (ICSEM 31.12.2021b, S.9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 30.3.2021, S.42).
Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 2.2022, E3; vergleiche EP 19.5.2021, S.19, Pt.53).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 30.3.2021, S.42).
Siehe auch Kapitel: Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Pandemie-bedingte Regeln zur sozialen Abstandsregelung sind oft selektiv angewandt worden, um die Auflösung von nicht genehmigten Demonstrationen im Jahr 2020 zu rechtfertigen (FH 3.3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.41). So haben, unter dem Vorwand von Covid-19, Provinzgouverneure friedliche Proteste von Frauenrechtsaktivisten, Studenten, Arbeitern, Oppositionsparteien, und Vertretern sexueller Minderheiten verboten (HRW 13.1.2022).
Quellen:
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Ahval (27.10.2021): Eight-year-long Gezi trial ends in 93 year sentence for 15 defendants, https://ahvalnews.com/gezi-protests/eight-year-long-gezi-trial-ends-93-year-sentence-15-defendants, Zugriff 1.3.2022
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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (3.5.2021): Briefing Notes KW 18, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw18-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 1.3.2022
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Opposition
Letzte Änderung: 10.03.2022
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, dazu gehören die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien und deren Anführer und Funktionäre. Dies geschieht auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. das Organisieren von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien (USDOS 30.3.2021, S.53).
Während die Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, haben auch andere Oppositionsführer politisch motivierte Verfolgung und gewalttätige Angriffe erlebt. Auch Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurden verhaftet und aus dem Parlament verwiesen, und deren Parteivorsitzender wurde bei Kundgebungen tätlich angegriffen. Im August 2021 wurde die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, während einer politischen Kundgebung in Sivas attackiert (FH 2.2022, B1). Die Justiz geht auch systematisch gegen Parlamentarier der Oppositionsparteien vor, weil sie angeblich terroristische Straftaten begangen haben (EC 19.10.2021, S.11; vergleiche BI 1.2.2022). Am 4.1.2021 hat das Büro des Parlamentspräsidenten 40 neue Verfahren zur Aufhebung der Immunität von 28 Oppositionsabgeordneten eingeleitet, davon allein 26 HDP-Parlamentarier (einer hiervon aus den Reihen der regionalen Schwesterpartei DBP), inklusive der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan (Duvar 4.1.2022; vergleiche HDN 4.1.2022).
Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker und Politikerinnen der HDP und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) (USDOS 30.3.2021, S.53). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister (zusammengerechnet in den beiden Perioden nach den Lokalwahlen 2014 und 2019), fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020). 48 HDP-Bürgermeister wurden seit den letzten Lokalwahlen 2019 wegen angeblicher terrorismusbezogener Aktivitäten ihres Amtes enthoben. Außerdem wurde ein Bürgermeister der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Region Izmir wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung abberufen (EC 19.10.2021, S.13).
Fallweise werden auch andere (parlamentarische) Oppositionsparteien - als jene der HDP - sowie deren Vertreter in die Nähe des Terrorismus gerückt und mitunter verfolgt. So bezeichnete Staatspräsident Erdoğan am 5.11.2021 in einer öffentlichen Rede sowohl die größte Oppositionspartei CHP und ihren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu als auch die rechts-konservative oppositionelle İYİ-Partei als Unterstützer der PKK (Duvar 5.11.2021). Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. Kaftancıoğlu kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Allerdings wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Das Europäische Parlament sah die Anklagen gegen Canan Kaftancıoğlu als politisch motiviert an (EP 21.1.2021).
Vorgehen gegen die HDP
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş, als Terrorist (TM 25.11.2020) und Anfang November 2021 als Marionette der PKK (Ahval 6.11.2021). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Dazu beigetragen hat, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) geäußert hatten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Vertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 8.12.2021; vergleiche DS 24.1.2021). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten laut Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019, S.69).
Laut Angaben der HDP waren seit 2015 mehr als 10.000 HDP-Mitglieder inhaftiert. Einige Tausend HDP-Mitglieder wurden freigelassen, nachdem sie - manchmal jahrelang - hinter Gittern saßen, dennoch befinden sich immer noch mehr als 4.000 HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete und Ko-Bürgermeister, im Gefängnis (HDP 18.5.2021; vergleiche EC 19.10.2021, S.11). Außerdem leben Tausende HDP-Mitglieder im Ausland, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister, die nach HDP-Angaben vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-nahen Justiz fliehen mussten (HDP 18.5.2021).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am 1.2.2022, dass die Türkei das Recht auf freie Meinungsäußerung von Abgeordneten der HDP verletzt hatte, indem sie deren parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung aufgehoben hatte. Der Beschluss zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von 40 Abgeordneten der HDP (im Mai 2016), darunter die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, verstößt laut EGMR gegen die türkische Verfassung (BI 1.2.2022; vergleiche Evrensel 2.2.2022). Schon zuvor verlangte das Ministerkomitee des Europarates im Dezember 2021 die unverzügliche Freilassung von Demirtaş (CoE-CM 2.12.2021). Auch das Europäische Parlament (EP) forderte 2021 mehrmals auf Basis des EGMR-Urteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich seit November 2016 in Haft befinden (EP 21.1.2021; vergleiche EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Zudem verurteilte das EP die Entscheidung des 46. Strafgerichtshofs erster Instanz in Istanbul, Selahattin Demirtaş zur maximalen Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren für die angebliche Beleidigung des Präsidenten zu bestrafen (EP 19.5.2021, S.13, Pt.33). Dieses Urteil wurde im Februar 2022 durch ein Gericht in Istanbul bekräftigt (Duvar 21.2.2022).
HDP-Mitglieder sehen sich mit dem Vorgehen seitens der türkischen Behörden gegen sie konfrontiert. Dazu gehören auch nächtliche Razzien am Wohnort u.a. durch maskierte Anti-Terror-Spezialeinheiten. Auch Angehörige von HDP-Mitgliedern, die selbst nicht formell der HDP angehören, werden von den türkischen Behörden misstrauisch beäugt, was in Folge zu diversen Problemen führen kann. Zum Beispiel können Angehörigen von HDP-Mitgliedern bestimmte Dienstleistungen verweigert werden, wie zum Beispiel ein Kredit, eine Baugenehmigung oder eine Subvention. Es kann auch vorkommen, dass der Passantrag eines Angehörigen eines HDP-Mitglieds absichtlich verzögert wird, und in einigen Fällen können Angehörige von HDP-Mitgliedern ihren Arbeitsplatz verlieren, nur weil ihr Verwandter für die HDP aktiv ist (NL-MFA 18.3.2021, Sitzung 51f.). Laut dem Direktor einer türkischen Organisation mit Sitz im Vereinigten Königreich sind Angehörige von HDP-Mitgliedern gefährdet, wenn sie sich für das Gerichtsverfahren ihres Verwandten interessieren, sich in den sozialen Medien politisch äußern oder an politischen Kundgebungen teilnehmen. Handelt es sich um ein HDP-Mitglied mit hohem Bekanntheitsgrad, nehmen die Behörden zuerst das schwächste Familienmitglied ins Visier, um dann, wenn nötig, zu einem anderen Familienmitglied überzugehen. Ist das HDP-Mitglied unauffällig, kann versucht werden, einen Verwandten zu zwingen, ein Informant für die Behörden zu werden; weigert er sich, wird er mitunter inhaftiert oder ist physischer Gewalt ausgesetzt. Ein Menschenrechtsanwalt bestätigte das behördliche Vorgehen, wonach Familienmitglieder von Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ins Visier genommen werden. Und so die Polizei die gesuchte Person nicht findet, nimmt sie ein anderes Familienmitglied mit. Dies war während des Notstands sehr häufig der Fall. Die Familien wurden telefonisch bedroht und ihre Häuser wurden durchsucht (UKHO 1.10.2019, S.20).
Bei den letzten Lokalwahlen Ende März 2019 wurden im ersten Fall HDP-Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl zunächst als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 3.6.2021, S.8). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vergleiche AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vergleiche DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt (Bianet 9.3.2020), ehe er Ende September 2021 vom Vorwurf der "Propaganda für eine Terrororganisation" freigesprochen wurde (Bianet 30.9.2021). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer groß angelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).
In Folge setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDP-Bürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP Mitte Mai 2020 wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt (Duvar 19.5.2020). Im Juli 2020 wurden mehr als 50 Personen in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, wurden Verbindungen zur PKK vorgeworfen (AM 14.7.2020). Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet (FAZ 27.9.2020; vergleiche HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vergleiche SDZ 7.1.2021). Ende Februar 2022 fand die zehnte Anhörung statt (Bianet 28.2.2022).
Mitte Februar 2021 wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vergleiche Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen verhaftet (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Ko-Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır, Filiz Buluttekin, zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung, dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021). Nichtsdestotrotz verurteilte ein Strafgericht in Van im Oktober 2021 den ehemaligen kurdischen HDP-Bürgermeister des Bezirks Özalp, Yakup Almaç, wegen "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis (WKI 12.10.2021; vergleiche KN 12.10.2021). Im Dezember 2021 wurden laut dem HDP-Bürgermeister von Cizre zwölf HDP-Mitglieder bzw. -Anhänger bei einer Polizeiaktion in Cizre und Silopi (Provinz Şırnak) im Südosten des Landes verhaftet (Rudaw 11.12.2021). In diesem Zusammenhang soll es laut Angaben des HDP-Parlamentsabgeordneten, Hüseyin Kaçmaz, zu vermehrten Festnahmen gekommen sein. Laut Berichten pro-kurdischer Medien sollen innerhalb von drei Monaten bis Jänner 2022 in der Provinz Şırnak 160 HDP-Anhänger festgenommenen und hiervon 67 inhaftiert (bzw. 93 wieder freigelassen) worden sein, und zwar meist auf der Basis anonymer Anzeigen meist im Vorfeld von lokalen HDP-Kongressen (Mezopotamya 21.1.2022).
Am 14.9.2021 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der unrechtmäßigen Amtsenthebung und Inhaftierung des Bürgermeisters von Siirt, Tuncer Bakırhan, zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 10.000 EUR und einer Aufwandsentschädigung von 3.000 EUR. Das Gericht erklärte die Amtsenthebung und Verhaftung im November 2016 sei unverhältnismäßig gewesen und eine Verletzung seiner Freiheit (Artikel 5, EMRK) und seines Rechts auf freie Meinungsäußerung (Artikel 10, EMRK). Bakırhan, ein Mitglied der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Vorgängerin der HDP, wurde beschuldigt, der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anzugehören, und saß zwei Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft. Im Oktober 2019 wurde er zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt (ECHR 14.9.2021; vergleiche BAMF 20.9.2021, S.14f).
Siehe auch das Kapitel: Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Verbotsverfahren gegen die HDP
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). Der amtierende Generalstaatsanwalt wurde erst 2020 von Staatspräsident Erdoğan ernannt (SWP 10.6.2021; S.3). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u.a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vergleiche Duvar 18.3.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021).
Nachdem das Verfassungsgericht am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vergleiche AM 9.4.2021) verwiesen hatte, erfolgte am 7.6.2021 ein neuer Antrag zwecks Verbot der HDP, der Konfiszierung der Bankkonten der Partei sowie zwecks eines Politikverbots für mehrere Hundert Mitglieder der HDP (FAZ 8.6.2021; vergleiche Duvar 7.6.2021). Die 843-seitige Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes forderte, dass nunmehr 451 Personen aus der Politik verbannt werden. Außerdem sind 69 HDP-Mitglieder wegen ihrer vermeintlichen Pro-Terror-Aussagen in der Anklageschrift aufgeführt (HDN 10.6.2021). Am 21.6.2021 nahm das Verfassungsgericht einstimmig die Anklage an, ohne jedoch dem Begehr der Generalstaatsanwaltschaft nach Schließung der HDP-Parteikonten nachzukommen (Duvar 21.6.2021). Bei der Erörterung des Antrags der HDP auf Verlängerung der Verteidigungsfrist beschloss das Verfassungsgericht Mitte Februar 2022 der Partei weitere 60 Tage zu gewähren. Nach Ablauf der 60-Tage-Frist muss die Verteidigung in der Sache abgeschlossen und dem Gericht vorgelegt werden (247NewsBulletin 16.2.2022).
Für ein Verbot der HDP ist eine Zweidrittelmehrheit der 15 Richter erforderlich (FAZ 8.6.2021; vergleiche 247NewsBulletin 16.2.2022). Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen. Im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Funktionären, wie in der Anklageschrift angestrebt, darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen (SWP 10.6.2021, S.4).
Gewaltakte gegen die HDP und ihre Vertreter
In Izmir hat ein Angreifer Mitte Juni ein Büro der Oppositionspartei HDP gestürmt und dabei eine Mitarbeiterin erschossen. Zur Tatzeit hätten sich eigentlich 40 Politiker darin befinden sollen. Der HDP-Ko-Vorsitzende, Mithat Sancar, sah auch die Regierung in der Verantwortung, weil diese durch ihre Daueranschuldigungen, wonach die HDP ein nationales Sicherheitsrisiko und verlängerter Arm der PKK sei, die Stimmung angeheizt hätte. Der Angriff kam kurz vor einem möglichen Verbotsverfahren gegen die HDP. Mehrere Oppositionspolitiker hegten Zweifel an der Einzeltäterthese und forderten weitere Untersuchungen, insbesondere nachdem der Täter erwiesenermaßen in Manbij, Syrien mit Waffen posierte (AM 17.6.2021, vergleiche ZO 17.6.2021). Am 14.7.2021 verübte ein später festgenommener Täter in der Stadt Marmaris mit einem Schrotgewehr einen Anschlag auf das HDP-Büro. Der Täter hatte 2018 schon einmal das HDP-Büro angegriffen (Bianet 14.7.2021; vergleiche AsiaNews 15.7.2021). In Istanbul hat ein bewaffneter Mann Ende Dezember 2021 ein HDP-Büro angegriffen. Dabei seien laut HDP zwei Mitglieder der Partei verletzt worden. Der Angreifer wurde festgenommen (ZO 28.12.2021; vergleiche Bianet 28.12.2021). Nicht identifizierte Personen verübten im Februar 2022 einen Angriff mit einem Molotow-Cocktail auf das Gebäude der HDP-Bezirksorganisation Yüreğir in Adana (Duvar 17.2.2022; Bianet 17.2.2022). Mitunter kommt es zu physischen Attacken auf Vertreter und Vertreterinnen der HDP. So wurde im September 2021 die HDP-Abgeordnete Tülay Hatimoğulları in Ankara angegriffen, als zwei Männer sich als "Zivilpolizisten" ausgaben und versuchten, in ihr Haus einzubrechen. In einer Pressekonferenz sagte Hatimoğulları, die Staatsanwaltschaft habe ihren Fall vor Gericht nicht anerkannt (WKI 28.9.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition während der COVID-19-Krise sind deutlicher geworden. Die bürgerlichen Freiheiten wurden weiter beschnitten (IDEA 6.4.2021). Spannungen zwischen Erdoğan und dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, von der CHP wurden im Frühjahr 2020 evident. Entgegen Erdoğans Weisungen hatte der Bürgermeister eine Abriegelung Istanbuls befürwortet und eine eigene Spendenkampagne gestartet (Reuters 1.4.2020). Im weiteren Verlauf nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung hat auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen, vor allem der HDP, verboten, regierungsfreundliche Veranstaltungen hingegen erlaubt (USDOS 30.3.2021, S.41).
