Bundesverwaltungsgericht
16.03.2022
L510 2250107-1
L510 2250107-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. am römisch 40 , StA. Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.11.2021, Zl: römisch 40 , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang
1. Die beschwerdeführende Partei (bP), ein türkischer Staatsangehöriger, stellte nach nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 07.09.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Zuge ihrer Erstbefragung am selben Tag gab die bP zum Fluchtgrund an, dass sie 2018 zum Militärdienst einberufen worden sei. Dort sei sie zusammengeschlagen worden, weil sie Kurde sei. Nach einem Monat sei sie dann geflüchtet, anschließend jedoch verhaftet worden und habe zwei Jahre in Haft verbracht. Nach ihrer Entlassung habe sie sich jeden Tag bei der Polizei melden müssen. Sie habe auch noch ein weiteres Gerichtsverfahren erwartet, habe aber zuvor das Land verlassen. Ihr würden mehrjährige Haftstrafen drohen.
Die niederschriftliche Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 03.11.2021 gestaltete sich im Wesentlichen folgend:
„…
Anmerkung: zwei Vertrauenspersonen wollen mitkommen, einer wird Einlass gewährt.
Anmerkung: Die anwesenden Personen werden dem Antragsteller vorgestellt und deren Funktion/ Aufgabe im Verfahren dargestellt. Identitätsdaten werden auf der Aufenthaltsberechtigungskarte überprüft und vom AW bestätigt. Die anwesenden Personen werden ersucht, ihre Mobiltelefone auszuschalten.
Anmerkung: VP legt Nüfus und Beweismittel vor.
Anmerkung, Die Einvernahme findet via Video statt. Alle Beteiligten halten sich in Räumlichkeiten der RD Sbg auf.
Belehrung an Vertrauensperson: Es handelt sich um eine Einvernahme. Ihre Anwesenheit ist erlaubt, sollten Sie die Einvernahme stören, werden Sie des Raumes verwiesen.
LA: Die anwesende Dolmetscherin ist vom Leiter der Amtshandlung als Dolmetscher für die Sprache Türkisch bestellt worden. Sind Sie dieser Sprache mächtig und damit einverstanden in dieser Sprache einvernommen zu werden?
VP: Ja.
LA: Welche Sprachen sprechen Sie? Welche ist Ihre Muttersprache?
VP: Meine Muttersprache ist Kurdisch. Ich kann auch Türkisch.
Belehrung: Mit dem BFA-Einrichtungsgesetz, BFA-G, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012,, wurde mit Wirksamkeit 1. Jänner 2014 das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) als die für die Vollziehung des BFA-VG, des AsylG, des 7. 8. und 11. Hauptstückes des FPG, des GVG-B und der Dublin VO zuständige Behörde geschaffen. Aufgrund der gesetzlichen Neuerung ist das Bundesamt für Ihren Antrag zuständig. Sie werden darauf hingewiesen, dass Ihre Angaben im Asylverfahren vertraulich behandelt und nicht an die Behörden Ihres Heimatlandes weitergeleitet werden. Es ist unumgänglich, dass Sie die Wahrheit sagen, nichts verschweigen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte selbständig und über Nachfrage wahrheitsgemäß darlegen.
Auf die Folgen einer wahrheitswidrigen Aussage und der damit verbundenen allenfalls für Sie nachteilig verlaufenden Glaubwürdigkeitsprüfung werden Sie hingewiesen. Ebenso werden Sie heute auf Ihre Mitwirkungspflichten gem. Paragraph 15, AsylG 2005 und auf die Folgen einer allfälligen Verletzung der Mitwirkungspflichten hingewiesen. Falsche Angaben Ihre Identität bzw. Nationalität betreffend können strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Auf die mögliche Inanspruchnahme eines Rechtsberaters und einer Rückkehrberatung werden Sie aufmerksam gemacht.
Sie werden weiters darauf hingewiesen, dass Sie der Behörde, auch nachdem Sie Österreich verlassen haben, ihren Aufenthaltsort und Ihre Anschrift bekanntzugeben haben. Wenn Sie sich in Österreich aufhalten, genügt es, wenn Sie Ihrer Meldepflicht nach dem MeldeG nachkommen. Bei einer Übersiedelung haben
Sie sich binnen 3 Tagen beim Meldeamt umzumelden. Sollten Sie über keinen Wohnsitz verfügen, so werden Sie auf Paragraph 19 a, MeldeG hingewiesen und darauf, dass daran eine 14-tägige Meldeverpflichtung bei der nächstgelegenen Polizeiinspektion nach Paragraph 15, Absatz eins, Ziffer 4, AsylG geknüpft ist.
Ihnen wird nunmehr eine kurze Darstellung des bisherigen Ablaufs des Verfahrens gegeben und Grund und Ablauf der nunmehrigen Einvernahme mitgeteilt.
Die Einvernahme wird von einem Organwalter des BFA durchgeführt. Sofern sich keine Hinweise ergeben, die eine weitere erforderlich machen würden, wird der nun stattfindenden Einvernahme die Entscheidung über den Antrag folgen, d.h., es wird keine weitere Einvernahme stattfinden. Haben Sie das verstanden?
AW: Ja.
LA: Haben Sie gegen die hier anwesenden Personen irgendwelche Vorbehalte oder fühlen Sie sich durch eine anwesende Person befangen bzw. eingeschränkt in Ihrer Schilderung?
VP: Nein.
LA: Sollten Sie eine Frage nicht verstehen oder sich unsicher sein, wie genau die Frage gemeint ist können Sie jederzeit rückfragen. Missverständnisse könnten sich nachteilig auf Ihre Glaubwürdigkeit auswirken. Haben Sie das verstanden?
VP: Ja.
LA: Haben Sie Einwände gegen allenfalls erforderliche Ermittlungen hinsichtlich der Glaubhaftigkeit Ihres Fluchtvorbringens in Ihrem Herkunftsstaat, wobei Sie darauf hingewiesen werden, dass keinesfalls persönliche Daten Ihrerseits an die Behörden Ihres Herkunftsstaates weitergegeben werden?
VP: Keine Einwände.
LA: Fühlen Sie sich heute psychisch und physisch in der Lage, Angaben zu Ihrem Asylverfahren zu machen?
VP: Ja.
LA: Wie stellt sich Ihr aktueller Gesundheitszustand dar?
VP: Ich bin auf einem Ohr taub, dort höre ich nichts. Und es gibt auch Folterspuren, die mit dem Messer versursacht wurden. An der Brust habe ich eine Narbe, ich wurde verbrannt.
Anmerkung, Vertrauensperson sagt kurz etwas auf Türkisch. LA ermahnt diese.
LA: Sind Sie geistig gesund?
VP: Was meinen Sie?
LA: Haben Sie eine psychische Erkrankung?
VP: Nein.
LA: Nehmen Sie Drogen oder Drogenersatzstoffe?
VP: Nein. Ich rauche nur Zigaretten.
LA: Stimmen die Angaben, die Sie bisher im Verfahren getätigt haben? Wurde alles richtig protokolliert?
VP: Ich habe richtige Angaben gemacht. Nur bei den Daten habe ich mich geirrt. Den Zettel, den ich Ihnen vorhin gab Anmerkung, gemeint Nüfus), da sind die Daten richtig.
Anmerkung, Die Daten wurden im IFA bereits berichtigt.
LA: Nennen Sie bitte Ihre Daten zu Familienstand, Geburtsdatum, Geburtsort, Staatsbürgerschaft, Volksgruppe, Religionszugehörigkeit!
VP: ledig, römisch 40 Karamanmaras, römisch 40 , römisch 40 , türkischer StA, Kurde, Alevit.
LA: Haben Sie Kinder oder sind für minderjährige Personen sorgepflichtig?
VP: Nein.
LA: Welche Angehörigen haben Sie in der Türkei?
VP: Vater, Mutter, Geschwister
LA: Wie heißen Ihre Eltern und wann wurde diese geboren?
VP: römisch 40 (geb. ca. 1966), römisch 40 (Ubk.)
LA: Wie viele Geschwister haben Sie?
VP: Wir sind neun Geschwister.
LA: Wie viele davon halten sich in der Türkei auf?
VP: 5 Geschwister sind in der Türkei.
LA: Wie heißen Ihre in der Türkei wohnhaften Geschwister und wann wurden diese geboren?
VP: Die Geburtsdaten kenne ich nicht, denn wir lebten nicht alle zusammen.
LA: Dann nennen Sie mir bitte die Namen und das jeweilige ungefähre Alter.
VP: römisch 40 (2006), römisch 40 (2000), römisch 40 (1994), römisch 40 (ubk.), römisch 40 (1987)
Anmerkung, Die Vertrauensperson sagt wieder etwas auf Türkisch und wird neuerlich ausdrücklich ermahnt.
LA: Haben Ihre Eltern oder Ihre Geschwister irgendwelche Probleme?
VP: Mein Vater lebt noch. Er ist taub, weil er vor seiner Heirat einen Verkehrsunfall gab.
LA: Also haben Ihre Eltern und Geschwister keine Probleme, habe ich das richtig verstanden?
VP: Meiner Mutter geht es auch nicht gut.
LA: Warum?
VP: Meine Mutter ist bettlägerig, da sie einen Bandscheibenvorfall hat. Sie kann kein Türkisch, sondern nur Kurdisch.
LA: Wie finanzieren Ihre Eltern und Ihre Geschwister in der Türkei derzeit ihren Lebensunterhalt?
VP: Beiden geht es gesundheitlich nicht gut. Sie können daher keiner Arbeit nachgehen.
Anmerkung, Die Vertrauensperson wirft ein, dass die VP die Frage offenbar nicht versteht. Es wird der Vertrauensperson zur Kenntnis gebracht, dass dem LA dies aufgefallen ist, es wird auf die mehrjährige Erfahrung verwiesen. Die Vertrauensperson wird ermahnt.
(Frage wird wiederholt)
VP: Meine Geschwister arbeiten und unterstützen sie.
LA: Beziehen Ihre Eltern Rente, Pension oder Sozialhilfe in der Türkei?
VP: Pension beziehen sie nicht. So etwas gibt es leider nicht.
LA: Verfügen Sie noch über weitere Angehörigen in der Türkei (Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, udgl.)?
VP: Hier habe ich Onkeln und Tanten. Manche sind in Deutschland, der Schweiz oder hier.
LA: (Frage wird wiederholt)
VP: Ja. Ich habe auch in der Türkei Verwandte. Ich habe einen Onkel väterlicherseits namens römisch 40 .
LA: Gibt es noch weitere Verwandte in der Türkei?
VP: Onkel mütterlicherseits.
LA: Wie viele weitere Angehörige haben Sie circa in der Türkei?
VP: Das weiß ich nicht, ich kann Ihnen nur die kennen, die ich kenne.
LA: Wie viele kennen Sie? Bitte nicht aufzählen, sondern einfach beziffern.
VP: Ich kenne circa 8-9 weitere Verwandte.
LA: Haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern, Geschwistern oder weiteren Verwandten in der Türkei?
VP: Ich habe zu meinen Geschwistern Kontakt und bevor ich nach Österreich kam, lebte ich bei meinen Eltern.
LA: Heißt das, Sie haben derzeit keinen Kontakt zu Ihren Eltern?
VP: Natürlich, ich war ja bei ihnen bevor ich hierherkam.
LA: Also haben Sie DERZEIT Kontakt zu Ihren Eltern?
VP: Ja, ich habe telefonischen Kontakt zu ihnen.
LA: Wissen Sie, wie es Ihren Angehörigen in der Türkei geht?
VP: In welcher Form?
LA: Insbesondere wirtschaftlich.
VP: Das weiß ich nicht, das wäre jetzt gelogen, wenn ich etwas sage.
LA: Was können Sie mir über den Lebensstandard Ihrer Angehörigen (sowohl Eltern und Geschwister als auch entfernte Angehörige) sagen?
VP: Ich habe in der Türkei keine Arbeit bekommen, weil ich Kurde bin, weil ich draußen zB kurdische Lieder gesungen habe. Ich wurde deswegen mehrmals festgenommen. (VP will weiterreden)
LA: Herr römisch 40 , das war nicht die Frage. Bitte beantworten Sie die Fragen. Gehört Ihre Familie der Ober-, Unter- oder Mittelschicht an?
VP: Meine Geschwister verdienen so viel Geld, dass sie über die Runden kommen. Aber sie besitzen kein Vermögen.
LA: Nennen Sie mir bitte Ihre Wohnadresse in der Türkei!
VP: Karamanmaras, römisch 40 , römisch 40 .
LA: Mit wem haben Sie in der Türkei zusammengelebt?
VP: Mit meinen Eltern.
LA: Besitzt Ihre Familie ein Haus, eine Wohnung oä?
VP: Nein. Es ist ein normales Haus im Dorf.
LA: Gehört das Haus Ihrer Familie?
VP: Ja.
LA: Wie groß ist dieses Haus?
VP: Zwei Zimmer.
LA: Wie kann ein Haus nur zwei Zimmer haben?
VP: Es ist möglich.
LA: Wie viele Stockwerke hat das Haus?
VP: Nur ein Stockwerk.
LA: Können Sie abschätzen wie viele m² das Haus hat?
VP: Circa 100m².
LA: Wie viele Personen leben dort?
VP: 6 Personen, denn viele sind schon ausgezogen.