Quellen:
247NewsBulletin (16.2.2022): New development in the HDP closure case: additional delay from AYM, https://247newsbulletin.com/politics/123510.html, Zugriff 18.2.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 2.3.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 2.3.2022
Ahval (6.11.2021): Erdoğan vows to save Turkey from 'PKK puppet' pro-Kurdish HDP, https://ahvalnews.com/hdp/erdogan-vows-save-turkey-pkk-puppet-pro-kurdish-hdp, Zugriff 2.3.2022
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AM – Al Monitor (14.7.2020): Another pro-Kurdish mayor replaced as detentions continue in southeast Turkey, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/07/hdp-mayor-replace-turkey-southeast.html, Zugriff 2.3.2022
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DS – Daily Sabah (18.3.2021): Prosecutor's indictment notes no difference between HDP, PKK, https://www.dailysabah.com/politics/legislation/prosecutors-indictment-notes-no-difference-between-hdp-pkk, Zugriff 2.3.2022
DS – Dailay Sabah (24.1.2021): Posters of PKK leader Öcalan found in HDP district branch, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/posters-of-pkk-leader-ocalan-found-in-hdp-district-branch, 2.2.2022
DS – Daily Sabah (30.12.2019): HDP uses offices as recruitment centers for PKK terrorists, Soylu says, https://www.dailysabah.com/war-on-terror/2019/12/30/hdp-uses-offices-as-recruitment-centers-for-pkk-terrorists-soylu-says, Zugriff 2.3.2022
Duvar (21.2.2022): Turkish court upholds jail sentence against Demirtaş for ‘insulting’ Erdoğan, https://www.duvarenglish.com/turkish-court-upholds-jail-sentence-against-demirtas-for-insulting-erdogan-news-60425, Zugriff 2.3.2022
Duvar (17.2.2022): Armed attack carried out on HDP district office in southern Adana, https://www.duvarenglish.com/armed-attack-carried-out-on-hdp-district-office-in-southern-adana-news-60399, Zugriff 18.2.2022
Duvar (4.1.2022): Turkish gov't seeks to strip 28 opposition MPs, including HDP co-chair, of parliamentary immunity, https://www.duvarenglish.com/turkish-govt-seeks-to-strip-28-opposition-mps-including-hdp-co-chair-pervin-buldan-of-parliamentary-immunity-news-60055, Zugriff 18.2.2022
Duvar (21.6.2021): Turkish court accepts indictment seeking ban of pro-Kurdish HDP, https://www.duvarenglish.com/turkish-mafia-boss-says-he-was-warned-by-uae-not-to-share-videos-due-to-security-risks-news-57874, Zugriff 2.3.2022
Duvar (5.11.2021): Erdoğan accuses opposition of 'acting together with' PKK amid dwindling support for gov't, https://www.duvarenglish.com/turkeys-erdogan-accuses-opposition-of-acting-together-with-pkk-amid-dwindling-support-for-govt-news-59442, Zugriff 2.3.2022
Duvar (7.6.2021): Turkey’s top prosecutor resubmits indictment for HDP's closure, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-prosecutor-resubmits-indictment-for-hdps-closure-news-57746, Zugriff 2.3.2022
Duvar (18.3.2021): Turkish prosecutor seeks political ban on 687 pro-Kurdish politicians, https://www.duvarenglish.com/turkish-prosecutor-seeks-political-ban-on-687-pro-kurdish-politicians-news-56691, Zugriff 2.3.2022
Duvar (15.2.2021): Turkey announces sweeping roundup of 718 people, including HDP officials, after Iraq killings, https://www.duvarenglish.com/turkey-announces-sweeping-roundup-of-718-people-including-hdp-officials-after-iraq-killings-news-56261, Zugriff 2.3.2022
Duvar (7.1.2021):Turkish court accepts indictment against 108 people, including Demirtaş and Yüksekdağ, over Kobane protests, https://www.duvarenglish.com/turkish-court-accepts-indictment-against-108-people-including-former-hdp-co-chairs-demirtas-and-yuksekdag-over-kobane-protests-news-55777, Zugriff 2.3.2022
Duvar (14.12.2020): Prosecutors ask up to 10 years in jail for main opposition Istanbul chair after Erdoğan aide's complaint, https://www.duvarenglish.com/turkish-prosecutors-ask-up-to-10-years-in-jail-for-main-opposition-istanbul-chair-kaftancioglu-in-spat-over-erdogan-aide-fahrettin-altuns-illegal-construction-news-55468, 2.3.2022
Duvar (19.5.2020): EU's top diplomat criticizes Ankara for undermining local democracy after dismissal of more HDP mayors, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/05/19/eus-top-diplomat-criticizes-ankara-for-undermining-local-democracy-after-dismissal-of-more-hdp-mayors/, Zugriff 2.3.2022
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DW – Deutsche Welle (15.2.2021): Türkei nimmt Hunderte wegen angeblicher PKK-Kontakte fest, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-nimmt-hunderte-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-fest/a-56575099, Zugriff 2.3.2022
DW – Deutsche Welle (20.8.2019): Türkei unterbindet Proteste gegen Bürgermeister-Entlassung, https://www.dw.com/de/t%C3%Bcrkei-unterbindet-proteste-gegen-b%C3%Bcrgermeister-entlassung/a-50102492, Zugriff 2.3.2022
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ZO – Zeit Online (23.6.2020): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Oppositionspolitikerin, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/canan-kaftancioglu-tuerkei-oppositionspolitikerin-chp-haststrafe-gericht-bestaetigung-urteil, Zugriff 2.3.2022
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Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland
Letzte Änderung: 10.03.2022
Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichte Mitte September 2020 einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, wonach letztere Informationen erhielt, die darauf hindeuten, dass syrische Staatsangehörige, darunter auch Frauen, die von der (pro-türkischen) Syrischen Nationalarmee (SNA) in der Region Ra's al-'Ayn festgenommen wurden, anschließend von türkischen Streitkräften in die Türkei überstellt, und dort nach türkischem Strafrecht wegen vermeintlicher Verbrechen in der syrischen Region Ra's al-'Ayn angeklagt wurden, unter anderem wegen Mordes oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Überstellung von Syrern, die von der SNA inhaftiert wurden, auf türkisches Hoheitsgebiet dem Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation geschützter Personen gleichkommen kann (UN-HRC 14.8.2020). Sowohl Araber als auch Kurden wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 im Nordosten Syriens festgenommen, nachdem die Türkei nach ihrem Einmarsch in Nordsyrien die effektive Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte (HRW 3.2.2021). Die Verhaftungen erfolgten hauptsächlich in den Vororten von Tell Abiad und Ra's al-'Ayn. Bei den Betroffenen handelte es sich auch um Personen, die für die Institutionen der Autonomieverwaltung arbeiteten, und andere, die keinerlei militärische oder politische Verbindungen zu dieser hatten. Unter den in die Türkei Überstellten befanden sich auch Kämpfer der Volksschutzeinheiten (YPG) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (SfDJ 10.7.2020; vergleiche AM 14.5.2020). Die Gefangenen wurden in das Hochsicherheitsgefängnis in Hilvan in der türkischen Provinz Şanlıurfa transferiert (AM 14.5.2020; vergleiche HRW 3.2.2021). Bereits Ende April 2020, anlässlich der Überstellung von 90 festgenommenen Syrern in die Türkei, richteten 41 Organisationen einen Appell an den UN-Generalsekretär und an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, u.a. willkürliche Gerichtsverfahren zu verhindern und die Freilassung bzw. Rückkehr der Gefangenen zu erwirken (SfDJ 10.7.2020). Human Rights Watch geht davon aus, dass (Stand Jahresbeginn 2021) bis zu 200 Syrer in Syrien festgenommen und in die Türkei verbracht wurden. Im Oktober 2020 wurden 63 Syrer vom Schwurgericht in Şanlıurfa verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit auf Begnadigung (HRW 3.2.2021). Ähnliche Urteile folgten 2021. So wurde am 23.3.2021 ein weibliches Mitlgied Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) Dozgin Temmo, bekannt als Cicek Kobani, von einem türkischen Gericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (NPA 24.3.2021). Im Juni 2021 wurden drei Mitglieder des sog. Militärrats der Suryoye (MFS), einer christlichen, assyrischen-aramäischen Miliz der SDF, die 2019 von pro-türkischen Kämpfern in Nordsyrien festgenommen worden waren, von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt (Rudaw 30.6.2021).
Das Europäische Parlament verurteilt in einer Entschließung vom März 2021, "dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden" (EP 11.3.2021, Pt.7).
Quellen:
AM – Al Monitor (14.5.2020): Syrians held in Turkish prison 'in breach of international law,' advocates say, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/05/syria-turkey-detainees-prison-breach-international-law.html, Zugriff 28.2.2022
EP - Europäisches Parlament (11.3.2021): Der Konflikt in Syrien: 10 Jahre nach dem Aufstand - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2021 zu dem Konflikt in Syrien zehn Jahre nach dem Aufstand (2021/2576(RSP)) [P9_TA(2021)0088], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0088_DE.pdf, Zugriff 3.3.2022
HRW – Human Rights Watch (3.2.2021): Illegal Transfers of Syrians to Turkey, https://www.hrw.org/news/2021/02/03/illegal-transfers-syrians-turkey, Zugriff 28.2.2022
NPA - North Press Agency (24.3.2021): Turkey sentences Syrian Kurdish SDF member to life imprisonment, https://npasyria.com/en/56509/, Zugriff 28.2.2022
Rudaw (30.6.2021): Three Syriac fighters from Rojava sentenced to life terms in Turkey, https://www.rudaw.net/english/middleeast/30062021, Zugriff 28.2.2022
SfTJ – Syrians for Truth and Justice (10.7.2020): https://stj-sy.org/en/illegal-transfer-of-dozens-of-syrian-detainees-into-turkey-following-operation-peace-spring/#_ftnref11, Zugriff 28.2.2022
UN-HRC – United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_31_E.pdf, Zugriff 28.2.2022
Todesstrafe
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei schaffte die Todesstrafe mit dem Gesetz Nr. 5170 am 7.5.2004 und der Entfernung aller Hinweise darauf in der Verfassung ab. Darüber hinaus ratifizierte die Türkei das Protokoll Nr. 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe am 12.11.2003, welches am 1.12.2003 in Kraft trat, sowie das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die völlige Abschaffung der Todesstrafe (d.h. unter allen Umständen, auch für Verbrechen, die in Kriegszeiten begangen wurden, und für unmittelbare Kriegsgefahr, was keine Ausnahmen oder Vorbehalte zulässt), welches am 20.2.2006 ratifiziert bzw. am 1.6.2006 in Kraft trat. Am 3.2.2004 unterzeichnete die Türkei zudem das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das auf die Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Das Protokoll trat in der Türkei am 24.10.2006 in Kraft (FIDH 13.10.2020; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.12).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der EMRK beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020; vergleiche FIDH 13.10.2020).
Quellen:
Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkish-parliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/, Zugriff 23.2.2022
EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 23.2.2022
FIDH - International Federation for Human Rights 813.10.2020): Death Penalty Cannot be Reinstated in Turkey, https://www.fidh.org/en/region/europe-central-asia/turkey/death-penalty-cannot-be-reinstated-in-turkey, Zugriff 3.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 3.2.2022
OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper 2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf, Zugriff 23.2.2022
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 12.5.2021), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 30.11.2021, S.23; vergleiche BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 30.11.2021, S.23). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Christen sowie Juden (USDOS 12.5.2021; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.23). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'i, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 30.11.2021, S.23). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 30.11.2021, S.23f; vergleiche DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei [oben erwähnten] ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgemeinschaften, darunter auch römisch-katholische und protestantische Christen, dürfen keine Stiftungen gründen. Seit 2004 dürfen sie sich allerdings legal als Vereine organisieren (AA 3.6.2021, S.11).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 12.5.2021).
In der Türkei ist das individuelle Recht, zu glauben, nicht zu glauben und seinen Glauben zu wechseln, gesetzlich geschützt. Es gibt jedoch weit verbreitete Berichte über Druck in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld, insbesondere auf Personen, die eine andere Religion, einen anderen Glauben oder eine andere Weltanschauung als den Islam haben - einschließlich der Angst, diskriminiert zu werden. Für Atheisten, Konvertiten zum Christentum, Aleviten und Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten sind diese Erfahrungen weit verbreitet. Die rechtlichen Instrumente zur Wiedergutmachung von diesbezüglichen Rechtsverletzungen sind nicht effektiv (NHC 11.9.2020, S.10).
Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der "Provozierung von Hass und Feindseligkeit" vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden (USDOS 12.5.2021), oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums (USDOS 10.6.2020). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 12.5.2021). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 12.5.2021). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 77,5% davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2% der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 5% aller Muslime ausmachen. 4% der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 12.5.2021; vergleiche BMZ 10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'i. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.500 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 12.5.2021).
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019). 3% bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1% - und 2% als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vergleiche USDOS 12.5.2021). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55% auf 51%, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99% steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60% als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).
Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 2.2022, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019).
Neben der Rhetorik gegen Minderheitengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt sowie ein anti-westlicher, insbesondere gegen Europa gerichteter Islamophobie-Narrativ Anlass zu Besorgnis. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begünstigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet - von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert - und ermutigt implizit zu Gewalt und Aggression (ÖB 30.11.2021, S.24).
Religiöse und ethno-religiöse Minderheiten sind Aggressionen, Intoleranz und Diskriminierung ausgesetzt (NL-MFA 18.3.2021, S.53). Im Jahr 2020 hat sich die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei weiterhin besorgniserregend entwickelt. Die Regierung unternahm wenig bis gar keine Anstrengungen, um viele seit Langem bestehende Probleme im Bereich der Religionsfreiheit anzugehen, und sie ignorierte die anhaltenden Angriffe auf und die Zerstörung von Eigentum religiöser Minderheiten im ganzen Land. Trotz wiederholter Bitten seitens der Gemeinden religiöser Minderheiten, um die Erlaubnis, interne Vorstandswahlen für nicht-muslimische Stiftungen abzuhalten, hat die Regierung diese Wahlen 2020 nicht zugelassen. Viele religiöse Minderheiten fühlten sich weiterhin im Zusammenhang mit Vorfällen bedroht, die von nicht-staatlichen Akteuren oder aufgrund von direktem Druck seitens des Staates verübt wurden. Alevitische, armenische und protestantische Gemeinden und Organisationen berichteten, dass sie Morddrohungen erhalten haben. Die Behörden erhoben politisch motivierte Anklagen wegen Blasphemie gegen Einzelpersonen und Gruppen, während offizielle Vertreter des Staates durch Hassreden und die Verunglimpfung nicht-religiöser Personen auffielen. Religiöse Stätten - einschließlich Gotteshäuser und Friedhöfe - waren Vandalismus, Beschädigung und in einigen Fällen Zerstörung ausgesetzt, was die Regierung regelmäßig nicht verhinderte oder bestrafte (USCIRF 4.2021, S.82).
Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden (EC 19.10.2021, S.32; vergleiche BMZ 10.2020), inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (USCIRF 4.2020; vergleiche BMZ 10.2020), sowie Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten werden weiterhin verübt. Nur sehr wenige Täter wurden tatsächlich strafrechtlich verfolgt. Es wurden keine Schritte zur Überarbeitung der Schulbücher unternommen, um die Reste diskriminierender Anspielungen zu streichen (EC 19.10.2021, S.40).
Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an, wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USDOS 30.3.2021, S.68; vergleiche USCIRF 4.2021, S.82). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant-Dink-Stiftung über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S.68).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht (USDOS 12.5.2021). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr in dem Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Atheisten, Agnostiker, Baha'i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 12.5.2021).
Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Muslimen und Aleviten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (FH 2.2022, F4; vergleiche AA 3.6.2021, S.11). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden. Ende Oktober 2021 wurde erstmals in der Geschichte der Republik ein der armenischen Gemeinde zugehöriger Kandidat zum Verfahren für die Ausbildung zum Distriktgouverneur zugelassen. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 30.11.2021, S.26).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (AA 3.6.2021, S.11; vergleiche BMZ 10.2020; USDOS 12.5.2021) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 12.5.2021). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 3.6.2021, S.11).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff 1.3.2022
AM – Al Monitor (9.1.2019): Turks losing trust in religion under AKP, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/01/turkey-becoming-less-religious-under-akp.html, Zugriff 1.3.2022
BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https://religionsfreiheit.bmz.de/de/der-bericht/Zweiter-Religionsfreiheitsbericht.pdf, Zugriff 8.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 1.3.2022
DW – Deutsche Welle (9.1.2019): Zahl der Atheisten in Erdogans Türkei steigt, https://www.dw.com/de/zahl-der-atheisten-in-erdogans-t%C3%BCrkei-steigt/a-46992921, Zugriff 1.3.2022
EC – European Commission (19.10.2021): Turkey 2021 Report [SWD (2021) 290 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/document/download/892a5e42-448a-47b8-bf62-b22d52c4ba26_en, Zugriff 1.3.2022
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 1.3.2022
FH – Freedom House (2.2022): Freedom in the World 2022 – Turkey, https://freedomhouse.org/country/turkey/freedom-world/2022, Zugriff 1.3.2022
NHC – Norwegian Helsinki Committee (11.9.2020): Pursuing Rights and Equality: Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey, https://www.nhc.no/content/uploads/2020/09/Report_Turkey_ENG_web.pdf, Zugriff 1.3.2022
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ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2021): United States Commission on International Religious Freedom 2021 Annual Report; USCIRF – Recommended for Special Watch List: Turkey, ,https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2021-04/2021%20Annual%20Report.pdf, Zugriff 1.3.2022
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 1.3.2022
USDOS – US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Turkey,
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USDOS – United States Department of State [USA] (10.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2031216.html, Zugriff 1.3.2022
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 10.03.2022
Artikel 23, der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. In der Türkei sind die Richter befugt, ein Ausreiseverbot zu verhängen (ÖB 30.11.2021, S.10; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MFA-NL 18.3.2021, S.27f). Es ist zudem gang und gäbe, dass insbesondere Personen mit Auslandsbezug, die sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat (ÖB 30.11.2021, S.10).
Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z.B. Strafverfahren und Strafen werden auch Ausreiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gendarmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinformationssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-devlet (e-Government-Portal) aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht verlassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MFA-NL 18.3.2021, S.27f).
Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vergleiche USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45). Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war, und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Allerdings entschied das Verfassungsgericht Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.6.2021, S.23, 26). Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde (AA 24.8.2020, S.27).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 30.11.2021, S.6).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 15.6.2021
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 15.6.2021
Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-sacked-civil-servants-unconstitutional-news-60256, Zugriff 8.2.2022
HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000, Zugriff 16.10.2019
MFA-NL – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report
Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 16.11.2021
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removes-passport-restrictions-for-28000-more-citizens/, Zugriff 11.12.2020
TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/, Zugriff 16.10.2019
TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkey-lifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/, Zugriff 16.10.2019
TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/, Zugriff 16.10.2019
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 12.4.2021
USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff 16.10.2019
Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die Türkei war eines der wenigen Länder, die 2020 ein Wachstum verzeichneten, vor allem dank günstiger Kredite nach einer Reihe von Zinssenkungen durch die Zentralbank, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzuwehren. Im Jahr 2021 nahm das Wachstum wieder zu, da die COVID-19-Beschränkungen weitgehend aufgehoben wurden. Doch eine Währungskrise Ende 2021, die die Inflation auf fast 50% ansteigen ließ, hat die Wachstumserwartungen für 2022 gedämpft (Reuters 22.2.2022). Das 2021 starke Wachstum von 8,5% des Bruttoinlandsprodukts dürfte sich 2022 deutlich auf prognostizierte 3,3% abschwächen. Der Türkei droht eine Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Situation hat sich im letzten Quartal 2021 zugespitzt. Das Wirtschaftswachstum wird teuer erkauft durch niedrige Zinsen, hohe Inflation und eine starke Abwertung der Währung. Die Auslandsschulden der Unternehmen und des Staates sind hoch. Die Währungsreserven hingegen sind gering und die Banken verfügen über geringe Einlagen (GTAI 14.1.2022).
2020 mussten rund hunderttausend kleine Betriebe schließen. In den ersten drei Monaten von 2021 machten 30.000 Gewerbebetriebe zu, neun Millionen Menschen sind erwerbslos. In jedem Haushalt sucht statistisch mindestens eine Person Arbeit. Laut Umfragen im April können 53,6% der Bürger gerade ihre Bedürfnisse decken. 26,6% haben nicht genug für ihre Grundbedürfnisse. Wer in der Lage ist, Lebensmittel zu kaufen, hat aus Mangel seine Ernährungsgewohnheiten umgestellt. Laut einer von der EU finanziell unterstützten Studie ist in den letzten zwölf Monaten der Konsum von Hühnerfleisch von 18,5% auf 4% gesunken, der von Fisch von 10,4% auf 2,9%. Der Konsum von Pflanzenöl ging um 32% zurück (FAZ 20.5.2021). Präsident Erdoğan hat angesichts der hohen Inflation von zuletzt 50% und des steigenden Unmuts in der Bevölkerung eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel von acht auf ein Prozent angekündigt (DW 12.2.2022).
Die Arbeitslosigkeit in der Türkei betrifft insbesondere die jüngere Generation. Die türkische Plattform für Jugendarbeitslosigkeit schätzt, dass im November 2021 mehr als elf Millionen Menschen zwischen 15 und 34 Jahren arbeitslos waren. Im dritten Quartal 2021 lag die offizielle Jugendarbeitslosenquote bei 22% (AT 3.1.2022). Eine Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Sommer 2021 unter über 3.200 türkischen Jugendlichen ergab, dass fast 73% "gerne in einem anderen Land leben würden". 62,8 % der Befragten sahen ihre Zukunft in der Türkei nicht positiv (KAS 15.2.2022).
Laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Aksoy Research vom Jänner 2022 gaben nur 4% an, dass sie alle ihre grundlegenden Lebenshaltungskosten decken können, weitere 13,7% zumindest "die meisten". Währenddessen sagten 17%, keines ihrer Grundbedürfnisse decken zu können. Weitere 36,6% meinten, ihre Grundbedürfnisse nur "sehr wenig" befriedigen zu können, immerhin 28,5% zumindest "einige" davon (TM 27.1.2022)
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialprodukts für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 30.11.2021, S.39).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Laut amtlicher Statistik lebten bereits 2019, also vor der COVID-19-Krise, 17 der 81 Millionen Einwohner unter der Armutsgrenze. 21,5% aller Familien galten als arm (AM 27.1.2021). Eine Simulationsanalyse der Auswirkungen der Pandemie deutet darauf hin, dass es in der Türkei im Jahr 2021 1,6 Millionen mehr arme Menschen geben wird als 2020, womit die höchste Armutsquote seit 2012 erreicht wird. Rasches und frühzeitiges Handeln der Regierung, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung der Haushalte, verhinderte laut Weltbank Schlimmeres. Diese Maßnahmen liefen jedoch im Juli 2021 aus, und die zunehmenden COVID-19-Fälle und Schließungen werden zusätzliche Unterstützung zum Schutz gefährdeter Haushalte erfordern. Der starke Aufschwung des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes und der Haushaltseinkommen wird die Armutsquote voraussichtlich von 12,2% im Jahr 2020 auf 11,6% im Jahr 2021 senken. Die weitere Verringerung der Armut hängt davon ab, so die Weltbank, ob ein umfassender Aufschwung mit angemessener Unterstützung für gefährdete Gruppen gewährleistet wird (WB 12.10.2021).
Auch 2021 verblieb die Türkei im Bann der COVID-19-Pandemie. Nach Angaben des türkischen Finanzministeriums wurden bis August 2021 zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Krise insgesamt 70,55 Mrd. Euro an fiskalen Maßnahmen in Form von öffentlichen Unterstützungen und Steuererleichterungen aufgewendet, welche 10,6 % des BIP ausmachen (WKO 14.10.2021).
Quellen:
AM - Al Monitor (27.1.2021): COVID-19 pandemic expands poverty in Turkey, https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-pandemic-pandemic-expands-poverty-high-inflation.html, Zugriff 24.2.2022
AT – Asia Times (3.1.2022): Turkey needs a long-term plan for its young Syrians, https://asiatimes.com/2022/01/turkey-needs-a-long-term-plan-for-its-young-syrians/, Zugriff 31.1.2022
DW - Deutsche Welle (12.2.2022): Türkei senkt Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-senkt-mehrwertsteuer-auf-grundnahrungsmittel/a-60759240, Zugriff 24.2.2022
FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung [Mumay Bülent] (20.5.2021): Brief aus Istanbul : Du gehörst mir oder der schwarzen Erde, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/brief-aus-istanbul/brief-aus-istanbul-erdogans-politische-taktik-in-der-tuerkei-17348835-p2.html, Zugriff 24.2.20221
GTAI – Germany Trade and Invest (14.1.2022): Türkische Wirtschaft wächst trotz Coronakrise, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuerkische-wirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908, Zugriff 24.2.2022
KAS - Konrad-Adenauer-Stiftung (15.2.2022): Jugendstudie Türkei 2021, https://www.kas.de/de/web/tuerkei/publikationen/einzeltitel/-/content/jugendstudie-tuerkei-2021-2, Zugriff 24.2.2022
OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019-en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE74228759055A97295ED4460FC22E0, Zugriff 24.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
Reuters (22.2.2022): Turkey's economy grew 11% in 2021; to cool to 3.5% in 2022, https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-economy-grew-11-2021-cool-35-2022-2022-02-22/, Zugriff 24.2.2022
TM - Turkish Minute (27.1.2022): Only 4 pct of Turks say they can meet all their basic needs: survey, https://www.turkishminute.com/2022/01/27/ly-4-pct-of-turks-say-they-can-meet-all-their-basic-needs-survey/, Zugriff 28.1.2022
WB – World Bank (12.10.2021): The World Bank in Turkey - Overview - Recent Economic Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview#3, Zugriff 24.2.2022
WKO – Wirtschaftskammer Österreich (14.10.2021): Die türkische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-tuerkische-wirtschaft.html#heading_wirtschaftslage, Zugriff 24.2.2022
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 3.6.2021, S.21). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 3.6.2021, S.21f). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 232 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 662 TL und 992 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.798 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2021 alle zwei Monate Anspruch auf 650 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Der Maximalbetrag für die Witwenrente beträgt mittlerweile 5.641 TL. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 30.11.2021, S.40).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbstständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vergleiche SSA 9.2018).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 24.2.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 24.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_turkische, Zugriff 24.2.2022
SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security_system/social_security_system, Zugriff 24.2.2022
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://web.archive.org/web/20210909030059/https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html, Zugriff 24.2.2022 [Der Originallink ist z.Z. nicht verfügbar.]
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung: 10.03.2022
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1.420 TL, der Maximalbetrag 2.840 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 30.11.2021, S.39). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1.080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2021; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.39).
Quellen:
IOM – International Organization for Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf, Zugriff 24.2.2022
IOM – International Organization for Migration (2019): Länderinformationsblatt Türkei 2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE.pdf, Zugriff 24.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
Pension
Letzte Änderung: 10.03.2022
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.
Berechtigung:
● Staatsbürger über 18 Jahre
● Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)
● Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.
Voraussetzungen:
● Anmelden bei der Sozialversicherung SGK
● Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden
● Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr
Personen älter als 65 Jahre, Menschen mit Behinderungen über 18 und Personen mit Verwandten unter 18 Jahren mit Behinderungen, für die sie die gesetzliche Vormundschaft übernehmen, können eine regelmäßige monatliche Zahlung erhalten. Unmittelbare Familienmitglieder von Versicherten, die nach ihrer Pensionierung verstorben sind und/oder mindestens zehn Jahre gearbeitet haben, haben Anspruch auf Witwen- oder Waisenhilfe. Wenn der/die Verstorbene länger als fünf Jahre gearbeitet hat, haben seine/ihre Kinder unter 18 Jahren, Kinder in der Sekundarschule unter 20 Jahren und Kinder, die unter 25 Jahre alt sind und an einer Hochschule eingeschrieben sind, Anspruch auf Waisenhilfe (IOM 2021).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018).
Obwohl die staatliche Mindestpension zu Beginn des Jahres 2022 von 1.500 auf 2.500 Lira gestiegen ist, blieb sie hinter dem Mindestlohn zurück, der im Dezember 2021 um 50 % auf 4.250 Lira angehoben wurde. Und dies angesichts einer offiziellen Inflationsrate von rund 40%, die von unabhängigen Instituten auf über 80% im Jahr 2021 geschätzt wurde. Etwa 1,3 Millionen der 13,4 Millionen türkischen Sozialhilfeempfänger erhalten den niedrigsten Satz der staatlichen Pension (AM 19.1.2022; vergleiche Bianet 4.1.2022). Die übrigen Pensionen wurden um 25-30% erhöht (Bianet 4.1.2022) Die türkischen Pensionisten gehören zu den ärmsten der Welt. Das Pensionsniveau in der Türkei liegt bei knapp 22% des Wertes der nationalen Armutsgrenze, was bedeutet, dass die Pension nicht ausreicht, um Altersarmut zu verhindern (ILO 2021 S.56f).
Quellen:
AM - Al Monitor (19.1.2022): Inflation crisis hits Turkey's retirees hardest of all, https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/inflation-crisis-hits-turkeys-retirees-hardest-all, Zugriff 9.2.2022
Bianet (4.1.2022): Turkey raises lowest pension by 66 percent, https://bianet.org/english/labor/255697-turkey-raises-lowest-pension-by-66-percent, Zugriff 9.2.2022
ILO - International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020–22:
Social Protection at the Crossroads – in Pursuit of a Better Future, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_817572.pdf, Zugriff 9.2.2022
IOM – Internationale Organisation für Migration (2021): Länderinformationsblatt Türkei 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS%202021%20T%C3%BCrkei%20DE.pdf, Zugriff 24.2.2022
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018: Turkey, https://web.archive.org/web/20210909030059/https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-2019/europe/turkey.html, Zugriff 24.2.2022 [Der Originallink ist z.Z. nicht verfügbar.]
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung: 10.03.2022
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das "Allgemeine Informationssammlungssystem" (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP), das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das "Zentrale Melderegistersystem" (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020, S.49).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn aufgrund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020, S.27).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbullah [Anm.: auch als kurdische Hisbullah bekannt, und nicht mit der schiitischen Hisbullah im Libanon verbunden], al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 30.11.2021, S.38). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.). Die PYD bzw. der militärische Arm, die YPG, sind im Unterschied zur PKK seitens der EU nicht als terroristische Organisationen eingestuft (EU 4.2.2022).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen, auch das bloße Liken eines fremden Beitrages in sozialen Medien, und Handlungen (z.B. die Unterzeichnung einer Petition) zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 3.6.2021, S.16; vergleiche AA 16.11.2021). Auch nicht-öffentliche Kommentare können durch anonyme Denunziation an türkische Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden (AA 16.11.2021). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2019, S.52; vergleiche AA 16.11.2021). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vergleiche Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden (AA 16.11.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 16.11.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind (ÖB 30.11.2021, S.10).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 30.11.2021, S.37). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020, S.50; vergleiche ÖB 30.11.2021, S.38). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 30.11.2021, S.42). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020, S.50; vergleiche NL-MFA 18.3.2021, S.71). Anzumerken ist, dass die Türkei keine gesetzlichen Bestimmungen hat, die es zu einem Straftatbestand machen, im Ausland Asyl zu beantragen (NL-MFA 18.3.2021, S.71).
Gülen-Anhänger, gegen die juristisch vorgegangen wird, bekommen im Ausland von der dort zuständigen Botschaft bzw. dem Generalkonsulat keinen Reisepass ausgestellt. Sie erhalten nur ein kurzfristiges Reisedokument, damit sie in die Türkei reisen können, um sich vor Gericht zu verantworten. Sie können auch nicht aus der Staatsbürgerschaft austreten. Die Betroffenen können nur über ihre Anwälte in der Türkei erfahren, welche juristische Schritte gegen sie eingeleitet wurden, aber das auch nur, wenn sie in die Akte Einsicht erhalten, d.h. wenn es keine geheime Akte ist. Die meisten, je nach Vorwurf, können nicht erfahren, ob gegen sie ein Haftbefehl besteht oder nicht (VB 1.3.2022).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
● Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
● Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org, http://bruecke-istanbul.com/
● TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB 30.11.2021, S.39).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Artikel 4, des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Artikel 9, des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Artikel 16, sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Die Türkei wendet die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020, S.50).
Gemäß Artikel 8, des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Artikel 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor. So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Artikel 9,) (ÖB 30.11.2021, S.38). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Artikel 9, Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020, S.50). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Artikel 11, (1)). Artikel 13, des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 30.11.2021, S.38).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Artikel 19, des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.2.2022) [gültig seit 8.10.2021]: Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962, 24.2.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.6.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: April 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2053305/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_April_2021%29%2C_03.06.2021.pdf, Zugriff am 24.2.2022
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 24.2.2022
CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_1480070563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf, Zugriff 24.2.2022
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 24.2.2022
EU - Europäische Union (4.2.2022): BESCHLUSS (GASP) 2022/152 DES RATES vom 3. Februar 2022, zur Aktualisierung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2021/1192, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022D0152, Zugriff 24.2.2022
Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1%C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiye-giri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1, Zugriff 24.2.2022 (Übersetzung mittels webtran.de)
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey,https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf, Zugriff 24.2.2022
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (31.10.2019): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 24.2.2022
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (30.11.2021): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2067409/TUER_%C3%96B-Bericht_2021-11.pdf, Zugriff 8.2.2022
SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-at-turkish-airports-for-their-social-media-posts/, Zugriff 24.2.2022
TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa, Zugriff 24.2.2022
VB - Verbindungsbeamter des BMI für die Türkei [Österreich] (1.3.2022): Auskunft des VB, per Mail
römisch II.2. Beweiswürdigung:
römisch II.2.1. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den von der belangten Behörde vorgelegten Verfahrensakt unter zentraler Zugrundelegung des im Verfahren erster Instanz gewährten Parteiengehörs, sowie des Inhaltes der gegen den im Verfahren angefochtenen Bescheid erhobenen Beschwerde, ferner durch Vernehmung des Beschwerdeführers in der vor dem erkennenden Gericht am 09.02.2022 durchgeführten mündlichen Verhandlung, der Beantwortung der vom Gericht an die ehemalige Gattin des BF übermittelten Fragen, der Einholung aktueller Auszüge aus dem Strafregister und Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister und im Wege der Einsichtnahme in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers, sowie den rechtskräftigen Verurteilungen.
römisch II.2.2. Der eingangs angeführte Verfahrensgang sowie die dazu getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verfahrensakts der belangten Behörde sowie den Akten des Bundesverwaltungsgerichtes.
römisch II.2.3. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Abstammung und seinem Religionsbekenntnis sowie dessen persönlichen und familiären Lebensumständen im Herkunftsstaat sowie seinen Familienverhältnissen ergeben sich aus den im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem belangten Bundesamt und dem Bundesverwaltungsgericht, dem Inhalt des Verwaltungsaktes und dem Datenstand des Informationsverbundsystems Zentrales Fremdenregister, sie sind im Beschwerdeverfahren nicht strittig.
Die festgestellten Tatsachen zum Aufenthalt und dem Privat- und Familienlebens des BF in Österreich ergeben sich aus den Akten des Bundesamtes und des Bundesverwaltungsgerichtes sowie den Auskünften des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie den Angaben seiner geschiedenen Gattin.
Die Feststellungen zum Aufenthaltstitel des BF sowie die Feststellung, dass der BF kein begünstigter Drittstaatsangehöriger im Sinne der Stillhalteklausel ist bzw. auf ihn auch nicht die Bestimmungen des FRG 1997 für begünstigte Drittstaatsangehörige zur Anwendung gelangen würden, ergibt sich aus den eingesehenen Auszügen des Informationssystems Zentrales Fremdenregister, dem eingesehenen Sozialversicherungsdatenauszug sowie den Auskünften des BF in der mündlichen Verhandlung.
Dass der BF im Inland vier Mal rechtskräftig verurteilt wurde, ergibt sich aus dem Strafregisterauszug der Republik Österreich, zuletzt eingesehen am 10.01.2022.
Auch die in der gegenständlichen Entscheidung getroffenen Feststellungen zu den persönlichen Lebensumständen des BF in Österreich beruhen gänzlich auf den im Laufe des Verfahrens und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung getätigten Angaben des BF und der ehemaligen Gattin.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF basieren auf dessen Auskünfte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung.
Die Feststellungen zur Integration des BF in Österreich resultieren desgleichen aus den Auskünften des BF in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Die Feststellung, dass der BF nur rudimentäre Deutschkenntnisse aufweist, ergibt sich bereits aus seiner handschriftlichen Stellungnahme vom 22.11.2021 und dem persönlichen Eindruck, den der BF diesbezüglich in der mündlichen Beschwerdeverhandlung hinterlassen hat, indem ein Dolmetscher für die türkische Sprache erforderlich war, obwohl sich der BF seit annähernd 20 Jahren im Bundesgebiet aufhält.
römisch II.2.4. Das Bundesamt hat die Ermittlungsergebnisse des von ihm geführten Verfahrens in der Begründung des angefochtenen Bescheides sowie die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen klar und übersichtlich zusammengefasst. Das Bundesamt gewährte dem BF zweimal Parteiengehör durch die am 07.07.2021 und 11.11.2021 übermittelten Verständigungen vom Ergebnis der Beweisaufnahme mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme. In der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hatte der BF zudem abermals die Gelegenheit, zu den erfolgten Verurteilungen persönlich Stellung zu beziehen und sich auch umfassend zu seinem Privat-und Familienleben sowie zu seiner Integration und allfälligen Rückkehrbefürchtungen zu äußern.
Zu seinen Verurteilungen verantwortete sich der BF, der nach wie vor nicht den Funken von Unrechtsbewusstseins und Reue zeigte, zusammengefasst damit, dass er eigentlich ein Justizirrtum sei. Der Staatsanwalt im letzten Strafverfahren hätte Amtsmissbrauch begangen und hätte er nur deshalb ein Geständnis abgelegt, weil ihm Rechtsanwälte dazu geraten hätten, um damit eine niedrigere Strafe zu bekommen. Auch versuchte der BF trotz rechtskräftiger Verurteilungen, die Schuld für seine Verbrechen seiner Exfrau und der Stieftochter in die Schuhe zu schieben, in dem er sich auf Racheakte herauszureden versuchte. Letztlich fällt mit dieser Verantwortung auch der von den Strafgerichten noch angenommene Milderungsgrund eines Geständnisses weg. Bereits im Strafverfahren bagatellisierte der BF seine abscheulichen Taten vielmehr dadurch, dass er beispielsweise seinen Opfern schrieb, „nichts getan zu haben" und behauptete, die Stieftochter habe gelogen, er habe nur einmal sexuellen Kontakt zu ihr gehabt und dieser sei von der Stieftochter ausgegangen, alles sei eine Verschwörung und die Exfrau habe ihre Tochter dazu angestiftet.
Insgesamt vermochte es der BF mit seinen in der Beschwerde sowie in der mündlichen Beschwerdeverhandlung getätigten Äußerungen nicht, der Beweiswürdigung der belangten Behörde überzeugend entgegenzutreten, worauf in der rechtlichen Beurteilung noch eingehend einzugehen sein wird.
Im Zusammenhang mit den strafgerichtlichen Urteilen ist darauf zu verweisen, dass die fremdenpolizeilichen Beurteilungen unabhängig und eigenständig, von denen des Strafgerichts für die Strafbemessung, die bedingte Strafnachsicht und den Aufschub des Strafvollzugs betreffenden Erwägungen zu treffen sind vergleiche Erkenntnis des VwGH v. 6.Juli 2010, Zl. 2010/22/0096). Es obliegt daher dem erkennenden Gericht festzustellen, ob eine Gefährdung im Sinne des FPG vorliegt oder nicht. Es geht bei der Erlassung eines Einreiseverbotes in keiner Weise um eine Beurteilung der Schuld des Fremden an seinen Straftaten und auch nicht um eine Bestrafung vergleiche Erkenntnis des VwGH vom 8. Juli 2004, 2001/21/0119).
Der BF wurde wegen der festgestellten Vergehen und Verbrechen rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt.
römisch II.2.5. Bereits in den strafgerichtlichen Urteilen wurde das Verhalten des BF und der diesem zugrundeliegende Gesinnungsunwert (Verwerflichkeit der inneren Einstellung des BF) und Handlungsunwert festgestellt. So wurde beispielsweise im Urteil des LG für Strafsachen Wien vom 03.08.2016 festgestellt, dass die Verhängung einer Geldstrafe oder ein diversionelles Vorgehen mangels Verantwortungsübernahme und infolge der Faktenmehrheit aus spezial- und generalpräventiven Gründen nicht möglich ist. Mildernd bewertete das Gericht den bis dahin ordentlichen Lebenswandel und das teilweise Tatsachengeständnis. Als erschwerend wurde dabei das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen und die Begehung zum Nachteil einer Angehörigen bewertet: Der BF hatte im Jahr 2016 seine Exfrau gefährlich bedroht hat, indem er ihr ein Küchenmesser an den Hals gehalten hat, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Weiter verletzte er sie im Zuge eines Gerangels, wodurch sie eine Abschürfung am linken Oberarm und eine Schnittverletzung an der linken Hand erlitt. Außerdem hat der BF seine Exfrau zu einer Handlung, nämlich, ihn mit ihrer Tasche aus der Wohnung zu lassen, genötigt und zwar mit Gewalt und durch gefährliche Drohung, indem er sie wegstieß, ein Messer gegen sie richtete und sinngemäß äußerte, er werde sie sonst umbringen.
Auch im Urteil des LG für Strafsachen Wien vom 19.03.2020 wurde ein Vorgehen nach den Paragraphen 198, ff StPO nicht in Betracht gezogen, weil aufgrund der massiven Eingriffe sowie des langen Tatzeitraums die Schuld des Angeklagten als schwer anzusehen war. Mildernd bewertete das Gericht die zumindest teilweise geständige Verantwortung, erschwerend das einschlägig getrübte Vorleben. Der BF hat in diesem Fall seine Exfrau von Jänner 2019 bis zuletzt am 3.1.2020 widerrechtlich beharrlich verfolgt, indem er in einer Weise, die geeignet war, sie in ihrer Lebensführung unzumutbar zu beeinträchtigen, fortgesetzt ihre räumliche Nähe aufsuchte, indem er regelmäßig, teils bis zu vier Mal wöchentlich ihre Wohnung, ihren Arbeitsplatz und sonstige Orte, an denen sie sich befand, aufsuchte sowie sich in der Nähe ihrer Wohnung und ihres Arbeitsplatzes, insbesondere auf dem Mitarbeiterparkplatz, aufhielt, in einer Vielzahl von Angriffen im Wege der Telekommunikation Kontakt zu ihr herstellte, indem er sie regelmäßig in wechselnder Intensität bis zu 30 Mal täglich anrief und ihr bis zu 20 Nachrichten täglich schickte.
Der letzten Verurteilung liegt schlussendlich zugrunde, dass der BF wegen der Verbrechen der Vergewaltigung, geschlechtlichen Nötigung, des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen, des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen, des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses, der Nötigung, des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung und des Vergehens der beharrlichen Verfolgung schuldig gesprochen und zu einer Haftstrafe in der Dauer von 14 Jahren und zur Unterbringung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen wurde. Zudem wurde der BF gemäß Paragraph 369, Absatz eins, StPO für schuldig befunden, den Privatbeteiligten in Form seiner Ex-Gattin, der Stieftochter und des Sohnes insgesamt € 128.130,- binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Das besonders Infame bei diesen Taten ist zudem der Umstand, dass es sich beim Opfer der sexuellen Übergriffe um die damals unmündig minderjährige Stieftochter handelte und die ersten diesbezüglichen Handlungen stattfanden, als das Opfer gerade sieben Jahre alt war. Bei der ersten Vergewaltigung wies das Opfer erst ein Alter von zehn Jahren auf. Weiter handelt es sich beim Opfer hinsichtlich der fortdauernden körperlichen Misshandlungen und Nötigungen bzw. der gefährlichen Drohungen um den leiblichen Sohn des BF. Diese Taten fanden zumindest von 2015 bis 2018 statt, das 2007 geborene Opfer war demnach erst acht bis zehn Jahre alt.
Als erschwerend waren dabei das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit Vergehen, die Tathandlung gegenüber drei Opfern (Stieftochter, Exfrau, Sohn), die Tatbegehung gegenüber Angehörigen, der lange Deliktszeitraum, das Nichtverwenden eines Kondoms, das geringe Alter der Stieftochter bei Beginn der sexuellen Übergriffe, die einschlägigen Vorstrafen und der rasche Rückfall zu berücksichtigen. Folgerichtig konnten vom Gericht keine mildernden Umstände festgestellt werden. Ebenso erschwerend ist aus Sicht des Gerichtes, dass der Täter die Ansprüche der Privatbeteiligten bis heute nicht beglichen hat, obwohl er umgekehrt schon die finanziellen Mittel aufwendete, um zahlreiche namhafte Strafverteidiger in die Haftanstalt kommen zu lassen. Weiter erschwerend ist auch, dass er sich auch bis heute bei seinen Opfern nicht einmal entschuldigt hat und er diese nach wie vor — zumindest über Dritte — belästigt, obwohl diese klar zu erkennen gegeben haben, dass sie mit ihm nichts mehr zu tun haben wollen. Auch darf nicht übersehen werden, dass sämtliche Opfer des BF durch dessen Taten bis heute massiv traumatisiert sind und nur schwer in ein normales Leben zurückfinden.
Schwerwiegend betrachtete das LG für Strafsachen Wien auch den Umstand, dass der BF seine Stieftochter im Rahmen einer Vergewaltigung schlussendlich auch noch schwängerte. Das Kind wurde nach der Geburt zur Adoption freigegeben und präsentierte sich der BF den Adoptiveltern gegenüber zudem noch als Großvater des Kindes.
Zudem attestierte der dem Strafverfahren hinzugezogene Universitätsdozent Dr. römisch 40 in seinem Gutachten, dass das nomothetisch-statistische Risiko beim BF für einen Rückfall in die Sexualdelinquenz als sehr wahrscheinlich eingestuft wird. Beim BF sind die wesentlichen prognostischen Parameter negativ besetzt, weshalb eine deutliche Erhöhung dieses Faktors angenommen wird. Bei der Auswertung dieser Parameter wird der BF in die Risikogruppe 4 eingeordnet, sowohl in Hinblick auf Gewalttaten als auch in Hinblick auf Sexualdelikte. Das heißt, unbehandelt weist der BF ein Rückfallrisiko von 59% in 10 Jahren, also ein relativ hohes Risiko dafür auf und ist die Gefahr naheliegend, dass es erneut zu Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, also konkret zu Vergewaltigungen oder anderen sexuellen Handlungen gegen den Willen der Opfer kommen wird.
Auch die Ausführungen des OLG Wien in der gegen das Urteil erhobenen Berufung, der nicht Folge gegeben wurde, zeichnen ein düsteres Persönlichkeitsbild des BF. So stellte das OLG Wien fest, dass sich die vom Erstgericht verhängte Unrechtsfolge bei einem zur Verfügung stehenden Strafrahmen von einem bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe angesichts des langen Tatzeitraums sowie der Kumulierung einer außergewöhnlich hohen Anzahl schwerwiegender Verbrechen und Vergehen gegenüber drei engen Bezugspersonen, wobei ihm die im selben Haushalt lebenden Kinder schutzlos ausgeliefert waren und der Angeklagte sich nicht davon abhalten ließ, das zehnjährige Opfer mit seinem Penis vaginal und anal zu penetrieren, als nicht zu hoch bemessen, sondern vielmehr dem hohen Schuld- und Unrechtsgehalt der einzelnen Taten gerecht werdend. Ebenso trägt die vom Erstgericht ausgemessene Sanktion spezial- und generalpräventiven Erfordernissen Rechnung, zumal der Angeklagten bisher verhängte Sanktionen völlig unbeeindruckt ließen und der Festsetzung adäquater Strafen gerade im Bereich des Sexualstrafrechts zum Schutz von Kindern und Jugendlichen bei Eingriffen deren sexuelle Integrität besondere Bedeutung zukommt, um das Rechtsgut der ungestörten sexuellen und allgemeinen psychischen Entwicklung unmündiger und minderjähriger Tatopfer zu wahren.
römisch II.2.6. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zeigte sich, dass der BF zum Unrechtsgehalt seiner Taten nach wie vor nicht einsichtig ist und hat er sich mit seinem Verhalten und dessen Folgen bisher auch nicht wirklich auseinandergesetzt. Auch eine glaubwürdige Verhaltensänderung kam nicht hervor. Insbesondere versuchte er zu erklären, eigentlich ein Justizirrtum zu sein, dass der Staatsanwalt im letzten Strafverfahren Amtsmissbrauch begangen hätte und dass er nur deshalb ein Geständnis abgelegt hätte, weil ihm Rechtsanwälte dazu geraten hätten, damit er eine niedrigere Strafe bekommt. Auch versuchte der BF trotz rechtskräftiger Verurteilungen, die Schuld für seine Verbrechen seiner Exfrau und der Stieftochter in die Schuhe zu schieben, in dem er sich auf Racheakte herauszureden versuchte. Letztlich fällt mit dieser Verantwortung auch der von den Strafgerichten noch angenommene Milderungsgrund eines Geständnisses weg.
Ferner ist daran ist zu erkennen, dass der BF offenbar in keiner Weise gewillt ist, die österreichische Rechtsordnung zu respektieren. Zudem fehlt es dem BF an ernsthafter Problem- und Tateinsicht, was sich auch im Rahmen der Verhandlung deutlich bestätigt hat. Auch zeigt sein Verhalten das Werteverständnis, welches nicht dem österreichischen angepasst ist bzw. die deutliche Missachtung der österreichischen Rechtsordnung auf. Die massiv verwerflichen Handlungen des BF werden vom Bundesverwaltungsgericht – wie schon vom Bundesamt - als besonders gravierendes Fehlverhalten beurteilt.
römisch II.2.7. Es kam auch nicht hervor, wer oder was den BF vor der Begehung weiterer Straftaten abhalten sollte. Zudem stellte Universitätsdozent Dr. römisch 40 fest, dass der BF ein relativ hohes Rückfallrisiko aufweist und die Gefahr naheliegend ist, dass es erneut zu Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, also konkret zu Vergewaltigungen oder anderen sexuellen Handlungen gegen den Willen der Opfer kommen wird.
Von einem schützenswerten Familienleben kann zudem auch nicht mehr ausgegangen werden. Der BF ist seit 11.09.2019 geschieden. Die alleinige Obsorge für die gemeinsamen Kinder wurde bei der Scheidung der Kindesmutter übertragen. Den Unterhaltsverpflichtungen kam der BF bis dato nicht nach, die Kindesmutter ist auf staatliche Unterhaltsvorschussleistungen angewiesen. Der letzte persönliche Kontakt zwischen der mj. Tochter und dem BF war kurz vor der Verhaftung des BF. Der mj. Sohn wollte nie Kontakt zum BF, da er sich vor ihm fürchtet, nie das Wort „Vater" ausspricht und auch nicht nach dem BF fragt. Die mj. Tochter war zum Tatzeitpunkt noch klein und hat von den Vorfällen zum Glück nichts mitbekommen, sie fragt auch nicht nach dem BF und hat keinerlei Beziehung zu ihm. Der BF wurde auch in der Haft nie von der geschiedenen Gattin oder den Kindern besucht und besteht auch weder telefonischer noch schriftlicher Kontakt.
Im Zusammenhang mit der tristen finanziellen Situation - der BF hat Verbindlichkeiten in Höhe von € 75.000,- und an die am Gerichtsverfahren involvierten Privatbeteiligten insgesamt € 128.130,- zu zahlen, ist eine positive Zukunftsdiagnose folgerichtig nicht zu erwarten.
Zusammenfassend ist daher dem Bundesamt beizupflichten, dass der BF eine äußerst schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt. Im Hinblick darauf und unter Berücksichtigung der auf Grund des nahezu unbegreiflichen Fehlverhaltens und der sonstigen persönlichen Umstände des BF getroffenen Gefährlichkeitsprognose wurde auch zu Recht von einem unbefristeten Einreiseverbot durch das Bundesamt Gebrauch gemacht. Nicht zuletzt stellte der Sachverständige im Strafverfahren beim BF ein Rückfallrisiko von 59% in zehn Jahren fest.
römisch II.2.8. Zur abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen und in den Feststellungen zitierten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen.
Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
römisch II.3. Rechtliche Beurteilung:
römisch II.3.1. Zuständigkeit, Entscheidung durch den Einzelrichter, Anzuwendendes Verfahrensrecht
römisch II.3.1.1. Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, des Bundesgesetzes, mit dem die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Gewährung von internationalem Schutz, Erteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Abschiebung, Duldung und zur Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sowie zur Ausstellung von österreichischen Dokumenten für Fremde geregelt werden (BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG), Bundesgesetzblatt Teil eins, 87 aus 2012, idgF) entscheidet das Bundesverwaltungs-gericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
römisch II.3.1.2. Gemäß Paragraph 6, des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG), Bundesgesetzblatt Teil eins, 10 aus 2013, idgF entscheidet im gegenständlichen Fall der Einzelrichter.
römisch II.3.1.3. Dass Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, 33 aus 2013, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, 122 aus 2013,, geregelt (Paragraph eins, leg.cit.). Gemäß Paragraph 58, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft und hat das ho. Gericht im gegenständlichen Fall gem. Paragraph 17, leg. cit das AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles und jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Paragraph eins, BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt. Gem. Paragraphen 16, Absatz 6,, 18 Absatz 7, BFA-VG sind für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, die Paragraphen 13, Absatz 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden.
römisch II.3.1.4. Gemäß Paragraph 27, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, es den angefochtenen Bescheid, auf Grund der Beschwerde (Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (Paragraph 9, Absatz 3,) zu überprüfen.
Zu A) (Spruchpunkt römisch eins)
römisch II.3.2. Erlassung einer Rückkehrentscheidung
römisch II.3.2.1. Der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation regelt im Wesentlichen welche Rechte türkischen Staatsangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat auf dem Gebiet der Beschäftigung zustehen. Die Artikel 6 und 7 ARB 1/80 sind dabei die zentralen Vorschriften aus denen türkische Staatsangehörige, sofern die Voraussetzungen vorliegen, unmittelbar Ansprüche für rechtmäßigen Aufenthalt und Arbeitserlaubnis herleiten können.
Die Artikel 6 und 7 enthalten ihrem Wortlaut nach in erster Linie beschäftigungsrechtliche Regelungen. Der EuGH geht jedoch in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die beschäftigungsrechtlichen Vergünstigungen, die türkischen Staatsangehörigen verliehen werden, zwangsläufig auch ein Aufenthaltsrecht dieser Personen im jeweiligen EU-Mitgliedstaat beinhalten, weil sonst die in diesen Bestimmungen eingeräumten Arbeitsmarktzugangsrechte wirkungslos wären.
Artikel 6, ARB 1/80 des Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation lautet:
(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt; nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben; nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die auf Grund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.
(3) Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt.
Im gegenständlichen Fall ergibt sich daraus Folgendes:
In Anbetracht der festgestellten Erwerbstätigkeit des BF im Bundesgebiet, primär durch die durchgehende Beschäftigung vom 05.04.2004 bis zum 31.07.2019, hat dieser die in Artikel 6, ARB 1/80 vorgesehene Rechtstellung erworben.
Sind Rechte aus dem ARB 1/80 erst einmal entstanden, kann ein türkischer Staatsangehöriger sie (nur) unter zwei Voraussetzungen wieder verlieren. Entweder er verlässt den Aufnahmemitgliedstaat ohne berechtigte Gründe für einen nicht unerheblichen Zeitraum oder er stellt wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche, schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit gemäß Artikel 14 dar (VwGH 28. Februar 2006, 2002/21/0130; sowie VwGH 04.04.2019, Ra 2019/21/0009).
Artikel 14 ARB 1/80
(1) Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.
(2) Er berührt nicht die Rechte und Pflichten, die sich aus den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder zweiseitigen Abkommen zwischen der Türkei und den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ergeben, soweit sie für ihre Staatsangehörigen eine günstigere Regelung vorsehen.
Zur Aufenthaltsbeendigung und zum zur Anwendung zu gelangendem Gefährdungsgrad im Hinblick auf türkische Staatsangehörige, bei denen das Assoziationsabkommen zur Anwendung gelangt, führte der Verwaltungsgerichtshof jüngst Folgendes aus:
Die Judikatur des VwGH vergleiche VwGH 27.6.2006, 2006/18/0138; VwGH 26.9.2007, 2007/21/0215), wonach die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ARB 1/80-berechtigte türkische Staatsangehörige nur nach Maßgabe jener Norm in Frage kommt, die Aufenthaltsverbote gegen EWR-Bürger regelt (seit Inkrafttreten des FrÄG 2011 mit 1. Juli 2011 ist das Paragraph 67, FrPolG 2005), kann jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten werden (Hinweis EuGH 8.12.2001, Ziebell, C-371/08).
Mit dem FNG 2014 wurde mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 2014 das System verändert. Seither gibt es Ausweisung und Aufenthaltsverbot (Paragraphen 66 und 67 FrPolG 2005) nur mehr gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige, während gegen alle sonstigen Drittstaatsangehörigen nur mehr eine Rückkehrentscheidung (Paragraph 52, FrPolG 2005; entweder alleine oder in Verbindung mit einem Einreiseverbot nach Paragraph 53, FrPolG 2005) in Betracht kommt.
Türkische Staatsangehörige - auch solche mit einer Aufenthaltsberechtigung nach dem ARB 1/80 - sind "sonstige" Drittstaatsangehörige. Sie unterfallen daher dem Wortlaut nach Paragraph 52, FrPolG 2005.
Auch gegen türkische Staatsangehörige, die über eine Aufenthaltsberechtigung nach dem ARB 1/80 verfügen und deren Aufenthalt in Übereinstimmung mit Artikel 14, Absatz eins, ARB 1/80 beendet werden soll, ist nunmehr - seit dem FNG 2014, anders als nach der bis 31. Dezember 2013 geltenden Rechtslage, nicht mehr ein Aufenthaltsverbot, sondern eine Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot zu erlassen.
Freilich hat es dabei zu bleiben, dass diese Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot eine Gefährdung voraussetzt, die jener gleichkommt, die die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger rechtfertigt oder, wie sich aus EuGH 8.12.2011, Ziebell, C-371/08, ergibt, im Fall eines türkischen Staatsangehörigen, der sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig in Österreich aufhält, Artikel 12, der Daueraufenthalts-RL - umgesetzt durch Paragraph 52, Absatz 5, FrPolG 2005 - entspricht.