LA: Sie haben heute Gelegenheit, die Gründe für Ihren Antrag auf internationalen Schutz ausführlich darzulegen. Versuchen Sie nach Möglichkeit, Ihre Gründe so detailliert zu schildern, dass diese auch für eine unbeteiligte Person nachvollziehbar sind. Schildern Sie bitte, warum Sie Ihr Heimatland verlassen haben?
VP: Die Daten habe ich nicht im Kopf, die merke ich mir nicht. Ich habe Ihnen Unterlagen gegeben, woraus Sie hervorgehen. Weil ich Kurde bin, bin ich dort unerwünscht. Ich wurde sogar aufgrund kurdischer Lieder, die ich gesungen habe, mehrmals verhaftet. Ich habe bei einer Demonstration teilgenommen und musste in Haft, dann wurde ich freigelassen mit gerichtlichen Kontrollmaßnahmen.
LA: Bitte setzen Sie fort.
VP: Dabei bekam ich einen Schlag auf mein Ohr, das jetzt taub ist. Meine Brust wurde verbrannt, sodass ich eine Narbe habe. Mit dem Messer wurde ich auch verletzt, sodass Spuren auf meinem Körper ersichtlich sind. Auf dem Nachhauseweg von der Schule kam es zu einer Explosion, welche genau das war, weiß ich nicht, sodass mir das Material vom Stoff in die Augen flog und sogar jetzt noch diese Teile sich in meinem Auge befinden. Da ich in der Türkei nicht erwünscht war und hier mein Recht zu Leben bzw. die Chance darauf gesehen habe, beschloss ich, nach Österreich zu kommen. In der Türkei musste ich heimlich Arbeiten nachgehen. Ich wurde nie angemeldet und versichert. Es kam laufend zu Festnahmen. Ich wurde zur Dienststelle gebracht oder ins Gefängnis. Ich wurde gezwungen, für sie als Agent zu arbeiten. Und dabei erpresst.
LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?
VP: Das ist alles, was ich vorbringen möchte. Ich wurde immer wieder von der Gendarmerie oder der Polizei bedroht, weil ich die Arbeit als Agent verweigerte. Aus den Unterlagen, die ich Ihnen vorlegte, geht hervor, wie oft ich mitgenommen wurde und was man mir vorwarf.
LA: Ich möchte Ihnen Ihre Aussage im Zuge der polizeilichen Erstbefragung vorlesen: „2018 wurde ich zum Militärdienst einberufen. Ich wurde zusammengeschlagen, weil ich Kurde bin. Nach einem Monat bin ich geflüchtet. Ich wurde dann aber verhaftet und war 2 Jahre in Haft. Nach meiner Entlassung musste ich mich jeden Tag bei der Polizei melden, ich hätte noch ein weiteres Gerichtsverfahren erwartet, ich habe aber das Land verlassen. Mir drohen mehrjährige Haftstrafen. Das sind alle meine Fluchtgründe.“ Ihr heutiges Vorbringen ist dem gegenüber erheblich gesteigert, den damaligen Hauptgrund haben Sie heute überhaupt nicht erwähnt und besteht kein augenscheinlicher Zusammenhang mit den Angaben der Erstbefragung. Wie erklären Sie mir das?
VP: 2018 ist falsch. Ich habe die Jahre nicht im Kopf, das muss aus den Unterlagen hervorgehen. Dass ich nach einem Monat geflüchtet bin, ist auch nicht richtig. Der Dolmetscher hat mich nicht richtig verstanden. Er gab sogar meinen Namen und mein Geburtsdatum falsch weiter. Es gab Kommunikationsprobleme zwischen uns. Der Dolmetscher verstand Vieles nicht und schrieb es falsch nieder. Obwohl ich es mehrmals richtigstellte, wurde es falsch niedergeschrieben. Der Dolmetscher ließ mich meine Angaben mehrmals wiederholen. Und trotzdem wurde es nicht richtig übersetzt.
LA: Sie haben die Niederschrift laut Protokoll nach erfolgter Rückübersetzung unterschrieben und merkten an, dass Sie keine Ergänzungen bzw. Korrekturen zu machen und alles verstanden hätten.
VP: Ich wusste nicht, was mir vorgelegt wurde und was ich unterschrieben habe, es war Deutsch.
LA: Aber der Dolmetscher dürfte es Ihnen auf Kurdisch vorgelesen haben im Zuge der Rückübersetzung.
VP: Nein, der Dolmetscher sagte, er sei Dolmetscher und könne auch Türkisch. Er übersetzte es nicht auf Kurdisch. Er sagte, dass er deutscher Staatsbürger sei und Türkisch spreche. Außerdem habe ich einen Kurdischdolmetscher beantragt und es wurde mir ein Türkischdolmetscher geschickt.
LA: Dass die EB auf Türkisch war, stimmt. Der Dolmetscher ist mir namentlich aus zahlreichen Erstbefragungen bekannt. Die LPD NÖ dürfte ihn als sehr verlässlich erachten.
VP: Aber Sie werden dem entnehmen können, dass mein Name mehrmals falsch niedergeschrieben wurde obwohl ich es ihm auf einen Zettel vorgeschrieben habe.
LA: Unter Frage 14. wurde festgehalten, dass Ihr Name korrigiert wurde. Auch ist Ihr Name im Protokoll richtig festgehalten. Also mag es sein, dass Ihr Name zunächst falsch geschrieben wurde, das wurde aber korrigiert.
VP: Das wurde im Nachhinein richtiggestellt. Es waren Vorname und Familienname und vieles mehr falsch. Ich bin nicht während meines Militärdienstes geflohen. Als ich geschlagen wurde und mein Ohr taub war, wurde ich für untauglich erklärt.
Anmerkung, Vertrauensperson erbittet das Wort, dieses wird nicht erteilt.
LA: Warum wollten Sie einen Kurdischdolmetscher statt eines Türkischdolmetschers? Sie sprechen offensichtlich sehr gut Türkisch.
VP: Den Kurdischdolmetscher wollte ich deswegen, weil mich der vorhergehende Türkischdolmetscher nicht verstanden hat.
LA: Passt die Kommunikation zwischen Frau KURT und Ihnen?
VP: Ja.
LA: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist Ihr Fluchtgrund bei der Erstbefragung nicht zu verwerten, sondern ist ausschließlich das Vorbringen, das Sie heute erstattet haben, fluchtrelevant?
VP: Manche Stellen sind nicht richtig und außerdem weiß ich das nicht, weil das Protokoll auf Deutsch ist.
LA: Die Dolmetscherin hat Ihnen Ihren Fluchtgrund vorhin auf Türkisch vorgelesen. Ich möchte jetzt wirklich eingrenzen, was Ihr Fluchtgrund war, und mich nicht dahingehend vertrösten lassen, dass ständig unter Berufung auf Verständigungsschwierigkeiten bei der Erstbefragung neue Tatsachen vorgebracht werden. Ich würde es zur Kenntnis nehmen, wenn Sie sagen, der vorgelesene Fluchtgrund aus der EB ist unrichtig, wie ich das verwerte behalte ich mir aber vor, aber ich möchte endlich abschließend abklären, was Ihr Fluchtgrund war.
VP: Dann möchte ich, dass Sie nur meine heutigen Fluchtgründe berücksichtigen, denn die vorhergehende Aussage ist teilweise unrichtig.
LA: Haben Sie zu den Fluchtgründen, die Sie heute vorgebracht haben, etwas zu ergänzen oder abzuändern? Ich kann Ihnen die Aussage auch nochmals auf Türkisch vorlesen lassen, wenn Sie das möchten.
VP: Bei diesen gerichtlichen Kontrollmaßnahmen musste ich jeden Tag bei der Dienststelle erscheinen und unterschreiben. Der Grund warum es zu diesem Gerichtsverfahren und der Haft kam, war lediglich, dass Singen von kurdischen Liedern.
LA: Sie haben mir am Anfang der Einvernahme schriftliche Beweismittel vorgelegt. Ich hätte gerne kurz erklärt, worum es sich jeweils handelt Anmerkung, Schreiben wird in die Kamera gehalten).
VP: Ich kann es in dieser Form nicht lesen. Ich wurde einmal in Istanbul verhaftet. Datum, Uhrzeit und Grund stehen auf diesem Schreiben. Obwohl ich bei der Demonstration keinen Widerstand gegen die Polizei leistete, wurde ich geschlagen und verhaftet.
Anmerkung, Es handelt sich lediglich um fünf Schreiben, diese werden nach der Einvernahme der Dolmetscherin ausgefolgt, damit diese die Schreiben schriftlich übersetzt.
LA: Haben Sie weitere schriftliche Beweismittel?
VP: Ja. Aber die habe ich noch nicht. Ich muss sie via e-devlet abrufen und Ihnen später vorlegen.
LA: Mir ist e-devlet bekannt. Man kann dort Urkunden immer und überall abrufen. Warum haben Sie das nicht vor dem heutigen Termin gemacht?
VP: Dieses e-devlet-System gibt es erst seit 2014/2015, daher scheinen manche Ereignisse von mir nicht auf.
LA: Warum können Sie Ihre Beweismittel erst später vorlegen, wenn diese ohnehin nicht aufscheinen?
VP: Ich werde versuchen, es in einer Form zu bekommen. Der Rechtsanwalt kann es vielleicht anschaffen.
LA: Ich räume Ihnen für die Vorlage weiterer Beweismittel zwei Wochen ein.
VP: Ok. Ich werde es versuchen.
Anmerkung, Die Vertrauensperson meldet sich neuerlich ungefragt zu Wort. Sie fragt, wann Fragen nach der Verwandtschaft in Österreich gestellt werden und bringt penetrant vor, dass es aufgrund fehlender Bildung zu Missverständnissen kommen könne. Nach einer mehrminütigen Debatte wird die Vertrauensperson vom LA um 13:59 Uhr aufgrund wiederholten Störens des Raums verwiesen.
LA: Sind Sie Mitglied einer politischen Partei?
VP: Es gab kein HDP Parteihaus. Denn es wurde niedergebrannt.
LA: (Frage wird wiederholt) Ja oder nein?
VP: Früher schon. Aber da es niedergebrannt wurde, ging das zu Ende.
LA: Waren Sie offizielles Parteimitglied oder Unterstützer?
VP: Nein. Eine offizielle Mitgliedschaft gab es dort nicht. Denn die Mitglieder wurden festgenommen bei uns.
LA: Sie sagten, Sie seien wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet worden.
Ist das richtig?
VP: Ja, ich wurde verhaftet, das ist richtig.
LA: Wie oft wurden Sie deshalb verhaftet?
VP: Vier oder fünf mal.
LA: Wie lange wurden Sie jeweils angehalten?
VP: Das hing vom Vorfall ab, bei einem Mal waren es zwei Monate. Das setzte sich so fort – ein oder zwei Monate. Wenn ich eine Unterschrift verabsäumt hätte, hätte ich die Strafe verbüßen müssen, denn es gibt ein Gerichtsurteil mit einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren.
LA: Wie wurden Sie in Haft behandelt?
VP: Bei meiner ersten Haft wurde ich in der Zelle geschlagen. Sodass ein Ohr dabei taub wurde. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht und verlangte auch einen Befund wegen dieser Folter. Ich bekam keinen. Bzw. wurde mir ein Befund gegeben worin stand, dass ich beim Laufen gestürzt sein soll.
LA: Wann war dieser Vorfall?
VP: Damals war ich noch ziemlich jung und kann mich nicht erinnern. Aus den Unterlagen geht das Datum hervor, das war aufgrund des kurdischen Liedes, das ich gesungen habe.
LA: Können Sie circa einschätzen, wann Sie geschlagen wurden? Ein Jahr und allenfalls ein Monat würden mir reichen.
VP: Ich war zwei Jahre lang stationär im Krankenhaus. Da ich taub und blind durch die Folter wurde. Das hat in meinem Kopf auch Spuren hinterlassen, sodass ich mich nicht mehr erinnern kann. Wenn Sie mir das nicht glauben, können Sie mich hier zu einem Arzt schicken, denn es befinden sich immer noch Teile dieser Explosion in meinen Augen. Und ein Ohr ist total taub. Am Bauch habe ich noch Spuren von den Messerverletzungen, die ich Ihnen zeigen kann.
LA: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie über einen Zeitraum von zwei Jahren in einem Krankenhaus aufgenommen worden waren?
VP: Ja, das ist richtig. Aber wie gesagt, diese Befunde kann ich Ihnen nicht vorlegen. Ich versuchte es über e-devlet abzurufen, aber leider vergeblich. Ich werde versuchen, es aus den alten Akten anzuschaffen, die bestätigen können, dass ich erblindet war und taub bin.
LA: Von wann bis wann waren Sie im Krankenhaus? Können Sie das circa sagen?
VP: Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich zwei Jahre lang weder gesehen noch gehört habe.
LA: Sie sind jetzt 24 Jahre alt. Sie müssen doch noch wissen, ob das ein Jahr oder zehn Jahre her ist.
VP: Ein Jahr ist es nicht her, ich war 15 oder 16 Jahre alt. Ich denke vor 7 oder 8 Jahren. Mein Kopf hat sich nicht weiterentwickelt. Ich bin sehr vergesslich. Wie gesagt: ein Ohr ist taub und ich tue mir schwer, auch Sie zu verstehen.
LA: Wer schlug Sie?