Bei der Frage nach dem auf den BF anzuwendenden Gefährdungsmaßstab wird allerdings das zu Artikel 28, Absatz 3, Litera a, der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ergangene Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 16. Jänner 2014, Rs C-400/12, zu berücksichtigen sein, weil Paragraph 67, Absatz eins, FPG insgesamt der Umsetzung von Artikel 27 und 28 dieser Richtlinie - Paragraph 67, Absatz eins, fünfter Satz FPG im Speziellen der Umsetzung ihres Artikel 28, Absatz 3, Litera a, - dient. Der zum erhöhten Gefährdungsmaßstab nach Artikel 28, Absatz 3, Litera a, der genannten Richtlinie bzw. dem fünften Satz des Paragraph 67, Absatz eins, FPG führende zehnjährige Aufenthalt im Bundesgebiet muss demnach grundsätzlich „ununterbrochen“ sein. Es können einzelne Abwesenheiten des Fremden unter Berücksichtigung von Gesamtdauer, Häufigkeit und der Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, Österreich zu verlassen, auf eine Verlagerung seiner persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen schließen lassen. Auch der Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen ist grundsätzlich geeignet, die Kontinuität des Aufenthaltes iSd Artikel 28, Absatz 3, Litera a, der Freizügigkeitsrichtlinie zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich der Fremde vor dem Freiheitsentzug mehrere Jahre lang (kontinuierlich) im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Dies ist - bei einer umfassenden Beurteilung - im Rahmen der Prüfung zu berücksichtigen, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind vergleiche insbesondere Rn. 25 sowie 31 bis 36 des zitierten Urteils des EuGH vom 16. Jänner 2004 und - daran anknüpfend - das hg. Erkenntnis vom 19. Februar 2014, Zl. 2013/22/0309).
Bei der Beurteilung des Gefährdungsmaßstabs ist in einem Verfahren betreffend Aufenthaltsverbot das Urteil des EuGH vom 16. Jänner 2014, Rs C-400/12, zu berücksichtigen, wonach (der im Paragraph 67, Absatz eins, fünfter Satz FrPolG 2005 umgesetzte) Artikel 28, Absatz 3, Litera a, der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) dahin auszulegen ist, dass ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen grundsätzlich geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich diese Person vor dem Freiheitsentzug zehn Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Dieser Umstand kann jedoch bei der umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden, die für die Feststellung, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind, vorzunehmen ist.
Bei der "umfassenden Beurteilung", ob die mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen durch den Freiheitsentzug "abgerissen" sind, ist in einem Verfahren betreffend Aufenthaltsverbot nach Paragraph 67, Absatz eins, fünfter Satz FrPolG 2005 in Verbindung mit Artikel 28, Absatz 3, Litera a, der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) auch zu berücksichtigen, wie lange sich der Fremde vor dem Freiheitsentzug im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Des Weiteren kommt es dabei auf die Gesamtdauer der "Unterbrechungen" des Aufenthalts und auf deren Häufigkeit an vergleiche VwGH 24.3.2015, Ro 2014/21/0079). [Hier befand sich der Fremde etwa drei Monate erstmals in Haft, was aber schon wegen der Kürze der Anhaltung und der langen Dauer des Voraufenthalts von mehr als zehn Jahren jedenfalls nicht geeignet war, die Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen. (VwGH 07.03.2019, Ra 2018/21/0097).
Dabei kommt es auf einen ununterbrochenen Aufenthalt in Österreich während der letzten zehn Jahre vor der Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme an vergleiche EuGH 16.1.2014, C-400/12; EuGH 8.12.2011, Ziebell, C-371/08).
Zusammengefasst bedeutet diese Judikaturlinie für diesen Fall, dass, wenn man davon ausgeht, dass der unter das Assoziationsabkommen fallende BF als eine Person gilt, die seinen Aufenthalt ununterbrochen seit zehn Jahren - vor der Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme – hatte, der Aufenthalt nur dann beendet werden kann, wenn er eine besondere Gefährdung darstellt. Nämlich, dass sein Verbleib im Bundesgebiet aufgrund des persönlichen Verhaltens die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich nachhaltig und maßgeblich gefährden würde.
Konkret bleibt bezüglich der seinerzeit aus dem ARB 1/80 erworbenen Rechte festzuhalten, dass der BF wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche, schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gemäß Artikel 14 darstellt.
Wie in der Beweiswürdigung bereits dargestellt, stellt der BF eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Er ist seit 16.04.2003 in Österreich aufhältig und wurde vier Mal rechtskräftig verurteilt. Die letzte Verurteilung erfolgte unter anderem, weil er seine unmündig minderjährige Stieftochter über Jahre hinweg vergewaltigte, geschlechtlich nötigte und sexuell missbrauchte. Er verfügt hinsichtlich seiner Straftaten über keinerlei Einsicht und versucht er erfolglos zu erklären, eigentlich ein Justizirrtum zu sein und dass der Staatsanwalt im letzten Strafverfahren Amtsmissbrauch begangen hätte und dass er nur deshalb ein Geständnis abgelegt hätte, weil ihm Rechtsanwälte dazu geraten hätten, damit er eine niedrigere Strafe bekommt. Die schwerwiegende sexuelle Devianz im familiären Bereich war kausal für die von ihm begangenen Straftaten und hat das Bild einer geistigen und seelischen Abartigkeit höheren Grades erreicht. Diesbezüglich ist der BF völlig unkritisch, bagatellisierend und stellt diese Neigung in Abrede und betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr. Er ist einer Tätergruppe zuzuordnen, die ein hohes Risiko für neuerliche Gewalttaten gegenüber Personen sowie auch sexuell motivierte Gewalttaten aufweist. Aufgrund dieses unverändert vorliegenden hohen Gefahrenpotentials und der auf eine besonders menschenverachtende Weise begangenen Tathandlungen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der BF unter dem Einfluss seiner schwerwiegenden psychischen Störung auch in Zukunft strafbare Handlungen mit schwerwiegenden Folgen wie die verfahrensgegenständlichen begehen wird. Die geistig-seelische Abnormität höheren Grades bezieht sich insbesondere auf Sexualdelikte gegenüber Kindern, sei es im eigenen familiären Bereich oder auch bei Kindern allfällig zukünftiger Partnerinnen. Das nomothetisch-statistische Risiko für einen Rückfall in die Sexualdelinquenz wird als sehr wahrscheinlich eingestuft.
Die Feststellung, wonach rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht vorliegen, stellt eine gewichtige Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen dar (z. B. Erk. d. VwGH vom 27.2.2007, 2006/21/0164, mwN, wo dieser zum wiederholten Male klarstellt, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).
Zur Klarstellung sei an dieser Stelle auch darauf hinzuweisen, dass sich im Falle des durch den BF verwirklichten Sachverhaltes hier nicht die strafrechtliche, sondern ausschließlich die fremdenrechtliche Betrachtungsweise zum Tragen kommt, welche schon ihrem Wesen nach von der ersteren abweicht. So ist für die Beurteilung nicht das Vorliegen der rechtskräftigen Bestrafung oder Verurteilung, sondern das diesen zu Grunde liegende Verhalten des Fremden maßgeblich, demzufolge ist auf die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und auf das daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (VwGH vom 22.3.2011, 2008/21/0246 mwN, auch Erk. vom 16.11.2012, 2012/21/0080).
Im gegenständlichen Fall zeigen die den Verurteilungen zugrundeliegenden Taten doch klar, dass der BF nicht davor zurückschreckt, sich über die österreichische Rechtsordnung hinwegzusetzen. Zudem zeigte der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht keine Einsicht und sieht sich als Opfer der Umstände.
Ein in fremdenrechtlicher Sicht relevantes Wohlverhalten nach der Tat liegt im gegenständlichen Fall nicht vor, zumal die Zeit seit der letzten rechtskräftigen Verurteilung hierzu viel zu kurz ist vergleiche Erk. d. VwGH vom 17.11.1994, 93/18/0271 mwN). Ferner wurde der BF ohnehin zu einer Haftstrafe von 14 Jahren und zur Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt.
Im Hinblick auf die besondere Gefährlichkeit aufgrund der mehrfachen Verurteilungen in Zusammenhang mit den massiven Sexualdelikten, ist die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch bei gegenläufigen familiären und privaten Interessen insbesondere den Interessen der Kinder auch dringend geboten und sind die aus der Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot resultierende Trennung von Familienangehörigen in Kauf zu nehmen vergleiche auch VwGH 22.12.2009, 2009/21/0344). Nicht anders als auch schon bisher während der haftbedingten Trennungen sind künftig telefonischer, postalischer oder elektronischer Kontakt (Internet, Skype, WhatsApp) sowie angesichts der relativ geringen Entfernung zur Türkei und der Vielzahl der Reisemöglichkeiten auch einseitige Besuche jederzeit möglich. Im gegenständlichen Fall sind sowohl seine Ex-Frau, die Stieftochter und die beiden gemeinsamen durch die jahrelangen und massiven strafbaren Handlungen schwer traumatisiert und werden nur schwer in ein normales Leben zurückfinden. Es besteht weder von den Kindern noch von der Ex-Gattin ein Kontakt zum BF, ein solcher wird auch nicht gewünscht. Besuche in der Haftanstalt sind ebenfalls nicht erfolgt und werden auch nicht erfolgen. Der BF kommt auch nicht für den Unterhalt der Familie auf.
Hinsichtlich der konkreten Tathandlungen wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die Feststellungen verwiesen. Es musste dem BF bei den Tathandlungen zumindest latent bewusst sein, dass sich die von ihm begangenen Taten negativ auf einen Verbleib im Bundesgebiet und damit für ein Führen eines gemeinsamen Familienlebens hier nachteilig auswirken werden. Dessen ungeachtet setzte er sein negatives Verhalten über Jahre hinweg fort.
Der BF stellt durch seine massive Straffälligkeit, verbunden mit einem nicht einmal ansatzweise vorhandenen Unrechtsbewusstsein jedenfalls wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche, schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gemäß Artikel 14 dar ARB dar, weswegen er keine Rechte mehr aus dem ARB 1/80 in Anspruch nehmen kann und diese Rechtsstellung folgerichtig verloren hat.
römisch II.3.3. Rückkehrentscheidung im Zusammenhang mit den angewendeten Bestimmungen
Die Behörde hat ihre Entscheidung richtigerweise auf Paragraph 52, Absatz 5, FPG gestützt, da der BF auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ verfügt. Zudem liegen die Voraussetzungen gem. Paragraph 53, Absatz 3, FPG vor. Ausgeführt wurde, dass von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch den BF auszugehen ist, weil dieser viermal rechtskräftig verurteilt wurde und die letzten Verurteilung auf einem uneingeschränkt abstoßenden Verhalten basierte, indem er seine Stieftochter von 2008 über Jahre hinweg (das Opfer war zu Beginn der sexuellen Übergriffe gerade einmal sieben Jahre alt) massiv sexuell missbraucht, vergewaltigt etc. und seinen leiblichen 2007 geborenen Sohn ab 2015 (das Kind war gerade einmal acht Jahre alt) fortgesetzter Gewalt ausgesetzt hat. Besonders verwerflich ist, dass er mit seiner Stieftochter im Rahmen einer der zahlreichen Vergewaltigungen ein Kind gezeugt hat, dass diese zur Welt brachte und zur Adoption freigab, wobei der BF sich gegenüber den Adoptiveltern gar noch als „Opa" des Kindes ausgab.
römisch II.3.3.1. Gesetzliche Grundlagen (auszugsweise):
Paragraph 9, BFA-VG, Schutz des Privat- und Familienlebens:
„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) – (6) …“
Paragraph 52, FPG, Rückkehrentscheidung:
Paragraph 52,
(1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
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1. | nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder | |||||||||
2. | nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde. | |||||||||
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
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1. | dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird, | |||||||||
2. | dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, | |||||||||
3. | ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder | |||||||||
4. | ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird | |||||||||
und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige. | ||||||||||
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
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1. | nachträglich ein Versagungsgrund gemäß Paragraph 60, AsylG 2005 oder Paragraph 11, Absatz eins und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre, | |||||||||
1a. | nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Einreisetitels entgegengestanden wäre oder eine Voraussetzung gemäß Paragraph 31, Absatz eins, wegfällt, die für die erlaubte visumfreie Einreise oder den rechtmäßigen Aufenthalt erforderlich ist, | |||||||||
2. | ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, oder 2 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, | |||||||||
3. | ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, oder 2 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, | |||||||||
4. | der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (Paragraph 11, Absatz eins und 2 NAG) entgegensteht oder | |||||||||
5. | das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017,, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde. | |||||||||
Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß Paragraph 24, NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen. | ||||||||||
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Absatz eins, zu erlassen.
(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Absatz eins, ist abzusehen, wenn ein Fall des Paragraph 45, Absatz eins, vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des Paragraph 16, Absatz 4, BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist Paragraph 28, Absatz 2, Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 33 aus 2013, auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, kann auch über andere als in Absatz 9, festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
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1. | nachträglich ein Versagungsgrund gemäß Paragraph 60, AsylG 2005 oder Paragraph 11, Absatz eins und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre, | |||||||||
1a. | nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Einreisetitels entgegengestanden wäre oder eine Voraussetzung gemäß Paragraph 31, Absatz eins, wegfällt, die für die erlaubte visumfreie Einreise oder den rechtmäßigen Aufenthalt erforderlich ist, | |||||||||
2. | ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, oder 2 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, | |||||||||
3. | ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins, oder 2 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, | |||||||||
4. | der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (Paragraph 11, Absatz eins und 2 NAG) entgegensteht oder | |||||||||
5. | das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017,, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde. | |||||||||
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Artikel 8, EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
römisch II.3.3.2. Bestimmungen im gegenständlichen Verfahren
Der BF stellt eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, dass jedenfalls eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit der Judikatur gemäß Paragraph 52, FPG samt Einreiseverbot auszusprechen war und stehen auch die familiären- und privaten Bindungen einer Rückkehrentscheidung nicht entgegen vergleiche Ausführungen unten).
römisch II.3.3.3. Interessensabwägung
Wie in der Beweiswürdigung bereits dargestellt und in der rechtlichen Begründung noch eingehend zu erörtern ist, stellt der BF eine massive Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar, was ihm im Rahmen seiner vierten Verurteilung vom zum Strafverfahren beigezogenen Sachverständigen auch attestiert wurde.
Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung gem. Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
römisch II.3.3.4. Die Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann einen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Artikel 8, Absatz eins, EMRK darstellen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Vom Begriff des 'Familienlebens' in Artikel 8 E, M, R, K, i, s, t, nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. vergleiche dazu EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215; EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981, 118; EKMR 14.3.1980, 8986/80, EuGRZ 1982, 311; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK- Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Artikel 8 ;, Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vergleiche auch Rosenmayr, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1, ebenso VwGH vom 26.1.2006, 2002/20/0423).
Bei dem Begriff „Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK“ handelt es sich nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention.
römisch II.3.3.5. Basierend auf den getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, dass die Rückkehrentscheidung einen Eingriff in das Recht auf das Privat- und Familienleben darstellt.
Gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Zweifellos handelt es sich sowohl bei der belangten Behörde als auch beim ho. Gericht um öffentliche Behörden im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK und ist der Eingriff in Paragraph 10, AsylG gesetzlich vorgesehen.
Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung der durch Artikel 8, (1) EMRK geschützten Rechte des Beschwerdeführers im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Artikel 8, EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Artikel 8, (2) EMRK, in verhältnismäßiger Wiese verfolgt.
Im Einzelnen ergibt sich aus einer Zusammenschau der gesetzlichen Determinanten im Lichte der Judikatur Folgendes:
Der BF hält sich seit 2003 mit Unterbrechungen im Bundesgebiet. Von 05. bis 10.8.2016 und von 29.11.2019 bis 19.01.2020 war der BF in Österreich nicht gemeldet. Von 11.8.2016 bis 12.10.2016 war der BF im Bundesgebiet lediglich mit Nebenwohnsitz gemeldet. Aufgrund seiner massiven Straffälligkeit, verbunden mit seinem nicht vorhandenen Unrechtsbewusstsein stellt der BF jedenfalls wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche, schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, weswegen nunmehr eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu prüfen war.
Der BF verfügt über die bereits festgestellten privaten Anknüpfungspunkte, welche sohin seit der Verurteilung zu einer Haftstrafe von 14 Jahren und der Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher folgerichtig ohnehin unbedeutend wurden. Der BF spricht gebrochen Deutsch und war trotz des beinahe 20-jährigen Aufenthalt im Bundesgebiet ein Dolmetscher für die mündliche Verhandlung notwendig. Er hat in der Türkei 13 Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Anschließend absolvierte er eine Lehre zum Kunststofftechniker. Der BF hat in Österreich legal gearbeitet, war allerdings teilweise nur geringfügig beschäftigt. Von 2004 bis 2019 findet sich ein längeres Dienstverhältnis bei der Fa. römisch 40 in Wien. Von August 2019 bis Juni 2020 hat der BF Arbeitslosengeld bezogen, ehe er zuletzt vor seiner Verhaftung geringfügig bei einem Taxiunternehmen beschäftigt war.
Der BF ist seit 11.09.2019 von seiner Gattin römisch 40 geschieden und Vater der gemeinsamen Kinder römisch 40 , geb. römisch 40 und römisch 40 , geb. römisch 40 . Die geschiedene Gattin ist auch die Mutter der römisch 40 , am römisch 40 geboren. Das alleinige Sorgerecht für die mj. Kinder wurde der Mutter zugesprochen, den auferlegten Unterhaltszahlungen für die Kinder ist der BF bis dato nicht nachgekommen.
Der BF ist in keinem Verein oder Organisation tätig und leistet keine ehrenamtlichen Tätigkeiten. Bei den Freunden des BF handelt es sich durchwegs um türkische bzw. türkischstämmige Personen, bezüglich österreichischer Freunde konnte er in der mündlichen Verhandlung nur vier Personen mit Namen bekannt geben, davon eine Person nur mit Vornamen. Aufgrund seines langen Aufenthaltes im Bundesgebiet ist jedenfalls davon auszugehen, dass er über ein schützenswertes Privat- und Familienleben verfügt. Nicht übersehen werden darf dabei jedoch, dass er seine niederträchtigen Taten, die zur letzten Verurteilung führten, ausschließlich gegen seine damals minderjährige Stieftochter, seinen minderjährigen Sohn und seine Exgattin, folgerichtig also gegen enge Familienmitglieder, gerichtet waren. Verständlicherweise wurde der BF deswegen auch von seiner Familie zu keiner Zeit in der Justizanstalt besucht. Es findet auch kein telefonischer Kontakt statt. Aus der Stellungnahme seiner geschiedenen Gattin ist auch klar erkennbar, dass weder sie selbst, noch die Kinder Kontakt zum BF wünschen, sein Sohn fürchtet sich zudem vor ihm.