VP: Als ich während der Demonstration erwischt wurde, schlug man mir mit Gummiknüppeln gegen mein Ohr. Und ich stürzte zu Boden, wo sie mich weiterschlugen. Dann brachten Sie mich in die Zelle. Und schlugen mich weiter. Ich wollte den Befund, um gegen die Polizei Anzeige zu erstatten. Aber dann haben sie mir einen Befund gegeben, worin stand, ich sei beim Laufen gestürzt. Am Nachhauseweg von der Schule explodierte etwas und es befinden sich heute noch Teile der Explosion in meinen Augen. Im Heimatdorf kam es laufend zu Operationen der Gendarmerie und der Polizei, es herrschten viele Kämpfe im Dorf, das nur von Kurden besiedelt war.
LA: Meine Frage war nur, wer Sie geschlagen hat. Ich würde Sie bitten, meine Fragen zu beantworten und nicht willkürlich Vorbringen zu erstatten.
VP: Polizisten.
LA: Ich habe die Verhaftungen wegen kurdischer Lieder und wegen der Teilnahme an Demonstrationen getrennt voneinander betrachtet. Ich dachte bisher immer Sie wären wegen des Singens verhaftet und gefoltert worden. Aufgrund Ihres oa Vorbringens erscheint es mir so, als bestünde ein zeitlicher und inhaltlicher Zusammenhang, dass das also dieselben Vorfälle waren. Waren das dieselben Vorfälle?
VP: Das sind zwei getrennte Vorfälle. Die auch in den Unterlagen aufscheinen. Ein Vorfall fand in Istanbul statt, der andere in der Heimatstadt. Zwei Cousins vom Ausland kamen zu Besuch. Ich habe mit ihnen diese kurdischen Lieder gesungen. Unter ihnen wurde nur ich verhaftet von der Polizei. Meine Cousins konnten sie nicht verhaftet, weil sie keine türkischen Staatsbürger waren.
LA: Die türkische Polizei hält sich üblicherweise kaum zurück, ausländische Staatsbürger zu verhaften.
VP: Sie mussten zwei Tage in die Zelle, wurden aber nicht geschlagen. Die Polizei befürchtete, dass sie sonst einen Befund einholen, deswegen konnten sie sie nicht schlagen.
LA: Aber war die Folter, wo Sie taub wurden, jetzt der Teilnahme an Demonstrationen geschuldet oder dem Singen kurdischer Lieder? Aus Ihrem Vorbringen hätte sich jetzt beides ergeben.
VP: Aufgrund meiner Teilnahme an der Demonstration.
LA: War das in Istanbul oder im Heimatdorf?
VP: Istanbul.
LA: Die Folter mit den Verbrennungen und dem Messer. War das im Zuge derselben Folter wie die Schläge, die zur Taubheit führten? Oder waren die zwei verschiedenen Ereignisse?
VP: Das sind auch zwei getrennte Ereignisse.
LA: Gehören die Sache mit der Verbrennung mit dem Messer zusammen? Also haben wir jetzt insgesamt zwei oder drei Ereignisse?
VP: Die Verbrennung und die Folter mit dem Messer waren an zwei getrennten Vorfällen. Und dass ich auf einem Ohr taub bin, war wieder ein anderer Vorfall. Es reichte, dass ich Kurdisch spreche oder Kurde bin, dass sie tätlich vorgehen.
LA: Können Sie mir sagen, wann, von wem und warum Sie verbrannt wurden?
VP: Ich weiß nicht, welcher Angreifer das war, es gab eine Rangelei. Und ich habe Anzeige gegen diese Personen erstattet. Aber es kam zu keinem Gerichtsverfahren, da ich Kurde bin. Ich konnte auch nicht versichert wo arbeiten gehen. Nicht einmal das gestattete man mir obwohl ich für meine Familie sorgen muss.
LA: Hören Sie auf, mit der Frage nicht zusammenhängendes Vorbringen zu erstatten! Die Frage hat sich rein auf die Verbrennungsverletzung bezogen. Ob Sie arbeiten durften oder nicht ist nicht Gegenstand meiner Frage!
LA: Sie sagten soeben, Sie wussten nicht, wer Sie angriff. Gegen wen erstatteten Sie Anzeige?
VP: Den Angreifer, der mir die Brust verbrannte, habe ich auch nicht gefunden. Aber der mir die Messerverletzung zufügte, kannte ich, es kam jedoch zu keinem Gerichtsverfahren. Weil behauptet wurde, dass ich den Staat beschimpfe.
LA: Ich würde Sie wirklich bitten, aufzupassen, welche Antworten Sie mir geben. Meine Frage oben bezog sich ebenfalls rein auf die Verbrennung. Aus Ihrer letzten Antwort ist zu schließen, dass Sie mir gleich auch über den Messerangriff erzählten. Mir ist schleierhaft, wie ich auf diese Art und Weise ordentlich ermitteln soll, was passiert ist.
VP: Ok.
LA: Dann wiederholen wir die obige Frage: Können Sie mir sagen, wann, von wem und warum Sie verbrannt wurden? Ich bitte Sie wie gesagt, sich nur auf die Verbrennung zu beziehen.
VP: Zu diesem Angriff kam es, weil wir untereinander Kurdisch gesprochen haben. Mir wurde ein Brennmaterial auf den Körper geworfen. Es traf mich auf der Brust und am Nacken. Es brannte auf meiner Brust und am Nacken, sodass es Narben hinterließ.
LA: Wann war das?
VP: Das war während meiner Schulzeit als ich 14 oder 15 Jahre alt war.
LA: Der Täter ist Ihnen unbekannt haben Sie gesagt?
VP: Das war nicht nur ein Angreifer, sondern mehrere. Eine Gruppe von 15-20 Personen.
LA: Aber die waren Ihnen unbekannt, oder?
VP: Es war eine unbekannte Gruppe.
LA: Können Sie mir sagen, wann, von wem und warum Sie geschnitten wurden?
VP: Als ich am Arbeitsplatz Kurdisch sprach wurde ich verwarnt. Ich hatte mit meiner Familie auf Kurdisch telefoniert, da sie kein Türkisch sprechen. Und ich habe diese Verwarnung ignoriert. Es kam zu einem Streit und diese Person zückte ein Messer. Er hat zwei Mal gegen meinen Bauch gestochen. Ich kam ins Krankenhaus und wurde operiert. Ich musste länger als 4 Monate im Krankenhaus bleiben.
LA: Wie hieß der Täter?
VP: Ein Mann namens Sahin, er scheint auch in den Unterlagen auf.
LA: Warum scheint er in den Unterlagen auf?
VP: Dass dieser Messerangriff schien beim Angriff über e-devlet auf.
LA: In welchem Verhältnis standen Sie zu Sahin?
VP: Am Arbeitsplatz, ich kannte ihn.
LA: War er Ihr Vorgesetzter oder Ihr Kollege?
VP: Er war auch ein Arbeiter wie ich. Er war Meister.
LA: Wann war dieser Vorfall?
VP: Ich kann mich an das Datum nicht erinnern. In den Unterlagen werden Sie es sehen.
LA: Wie alt waren Sie bei dem Vorfall?
VP: 17 oder 18.
LA: Wann wurden Sie zuletzt wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet?
VP: Es steht alles in den Unterlagen. Ich habe gar keine Daten im Kopf.
LA: Hören Sie bitte auf, ständig auf die Unterlagen zu verweisen. Das ist eine mündliche Einvernahme, in der ich Ihre Glaubwürdigkeit beurteilen soll, es ist daher nicht sinnvoll, regelmäßig auf Beweismittel, die im Übrigen auch noch nicht übersetzt sind, zu verweisen. Wenn Sie es tatsächlich nicht wissen, ist es in Ordnung. Mir reicht aber auch eine ungefähre Schätzung, an der ich mich orientieren kann.
VP: Ich möchte keine falschen Angaben machen. Ich möchte Widersprüche vermeiden. Ich lag zwei Jahre im Krankenhaus. Ein Ohr ist taub.
LA: Wann denken Sie, dass Sie zuletzt wegen des Singens kurdischer Lieder verhaftet wurden? Sie müssen ja einschätzen können, ob das jetzt vor wenigen Wochen oder vor vielen Jahren war.
VP: Vor ein paar Jahren. Aber diese Ermittlungen laufen noch. Die gerichtlichen Kontrollmaßnahmen setzen noch fort.
LA: Wurden Sie jemals wegen des Singens kurdischer Lieder von einer türkischen Verwaltungsbehörde oder einem türkischen Gericht rechtskräftig bestraft? Oder war das zum Zeitpunkt Ihrer Ausreise noch alles im Ermittlungsstadium?
VP: Vor meiner Ausreise liefen die Kontrollmaßnahmen noch. Ich wurde jeden Tag zu Hause von der Besatzung abgeholt.
LA: Ich dachte, Sie hätten jeden Tag auf die Dienststelle gehen müssen?
VP: Manchmal ging ich nicht zur Dienststelle. Sie kamen dann und holten mich. Obwohl ich nichts verbrochen hatte. Das Ganze passierte nur, weil ich Kurde bin und Kurdisch gesprochen habe. Ich habe niemanden geschlagen oder jemandem etwas angetan.
LA: Naja. Sie hatten die gerichtliche Weisung, täglich auf der Dienststelle zu erscheinen. Ob Sie etwas verbrochen haben oder nicht ist nicht Sache der Polizei. Wenn Sie sich in Österreich einer periodischen Meldeverpflichtung entziehen, werden Sie auch abgeholt oder in Haft genommen.
VP: Ja, schon. Aber ich hätte diese Unterschriften zwei Jahre leisten müssen, die schon vorüber waren. Aber das Militär und die Gendarmerie setzten diese Maßnahmen fort. Das Ganze passierte nur, weil ich Kurde bin und Kurdisch gesprochen habe. Ich habe niemanden geschlagen oder jemandem etwas angetan. Sie haben mich einfach geholt und mitgenommen. Nur weil ich Kurde bin und kurdische Lieder gesungen habe. Wenn ich nachgefragt habe, warum ich mitgenommen wurde, meinten sie, ich sei ein Terrorist.
LA: Waren diese gerichtlichen Kontrollmaßnahmen Ersatz für eine Untersuchungshaft (gelinderes Mittel)?
VP: Ja. Das ist richtig. Das war eine Bedingung für meine Freilassung. Aber diese Kontrollmaßnahmen hätten laut dem Richter nach zwei Jahren enden müssen. Das wurde aber fortgesetzt. Ich habe auch Berufung eingereicht.
LA: Was kam dabei heraus?
VP: Nichts. Das läuft. Sie haben sich meinen Akt nicht einmal angesehen. Weil ich in Berufung gegangen bin, ging der Staat auch in Berufung. Ich habe nichts verbrochen.
LA: Die Polizei hat wohl kaum die Zeit und Muße willkürlich gelindere Mittel entgegen einer richterlichen Anordnung und gesetzeswidrig durchzusetzen. Auch hätte man wohl kaum Rechtsmittel erhoben, sondern versucht, das Ganze unter den Teppich zu kehren, wenn man schon völlig rechtswidrig handelt. Was sagen Sie dazu?
VP: Ein Verfahren lief in römisch 40 , eines lief in Istanbul. Und der Staatsanwalt hat beschlossen, diese Kontrollmaßnahmen weiter fortzusetzen.
LA: Dann hat die Polizei aber gerade nicht willkürlich und auf eigene Faust gehandelt, sondern auf Befehl.
VP: Ja, schon. Aber als ich die Polizei nach dem Grund fragte, sagte die Polizei, ich sei ein Terrorist. Ja, das ist schon richtig, dass die Staatsanwaltschaft diesen Befehl erteilen kann, aber der Grund ist nicht gerechtfertigt.
LA: Um das festzustellen, sind aber Rechtsmittel da. Sie können sich nicht einfach entziehen.
VP: Hinsichtlich der Kontrollmaßnahmen hatte ich nicht die Möglichkeit eines Rechtsmittels. Obwohl der Vorfall schon so lange zurückliegt und ich mir dachte, dass die Zeit jetzt erfüllt ist, setzten die Maßnahmen fort.
LA: Ich setzte einmal voraus, dass der staatsanwaltliche Befehl Ihnen zur Kenntnis gebracht wurde.
VP: Die Staatsanwaltschaft wollte, dass ich dem Richter vorgeführt werde. Der Richter hat dann die Fortsetzung der Kontrollmaßnahmen festgelegt. Es ist legitim, dass die Staatsanwaltschaft und der Richter etwas fordern. Aber es gibt ihnen nicht das Recht, dass sie wegen Singens kurdischer Lieder die Maßnahmen fortsetzen.
LA: Welchen konkreten Inhalt hatten diese Lieder, die Sie sangen?
VP: Ich kann mich nicht erinnern, es war ein kurdisches Lied.
LA: Ging es in den Liedern vielleicht auch um Öcalan oder die PKK?
VP: Nein, nicht in diesem Ausmaß. Wir vergnügten uns nur unter uns, hatten Spaß.
LA: Was heißt „nicht in diesem Ausmaß“?
VP: Ich meine, nein, wir wissen, dass der Staat die PKK nicht mag. Ich würde mir das deswegen nicht erlauben. Es war ein normales kurdisches Lied.
LA: Sie können kategorisch ausschließen, dass es um die PKK oder Öcalan ging?