In Bezug auf die in Österreich lebende Verwandtschaft bzw. dem Bekanntenkreis ist anzuführen, dass es dem BF nach seiner Ausreise freisteht, sich mit diesen über das Internet oder telefonisch in Verbindung zu setzen und so seine Kontakte auf diesem Weg aufrecht erhalten zu können, wodurch kein Eingriff in ein durch Artikel 8, EMRK geschütztes Recht festgestellt werden kann. Der BF ist auch nicht gezwungen, die im Inland bestehenden Bindungen zur Gänze abbrechen zu müssen. So stünde es dem BF frei, diese durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten vergleiche Peter Chvosta: "Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK", ÖJZ 2007/74).
VoM BF wurde diesbezüglich in der Beschwerde moniert, dass körperliche Nähe und nonverbale Interaktion nicht durch fernmündliche Kontakte ersetzt werden können. In Anbetracht dessen, dass der BF seine unmündig minderjährige Stieftochter über Jahre hinweg sexuell missbrauchte und mehrfach vaginal und anal vergewaltigte, er an seinem unmündig minderjährigen Sohn jahrelang durch fortdauernde körperliche Misshandlungen und Nötigungen hindurch fortgesetzt Gewalt ausübte und ihn zudem gefährlich bedrohte, sowie seine mittlerweile geschiedene Gattin monatelang beharrlich stalkte, ist der Begriff „körperliche Nähe“ im Zusammenhang mit dem BF und seinen Familienmitgliedern bzw. Opfern, mehr als entbehrlich bzw. fast zynisch.
Der BF bekennt sich zum Mehrheitsglauben in der Türkei und spricht neben gebrochenen Deutsch auch Türkisch. In römisch 40 leben nach wie vor die Eltern und ein Bruder mit seiner Frau, zu denen der BF noch regelmäßig Kontakt hält. Die Eltern besitzen dort ein Haus, in dem der BF über eine eigene Eigentumswohnung verfügt, welche während seiner Abwesenheit leer steht. Seine Mutter und sein Vater beziehen eine Pension, der Bruder arbeitet in einem Hotel. Außerdem wird im Herkunftsstaat des BF großer Wert auf den familiären Zusammenhalt gelegt, sodass der BF auf die — zumindest anfängliche — Unterstützung seiner dort lebenden Verwandten zählen kann. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es dem BF im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft zu integrieren. Zudem handelt es sich beim BF um einen gesunden jungen Mann, dem die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit zuzumuten ist, so ist er auch in Österreich beruflich tätig gewesen.
Darüber hinaus stehen dem BF die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen, da er über die türkische Staatsbürgerschaft verfügt. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Artikel 2, des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt.
Der BF wurde wegen der festgestellten Straftaten rechtskräftig verurteilt, zuletzt zu einer Haftstrafe von 14 Jahren und zudem in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.
Die Feststellung, wonach rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht vorliegen, stellt eine gewichtige Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen dar (z. B. Erk. d. VwGH vom 27.2.2007, 2006/21/0164, mwN, wo dieser zum wiederholten Male klarstellt, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).
Zur Klarstellung sei an dieser Stelle auch darauf hinzuweisen, dass sich im Falle des durch den BF verwirklichten Sachverhalt hier nicht die strafrechtliche, sondern ausschließlich die fremdenrechtliche Betrachtungsweise zum Tragen kommt, welche schon ihrem Wesen nach von der ersteren abweicht. So ist für die Beurteilung nicht das Vorliegen der rechtskräftigen Bestrafung oder Verurteilung, sondern das diesen zu Grunde liegende Verhalten des Fremden maßgeblich, demzufolge ist auf die Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und auf das daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (VwGH vom 22.3.2011, 2008/21/0246 mwN, auch Erk. vom 16.11.2012, 2012/21/0080).
Im gegenständlichen Fall zeigen die den Verurteilungen zugrundeliegenden Taten doch klar, dass der BF nicht davor zurückschreckt, sich über die österreichische Rechtsordnung hinwegzusetzen. Zudem zeigte der BF in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nach wie vor nicht den Funken eines Unrechtsbewusstseins. So vermeinte er, ein Justizirrtum zu sein und dass der Staatsanwalt im letzten Strafverfahren Amtsmissbrauch begangen hätte. Er hätte nur deshalb ein Geständnis abgelegt, weil ihm die Rechtsanwälte dazu geraten hätten, damit er eine niedrigere Strafe bekommt. Auch versuchte der BF trotz rechtskräftiger Verurteilungen, die Schuld für seine Verbrechen seiner Exfrau und der Stieftochter in die Schuhe zu schieben, in dem er sich auf Racheakte herauszureden versuchte. Letztlich fällt damit auch der von den Strafgerichten noch angenommene Milderungsgrund eines Geständnisses weg. Der BF hat auch bis heute kein Antiaggressionstraining absolviert. Auch im Strafverfahren versuchte der BF erfolglos, seine äußerst schwerwiegenden Taten vielmehr zu bagatellisieren, indem er beispielsweise seinen Opfern schrieb, „nichts getan zu haben." und behauptete, die Stieftochter habe gelogen, er habe nur einmal sexuellen Kontakt zu ihr gehabt und dieser sei von der Stieftochter ausgegangen, alles sei eine Verschwörung und die Exfrau habe ihre Tochter dazu angestiftet.
Ein in fremdenrechtlicher Sicht relevantes Wohlverhalten nach der Tat liegt im gegenständlichen Fall nicht vor, zumal er erst am 22.01.2021 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt und in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem. Paragraph 21, Absatz 2, StGB eingewiesen wurde.
Zur Gewichtung der öffentlichen Interessen sei ergänzend das Erkenntnis des VfGH 17. 3. 2005, G 78/04 ua erwähnt, in dem dieser erkennt, dass auch das Gewicht der öffentlichen Interessen im Verhältnis zu den Interessen des Fremden bei der Ausweisung [bzw. nunmehr Rückehrentscheidung] von Fremden, die sich etwa jahrelang legal in Österreich aufgehalten haben, und Asylwerbern, die an sich über keinen Aufenthaltstitel verfügen und denen bloß während des Verfahrens Abschiebeschutz zukommt, unterschiedlich zu beurteilen sind.
Zu beachten sind in jedem Fall die Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf die Beziehungen des BF zu seinen beiden in Österreich aufhältigen Kindern:
Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist das nach Artikel 8, EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen ("marriage-based relationships") beschränkt, sondern erfasst auch andere faktische Familienbindungen ("de facto family ties"), bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben vergleiche VwGH 28.06.2011, 2008/01/0527; 23.02.2011, 2011/23/0097; 08.09.2010, 2008/01/0551, mwH); zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben iSd Artikel 8, EMRK begründet, stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können vergleiche VwGH 28.06.2011, 2008/01/0527 mit Hinweisen auf die diesbezügliche EGMR-Judikatur). Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen, wie z.B. zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen Onkel/Tanten und Neffen/Nichten usw., fallen jedoch nur dann unter den Schutz des Artikel 8, EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen vergleiche z.B. VwGH 02.08.2016; Ra 2016/20/0152).
Im gegenständlichen Fall ist vor allem zu beachten, dass aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung des BF das öffentliche Interesse an seiner Außerlandesbringung besonders schwer wiegt und eine Interessensabwägung daher nicht zugunsten eines aufrechten Familienlebens ausschlagen kann. Zudem wurde bereits in der Beweiswürdigung ausgeführt, dass die minderjährigen Kinder seit der Verhaftung des BF keinen wie auch immer gearteten Kontakt zu ihm hatten und auch nicht wünschen. Sein Sohn fürchtet sich zudem vor dem BF. Auch während der Haftzeit wurde der BF weder von seinen Kindern besucht, wie der angeforderten Besucherliste zu entnehmen ist, noch bestand auf andere Art und Weise Kontakt. Die alleinige Obsorge über die beiden gemeinsamen Kinder wurde der Mutter übertragen, den auferlegten Unterhaltszahlungen kam der BF bis dato nicht nach. Die Ex-Gattin war vielmehr von Anfang an auf staatliche Unterhaltsvorschussleistungen angewiesen.
In diesem Zusammenhang wird auch auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.03.1995, Zl. 95/18/0061, verwiesen, in welcher der VwGH ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass das wiederholte Fehlverhalten des Fremden (im damals vom VwGH beurteilten Verfahren waren dies die Delikte des Einbruchsdiebstahles und der Hehlerei) eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit bewirkt und derart schwerwiegend ist, dass auch die stark ausgeprägten privaten und familiären Interessen des Fremden, der mit seiner Familie, Frau und Kindern, seit fünfzehn Jahren in Österreich lebte, zurücktreten müssen vergleiche auch VwGH 08.02.1996, 95/18/0009).
Im Hinblick auf die besondere Gefährlichkeit der Delikte gegen die sexuelle Integrität und dem Umstand, dass die Stieftochter bei der ersten Vergewaltigung erst zehn Jahre alt war und zudem über Jahre sexuell missbraucht wurde, ist die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch bei gegenläufigen familiären und privaten Interessen, insbesondere den Interessen der Kinder, auch dringend geboten und sind die aus der Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot resultierende Trennung von Familienangehörigen in Kauf zu nehmen vergleiche auch VwGH 22.12.2009, 2009/21/0344). Nicht anders als auch schon bisher während der haftbedingten Trennungen sind künftig telefonischer, postalischer oder elektronischer Kontakt (Internet, Skype, WhatsApp) sowie angesichts der relativ geringen Entfernung zur Türkei und der Vielzahl der Reisemöglichkeiten auch einseitige Besuche jederzeit möglich, falls dies die bis heute schwer traumatisierten Opfer überhaupt einmal in Betracht ziehen sollten.
Dem BF mag im Hinblick auf die Gesamtsituation, den insgesamt langjährigen Aufenthalt in Österreich und die in Österreich lebenden Kinder und Bekannten durchaus ein gewisses Interesse am Verbleib in Österreich zuzubilligen sein; dennoch ergibt eine Gewichtung der widerstreitenden Interessen im Sinne der obzitierten Judikatur ein klares Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot.
In römisch 40 leben nach wie vor die Eltern und ein Bruder mit seiner Frau, zu den der BF noch regelmäßig Kontakt hält. Die Eltern besitzen ein Haus, in dem der BF über eine eigene Eigentumswohnung verfügt, welche während seiner Abwesenheit leer steht. Seine Mutter und sein Vater beziehen eine Pension, der Bruder arbeitet in einem Hotel. Zudem ist es gerade dem türkischen Kulturkreis immanent bzw. wird ein großes Augenmerk auf einen familiären Zusammenhalt gerichtet. Vor diesem Hintergrund könnte die in der Türkei lebende Verwandtschaft dem BF zumindest in der Anfangsphase Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche zukommen lassen. Der BF spricht Türkisch auf muttersprachlichem Niveau, sodass auch keine sprachlichen Barrieren zu erwarten sind. Als gesunder, junger und arbeitsfähiger Mensch steht einer Beschäftigung in der Türkei nichts entgegen.
Soweit der BF angab, in Österreich gut integriert zu sein und über einen großen Bekannten- und Freundeskreis zu verfügen, ist dies für das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht erkennbar. Eine Integration in das Gesellschaftsleben in Österreich im beachtlichen Ausmaß ist jedenfalls nicht erkennbar, wie bereits ausführlich erörtert wurde. So war er auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf einen Dolmetscher angewiesen, obwohl er beinahe zwei Jahrzehnte im Bundesgebiet verweilt. Auch die behauptete intensive Einbindung in das österreichische Umfeld konnte der BF nicht glaubhaft machen. Zu österreichischen Freunden befragt, konnte er lediglich vier Namen nennen. Auch während den Haftzeiten wurde er lediglich von Rechtsanwälten und zumindest türkischstämmigen Personen besucht. Der BF ist auch in keinem Verein oder Organisation Mitglied und leistet keine ehrenamtlichen Tätigkeiten. Soweit er angab, in einem Moscheeverein zu sein, erachtet das Gericht diesen Umstand für eine Integration als eher kontraproduktiv.
Unter Zugrundelegung der Abwägungskriterien und der Ermittlungsergebnisse (einschließlich der Beschwerdeangaben) ergibt sich resümierend Folgendes:
Für den BF spricht einzig, dass er von 2004 bis 2019 bei der Fa. römisch 40 in Wien beschäftigt war. Er verfügt hier über einige private Anknüpfungspunkte.
Gegen den BF sprechen neben dem niedrigen Integrationsgrad seine vier —teils sehr schweren — strafgerichtlichen Verurteilungen. So hat er seit Jahren immer wieder gegen das österreichische Strafrecht verstoßen und wurde er in der Folge immer wieder straffällig. Dabei fällt besonders schwer die letzte Verurteilung ins Gewicht, wonach der BF seine Stieftochter von 2008 über Jahre hinweg (das Opfer war damals gerade einmal 7 Jahre alt) massiv sexuell missbraucht, vergewaltigt etc. und seinen leiblichen 2007 geborenen Sohn ab 2015 (das Kind war gerade einmal 8 Jahre alt) fortgesetzter Gewalt ausgesetzt hat. Besonders verwerflich ist, dass er mit seiner Stieftochter im Rahmen einer der zahlreichen Vergewaltigungen ein Kind gezeugt hat, dass diese zur Welt brachte und zur Adoption freigab, wobei der BF sich gegenüber den Adoptiveltern gar noch als „Opa" des Kindes ausgab. Aber auch die vorangegangenen Verurteilungen zeigen klar, dass die Familie des BF durch diesen über Jahre hinweg einem einzigartigen Martyrium ausgesetzt war. Er hat Verbindlichkeiten in Höhe von € 75.000,- und wurde zudem verurteilt, an die am Gerichtsverfahren involvierten Privatbeteiligten insgesamt € 128.130,- zu zahlen. Der BF kommt seinen Unterhaltszahlungen nicht nach, die alleinige Obsorge über die Kinder wurde der ehemaligen Gattin zugesprochen. Beim BF findet sich hingegen eine schwere sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie sowie eine ausgeprägte Persönlichkeitsakzentuierung in Richtung emotionaler Instabilität und Aggressionsneigung, die als geistig seelische Abartigkeit höheren Grades einzustufen ist. Aufgrund seiner Pädophilie in Wechselwirkung mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstruktur mit Neigung zu Aggressionsdurchbrüchen neigt der BF dazu, mit übertriebener Härte vorzugehen und äußerst aggressiv zu reagieren. Er absolvierte dessen ungeachtet bis dato kein Antiaggressionstraining. Der BF verfügt trotz langjährigen Aufenthaltes nur über rudimentäre Deutschkenntnisse und ist in Österreich weder bei einem Verein noch einer Organisation Mitglied und betätigt sich auch nicht ehrenamtlich. Die angegebenen Hilfstätigkeiten in einem Moscheeverein sind für eine Integration eher kontraproduktiv. Weder die geschiedene Gattin, noch die beiden gemeinsamen Kinder hatten seit der Verhaftung Kontakt zum BF und gaben eindeutig zum Ausdruck, einen solchen auch nicht zu wünschen, sein Sohn hat zudem Angst vor ihm.
Dieses massiv verpönte Verhalten zeigt überdies ganz klar eine negative Wertehaltung, Gesetzen gegenüber. Das Bundesverwaltungsgericht geht jedenfalls von einem eindeutigen Überwiegen der öffentlichen Interessen an einem Verlassen des Bundesgebietes gegenüber den Privatinteressen des BF aus.
Hinsichtlich der konkreten Tathandlungen wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die Feststellungen verwiesen. Es musste dem BF bei den Tathandlungen zumindest latent bewusst sein, dass sich die von ihm begangenen Taten negativ auf einen Verbleib im Bundesgebiet und damit für ein Führen eines gemeinsamen Familienlebens hier nachteilig auswirken werden. Dessen ungeachtet setzte er sein negatives Verhalten fort, wie bereits erörtert wurde.
Dass es durch die Rückkehrentscheidung zu einer Trennung von den beiden Kindern kommen kann, ist angesichts dieses gezeigten Verhaltens bzw. durch die Straffälligkeit wegen des hohen öffentlichen Interesses an Ordnung und Sicherheit hinzunehmen und gerechtfertigt vergleiche VwGH 201.10.2016, Ra 2016/21/0271). Zudem wünschen die Kinder keinen Kontakt zum Vater und hat der Sohn sogar Angst vor ihm.
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des Paragraph 9, BFA-VG ist insgesamt davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse des BF am Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Artikel 8, EMRK nicht vorliegt.
Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen (und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden), dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
römisch II.3.4. Abschiebung
römisch II.3.4.1. Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei. Für die gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG gleichzeitig mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorzunehmende Feststellung der Zulässigkeit einer Abschiebung gilt der Maßstab des Paragraph 50, FPG (VwGH 15.09.2016, Ra 2016/21/0234).
Gemäß Paragraph 50, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, EMRK oder Artikel 3, EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre (Absatz eins,), wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Absatz 2,) oder solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den EGMR entgegensteht (Absatz 3,).
Im gegenständlichen Fall sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß Paragraph 52, Absatz 9, in Verbindung mit Paragraph 50, FPG getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in die Türkei unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in gegenständlicher Beschwerde nicht schlüssig dargelegt.
Im Hinblick auf die vorherrschende Pandemie wegen des Corona-Virus und der daraus resultierenden Krankheit COVID-19 und der Situation in der Türkei ist festzuhalten, dass aufgrund der Zahl der Infektionen, sowie des typischen Krankheitsverlaufes und der persönlichen Situation der BF (aufgrund seines Alters und seines Gesundheitszustandes kann nicht geschlossen werden, dass der BF zur Gruppe der von COVID-19 besonders Gefährdeten gehört) sowie des Umstandes, dass die Türkei auf die Situation bislang angemessen reagierte, konnte nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Artikel 2, bzw. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls kann dies nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, bzw. sich in Quarantäne zu begeben, abgeleitet werden.
Eine im Paragraph 50, Absatz 3 F, P, G, genannte Empfehlung des EGMR liegt ebenfalls nicht vor.
römisch II.3.4.2. Zur individuellen Versorgungssituation der BF wird darüber hinaus festgestellt, dass dieser in der Türkei über eine hinreichende Existenzgrundlage verfügt. Bei dem BF handelt es sich um einen mobilen, gesunden und arbeitsfähigen Menschen. Auch steht es dem BF frei, zumindest Gelegenheitsarbeiten anzunehmen oder das Sozialsystem des Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen. Zudem begründen in römisch 40 nach wie vor die Eltern und ein Bruder mit seiner Frau ihren Lebensmittelpunkt. Der BF hält noch regelmäßig Kontakt zu den Verwandten. Die Eltern besitzen ein Haus, in dem der BF über eine eigene Eigentumswohnung verfügt, welche während seiner Abwesenheit leer steht. Seine Mutter und sein Vater beziehen eine Pension, der Bruder arbeitet in einem Hotel.