VP: Ja. Das kann ich ausschließen. Aber sie haben es so gewertet. Und wir wurden als Terroristen bezeichnet.
LA: Wie können Sie das kategorisch ausschließen, wenn Sie sich nicht erinnern können?
VP: Weil ich weiß, dass es ein anderes kurdisches Lied war, das wir unter uns gesungen haben.
LA: Was jetzt? Wissen Sie, welches Lied es war oder nicht mehr?
VP: Würden Sie es verstehen können, wenn ich Ihnen ein kurdisches Lied vorsinge.
LA: Singen brauchen Sie nicht. Aber wenn Sie kurz beschreiben könnten, worum es in dem Text geht, wäre es hilfreich.
VP: Ich kann den kurdischen Text nicht ins Türkische übersetzen.
LA: Wo haben Sie das Lied gesungen?
VP: In römisch 40 .
LA: Wie viele Einwohner hat römisch 40 ?
VP: Ich weiß nicht, wie viele Einwohner es hat. Es gehört aber zur Provinz Karamanmaras.
LA: Wie stehen Sie persönlich zu Öcalan und zur PKK?
VP: Ich weiß nicht, wie ich mich da ausdrücken soll. Aber meiner Meinung nach stehen sie im Recht. Sie mussten so handeln, weil ihnen ständig Unrecht getan wird und sie geschlagen wurden. In manchen Themen verstehe ich sie. Was möchten Sie konkret wissen?
LA: Ihre persönliche Meinung.
VP: Wie gesagt: Menschen werden umgebracht nur weil sie Kurdisch sprechen. Deswegen sehe ich sie im Recht, wenn ihnen das Sprechen der kurdischen Sprache verboten wird und sie so handeln. Bei dem Massaker in Karamanmaras kamen viele Familien um. Wie gesagt, das ist meine Meinung. Und Recht haben sie.
LA: Ist Ihnen bekannt, dass die PKK auch nach Ansicht der Europäischen Union und Österreichs eine terroristische Vereinigung ist und dass die Symbole der PKK in Österreich verboten sind?
VP: Das weiß ich nicht. Ob es verboten ist oder nicht verboten ist…
LA: Sind Sie der Meinung, dass die kurdische Sprache in der Türkei verboten ist?
VP: Gesetzlich ist es erlaubt. Aber in der Praxis, wenn die Gendarmerie und die Polizei das mitbekommen, wird man bestraft. Kurdische Lieder werden nicht genehmigt. Auch unsere Tradition dürfen wir nicht leben. Alles, was mit Kurdisch zu tun hat, ist nicht gestattet.
LA: Laut LIB ist – wie Sie selbst sagten - die kurdische Sprache in der Türkei nicht verboten. Die kurdische Sprache ist lediglich nicht Amtssprache. Es gibt sogar eigene Universitätsprogramme auf Kurdisch. Auch der private Gebrauch ist seit den 2000er-Jahren keinen staatlichen Restriktionen ausgesetzt. Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht. Was sagen Sie dazu?
VP: Von welchem Land sprechen wir jetzt?
LA: Von der Türkei.
VP: Also. Solchen Situationen bin ich nicht begegnet. Das höre ich jetzt das erste Mal. Das sah ich nie und hörte es auch nie.
LA: Dann wechseln wir das Thema zu Demonstrationen. Sie wurden auf einer Demonstration festgenommen, richtig?
VP: Ja.
LA: Wann fand die Demonstration statt wegen der Sie verhaftet wurden?
VP: Ich war 18 Jahre alt als ich in Istanbul an dieser Demonstration teilnahm. Ich versammelte mich mit meinen Freunden. Wir wollten das Volk nur aufrufen, dass es uns auch noch gibt. Und unsere Rechte nicht vergessen werden. Wir haben sogar vom Staat die Erlaubnis bekommen, aber die Polizisten umzingelten die Veranstaltung und erlaubten sie nicht. Es kam zur Auflösung der Veranstaltung, sie gingen mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern vor.
LA: Gab es einen Anlass, warum die Demonstration von der Polizei aufgelöst wurde? Kam es vielleicht zu verbotenen Parolen, Sachbeschädigungen,
Körperverletzungen, Angriffen auf die Polizei, oä?
VP: Die Freunde flohen nach dem Angriff. Es kam zu keinen Übergriffen auf die Polizei. Wir waren nur 15-20 Personen. Es wäre nur eine kurdische Rede gehalten worden.
LA: Waren es insgesamt nur 15-20 Teilnehmer oder waren Sie und Ihre Freunde 15-20 Personen?
VP: Insgesamt.
LA: Verließen Sie den Ort des Geschehens unverzüglich als die Polizei die Auflösung der Demonstration bekanntgab oder verblieben Sie am
Veranstaltungsort?
VP: Als sie Wasserwerfer und explosive Stoffe anwandten, floh ich.
LA: Üblicherweise wird zuerst die Auflösung einer Demonstration durch die Polizei verkündet und erst dann werden Zwangsmittel angewandt, das ist normalerweise abgestuft.
VP: Nach der Rede ging die Polizei sofort auf Angriff.
LA: Ging die Polizei persönlich auf Sie los oder wäre sie auf jeden Demoteilnehmer losgegangen, der an Ihrer Stelle stand? Also kannten die Polizisten Sie persönlich oder waren Sie „zur falschen Zeit am falschen Ort“?
VP: Nein. Die Polizisten kannten uns nicht.
LA: Wie oft nahmen Sie insgesamt an Demonstrationen teil?
VP: Nur das eine mal in Istanbul. Und in römisch 40 gab es das kurdische Lied. In Istanbul wurde ich erwischt, dann hatte ich den Mut nicht mehr. Aber die Gewalt und die Anschuldigungen gegen mich setzten sich fort.
LA: Wie lange wurden Sie nach der Demonstration angehalten?
VP: Drei bis vier Monate.
LA: Wie wurden Sie in Haft behandelt?
VP: Das war die Zeit, wo mein Ohr taub wurde. Mir wurde auch die Nase gebrochen. Ich tue mir heute noch beim Atmen über die Nase schwer. Zu Essen bekamen wir auch keines, nur wenn wir es selbst taten. Aber da verlangten sie das sechsfache an Geld. Da wurde auch der gefälschte Befund ausgestellt, ich sei beim Laufen gestürzt.
LA: Wie stellte sich Ihre Freilassung dar?
VP: Ich wurde zu Gericht vorgeführt. Zwei Rechtsanwälte setzten sich für mich ein. Sie sammelten Beweise. Und legten sie dem Richter vor. Dann beschloss der Richter die Kontrollmaßnahmen und ließ mich frei.
LA: Das ist das Verfahren, das heute immer noch läuft?
VP: Ja. Die Kontrollmaßnahmen laufen noch. Und dasselbe in römisch 40 .
LA: Also Sie haben zwei verschiedene Kontrollmaßnahmen in römisch 40 und in Istanbul?
VP: ja. Es handelt sich um dasselbe Verfahren, aber da ich im Dorf wohnte, habe ich diese Meldeverpflichtung nach römisch 40 verlegen lassen.
LA: Sie sagten vorhin, Sie seine zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Weswegen genau wurden Sie zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt, wie lautete der konkrete Vorwurf?
VP: Die angeführten Gründe.
LA: Sie sagten vorhin, das Verfahren würde noch laufen und die Kontrollmaßnahme sei ein Ersatz für eine Untersuchungshaft.
VP: Damit meine ich, dass ich fünf Jahre kein Verbrechen begehen darf. Das ist so etwas wie ein Hausarrest.
LA: Nein. Das ist eine Bewährungszeit.
VP: Ja. Genau. Aber diese Maßnahmen nehmen kein Ende. Es gibt ständig Beschwerden von der Polizei und so weiter. Immer dann, wenn ich glaube, jetzt geht die Zeit zu Ende, kommt ein neues Verfahren daher.
LA: Eine Bewährungszeit kann auch nur nach einer rechtskräftigen Bestrafung eingeräumt werden. Wurden Sie jetzt bereits rechtskräftig (sei es zu einer Geldstrafe oder einer Strafhaft) verurteilt oder nicht?
VP: Es gibt eine Geldstrafe. Die ich noch immer nicht zahlen konnte. Es gibt eine Gefängnisstrafe. Die Gefängnisstrafe wurde in die Kontrollmaßnahme mangels Beweismittel umgewandelt.
LA: Wie hoch ist die Geldstrafe?
VP: Ich weiß es nicht, ich bekam von überall Geldstrafen. Bei jedem Verfahren bekam ich Geldstrafen. Die Gerichtskosten musste ich übernehmen.
LA: Ihrem Vorbringen zu Folge waren es aber nicht einmal so viele Verfahren.
VP: Es gibt zwei Gerichtsverfahren gegen mich. Und in diesen Verfahren kam es dann zu mehreren Ermittlungen mit den Anschuldigungen, dass ich Terrorist sei.
LA: Warum konnten Sie die Geldstrafe nicht zahlen?
VP: Ich konnte das Geld nicht auftreiben.
LA: Wenn die Strafen so hoch waren, dass Ihre Existenz gefährdet war, müssten Sie doch circa wissen, um welchen Betrag es ging?
VP: Ich habe es nicht zusammengerechnet. Eigentlich ist die Summe nicht so hoch. Ich schätze ungefähr TL 8.000 bis 9.000.
LA: Das wären aktuell EUR 712 bis 801.
VP: Ja, so in etwa.
LA: Wann wurden Sie verurteilt?
VP: Ich war 18 Jahre alt. Das war in Istanbul. Aber wann die Verurteilung in römisch 40 war, weiß ich nicht mehr.
LA. Können Sie es ungefähr einschätzen?
VP: Da war ich ungefähr 19 oder 20 Jahre alt.
LA: Durch welche Gerichte (konkrete Bezeichnung) wurden Sie verurteilt?
VP: Wie meinen Sie welches Gericht in Istanbul?
LA: In Österreich gibt es Bezirksgerichte, Landesgerichte und den OGH.
Vergleichbares gibt es meines Wissens nach auch in der Türkei.
VP: Es war das Schwurgericht.
LA: Nur nochmal zur Absicherung: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurden Sie gegen eine periodische Meldeverpflichtung freigelassen, ist das richtig?
VP: Ja.
LA: Gab es aufgrund der Gerichtsurteile noch weitere Konsequenzen neben dem, was Sie bereits vorgebracht haben?
VP: Ja. Die Gendarmerie und das Militär haben mir Bargeld angeboten. Sie wollten, dass ich für sie jemanden finde.
LA: Ist das das, wo Sie meinten, man habe Sie als Agent gewinnen wollen, oder ist das eine andere Geschichte?
VP: Das ist eine andere Geschichte.
LA: Dann fahren Sie bitte fort.
VP: Diese Person soll vorher in den Bergen gewesen sein. Sie wollten, dass ich sie finde. Ich kannte diese Person nicht, wie sie heißt, woher sie kommt. Ich lehnte dieses Angebot ab. Dann drohten sie mir, dass sie mich ich aufgrund meiner laufenden Verfahren ins Gefängnis stecken werden. Mehrmals traten sie an mich heran oder nahmen mich in Gewahrsam damit ich dieses Angebot wahrnehme.
LA: Wann war das?
VP: Da war ich 22 oder 23. Vor circa 1 bis 2 Jahren.
LA: Warum gehen die türkischen Sicherheitskräfte davon aus, dass Sie in der Lage sind, ein PKK-Mitglied zu finden, wenn Sie mit der PKK doch gar nichts zu tun haben?
VP: Da es sich bei meinem Wohnort um ein kurdisches Gebiet handelt und diese Person sich in der Nähe unseres Gebiets aufgehalten hat, sind sie an mich herangetreten. Sie glaubten, ich sei eine schwache Person, die sich nicht gegen diese Form von Befehlen wehren kann. Sie haben mir die Adresse der Person gegeben und ich sollte in einem Hotel warten. Ich hätte sie sofort verständigen sollen, wenn er sich blicken lässt. Dafür hätte ich Bargeld bekommen. Das war für mich eine Arbeit, wo ich nicht behilflich sein hätte können. Dann begann die Drohungen und Erpressungen, weil ich ohnehin einige Verfahren laufen habe und ich lange Zeit ins Gefängnis müsste.
LA: Bei diesen Ingewahrsamen, die Sie oben erwähnten, wurde nur versucht, Sie zur Kooperation zu bewegen, danach wurden Sie jeweils freigelassen?
VP: Ja. Da Sie bei meiner Untersuchungshaft keine ausreichenden Beweismittel gegen mich gefunden. Deshalb musste ich freigelassen werden.
LA: Die Untersuchungshaft ist mir gerade egal. Sie sagten vorhin, „Mehrmals traten sie an mich heran oder nahmen mich in Gewahrsam damit ich dieses Angebot wahrnehme.“. Ich möchte wissen, ob Sie danach jeweils sofort freigelassen wurden oder nicht.
VP: Sie ließen mich nicht gleich frei, sondern lange angehalten.
LA: Ich merke an, dass mich derzeit ausschließlich die Festnahmen interessieren, wo versucht wurde, Sie zur Kooperation beim Auffinden des PKK-Mitglieds zu bewegen. Wie lang?
VP: Ich wurde nicht in Gewahrsam genommen, ich konnte mich diesbezüglich auch nirgends beschweren.
LA: In welcher Form wurden Sie in diesem Zusammenhang bedroht und erpresst?
VP: Sie drohten mir mit den laufenden Verfahren. Dass mir bei Ablehnung lebenslange Haft drohe.
LA: Losgelöst von dem Auftrag jemanden zu finden: Wann und warum wurden
Sie zuletzt verhaftet?
VP: Vor circa 1 Jahr.
LA: Und warum?
VP: Wieder wegen der Unterschrift.
LA: Also wurden Sie festgenommen, weil Sie sich der gerichtlichen Kontrollmaßnahme entzogen haben?
VP: Ja, denn ich lebte im Dorf. Es war nicht einfach, ein Fahrzeug zu finden.
LA: Sie sagten auch, Sie wurden gezwungen, als Agent zu arbeiten. Ist das richtig?
VP: Ja.
LA: Wer zwang Sie?
VP: Ich weiß nicht, ob das ein Leutnant oder ein Kommandant war. Das war auch derjenige, der mir die Anweisungen gab, die Person zu finden.
LA: Ist das der gleiche Auftrag, wie den PKK-Kämpfer zu finden oder waren das zwei verschiedene Sachverhalte?
VP: Es ist derselbe Fall. Es ist das Angebot mit dem Bargeld und dass ich als Agent für sie tätig sein soll.
LA: Warum haben Sie dann die Frage „Ist das das, wo Sie meinten, man habe Sie als Agent gewinnen wollen, oder ist das eine andere Geschichte.“ damit beantwortet, dass das eine andere Geschichte sei?
VP: Welche?
LA: „Ich wurde als Agent angeworben.“ und „Ich wurde gezwungen, einen PKKMann zu suchen.“.
VP: Nein, das sind keine zwei getrennten Geschichten. Das war ein Missverständnis. Denn das Angebot mit dem Bargeld ist zugleich das Angebot für sie als Agent zu arbeiten. Weil ich dieses Bargeldangebot ablehnte, drohten sie mir dann und erpressten mich.
LA: Sie sagten auch, Sie seien Opfer eines Bombenanschlags geworden, wann und wo war das?
VP: Das war irgendein explosiver Stoff, wo ich die Teile in den Augen habe. Ob das eine Bombe war, weiß ich nicht. Es ist irgendetwas explodiert, aber was, weiß ich nicht. Meine Augen sehen dadurch schlecht und ich habe diese Teile noch immer in den Augen.
LA: (Frage wird wiederholt)
VP: In römisch 40 . Ich war damals 8 oder 9 Jahre alt.
LA: Richteten sich dies konkret gegen Sie oder waren Sie „zur falschen Zeit am falschen Ort“?
VP: Das weiß ich nicht. Ich war auf dem Nachhauseweg von der Schule.
LA: Sie sagten, Sie hätten Probleme gehabt, einen Arbeitsplatz zu finden. Können Sie das erklären?
VP: Weil ich wegen der Terrororganisation verurteilt wurde. Deshalb gab mir keine Firma eine Arbeit.
LA: Woher wussten die Firmen um Ihre Verurteilung?
VP: Sie verlangen ein Leumundszeugnis. Das Strafregister musste sauber sein.
LA: Auf wie viele Arbeitsplätze haben Sie sich beworben?
VP: Bis zum 17. Lebensjahr ist es verboten, zu arbeiten. Ich musste illegal arbeiten. Ab dem 18. Lebensjahr konnte ich nirgends Arbeit finden. Außerdem hat mich keiner aufgenommen, weil ich auf einem Ohr taub bin, denn sie verlangen auch ein Gesundheitszeugnis.
LA: Die Frage war eine völlig andere. (Frage wird wiederholt)
VP: Ich zählte nicht mit, es waren viele. Ich sprach an sehr vielen Stellen vor.
LA: Sind Sie der Ansicht, dass alle Kurden in der Türkei verfolgt werden?
VP: Nein. Nicht alle Kurden. Manche unter ihnen haben kein Glück.
LA: Und Sie gehören zu diesen Glücklosen?
VP: Naja. Man kann das jetzt auch nicht Glück nennen. Sobald man einmal aktenkundig ist, hat man es nicht leicht.
LA: Gab es irgendwelche noch nicht erwähnten Übergriffe, Drohungen oder Beschimpfungen gegen Sie in der Türkei?
VP: Nein. Ich möchte noch einige Unterlagen später vorlegen, also nicht heute…
LA: Von welchen Unterlagen sprechen Sie und was meinen Sie mit „später“?
VP: Der Krankenhausaufenthalt und die Verfahrensakte. Vorwürfe, Anschuldigungen, die es gegen mich gibt. Wenn ich diese mir schicken lassen kann, werde ich es Ihnen vorlegen.
LA: Ich räume Ihnen dafür zwei Wochen ein.
VP: Ok.
Anmerkung, 10 Minuten Pause
LA: Wann haben Sie entschieden, Ihr Heimatland zu verlassen?
VP: Circa 6-7 Monate vor meiner Ausreise.
LA: Wann genau reisten Sie aus der Türkei aus?
VP: Ich bin seit circa 2 Monaten hier, genau weiß ich es nicht mehr.
LA: Warum reisten Sie erst so spät aus, obwohl Ihre Probleme nach Ihren Angaben schon viel länger bestehen?
VP: Damals hätte ich die Chance nicht gehabt und dann bekam ich die Gelegenheit dazu.
LA: Hatten Sie ein Ausreiseverbot?
VP: Ich hatte nicht vor, legal auszureisen und verließ das Land illegal.
LA: Das war nicht die Frage. (Frage wird wiederholt). Ja oder Nein?
VP: Ich glaube nicht.
LA: Reisten Sie legal oder illegal aus?
VP: Illegal.
LA: Warum beantragten Sie kein Visum und reisten legal aus?
VP: Ich hätte kein Visum bekommen.
LA: Versuchten Sie es?
VP: Nein. Aber ich weiß es. Ich habe schon einmal um ein Visum angesucht und bekam keines.
LA: Wann war das?
VP: Das ist schon sehr lange her. Ich bemühte mich davor darum, aber es klappte leider nicht.
LA: (Frage wird wiederholt)
VP: Als die Vorfälle waren und es vor Gericht ging habe ich mich auf legalem Weg bemüht.
LA: (Frage wird wiederholt) Bitte bemühen Sie sich, das anhand Ihres Alters festzumachen.
VP: Ich war 21 oder 22 Jahre alt. Als ich 19 Jahre alt war versuchte ich es auch einmal.
LA: Bei welchen Botschaften haben Sie es versucht?
VP: In römisch 40 .
LA: Welche Botschaft? Deutschland, Österreich, Spanien, Norwegen…?
VP: Österreich.
LA: Ich habe gerade ein VISA-Abfrage gemacht. Dort werden auch versagte Visa erfasst. Bei Ihnen ist nichts diesbezügliches verspeichert. Also weder wurde Ihnen demzufolge ein Visum erteilt noch eines verweigert.
VP: Ich hatte mir einen Reisepass ausstellen lassen. Ich fragte beim Konsulat an, was ich tun müsste, um ein Visum zu bekommen. Und es wurde abgelehnt.
LA: Haben Sie nur formlos angefragt oder haben Sie tatsächlich einen Antrag auf Erteilung eines Visums gestellt?
VP: Nein, einen Antrag konnte ich nicht einreichen.
LA: Woher wissen Sie dann, dass ein Visum nicht erteilt würden, wenn Sie nicht einmal versucht haben, eines zu beantragen?
VP: Weil ich telefonisch beim Konsulat nachfragte. Ich bereitete sogar ein paar Unterlagen vor, aber da es Gerichtsverfahren gegen mich gab, war keine Antragsstellung möglich. Deswegen musste ich den illegalen Weg einschlagen. Es wurde kein Ausreiseverbot gegen mich verhängt, aber da es diese gerichtlichen Kontrollmaßnahmen gab, hätten sie es mir nicht genehmigt. Wenn ich einen Antrag gestellt hätte, wäre ich bestimmt verhaftet worden, weil sie geglaubt hätten, dass ich flüchte.
LA: Wie viel kosteten die gesamte Reise?
VP: Ich musste nichts zahlen. Das wurde ich zuvor schon einmal gefragt. Ich hatte mich auf der Ladefläche eines LKWs versteckt.
LA: Hat der LKW-Fahrer davon gewusst oder nicht?
VP: Nein, ich stieg heimlich zu. Der LKW-Lenker hätte das nicht zugelassen.
LA: Über welche Route und mit welchen Transportmitteln kamen Sie von der Türkei nach Österreich?
VP: Den Reiseweg weiß ich nicht. Ich bin die ganze Fahrt über nie ausgestiegen. Die Fahrt dauerte circa 5-6 Tage. Als ich ausstieg, ging ich gleich zur Polizei. Es gibt Männer, die gegen Bezahlung so etwas machen, sie kassieren EUR 7.000,-- bis EUR 8.000,--, aber da ich nicht viel Geld hatte, konnte ich es nicht in dieser Form machen.
LA: Wie haben Sie das mit der Notdurft und Ihren Grundbedürfnissen nach Essen und Trinken gemacht, ohne dem LKW-Fahrer aufzufallen? Fünf bis sechs Tage sind eine sehr lange Dauer.
VP: Ich hatte nur etwas zu Trinken mit. Lebensmittel hatte ich nicht mit, weil ich nicht wusste, dass die Fahrt so lange dauert. Das Wasser reichte nur 2-3 Tage. Ich musste hungern und hatte nichts mehr zu Trinken. Als ich ausstieg, habe ich mir sofort etwas zu Essen und zu Trinken besorgt und ging dann zur Polizeidienststelle.
LA: Dann waren Sie knapp am Verdursten. Und wie haben Sie Ihre Notdurft erledigt, ohne dem LKW-Fahrer aufzufallen?
VP: Eine große Notdurft hatte ich nicht, meine kleine Notdurft verrichtete ich in Wasserkanister.
LA: Woher hatten Sie die Wasserkanister?
VP: Ich hatte doch Wasser mitgenommen.
LA: Und das Ganze fiel dem LKW-Fahrer nicht auf?
VP: Nein. Denn ich befand mich ganz hinten und die Ladefläche war voll mit Paletten. Ich habe mich ganz hinter den Paletten versteckt.
LA: Hatten Sie Euro mit?
VP: Ich hatte nur circa EUR 80,-- mit.
LA: Hatten Sie ein bestimmtes Reiseziel?
VP: Ja, Österreich. Ich ging auch selbstständig zur Dienststelle.
LA: Warum gerade Österreich?
VP: Weil zwei ältere Schwestern von mir hier leben. Meine Cousins und Cousinen sind auch hier.
LA: Woher wussten Sie, dass Sie mit dem LKW nach Österreich kommen würden? Der LKW hätte doch auch jedes andere Land ansteuern können, wenn es unglücklich läuft zB Weißrussland.
VP: Ja, das stimmt. Aber ich dachte mir, egal in welchem Land der LKW anhält, dort werde ich mich stellen.
LA: Also ein sehr glücklicher Zufall, dass der LKW gerade nach Österreich kam?
VP: Nein. Es war kein Zufall, denn ich wusste, dass der LKW nach Österreich kommen wird. Er hatte eine Aufschrift. Aber es hätte genauso gut sein können, dass er eine andere Route fährt. Ich überließ es dem Glück. Einen Tag lang hielt der LKW an, aber ich wusste nicht, wo ich mich befand.
LA: Das hätte ja theoretisch auch das endgültige Reiseziel sein können. Warum haben Sie dort keinen Asylantrag gestellt?
VP: Ich hatte Zweifel, denn ich glaubte, dass es sich um die Grenze handelt und ich habe das anhand des Lärms feststellen können. Aber ich weiß nicht, welche Grenze das war. Mein Telefon hatte ich auch bei mir und ich konnte den Standort mitverfolgen. Ich hatte das Telefon zwar ausgeschaltet, aber hin und wieder aktiviert, um zu schauen, wo ich mich gerade befinde.
LA: Sie sagten vorhin, Sie hätten einen Pass beantragt. Wo ist Ihr Pass?
VP: Den nahm ich nicht mit.
LA: Warum?
VP: Weil ich dachte, er hätte mir nichts gebracht. Ich hatte den Reisepass gerade beantragt und ich weiß auch nicht, ob er schon ausgestellt war oder nicht.
LA: Ließen Sie Ihren Pass bewusst zurück oder wurde er Ihnen noch gar nicht ausgefolgt?
VP: Den ersten Reisepass hatte ich verloren. Dann ließ ich erneut einen ausstellen. Aber ich habe dann die Ausfolgung nicht abgewartet.
LA: Was hätten Sie im Falle der Rückkehr in Ihr Heimatland zu befürchten?
VP: Dann wäre ich mit vielen Problemen konfrontiert und es würde mir eine noch viel schwierigere Zeit bevorstehen.
LA: Sind Sie in Ihrer Heimat vorbestraft oder wird nach Ihnen gefahndet?
VP: Ja, ich werde der Unterstützung einer Terrororganisation beschuldigt. Ich glaube, dass im September eine Verhandlung gewesen wäre. Da ich zu dieser Verhandlung nicht erschienen bin, weiß ich nicht, ob eine Fahndung gegen mich eingeleitet wurde.
LA: Sind Sie in einem anderen Land als Ihrer Heimat vorbestraft?
VP: Nein.
LA: Hatten Sie in Ihrer Heimat Probleme aufgrund Ihrer Religion?