Einerseits stammt der BF aus einem Staat, auf dessen Territorium die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist und andererseits gehört er keinem Personenkreis an, von welchem anzunehmen ist, dass sie sich in Bezug auf ihre individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann.
Aufgrund der oa. Ausführungen ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass der BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat seine dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann und nicht in eine, allfällige Anfangsschwierigkeiten überschreitende, dauerhaft aussichtslose Lage gerät.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist die Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat zulässig. Es sind keine konkreten Umstände dahingehend hervorgekommen, dass – auch unter dem Gesichtspunkt des Privat- und Familienlebens des BF – unter Berücksichtigung der konkreten Situation in der Türkei die Abschiebung in den Herkunftsstaat unzulässig wäre vergleiche VwGH 16.12.2015, Ra 2015/21/0119).
römisch II. 3.4.5. Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Rückkehrentscheidung vorliegen, und keine Umstände gegen die Zulässigkeit der Abschiebung sprechen ist die Beschwerde gegen diesen Spruchpunkt als unbegründet abzuweisen.
römisch II.3.5. Einreiseverbot
römisch II.3.5.1. Paragraph 53, FPG lautet:
„§ 53.
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Anmerkung, Absatz eins a, aufgehoben durch Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2013,)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist, vorbehaltlich des Absatz 3,, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
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1. | wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß Paragraph 20, Absatz 2, der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, in Verbindung mit Paragraph 26, Absatz 3, des Führerscheingesetzes (FSG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 120 aus 1997,, gemäß Paragraph 99, Absatz eins,, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß Paragraph 37, Absatz 3, oder 4 FSG, gemäß Paragraph 366, Absatz eins, Ziffer eins, der Gewerbeordnung 1994 (GewO), Bundesgesetzblatt Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den Paragraphen 81, oder 82 des SPG, gemäß den Paragraphen 9, oder 14 in Verbindung mit Paragraph 19, des Versammlungsgesetzes 1953, Bundesgesetzblatt Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
2. | wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1 000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde; | |||||||||
3. | wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Absatz 3, genannte Übertretung handelt; | |||||||||
4. | wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
5. | wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist; | |||||||||
6. | den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag; | |||||||||
7. | bei einer Beschäftigung betreten wird, die er nach dem AuslBG nicht ausüben hätte dürfen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige hätte nach den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes für denselben Dienstgeber eine andere Beschäftigung ausüben dürfen und für die Beschäftigung, bei der der Drittstaatsangehörige betreten wurde, wäre keine Zweckänderung erforderlich oder eine Zweckänderung zulässig gewesen; | |||||||||
8. | eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK nicht geführt hat oder | |||||||||
9. | an Kindes statt angenommen wurde und die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, der Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt oder die Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausschließlicher oder vorwiegender Grund für die Annahme an Kindes statt war, er jedoch das Gericht über die wahren Verhältnisse zu den Wahleltern getäuscht hat. | |||||||||
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Ziffer 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
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1. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
2. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
3. | ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
4. | ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist; | |||||||||
5. | ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist; | |||||||||
6. | auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (Paragraph 278 a, StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (Paragraph 278 b, StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (Paragraph 278 c, StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (Paragraph 278 d, StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (Paragraph 278 e, StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (Paragraph 278 f, StGB); | |||||||||
7. | auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet; | |||||||||
8. | ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt oder | |||||||||
9. | der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt. | |||||||||
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Absatz 3, maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. Paragraph 73, StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Absatz 3, Ziffer eins,, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.
römisch II.3.5.2. Der VwGH hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237 zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen vergleiche ErläutRV, 1078 BlgNR 24. Gesetzgebungsperiode 29 ff und Artikel 11, Absatz 2, Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Ziffer eins bis 9 des Paragraph 53, Absatz 2, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 anzunehmen. In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinn der Ziffer 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht. Es ist festzuhalten, dass -wie schon nach bisheriger Rechtslage vergleiche E 20. November 2008, 2008/21/0603) - in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen auch an dieser Stelle nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern immer auf das zugrundeliegende Verhalten abzustellen ist. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrundeliegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild; darauf kommt es bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots an.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum früher geltenden Paragraph 63, FPG (IdF vor dem FrÄG 2011), der die Festlegung der Gültigkeitsdauer eines Aufenthaltsverbotes regelte, war ein Aufenthaltsverbot für jenen Zeitraum zu erlassen, nach dessen Ablauf vorhersehbarerweise der Grund für seine Verhängung weggefallen sein wird, und auf unbestimmte Zeit (unbefristet), wenn ein Wegfall des Grundes für seine Verhängung nicht vorhergesehen werden kann.
Paragraph 53, Absatz 3, FPG idgF hat im Vergleich zur Rechtslage vor dem 01.01.2014 keine inhaltliche Änderung erfahren. Daraus ist zu schließen, dass auch in Bezug auf die vom VwGH statuierten (obgenannten) Kriterien, die bei der Verhängung des Einreiseverbots und seiner Dauer zur Anwendung gelangen sollen, kein Wandel stattgefunden hat. Aus diesem Grund erachtet das Gericht diese auch nach wie vor als anwendbar.
Aus der Formulierung des Paragraph 53, Absatz 2, FPG ergibt sich, dass die dortige Aufzählung nicht als taxativ, sondern als demonstrativ bzw. enumerativ zu sehen ist ("Dies ist insbesondere dann anzunehmen, "), weshalb die bB in mit den in Ziffer eins, – 9 leg. cit expressis verbis nicht genannten Fällen, welche jedoch in ihrer Interessenslage mit diesen vergleichbar sind, ebenso ein Einreisverbot zu erlassen hat.
Der ständigen Judikatur des VwGH zufolge, ist der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug der Freiheitsstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat vergleiche VwGH vom 25.01.2018, Ra. 2018/21/0004 sowie VwGH vom 19. April 2012, Zl. 2010/21/0507, und vom 25. April 2013, Zl. 2013/18/0056, jeweils mwN). Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Entscheidung nur nach Einzelfallbeurteilung erfolgen kann, weshalb insoweit die abstrakte allgemeine Festlegung eines Wohlverhaltenszeitraumes nicht in Betracht kommt. Dass es aber grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens - regelmäßig in Freiheit - bedarf, um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, was grundsätzlich Voraussetzung für die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes ist, kann nicht mit Erfolg in Zweifel gezogen werden (VwGH vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0193; vergleiche auch VwGH vom 22. Jänner 2013, 2012/18/0185 und vom 22. Mai 2013, 2013/18/0041); ebenso wenig, dass dieser Zeitraum üblicherweise umso länger anzusetzen sein wird, je nachdrücklicher sich die für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgebliche Gefährlichkeit manifestiert hat (VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0009; 28.01.2016, Ra 20015/21/0013). Wenn sich die Gefährdung über einen - beginnend mit der Haftentlassung - Zeitraum von mehr als 8 Jahren nicht erfüllt, kann die diesem Aufenthaltsverbot zugrundeliegende Zukunftsprognose grundsätzlich nicht mehr aufrechterhalten werden vergleiche VwGH vom 09.09.2013, 2013/22/0117).
Bei der im Verfahren betreffend Aufenthaltsverbot gebotenen Prognosebeurteilung kommt es nicht (nur) auf die strafgerichtlichen Verurteilungen als solche an vergleiche VwGH vom 20. November 2008, 2008/21/0603). Es ist vielmehr eine - aktuelle - Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Fremden vorzunehmen und die Frage zu beantworten, ob sich daraus (weiterhin) eine maßgebliche Gefährdung ableiten lässt (VwGH vom 25.04.2013, Zl. 2012/18/0072).
römisch II.3.5.3. Vor dem Hintergrund dieser Judikaturlinien wurden bereits verschiedenste Fallkonstellationen im Rahmen von Einzelfallbeurteilungen jeweils unter Zugrundelegung der sich ergebenden maßgeblichen Gefährdung und in weiterer Folge der Interessensabwägung nach Paragraph 9, BFA-VG, welche u.a. zu einer "reduzierten Gefährlichkeit“ des Mitbeteiligten führen kann, beurteilt.
Es wurde beispielsweise ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot gegen einen seit mehr als 15 Jahren in Österreich lebenden türkischen Staatsbürger, der unter anderem wegen seines Suchtmitteldeliktes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war, für zulässig erachtet (VwGH 27. 6. 2006, 2006/18/0138).
römisch II.3.5.4. Bei der Bemessung der Höhe des Einreiseverbots fällt zu Ungunsten des BF ins Gewicht, dass der BF seine unmündig minderjährige Stieftochter über Jahre hinweg sexuell missbrauchte und mehrfach vaginal und anal vergewaltigte, er an seinem unmündig minderjährigen Sohn jahrelang durch fortdauernde körperliche Misshandlungen und Nötigungen hindurch fortgesetzt Gewalt ausübte und ihn zudem gefährlich bedrohte, sowie seine mittlerweile geschiedene Gattin monatelang beharrlich stalkte. Aus diesem Grund sind die strafgerichtlichen Verurteilungen als besonders schwer zu gewichten. Die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers indiziert damit bereits für sich genommen die Dauer des Einreiseverbots.
Zu Ungunsten des BF fällt weiter ins Gewicht, dass von ihm ein enormes Gefährdungspotential ausgeht, was durch den im Strafverfahren beigezogenen Sachverständigen festgestellt wurde. Beim BF findet sich eine schwere sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie, sowie eine ausgeprägte Persönlichkeitsakzentuierung in Richtung emotionaler Instabilität und Aggressionsneigung, die als geistig seelische Abartigkeit höheren Grades einzustufen ist. Aufgrund seiner Pädophilie in Wechselwirkung mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstruktur mit Neigung zu Aggressionsdurchbrüchen neigt der BF dazu, mit übertriebener Härte vorzugehen und äußerst aggressiv zu reagieren. Das aggressive Verhalten steigerte sich über die Jahre, wobei es zu gewalttätigen Eskalationen und infolge dessen auch zu Wegweisungen und Betretungsverboten kam. Die schwerwiegende sexuelle Devianz im familiären Bereich war kausal für die von ihm begangenen Straftaten und hat das Bild einer geistigen und seelischen Abartigkeit höheren Grades erreicht. Diesbezüglich ist der BF völlig unkritisch, bagatellisierend und stellt diese Neigung in Abrede und betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr. Er ist einer Tätergruppe zuzuordnen, die ein hohes Risiko für neuerliche Gewalttaten gegenüber Personen sowie auch sexuell motivierte Gewalttaten aufweist. Aufgrund dieses unverändert vorliegenden hohen Gefahrenpotentials und der auf eine besonders menschenverachtende Weise begangenen Tathandlungen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der BF unter dem Einfluss seiner schwerwiegenden psychischen Störung auch in Zukunft strafbare Handlungen mit schwerwiegenden Folgen wie die verfahrensgegenständlichen begehen wird. Die geistig seelische Abnormität höheren Grades bezieht sich insbesondere auf Sexualdelikte gegenüber Kindern, sei es im eigenen familiären Bereich oder auch bei Kindern allfällig zukünftiger Partnerinnen. Das nomothetisch-statistische Risiko für einen Rückfall in die Sexualdelinquenz wird als sehr wahrscheinlich eingestuft. Beim BF sind die wesentlichen prognostischen Parameter negativ besetzt, weshalb eine deutliche Erhöhung dieses Faktors angenommen wird. Bei der Auswertung dieser Parameter wird der BF in die Risikogruppe 4 eingeordnet, sowohl in Hinblick auf Gewalttaten als auch in Hinblick auf Sexualdelikte. Das heißt, unbehandelt weist der BF ein Rückfallrisiko von 59% in 10 Jahren, also ein relativ hohes Risiko dafür auf und ist die Gefahr naheliegend, dass es erneut zu Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, also konkret zu Vergewaltigungen oder anderen sexuellen Handlungen gegen den Willen der Opfer kommen wird.
Der für die Unterbringung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher erstellten Gefährlichkeitsprognose ist zudem zu entnehmen, dass nach den Eigenschaften, nach seinem Krankheitsbild und seiner Kranheitsuneinsichtigkeit sowie nach dem gesellschaftlichen Störwert der Taten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten ist, dass Genannter nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Taten unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades neuerlich ähnliche Taten wie die nunmehr zur Verurteilung gelangten, die mit sexueller Grenzüberschreitung zum Nachteil unmündiger Minderjähriger einhergehen, somit mit Strafe bedrohte Handlungen mit schweren Folgen begehen werde. Diese festgestellten Prognosetaten sind nicht nur hypothetisch abstrakt zu besorgen, sondern real und konkret zu befürchten, sodass mit ihrem Eintreten bei realistischer Betrachtungsweise naheliegend zu rechnen ist. Die prognostizierten neuerlichen Sexualstraftaten zum Nachteil von Unmündigen, die in Art und Schwere den Anlassdaten gleichzuhalten wären, sind auch als Taten mit schweren Folgen zu qualifizieren, zumal solche Handlungen sowohl für den davon betroffenen Einzelnen als auch für die Gesellschaft im Ganzen einen beträchtlichen gesellschaftlichen Störwert darstellen und weitreichende Beunruhigung und Besorgnisse herbeizuführen vergleiche Ratz in WK2 – StGB, Paragraph 21, Rz 27).
Für das das Bundesverwaltungsgericht sind auch keine Umstände erkennbar, die den BF vor weiteren Straftaten abhalten könnten. Seine beiden minderjährigen Kinder wollten und wollen ihn nicht sehen. Der minderjährige Sohn wollte nie Kontakt zum BF, da er sich vor ihm fürchtet, nie das Wort „Vater" ausspricht und auch nicht nach dem BF fragt. Die minderjährige Tochter war zum Tatzeitpunkt noch klein und hat von den Vorfällen nichts mitbekommen, sie fragt auch nicht nach dem BF und hat keine Beziehung zu ihm. Der BF wurde auch in der Haft nie von der geschiedenen Gattin oder den Kindern besucht und besteht auch weder telefonischer noch schriftlicher Kontakt. Auch die finanziell triste Situation, der BF hat Verbindlichkeiten in Höhe von € 75.000,- und an die am Gerichtsverfahren involvierten Privatbeteiligten insgesamt € 128.130,- zu zahlen, lässt keine positive Zukunftsdiagnose erwarten.
römisch II.3.5.5. Auch im Rahmen der Beschwerdeverhandlung zeigte sich deutlich, dass der BF nach wie vor nicht den Funken eines Unrechtsbewusstseins an den Tag legt, in dem er einräumte eigentlich ein Justizirrtum zu sein, dass der Staatsanwalt im letzten Strafverfahren Amtsmissbrauch begangen hätte und dass er nur deshalb ein Geständnis abgelegt hätte, weil ihm Rechtsanwälte dazu geraten hätten, damit er eine niedrigere Strafe bekommt. Auch versuchte der BF trotz rechtskräftiger Verurteilungen, die Schuld für seine Verbrechen seiner Exfrau und der Stieftochter in die Schuhe zu schieben, in dem er sich auf Racheakte herauszureden versuchte. Letztlich fällt damit auch der von den Strafgerichten noch angenommene Milderungsgrund eines Geständnisses weg. Der BF hat auch seinen Opfern die vom Strafgericht zugewiesen Privatbeteiligten Ansprüche bis heute nicht beglichen und konnte auch nicht glaubhaft darlegen, dass er sich bis dato bei seinen Opfern entschuldigt hätte. Obwohl er vom Sachverständigen als hochgradig aggressiv und gewalttätig eingestuft wurde hat er auch bis heute kein Antiaggressionstraining absolviert bzw. begonnen.
Ferner ist daran ist zu erkennen, dass der BF offenbar in keiner Weise gewillt ist, die österreichische Rechtsordnung zu respektieren. Zudem fehlt es dem BF an ernsthafter Problem- und Tateinsicht, was sich auch im Rahmen der Verhandlung deutlich bestätigt hat. Zudem zeigt sein Verhalten das Werteverständnis, welches als nicht dem österreichischen angepasst erscheint bzw. die deutlich Missachtung der österreichischen Rechtsordnung aufzeigt. Die obszönen und besonders verwerflichen Handlungen des BF werden vom Bundesverwaltungsgericht – wie schon vom Bundesamt - als besonders gravierendes Fehlverhalten beurteilt.
römisch II.3.5.6. Zur Ermittlung, welche Einreiseverbotsdauer im Falle des Beschwerdeführers verhältnismäßig scheint, ist über die Begehung seiner Straftaten hinaus seine Einstellung dazu im nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt, sein sich unter anderem daraus ergebendes Persönlichkeitsbild sowie eine Gefährlichkeitsprognose, die sich nicht zuletzt aus der Beurteilung seiner Delinquenz in ihrer Gesamtheit ergibt, zu berücksichtigen:
Dabei fällt auf, dass er in der mündlichen Verhandlung keine Verantwortung zu den verübten Straftaten an den Tag legte, wie bereits mehrfach erörtert wurde. Diesbezüglich ist der BF völlig unkritisch, bagatellisierend, stellt zudem seine Neigung in Abrede und betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr. Zu seinem im Strafverfahren abgelegten Geständnis befragt, führte er in der mündlichen Verhandlung ohnehin nur aus „Ich musste mich schuldig bekennen, obwohl ich unschuldig bin.“ Auch auf die dezidiert gestellte Frage, ob er ein Justizirrtum wäre, führte er ernsthaft aus „Natürlich war das für mich, nach meiner Meinung, ein Justizirrtum.“ Obwohl er über Jahre hinweg an seinen eigenen, unmündig minderjährigen Sohn heftige und anhaltende Gewalt ausübte und diesen gefährlich bedrohte, seine Stieftochter von 2008 weg über Jahre hinweg massiv sexuell missbraucht und vergewaltigt hat, wobei sei bei der ersten Vergewaltigung erst zehn Jahre alt war und er zudem seiner Exfrau im März 2016 ein Küchenmesser an den Hals gehalten und sie mit dem Umbringen bedroht hat, beantwortete er die Frage der erkennenden Richterin, ob er sich als aggressiv oder gewaltbereit beschreiben würde, ernsthaft und überzeugt mit den Worten „Ich bin 42 Jahre alt und habe noch nie mit jemanden gerauft.“
Aus der Sicht des Gerichtes wiegt auch besonders schwer, dass sämtliche Opfer des BF durch dessen Taten bis heute schwer traumatisiert sind und nur schwer in ein normales Leben zurückfinden. Der BF hingegen versuchte im Strafverfahren — wie im Übrigen auch in der mündlichen Verhandlung — seine äußerst schwerwiegenden Taten vielmehr zu bagatellisieren, indem er beispielsweise seinen Opfern in Briefen schrieb, „nichts getan zu haben" und behauptete, die Stieftochter habe gelogen, er habe nur einmal sexuellen Kontakt zu ihr gehabt und dieser sei von der Stieftochter ausgegangen, alles sei eine Verschwörung und die Exfrau habe ihre Tochter dazu angestiftet.