VP: Ja, das hat alles eigentlich wegen meiner Religion begonnen.
LA: Ich dachte wegen Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit?
VP: Ach so, ich habe das so verstanden. Das ist richtig.
LA: Hatten Sie Probleme aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit, die noch nicht besprochen wurden?
VP: Nein, das ist alles.
LA: Hatten Sie Probleme aufgrund Ihrer politischen Ansichten, die noch nicht besprochen wurden?
VP: Nein.
LA: Hatten Sie Probleme aufgrund Ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe?
VP: Wie meinen Sie das?
LA: (der VP wird der Begriff der sozialen Gruppe erklärt)
VP: Nein.
LA: Hatten Sie über das Geschilderte hinaus persönliche Probleme mit staatlichen Behörden oder Gerichten in Ihrem Heimatland?
VP: Die Probleme hatte ich mit den Behörden. Wenn ich mir zB etwas ausstellen ließ, bekam ich es nicht.
LA: Haben wir Ihre wesentlichen Probleme heute thematisiert oder nicht?
VP: Ja.
LA: Gibt es Personen in Österreich, die Sie schon aus Ihrem Heimatland kennen?
VP: Nein.
LA: Wer ist römisch 40 ?
VP: Eine Freundin, die in Deutschland lebt. Sie war mir behilflich.
LA: Gibt es Personen in Europa, die Sie schon aus Ihrem Heimatland kennen?
VP: In Deutschland hatte ich Freunde, die zu uns auf Urlaub kamen. Hier nicht, nur in Deutschland.
LA: Haben Sie Angehörige in Österreich?
VP: Ja.
LA: Wen?
VP: Zwei ältere Schwestern und mein älterer Bruder. Meine Tante väterlicherseits und meine Cousins und Cousinen.
LA: Führen Sie in Österreich eine Liebesbeziehung?
VP: Nein.
LA: Bitte schildern Sie mir Ihre schulische Laufbahn.
VP: Ich ging bis zur 1. Klasse Gymnasium, dann wurde ich hinausgeworfen.
LA: Wie viele Jahre sind das?
VP: 9 Jahre
LA: Wieso wurden Sie hinausgeworfen?
VP: Wegen dieser Verfahrensgeschichten.
LA: Haben Sie eine Berufsausbildung?
VP: Ein Diplom habe ich keines.
LA: Wie haben Sie Ihr Leben in der Türkei finanziert?
VP: Feldarbeiten, Gartenarbeiten im Heimatdorf. Und hin und wieder auf Baustellen.
LA: Wie würden Sie Ihre eigene wirtschaftliche Lage in der Türkei einschätzen?
VP: Es reichte nur für meine Familie und mich selbst. Mein Vater ist taub und hat kein Einkommen. Meine Mutter spricht nicht einmal Türkisch und sie ist bettlägerig.
LA: Besteht zu einer Person in Österreich ein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis?
VP: Meine ältere Schwester. Sie heißt römisch 40 und betreibt hier ein Restaurant.
LA: Bekommen Sie Geld von ihr?
VP: Am Tag, als ich im Lager einquartiert wurde, kam sie.
LA: (Frage wird wiederholt)
VP: Hin und wieder.
LA: Wie viel?
VP: Nur so viel ich brauche.
LA: (Frage wird wiederholt)
VP: Hin und wieder mal ein 100er oder 200 Euro.
LA: Wie viel haben Sie seit Sie nach Österreich gekommen sind, circa von ihr bekommen?
VP: Circa EUR 300,--. Denn am Anreisetag hatte ich keine Kleidungsstücke. Es war alles voller Dreck und diese Kleidung kaufte mir meine Schwester.
LA: Hat Ihnen Ihre Schwester Kleidung gekauft oder Geld gegeben?
VP: Sie hat mir Kleidungsstücke gekauft und Taschengeld gegeben.
LA: Also an Bargeld haben Sie circa EUR 300,-- von ihr bekommen, richtig?
VP: Ja.
LA: Wie finanzieren Sie Ihr Leben in Österreich?
VP: Da ich mich zur Zeit im Lager befinde, bekomme ich wöchentlich EUR 45,--. Ich werde, wenn möglich, das Lager verlassen und woanders hingehen. Dann werden mir diese EUR 45,-- Wochengeld eh gestrichen.
LA: Wann haben Sie diese EUR 300,-- bekommen. Können Sie mir das sagen?
VP: Das war ganz am Anfang. Ich hatte keine Schuhe und keine Lebensmittel. Auch keine Kleidungsstücke. Ich kaufte mir Kleidung und Lebensmittel. Ich habe dieses Geld nicht auf einmal bekommen, sondern das ist insgesamt gerechnet.
LA: Haben Sie das Geld schon verbraucht?
VP: Ja. Ich kaufte Kleidung, Schuhe und Lebensmittel. Ich hatte auch keine Wertkarte, ich besorgte mir eine.
LA: Können Sie Gründe namhaft machen, die für Ihre Integration in Österreich sprechen?
VP: Nein, ich kenne hier niemanden. Ich kenne nur meine Verwandten. Es gibt im Lager niemanden, der mich versteht.
LA: Können Sie schon etwas Deutsch?
VP: Nein. Die Zeit ist noch zu kurz. Im Internet schaue ich hin und wieder.
LA: Bitte antworten Sie auf Deutsch: Wie heißen Sie?
VP: (auf Türkisch) Wie bitte?
Anmerkung, Die VP versteht den LA offensichtlich nicht.
LA: Haben Sie einen österreichischen Freundeskreis?
VP: Nein. Im Lager habe ich nur jemanden kennengelernt?
LA: Einen anderen Asylwerber?
VP: ja. Er ist angeblich schon seit mehr als zwei Jahren hier.
LA: Wie heißt er?
VP: Ich glaube römisch 40 .
LA: Sind Sie in Österreich in Vereinen oder ehrenamtlich aktiv?
VP: Nein. Da ich mich nicht außerhalb des Lagers bewege, ich war nur einmal in einem Verein.
LA: Bei welchem Verein waren Sie?
VP: Ein Verein, wo sich Kurden versammeln. Sie hatten untereinander Deutsch gesprochen.
LA: Was müsste passieren, damit Sie wieder in Ihr Heimatland zurückkehren können?
VP: Diese Frage habe ich nicht genau verstanden.
LA: Was müsste sich ändern, damit Sie wieder in die Türkei können.
VP: Ich weiß nicht, wofür sich das Land in meinem Falle entscheiden wird. Ich weiß nicht, was hier passieren wird, ob ich in die Türkei geschickt werde oder nicht. Meine Eltern leben schließlich in der Türkei, wenn ihnen etwas passiert würde ich natürlich zurückkehren. Aber unter diesen Umständen sollte ich nicht in die Türkei zurückkehren. Ich würde nur dann in die Türkei reisen, um meine Eltern sehen zu können. Aber solange ihnen nichts passiert, darf ich auf keinen Fall in die Türkei. Haben Sie noch weitere Fragen an mich?
LA: Warum?
VP: Da ich auch noch etwas zu sagen habe.
LA: Ein paar kurze Fragen habe ich noch, aber sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben.
VP: Ich hätte auch nicht gewollt, hierher zu kommen, denn meine Eltern und alle meine Liebsten sind in der Türkei, ich hätte sie nicht verlassen wollen. Ich war gezwungen, hierher zu kommen. Obwohl ich nichts verbrochen habe, werde ich laufend angehalten, inhaftiert. Ich habe nie Widerstand gegen die Polizei oder die Staatsgewalt geleistet. Nur, weil ich Kurdisch gesprochen habe, wurde das gegen mich verwendet. Ich möchte für mich und meine Familie eine Zukunft. Aber das ist in der Türkei nicht möglich gewesen. Ich habe meinen Ausweg nur in der Flucht gesehen. Was von nun an mit mir geschehen wird, das weiß ich nicht. Ich bin körperlich gesund, ich möchte mir hier etwas schaffen, außer dass ein Ohr taub ist. Ich kann auch hier arbeiten. Ich habe auch einen Beruf, den ich hier ausüben kann. Ich kann für mich selbst sorgen, ich brauche die staatliche Unterstützung nicht. (VP will weiterreden)
LA: Kommt jetzt noch etwas, das für das Verfahren sinnvoll ist?
VP: Nein. Ich möchte, dass mir hier eine Zukunft gewährt wird. In der Türkei wurde mir vieles verwehrt. In der Türkei ist es so, dass einem alles weggenommen wird, was man hat.
LA: Hatten Sie in Österreich Probleme mit Behörden, Polizei oder Gerichten?
VP: Nein.
LA: Wie möchten Sie in Österreich Ihr Leben gestalten? Ich bitte Sie, nicht Ihre ausschweifenden Ausführungen von oben zu wiederholen, sondern sich kurz zu fassen, sollten Sie noch etwas sagen wollen.
VP: Nein, das ist alles, was ich zu sagen habe.
LA: Wenn Sie als Asylwerber an Geld kommen, sind Sie verpflichtet, dies der GVS Salzburg unverzüglich zu melden. Sollte ein gewisser Betrag überschritten werden, sind die Grundversorgungsleistungen einzustellen, da die GVS nur subsidiär ist und droht Ihnen bei Nichtmeldung eine Anzeige wegen Sozialbetrugs. Ist Ihnen dies bewusst? Ein entsprechendes Schreiben mussten Sie in Österreich unterschreiben. Ich werde jedenfalls eine entsprechende Meldung an die GVS und die Polizei erstatten müssen.
VP: Ich hatte ganz am Anfang noch keine Sozialhilfe bekommen. Zwei Tage musste ich im Lager hungern, ich hatte kein Geld, gar nichts. Meine Schwester hat mich dann mit Kleidungsstücken und Lebensmitteln versorgt. Ich hatte noch nicht einmal eine Asylkarte und die EUR 45,-- erhielt ich erst später. (VP wiederholt sich) Insgesamt machte das EUR 300,-- aus. Ich bekam das Geld nicht auf einmal. Seitdem ich hier bin habe ich sonst von niemandem Geld bekommen. Ich versuche, mit den EUR 45,-- auszukommen. Die Zeit am Anfang war schwierig. Ich habe dem Lager auch mitgeteilt, dass ich kein Geld habe und etwas zu Essen möchte. Ich sagte, dass ich im Moment kein Essen bekomme und den morgigen Tag abwarten soll. Ich war 2-3 Mal dort wegen des Essens. Das Geld bekam ich erst als ich den Ausweis erhielt.
LA: Waren Sie in der römisch 40 untergebracht?
VP: Eine Woche musste ich in Quarantäne und dann wurde ich im Lager einquartiert.
LA: (Frage wird wiederholt)
VP: Ich bin seither nur in dem Lager, wo ich jetzt bin.
LA: Haben Sie die EUR 300,-- vor oder nach dem 10.09.2021 bekommen?
VP: Am Tag als ich im Lager einquartiert wurde bekam ich das Geld. Und nicht auf einmal. Als ich mich der Polizei stellte, sagten sie mir, dass ich 3 Tage Zeit hätte, um zum Lager zu gehen und in diesen drei Tagen habe ich das Geld bekommen.
LA: Ihnen werden landeskundliche Feststellungen zur Türkei übergeben. Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, hiezu binnen zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben. Diese dient zusätzlich der Entscheidungsfindung und Würdigung Ihres Vorbringens. Zum Umstand, dass Sie in deutscher Sprache zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert werden, wird auf Folgendes hingewiesen:
Paragraph 39 a, AVG regelt nur den mündlichen Verkehr mit der Behörde, begründet aber keinen Anspruch auf die Verwendung einer fremden Sprache im Schriftverkehr mit den Beteiligten; insbesondere ist die Beifügung einer Übersetzung eines Schriftstückes nicht vorgesehen (Ringhofer römisch eins, 367; VwGH 11.1.1989, Zl 88/01/0187; 1.2.1989, Zl. 88/01/0330).
VP: Da ich in der Türkei gelebt habe, kenne ich die Situation dort.
LA: Wollen Sie das LIB mitnehmen oder nicht?
VP: Wenn es Deutsch ist, wie soll ich es verstehen.
LA: Also nehmen Sie es nicht mit?
VP: Nein, ich nehme es nicht mit.
LA: Ich beende jetzt die Befragung. Haben Sie die Dolmetscherin einwandfrei verstanden?
VP: Ja.
LA: Hatten Sie genug Zeit, Ihre Fluchtgründe zu erörtern?
VP: Ja.
LA: Es wird Ihnen nunmehr die Niederschrift rückübersetzt und Sie haben danach die Möglichkeit noch etwas richtig zu stellen oder Fragen zu stellen.
VP: Ja.
Anmerkung, Die gesamte Niederschrift wird wortwörtlich rückübersetzt.
LA: Haben Sie die Dolmetscherin bei der Rückübersetzung einwandfrei verstanden?
VP: Ja.
LA: Haben Sie nun nach Rückübersetzung Fragen bzw. Einwendungen vorzubringen?
VP: Nein, es gibt keine Einwände. Aber kann ich eine Kopie haben?
LA: Selbstverständlich.
Anmerkung: Die Ergänzung wird rückübersetzt.
Anmerkung: Der VP wird eine Kopie der Niederschrift sowie der Infosheet zur Sonderaktion „Plus EUR 1.000,--“ ausgefolgt. Auf diese Aktion wird ausdrücklich hingewiesen.