Im aufgezeigten Gesamtverhalten des BF kann folgerichtig nicht ansatzweise erkannt werden, dass sich der BF nunmehr wohl verhalten wird und deshalb ihm nunmehr das Vertrauen entgegengebracht und davon ausgegangen werden sollte, dass er seine Neigung zur Begehung von weiteren Straftaten überwunden hat. Es sind auch keine Umstände in Sicht, die den BF gerade jetzt von weiteren Straftaten abhalten könnten. Das Gesamtbild des BF ist jedenfalls nicht dazu angetan, eine positive Zukunftsdiagnose erwarten zu lassen.
Das sich aus dem oben dargelegten Fehlverhalten, der Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten ergebende Persönlichkeitsbild und die Uneinsichtigkeit des BF lässt derzeit insgesamt keine für diesen positiven Prognose zu. Durch seine besonders verwerflichen und schamlosen Taten hat der BF in das Grundinteresse der Gesellschaft an Ordnung, Ruhe, und Sicherheit eingegriffen. Auch liegen den Taten Sachverhalte zu Grunde, wie sie sich im Leben des BF, vor allem aufgrund seiner Neigung, jederzeit widerholen könnten. So führt der Sachverständige in seinem Gutachten aus, der BF ist einer Tätergruppe zuzuordnen, die ein hohes Risiko für neuerliche Gewalttaten gegenüber Personen sowie auch sexuell motivierte Gewalttaten aufweist. Aufgrund dieses unverändert vorliegenden hohen Gefahrenpotentials und der auf eine besonders menschenverachtende Weise begangenen Tathandlungen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der BF unter dem Einfluss seiner schwerwiegenden psychischen Störung auch in Zukunft strafbare Handlungen mit schwerwiegenden Folgen wie die verfahrensgegenständlichen begehen wird. Die geistig seelische Abnormität höheren Grades bezieht sich insbesondere auf Sexualdelikte gegenüber Kindern, sei es im eigenen familiären Bereich oder auch bei Kindern allfällig zukünftiger Partnerinnen. Das nomothetisch-statistische Risiko für einen Rückfall in die Sexualdelinquenz wird als sehr wahrscheinlich eingestuft. Beim BF sind die wesentlichen prognostischen Parameter negativ besetzt, weshalb eine deutliche Erhöhung dieses Faktors angenommen wird. Bei der Auswertung dieser Parameter wird der BF in die Risikogruppe 4 eingeordnet, sowohl in Hinblick auf Gewalttaten als auch in Hinblick auf Sexualdelikte. Das heißt, unbehandelt weist der BF ein Rückfallrisiko von 59% in 10 Jahren, also ein relativ hohes Risiko dafür auf und ist die Gefahr naheliegend, dass es erneut zu Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, also konkret zu Vergewaltigungen oder anderen sexuellen Handlungen gegen den Willen der Opfer kommen wird.
Die Verstöße des BF gegen die österreichische Rechtsordnung bewirken eine gravierende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, welcher die nur gering ausgeprägten privaten Interessen des BF gegenüberstehen und hinter diese zurücktreten müssen. Das Bundesamt ging daher zu Recht von einer maßgeblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit aus, die eine Rückkehrentscheidung erforderlich macht, zumal diese Maßnahme zur Verwirklichung der in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele, namentlich der Verhinderung strafbarer Handlungen und des Schutzes der öffentlichen Ordnung, geboten ist.
Insgesamt konnte die Verhängung des unbefristeten Einreiseverbotes aufgrund der obenstehenden Erwägungen nicht als rechtswidrig erachtet werden und es war sohin spruchgemäß zu entscheiden. Das Bundesverwaltungsgericht geht vielmehr davon aus, dass das unbefristete Einreiseverbot in Anbetracht der besonders massiven und verpönten Taten des BF dringend erforderlich und gerechtfertigt ist.
In seiner Entscheidung vom 24.05.2016, Zl. Ra 2016/21/0075 hielt der VwGH fest, dass das VwG zwar zutreffend unter Bedachtnahme auf alle Umstände der für das Aufenthaltsverbot maßgeblichen Straftaten des Fremden auf eine erhebliche kriminelle Energie und in Verbindung mit seinen "finanziellen Sorgen" auf eine große Wiederholungsgefahr ("hohe Wahrscheinlichkeit einer Rückfälligkeit") geschlossen hat. In diese Beurteilung musste das VwG aber auch die für den Fremden sprechenden Umstände, wie die Schadensgutmachung und das Geständnis, die auch schon vom Strafgericht bei der Bemessung der 20-monatigen Freiheitsstrafe als mildernd berücksichtigt worden waren, einbeziehen. Sie vermögen aber die vom VwG angenommene besondere Schwere der Straftaten und die daraus abgeleitete Gefährdung nicht maßgeblich herabzusetzen, zumal das VwG beim Fremden "keine Reue" oder "ernsthafte Aufarbeitung seiner Straftaten" erkennen konnte. In diesem Zusammenhang ist aber auch aus der bedingten Nachsicht der Strafe für sich genommen nichts zu gewinnen vergleiche E 19. März 2013, 2011/21/0152; B 22. Mai 2014, Ro 2014/21/0053). Dass der insgesamt erbeutete Betrag nicht auch noch die für die Verwirklichung des qualifizierten ("schweren") Diebstahls erforderliche Wertgrenze überstieg, aber immerhin mehr als dessen Hälfte betragen hatte, kann auch nicht entscheidend zugunsten des Fremden veranschlagt werden, hat dieser Umstand doch schon bei der Bewertung der Straftaten seinen Niederschlag gefunden. Bei der Festsetzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes nach Paragraph 67, Absatz 4, FrPolG 2005 ist auf alle für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen, somit insbesondere auch auf die privaten und familiären Verhältnisse. Das VwG ist vom Fehlen maßgeblicher Anknüpfungspunkte im Inland ausgegangen, daher lässt sich auch diesbezüglich die Dauer des Aufenthaltsverbotes von sechs Monaten nicht rechtfertigen. Insgesamt wurde bei dieser Stattgabe einer Amtsrevision die Herabsetzung des Aufenthaltsverbotes von drei Jahren auf sechs Monate als "krasse Fehlbeurteilung" durch das BVwG gesehen. Demgegenüber wurde die Revision zurückgewiesen, nachdem das BVwG das auf sieben Jahre verhängte Aufenthaltsverbot auf vier Jahre herabgesetzt hat, da der BF zusammengefasst lediglich zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe wegen Straftaten nach dem SMG verurteilt wurde.
In der Entscheidung vom 15.11.2012, Bsw. 52873/09, Shala gg. Schweiz wurde ein aus dem Kosovo stammender und im Rahmen eines Familiennachzugs im Alter von 7 Jahren in die Schweiz gekommen BF nach mehreren strafrechtlichen Verurteilungen eine Ausweisung für die Dauer von 10 Jahren ausgesprochen, nachdem er 18 Jahren in der Schweiz gelebt hatte. Der BF wurde 2003 wegen fahrlässiger Körperverletzung, grober Verletzung von Straßenverkehrsregeln sowie pflichtwidrigem Verhalten bei einem Unfall zu einer bedingten 3-monatigen Freiheitsstrafe und wegen grober Verletzung von Straßenverkehrsregeln zu einer 30-tägigen Freiheitsstrafe verurteilt. 2004 erhielt der BF wegen Rauferei eine bedingte Freiheitsstrafe von 45 Tagen. Im Jahr 2007 wurde er wegen Missbrauchs einer Fernmeldeanlage sowie versuchter Erpressung zu einer Geldstrafe verurteilt und wurde die Bewährung für die 45-tägige Freiheitsstrafe aufgehoben. Unter Artikel 8 EMRK machte er vor dem Gerichtshof geltend, seine Wegweisung sei aufgrund der fehlenden Möglichkeit, sich im Kosovo beruflich zu integrieren, unverhältnismäßig. Angesichts der mehrmaligen Straftaten des Beschwerdeführers, der Beschränkung der Einreisesperre auf 10 Jahre und des engen Bezugs, den er noch zu seinem Herkunftsland habe, befand der Gerichtshof, dass die von den Schweizer Behörden vorgenommene Abwägung der privaten Interessen des Beschwerdeführers mit dem Interesse der Schweiz, die Einwanderung zu kontrollieren, verhältnismäßig ausgefallen war.
Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 2. 4. 2015, 27945/10, Sarközi and Mahran v. Austria zur Verhängung eines Aufenthaltsverbots nach mehrmaliger strafgerichtlicher Verurteilung trotz eines minderjährigen Kindes mit einem österreichischen Staatsbürger festgehalten, dass va die Schwere der sieben strafgerichtlichen Verurteilungen und die Tatsache, dass der BF bei ihrer letzten Straftat bewusst gewesen sein muss, dass eine Ausweisung droht, zu berücksichtigen war. Hingewiesen wurde auf die räumliche Nähe zwischen dem Wohnort ihrer Familie und Bratislava, wohin sie abgeschoben wurde.
Der EGMR sah auch hinsichtlich eines gegen einen in Österreich lebenden, 19-jährigen Türken verhängten Aufenthaltsverbotes in der Dauer von 5 Jahren keine Verletzung von Artikel 8, EMRK. Dies da der BF seit dem 14 Lebensjahr mehrere Straftaten beging und ua. auch wegen schweren Raubes als Mitglied einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurde. Der EGMR wog insbesondere folgende Punkte ab:
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- | die Schwere der Delikte (von 10 Opfern erlitten insgesamt drei schwere Verletzungen) und das Alter des BF bei deren Begehung; | ||||||||||||||||||||||
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- | die Dauer seines Aufenthalts in Österreich (insgesamt 12 Jahre während einer prägenden Phase in Kindheit und Jugend); | ||||||||||||||||||||||
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- | das Verhalten des BF nach den jeweiligen Verurteilungen (keine neuerliche Straftat nach seiner Entlassung aus der Freiheitsstrafe; | ||||||||||||||||||||||
| andererseits Lehrabbruch wegen Konflikten am Arbeitsplatz und Arbeitslosigkeit); | ||||||||||||||||||||||
römisch II.3.5.6. In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FPG ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit indiziert vergleiche VwGH 30.07.2014, 2013/22/0281). Der Aufenthalt des BF stellt eine derartige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung dar, die ein unbefristetes Einreiseverbot erforderlich macht, zumal ihm auch durch den Sachverständigen eine hohe Rückfallswahrscheinlichkeit attestiert wurde.
Die materielle Rechtskraft des Schuldspruches bewirkt, dass dadurch – vorbehaltlich einer allfälligen Wiederaufnahme des Strafverfahrens – mit absoluter Wirkung, somit gegenüber jedermann, bindend festgestellt ist, dass der Verurteilte die strafbare Handlung entsprechend den konkreten Tatsachenfeststellungen des betreffenden Urteiles rechtswidrig und schuldhaft begangen hat vergleiche VwGH vom 24. April 2002, Zl. 2001/18/0258).
Das dem BF vorzuwerfende Fehlverhalten ist in den Feststellungen ausführlich dargestellt und sind die insgesamt zur Erlassung eines Einreiseverbotes führenden Ausführungen zur Gefährdungsprognose und dem Fehlverhalten des BF in der Beweiswürdigung ausführlich erörtert. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Aufenthalt des BF im Bundesgebiet vor allem in Anbetracht der massiven und obszönen Straftaten, die sich über Jahre hinzogen und zudem gegen die eigenen Familienmitglieder begangen wurden, sowie dem sich daraus ergebenden Pesönlichkeitsbild und der dadurch zum Ausdruck kommenden Uneinsichtigkeit des BF eine äußerst schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, sodass mit einem unbefristetem Einreiseverbot vorzugehen ist.
Die fremdenpolizeiliche Beurteilung ist unabhängig und eigenständig von den betreffenden Erwägungen eines Strafgerichts für die Strafbemessung, die bedingte Strafnachsicht und den Aufschub des Strafvollzugs zu treffen vergleiche Erkenntnis des VwGH v. 6.Juli 2010, Zl. 2010/22/0096). Es obliegt dem erkennenden Gericht festzustellen, ob eine Gefährdung im Sinne des FPG vorliegt oder nicht. Es geht bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes in keiner Weise um eine Beurteilung der Schuld des Fremden an seinen Straftaten und auch nicht um eine Bestrafung vergleiche Erkenntnis des VwGH vom 8. Juli 2004, 2001/21/0119). Selbiges gilt auch für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Entscheidung nur nach einer Einzelfallbeurteilung erfolgen kann, weshalb insoweit die abstrakte allgemeine Festlegung eines Wohlverhaltenszeitraumes nicht in Betracht kommt. Dass es aber grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens – regelmäßig in Freiheit – bedarf, um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, was grundsätzlich Voraussetzung für die Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes ist, kann nicht mit Erfolg in Zweifel gezogen werden (VwGH vom 17.11.2016, Ra 2016/21/0193; vergleiche auch VwGH vom 22. Jänner 2013, 2012/18/0185 und vom 22. Mai 2013, 2013/18/0041); ebenso wenig, dass dieser Zeitraum üblicherweise umso länger anzusetzen sein wird, je nachdrücklicher sich die für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgebliche Gefährlichkeit manifestiert hat (VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0009; 28.01.2016, Ra 20015/21/0013). Wenn sich die Gefährdung über einen - beginnend mit der Haftentlassung - Zeitraum von mehr als 8 Jahren nicht erfüllt, kann die diesem Aufenthaltsverbot zugrundeliegende Zukunftsprognose grundsätzlich nicht mehr aufrechterhalten werden vergleiche VwGH vom 09.09.2013, 2013/22/0117).
Zusammenfassend ist daher der belangten Behörde beizupflichten, dass der BF eine äußerst schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.
Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände und in Ansehung des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Beschwerdeführers kann auch eine künftige Gefährdung von öffentlichen Interessen, insbesondere zur Wahrung des gesundheitlichen Wohls Österreichs, dabei besonders der körperlichen Integrität und des Eigentums anderer, der Wertevorstellung hinsichtlich der Gleichstellung von Frau und Mann und damit an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als eindeutig gegeben angenommen werden vergleiche VwGH 19.05.2004, 2001/18/0074).
Den persönlichen Interessen des BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich steht das öffentliche Interesse an der Wahrung der öffentlichen Ordnung sowie das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gegenüber; diesen gewichtigen öffentlichen Interessen kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8, Absatz 2, EMRK) ein hoher Stellenwert zu. Den Kontakt zu seinen beiden minderjährigen Kindern in Österreich kann der BF durch Besuche von diesen in der Türkei und Kontakte über Telefon und diverse soziale Medien aufrechterhalten, sofern die beiden Kinder und deren Mutter dies überhaupt einmal in Betracht ziehen sollten.
Abgesehen von der Bewertung des bisherigen Verhaltens des BF ist darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist vergleiche Erkenntnis VwSlg. 18.295 A, mwN). Diese Prognose ist nachvollziehbar zu begründen, wobei im Allgemeinen auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt vergleiche zu diesem Aspekt etwa das hg. Erkenntnis vom 16. Oktober 2014, Ra 2014/21/0039, mwN).
Vor allem angesichts der Schwere der Verstöße gegen österreichische Rechtsnormen und des zum Ausdruck gekommenen und massiv verpönten Fehlverhaltens des BF, sowie auch der in der Beschwerdeverhandlung gezeigten Uneinsichtigkeit in Verbindung mit der vom Sachverständigen festgestellten hohen Rückfallswahrscheinlichkeit konnte nicht ansatzweise von einem Gesinnungswandel ausgegangen werden und ist daher die Festlegung eines unbefristeten Einreiseverbotes nicht als unangemessen, sondern vielmehr als dringend erforderlich zu erachten.
Ausgehend von den vorstehenden Erwägungen und dem Gesamtbild des BF bedarf es eines entsprechend langen Zeitraums des tatsächlichen Wohlverhaltens, um von einem Wegfall der Gefährdung ausgehen zu können. Ein unbefristetes Einreiseverbot erweist sich aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes in einer Gesamtwürdigung des festgestellten Sachverhaltes in diesem Zusammenhang als insgesamt notwendig.
Angesichts der vorliegenden Schwere der Verstöße gegen österreichische Rechtsnormen und des zum Ausdruck gekommen Fehlverhaltens des BF ist daher die Verhängung des unbefristeten Einreiseverbotes angemessen, erforderlich und darüber hinaus auch als verhältnismäßig zu erachten.
römisch II.3.6. Frist für die freiwillige Ausreise und Aberkennung der aufschiebenden Wirkung:
Paragraph 55, FPG, Frist für die freiwillige Ausreise
Paragraph 55, (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. Paragraph 37, AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Absatz eins, ist mit Mandatsbescheid (Paragraph 57, AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.
Gemäß Paragraph 55, FPG ist im Spruch des Bescheids, mit dem eine Rückkehrentscheidung erlassen wird, grundsätzlich von Amts wegen eine Frist für die freiwillige Ausreise festzulegen. Davon ist gemäß Paragraph 55, Absatz 4, FPG abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG aberkannt wurde, was im gegenständlichen Bescheid auch so erfolgte.
Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.01.2022 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung gem Paragraph 18, Absatz 5, BFA-VG nicht zuerkannt. Aufgrund der massiven Straffälligkeit des Beschwerdeführers ist seine sofortige Ausreise im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit notwendig, zumal die Voraussetzungen für die amtswegige Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das Bundesverwaltungsgericht gemäß Paragraph 18, Absatz 5, BFA-VG nicht erfüllt sind.
Aus diesem Grund konnte keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt werden.
Die Beschwerde ist deswegen hinsichtlich der Spruchpunkte römisch fünf. und römisch VI. ebenfalls als unbegründet abzuweisen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, vorstehend im Einzelnen zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Gewährung von internationalem Schutz ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das zur Entscheidung berufene Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes abgeht. Die im Rahmen dieses Verfahrens anzustellende Zukunftsprognose beruht auf den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens und den in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck und stellt eine auf den Einzelfall bezogene Abwägung dar.
ECLI:AT:BVWG:2022:L519.2250350.1.00