LA: Bestätigen Sie nunmehr durch Ihre Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift und die Rückübersetzung!
…“
Im Rahmen der Einvernahme brachte die bP ihren türkischen Personalausweis (Nüfus) im Original sowie mehrere Dokumente in türkischer Sprache in Vorlage.
3. Am 05.11.2021 wurde die bP aus disziplinären Gründen aus der GVS entlassen.
Am 09.11.2021 begründete die bP trotz Wohnsitzbeschränkung einen Wohnsitz in römisch 40 .
Am 23.11.2021 langte beim BFA die Übersetzung der von der bP vorgelegten Beweismittel ein.
4. Mit Bescheid vom 25.11.2021, Zl: römisch 40 , wies das BFA den Antrag gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (AsylG) bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) und gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei (Spruchpunkt römisch II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen die bP gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt römisch VI.). Gemäß Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG wurde ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.).
Das BFA gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung des Status eines asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten eine aktuelle und entscheidungsrelevante Bedrohungssituation nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ein relevantes, die öffentlichen Interessen übersteigendes, Privat- und Familienleben würde nicht vorliegen.
5. Gegen den genannten Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt)
1.1. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:
Die bP ist Staatsangehöriger der Türkei, führt den im Spruch genannten Namen und das dort angeführte Geburtsdatum, gehört der kurdischen Volksgruppe an und ist alevitischen Glaubens. Ihre Identität steht fest. Die bP ist ledig und kinderlos.
Sie stammt aus dem Ort römisch 40 , Herkunftsprovinz Kahramanmaras (Landkreis römisch 40 ), wo sie bis zu ihrer Ausreise im Haus ihrer Eltern wohnte. Die bP besuchte neun Jahre lang die Schule und verfügt über Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft und auf Baustellen. Sie beherrscht die türkische sowie die kurdische Sprache.
Die bP verfügt im Herkunftsstaat über ein familiäres bzw. verwandtschaftliches Netz. Die Eltern, fünf Geschwistern sowie weitere Angehörige entfernteren Grades leben nach wie vor in der Türkei. Die bP hat telefonischen Kontakt zu ihrer Familie in der Türkei.
Aktuell liegen keine relevanten behandlungsbedürftigen Krankheiten vor. Die bP ist auf einem Ohr taub und verfügt über mehrere Narben am Körper, ansonsten ist sie gesund und arbeitsfähig.
Die bP reiste am 03.09.2021 aus der Türkei aus und am 07.09.2021 unrechtmäßig in Österreich ein, wo sie am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die bP verfügt über keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Besuchte Deutschkurse oder abgelegte Deutschprüfungen wurden nicht nachgewiesen.
Sie geht in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach und war von ihrer Einreise in Österreich bis zum 05.11.2021 zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes in Österreich auf staatliche Zuwendungen angewiesen. Anschließend wurde sie aus disziplinären Gründen aus der Grundversorgung entlassen.
In Österreich leben zwei Schwestern, ein Bruder, eine Tante sowie Cousins und Cousinen der bP. Die bP lebt seit 06.12.2021 bei ihrer Schwester in römisch 40 . Die Verwandten der bP sind weder finanziell noch ansonsten von ihr abhängig. Eine besonders intensive Beziehung, die über das normale Maß zwischen Verwandten hinausgeht, besteht ebenfalls nicht. Die bP konnte sich in Österreich noch keinen Freundeskreis aufbauen. Sie ist weder Mitglied eines Vereins in Österreich, noch ehrenamtlich tätig.
Strafrechtliche Verurteilungen liegen in Österreich nicht vor. Die bP verstieß jedoch gegen ihre Wohnsitzbeschränkung gemäß Paragraph 15 c, AsylG, indem sie am 09.11.2021 einen Wohnsitz in römisch 40 begründete. Zu einer rechtskräftigen Bestrafung kam es bisher nicht.
1.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Die bP wurde vom Schwurgericht römisch 40 mit Urteil vom 02.03.2016 wegen Propaganda für die PKK zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt, welche für einen Zeitraum von fünf Jahren zur Bewährung bedingt nachgesehen wurde.
Mit Urteil der 16. Strafkammer des Obersten Gerichtshofs wurde der Berufung der bP gegen ein Urteil des 14. Schwurgerichts Istanbul vom römisch 40 2016 teilweise stattgegeben und die bP von zwei Vorwürfen freigesprochen.
Zwei Verfahren gegen die bP sind in der Türkei noch offen, wobei es sich hierbei um Vorwürfe aus dem Jahr 2016 handelt.
Gegenständlich kann nicht festgestellt werden, dass die bP einer ungerechtfertigten Strafverfolgung ausgesetzt war oder im Falle der Rückkehr wäre.
Es kann nicht festgestellt werden, dass sie bei einem Strafvollzug in einer Haftanstalt real Gefahr liefe, dass hier maßgebliche Rechtsgüter der bP in relevanter Weise verletzt würden.
Die bP ist im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat, konkret ihre Herkunftsprovinz Kahramanmaras (Landkreis römisch 40 ), nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder einer realen Gefahr von Leib und/oder Leben ausgesetzt.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass die bP in ihrem Herkunftsstaat wegen einer unterstellten Sympathie für die Halkların Demokratik Partisi (HDP) oder aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewaltausübung, willkürlichem Freiheitsentzug oder exzessiver Bestrafung durch staatliche Organe ausgesetzt wäre.
Die Gefahr einer in der Türkei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden asylrelevanten Verfolgung der bP aufgrund ihres alevitischen Glaubensbekenntnisses liegt gegenständlich nicht vor.
Es konnte auch keine sonstige Gefahr einer Verfolgung der bP im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei festgestellt werden.
1.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei schließt sich das BVwG den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen der belangten Behörde (Bescheid, Seiten 35-126) an und wird konkret auf die insoweit relevanten Abschnitte hingewiesen:
COVID-19
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns HopkinsUniversität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda759 4740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vergleiche DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt (JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021).
Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die Corona-Infektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen
Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020).
Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021).
Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die
Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021).
Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum OnlineUnterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die
Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks
Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in
Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdoğan auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021).
Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vergleiche Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrik- und Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).
Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Artikel 2, ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten (EC 29.5.2019).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats (Kabinetts) übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Artikel ,). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9).
Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechtsnationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vergleiche HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechtsnationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vergleiche Standard 23.6.2019). İmamoğlu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).
Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDPAbgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vergleiche AAN 17.3.2021) Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).
PACE beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend Parlamentarier der Opposition sind von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum die Parlamentarier der HDP mehrheitlich betroffen sind. Auf letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen. In der Besorgnis, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Oppositionsmandataren zur Routine wird, forderte PACE daher die türkischen Behörden auf, die gerichtlichen Schikanen gegen Parlamentarier zu beenden und von der Einleitung zahlreicher Verfahren zur unzulässigen Aufhebung ihrer Immunität abzusehen, die die Ausübung ihres politischen Mandats ernsthaft behindern (PACE 22.4.2021, S.2f.).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vergleiche ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vergleiche bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).
Sicherheitslage
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vergleiche SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak verstärkt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK-Kämpfern und den Sicherheitskräften (EDA 28.4.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte führen groß angelegte Operationen und Strassencheckpoints durch, bei denen es auch zu Risiken für anwesende Zivilpersonen kommen kann. Auch bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften kann es zu Todesopfern und Verletzten kommen (EDA 28.4.2021). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020).
Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (İHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (İHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe über 5.300 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis April 2021. Im Jahr 2020 wurden 366 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wurden 56 Tote gezählt (ICG 4.5.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 28.4.2021). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (USDOS 30.3.2021, S.25; vergleiche AA 28.4.2021). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 28.4.2021).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).
Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt (ÖB 10.2020).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKKKämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2020).
Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 7.2020)
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der prokurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2020). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKKGuerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2020).
Die International Crisis Group verzeichnet mit Stand 25.3.2021 3.265 getötete PKKKämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Besonders stark betroffen waren die südöstlichen Provinzen: Hakkari, Şırnak, Sur, Diyarbakır sowie die zentral-östliche Provinz Tunceli (Dersim) (ICG 25.3.2021).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Einheiten der PKK in den südost-anatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 7.2020; vergleiche ICG 25.3.2021).
Bei einer der größten Anti-Terror-Operationen in 42 Provinzen wurden Ende November 2020 laut Innenministerium mindestens 641 vermeintliche PKK-Mitglieder festgenommen (Anadolu 28.11.2020). Bis Anfang Dezember hatten 218 PKK-Mitglieder durch die Überzeugungsarbeit der Behörden laut Innenministerium freiwillig ihre Waffen niedergelegt bzw. sich gestellt (Anadolu 3.12.2020).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vergleiche Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 10.2020).
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und die Grundfreiheiten werden weiter eingeschränkt. Dies markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung, der im Land bereits zuvor im Gange war (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte (EC 6.10.2020; vergleiche PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoE-CommDH 19.2.2020; vergleiche EC 6.10.2020, USDOS 30.3.2021, S.1;14f.). Seine Besorgnis über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und -freiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere über den anhaltenden Rückschritt der Türkei in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz brachte im Jänner 2021 auch das Europäische Parlament in einer Resolution zum Ausdruck (EP 21.1.2021). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020). Hinzukommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2020 auf Platz 107 von 128 untersuchten Ländern. Der statistische Indikator verharrte wie 2019 auf dem Messwert von 0,43 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,32 (Rang 123 von 128) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,30 sowie bei der Strafjustiz mit 0,38 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,69, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 11.3.2020).
Gemäß Artikel 138, der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren (insgesamt 13 im Jahr 2019), obwohl dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten HSK infrage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden rund 4.400 Richter und Staatsanwälte entlassen. Bis heute wurden keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig Kommission des Europarates vom Dezember 2016 zu entsprechen, wonach jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB 10.2020). Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden (EC 6.10.2020). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch just am Tag nach Bekanntwerden dieser Garantie erließ der HSK ein Dekret, durch das die Stellen von 3.358 Richtern und Staatsanwälten im Zivil- und Strafrechtsbereich sowie von 364 weiteren Magistraten im Verwaltungsbereich geändert wurden. Insgesamt wurden im Jahr 2019 4.027 Richter und Staatsanwälte versetzt. Abgesehen von Hinweisen auf die Diensterfordernis wurden die Versetzungen nicht begründet (ÖB 10.2020). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020). Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt. Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 10.2020).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend Terrorismus-Vorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 10.2020).
Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise bei der Freilassung des prominenten Philantropen Osman Kavala im Februar 2020, der jedoch auf der Basis einer neuen Anklage im Oktober 2020 wieder festgenommen wurde, oder anderer Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft (FH 3.3.2021).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw. Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 10.2020). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 24.8.2020), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern. Seit der Einführung im September 2012 machten bis 31.12.2020 300.000 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Über 63% der Individualbeschwerden bezogen sich auf die vermeintliche Verletzung hinsichtlich der Gewährung eines fairen Gerichtsverfahrens (HDN 18.1.2021).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht (ÖB 10.2020). Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (ÖB 10.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Da die Friedensrichter allesamt als von der Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2020). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind, und durch die etwa im Jahr 2019 bereits 213.000 Fälle gelöst werden konnten. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100%, so dass es nun in dieser Instanz zu einem erheblichen Rückstau kommt. Im Zuge der COVID-19-Krise wurden zwischen März und Mitte Juni 2020 keine Gerichtstermine vergeben und sämtliche Fristenläufe gehemmt, sodass es zu weiteren Arbeitsrückständen und Verfahrensverzögerungen kam (ÖB 10.2020).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vergleiche IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Justizminister Abdulhamit Gül nahm das nochmalige Urteil des Verfassungsgerichts - infolge der Nicht-Beachtung durch ein lokales Gericht - zugunsten des ehemaligen CHP-Abgeordneten Berberoğlu zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen des Verfassungsgericht laut Rechtsordnung "verbindlich" sind, und das Gesetz es den lokalen Gerichten zwingend vorschreibt, sich daran zu halten (Duvar 22.1.2021).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der GülenBewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 24.8.2020).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Es wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und bis September 2019 321 Anwälte wegen ihrer vermeintlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (ALI 1.9.2019). Die Verhaftungen hielten auch 2020 an. Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am 11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und 7 weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der GülenBewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen-Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihren Rechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 10.2020). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 6.10.2020).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Artikel 102, (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Artikel 102, (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehn-jährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das Anti-Terrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 10.2020).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es zur Suspendierung und Entlassung von über 152.000 öffentlich Bediensteten, welche per Dekret unehrenhaft entlassen oder suspendiert wurden, und deren Namen im Amtsblatt veröffentlicht wurden (ÖB 10.2020).
Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 10.2019). Bis zum 31.12.2020 waren 126.630 Anträge gestellt worden. Davon hatte die Untersuchungskommission 112.310 geprüft und nur 13.170 hatten zu einer Wiederaufnahme geführt, während 99.140 Beschwerden abgelehnt wurden. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen. Es waren noch 14.320 Anträge anhängig (ICSEM 4.2.2021, S.24). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 6.10.2020).
Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen (AI 25.10.2018; vergleiche ÖB 10.2020). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 10.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 10.2020).
Sicherheitsbehörden
Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 24.8.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.1). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, die sich teils aus Wehrpflichtigen rekrutiert, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 24.8.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 10.2020), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2020). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sog. "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 24.8.2020).
Die 2008 abgeschaffte Nachtwache (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse, u.a. Waffeneinsatz und Personenkontrollen, gegen Kritik der Opposition erweitert (AA 24.8.2020; vergleiche BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Festnahmen und Verhöre sind ihnen jedoch nicht erlaubt (TRT 11.6.2020). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKP-Miliz" kritisiert (AA 24.8.2020; vergleiche BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den Einsatz im eigenen Wohnvierteln sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weit verbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Beweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der Nachtwächter bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte Immunität gegenüber dem Gesetz. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 10.2020).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vergleiche FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Geheimdiensten gegenüber dem Parlament sind jedoch nach wie vor begrenzt. Das Sicherheitspersonal genießt weiterhin einen weitreichenden Rechtsschutz. Die Erfolgsbilanz bei der gerichtlichen und administrativen Prüfung von Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte ist weiterhin schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung ist wirkungslos geblieben (EC 6.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vergleiche Ahval 7.1.2021).
Folter und unmenschliche Behandlung
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 24.8.2020). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 10.2020).
Glaubwürdige Vorwürfe von Folter und Misshandlung werden weiterhin berichtet. Folter und Misshandlung kommen nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen und auf der Straße vor (EC 6.10.2020; vergleiche İHD 18.5.2020a). Davon abgesehen kommt es laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 18.5.2020a). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten vier Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen. Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind. Die Staatsanwaltschaft führt keine adäquaten Untersuchungen zu solchen Anschuldigungen durch. Zudem herrscht eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit für Mitglieder der Sicherheitskräfte und betroffene Beamte (HRW 13.1.2021). Solche Vorwürfe gab es seit Ende des offiziellen Besuchs des UNSonderberichterstatters zu Folter im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur GülenBewegung oder zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, Geständnisse zu erzwingen oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (OHCHR 27.2.2018; vergleiche OHCHR 3.2018).
Im Zuge von Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellten die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen blieben ergebnislos. Hierduch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Artikel 9, des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vergleiche EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Die Institution für Menschenrechte und Gleichberechtigung der Türkei (HREI), die als nationaler Präventionsmechanismus fungieren sollte, erfüllt nicht die zentralen Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN CAT) und bearbeitet die an sie verwiesenen Fälle noch nicht effektiv genug (EC 6.10.2020).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin. Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Von systematischer Anwendung der Folter kann nach Wissensstand der Österreichischen Botschaft Ankara dennoch nicht die Rede sein. Nach Angaben des Justizministeriums wurden im Jahr 2019 gegen 1.618 Beamte Untersuchungen wegen Misshandlungsvorwürfen eingeleitet. Lediglich 320 von ihnen wurden verurteilt (ÖB 10.2020).
Gemeinsame Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist GülenAnhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vergleiche Correctiv 11.12.2018, Ha'aretz 11.12.2018).
Nach Angaben der İHD wurden 2019 1.497 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 495 weitere in den Gefängnissen. Über 3.900 Demonstranten wurden während Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 18.5.2020a). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen GendarmerieWache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vergleiche WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
Allgemeine Menschenrechtslage
Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Schutz von Menschenrechtsverteidigern sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 6.10.2020). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 6.10.2020), denn die Konvention und die Rechtsprechung des EGMR werden bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 24.8.2020). Denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020).
Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021; vergleiche EC 6.10.2020).
Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoECommDH 19.2.2020).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 10.2020, S.26) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen in großem Umfang hält an. Neben tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Das Europaparlament sieht die Anti-Terror-Maßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Anti-Terror-Maßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen (EP 13.3.2019).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte der Umgang der Türkei mit den EGMR-Urteilen in den Fällen Selahattin Demirtaş (November 2018) und Osman Kavala (Dezember 2019) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Artikel 18, EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala) (AA 24.8.2020).
Im Jahr 2019 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 113) Verletzungen der EMRK fest, die hauptsächlich die Meinungsfreiheit (35), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), den Schutz des Eigentums (14), das Recht auf ein faires Verfahren (13), unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (12), die Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Leben (5) betrafen (EC 6.10.2020). Mit Stand 31.10.2020 waren 10.150 Verfahren aus der Türkei, das waren 16,6% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 31.10.2020). Dies bedeutet im Vergleich zu den Werten von Ende November 2019 - 8.700 Verfahren und 14,5% aller Fälle - eine nennenswerte Steigerung (ECHR 30.11.2019).
Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Die gesamte traditionelle Medienlandschaft, vom Fernsehen über das Radio bis hin zu den Printmedien, steht unter mehr oder weniger direkter Kontrolle der türkischen Regierung (EJO 5.8.2020; vlg. ÖB 10.2020). Die Mitglieder des Hohen Rundfunkrates (RTÜK) werden vom Parlament ernannt und sind fast ausschließlich Mitglieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) oder ihres politischen Verbündeten, der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) (FH 3.3.2021). In den letzten zehn Jahren haben Präsident Erdoğans Familie und Verbündete aus der Privatwirtschaft mehr als 90% der türkischen Nachrichtensender und Zeitungen erworben und kontrolliert (MDC 15.6.2020; vergleiche ÖB 10.2020). Diese Kontrolle verschafft Erdoğan einen entscheidenden Vorteil bei der Gestaltung des öffentlichen Diskurses zu seinen Gunsten. Die beiden meistverkauften Zeitungen, Sabah und Hürriyet, sind mittlerweile im Besitz von regierungsfreundlichen Medien-Mogulen (MDC 15.6.2020). Die wichtigsten Printmedien und Fernsehsender werden weitgehend von staatlichen Holdinggesellschaften kontrolliert, die wiederum unter massivem Einfluss der regierenden AKP stehen (USDOS 30.3.2021, S.30). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen. Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormem politischen Druck und werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 3.3.2021; vergleiche HRW 13.1.2021, BS 29.4.2020). Human Rights Watch zählte Anfang 2021 87 Journalisten und Medienmitarbeiter, welche wegen ihrer journalistischen Arbeit in Untersuchungshaft waren oder Strafen wegen Terrorismusdelikten verbüßten (HRW 13.1.2021).
Während die Regierung 90% der nationalen Medien mit Hilfe von Regulierungsbehörden wie dem RTÜK kontrolliert, wenden der Pressewerberat (BIK), der staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Präsidialdirektion für Kommunikation (CIB), die Presseausweise ausstellt, eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021).
Tiefgreifende Verschiebungen in den Mediennutzungsmustern haben die Fragmentierung der türkischen Medienlandschaft verschärft und die parteipolitischen und generationsbedingten Unterschiede in der Art und Weise, wie Türken Informationen über die Politik erhalten, vergrößert. In einer Umfrage von Mitte 2018 tritt das weitverbreitete Misstrauen gegenüber den Medien in der türkischen Öffentlichkeit zutage. 70% der Befragten waren der Meinung, dass die Medien "voreingenommene und nicht vertrauenswürdige Informationen präsentieren" (CAP 10.6.2020).
In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagierte die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft. Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62% die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S.28f.).
Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches. Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen (ÖB 10.2020; vergleiche PACE 22.4.2021, S.3, EC 6.10.2020). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung, welche nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) übereinstimmt (PACE 22.4.2021, S.3).
Politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen Journalisten und Medienschaffende, wie z. B. der Fall der Journalistin Melis Alphan, die wegen Verbreitung terroristischer Propaganda angeklagt wurde und mit bis zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis rechnen muss, halten an (EP 21.1.2021). Die unverhältnismäßige Umsetzung der restriktiven Maßnahmen wirkt sich weiterhin negativ auf die freie Meinungsäußerung und die Verbreitung der Stimmen der Opposition aus. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen nach wie vor gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere internationale Standards und weichen von der Rechtsprechung des EGMR ab. Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Schriftstellern und Nutzern sozialer Medien finden nach wie vor statt (EC 6.10.2020; vergleiche PACE 3.1.2020).
Der EGMR hat am 13.4.2021 im Sinne zweier prominenter Journalisten, Ahmet Altan und Murat Aksoy, entschieden, dass deren Inhaftierung unter anderem einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Sicherheit darstelle, und die Türkei beiden Männern eine Entschädigung zahlen müsse, denn in beiden Fällen habe es keine konkreten Beweise für die zur Last gelegten Straftaten gegeben (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Das Gericht stellte im Falle Aksoy, der nach dem Putschversuch wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung bis 2017 - bzw. neuerlich bis Jänner 2019 - in Haft saß, fest, dass es keine plausiblen Gründe für die Inhaftierung gegeben hätte. Altan wurde hingegen wegen Unterstützung des Putschversuches zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem Freispruch durch das Oberste Berufungsgericht (Kassationsgericht) wurde er 2019 wegen "Unterstützung einer Terrorgruppe" zu zehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (DW 13.4.2021; vergleiche bianet 13.4.2021). Der EGMR stellte in seinem Urteil fest, dass kein "hinreichender Verdacht" vorlag, dass Altan vom Putschversuch im Vorhinein wusste, weshalb dessen Inhaftierung unbegründet war (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Bereits tagsdarauf, am 14.4.2021 wurde Altan freigelassen, da das Kassationsgericht die bestehende Verurteilung mit der Begründung aufhob, dass Artikel 220/7 des Strafgesetzbuches, der eine Strafminderung vorsieht, ignoriert wurde bzw. die bereits verbüßte Haft ausreiche (Duvar 14.4.2021; vergleiche SDZ 14.4.2021). Zudem hätte es für die Altan zur Last gelegten Straftaten wie Terrorunterstützung keine Beweise gegeben (DW 14.4.2021).
Im Oktober 2019 führte die Justizreformstrategie zu einer geringfügigen Einengung der Definition terroristischer Propaganda und zu einer Ausweitung des Rechts auf Berufung für diejenigen, die zu einer Haftstrafe von weniger als fünf Jahren verurteilt wurden. Trotzdem wird die überarbeitete Definition von terroristischer Propaganda weiterhin zur Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von Journalisten verwendet. Entgegen klarer Bestimmungen hinsichtlich der Dauer einer Untersuchungshaft werden Journalisten weiterhin willkürlich verhaftet und monatelang eingesperrt (IPI 30.11.2020).
Aufgrund ihrer Berichterstattung werden Journalisten, meist aus den pro-kurdischen Medien, der Beleidigung des Präsidenten und der Nation, der Gefährdung der nationalen Sicherheit und in den letzten Jahren mehr denn je der Propaganda, der Kollaboration mit oder der Zugehörigkeit zu terroristischen Organisationen beschuldigt (EJO 5.8.2020). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 30.3.2021, S.28; vergleiche EJO 5.8.2020). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als Terrorismus-bezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 13.1.2021; vergleiche IPI 30.11.2020). Hinzukommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020). Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020). Mehr als ein Jahr vor dem Prozess im Gefängnis zu verbringen, ist die neue Norm, und lange Gefängnisstrafen sind üblich, in einigen Fällen bis zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung (RSF 2020). Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen und Social Media-Posts (IPI 18.11.2019).
Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die z.B. über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass. Beispielsweise wurden im März 2020 sechs Journalisten wegen der Nennung des Namens eines Geheimdienstmitarbeiters, der in Libyen ums Leben kam, verhaftet, obgleich dessen Identität im Parlament publik gemacht worden war. Erst nach gut einem halben Jahr wurden fünf von ihnen nach einem Schuldspruch entlassen, wobei ein Berufungsverfahren läuft (IPI 30.11.2020).
Die Zahl der inhaftierten Journalisten ist von einem Höchststand von 170 im Jahr 2017 deutlich zurückgegangen. Das Internationale Presseinstitut (IPI) zählte 77 Journalisten, die Anfang Oktober 2020 hinter Gittern waren. Nichtsdestotrotz bleibt die Türkei laut IPI im Spitzenfeld jener Länder, welche die meisten inhaftierten Journalisten weltweit verzeichnen (IPI 30.11.2020). Die Türkei verbesserte sich lediglich um einen Rang im World Press Freedom Index 2021 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] den Platz 153 von 180 Ländern belegend (RSF 4.2021).
Die weitverbreitete Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs und der allgemeine Rechtsrahmen ermöglichen es der Exekutive, Online-Inhalte ohne Gerichtsbeschluss aus einer Vielzahl von Gründen zu blockieren. Die derzeitige Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten sowie das Strafgesetzbuch behindern die Meinungsfreiheit und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 6.10.2020). Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media-Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-MediaKonten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021).
Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen, mit mehr als einer Million Nutzer täglich, von gerichtlicher Seite als verboten eingestufte Inhalte binnen 48 Stunden zu löschen oder zu sperren. Dabei werden erhebliche Strafandrohungen, einschließlich Geldstrafen bis zu ca. fünf Millionen Dollar, die Drosselung der Internet-Geschwindigkeit (bis zu 90%) oder ein Werbeverbot für die Dienste der besagten Plattform angedroht (BAMF 5.10.2020; vergleiche FNS 25.11.2020, FH 14.10.2020, ÖB 10.2020). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Soziale-Medien-Plattformen mit mehr als einer Million Zugriffen pro Tag aus der Türkei müssen mindestens einen Repräsentanten in der Türkei ernennen. Dieser muss türkischer Staatsangehöriger sein. Seine Kontaktdaten müssen auf der Webseite direkt sichtbar sein (ÖB 10.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK wird die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet sein, Internet-Hosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die Internet-Plattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020). Trotz durchaus begrüßenswerter Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 10.2020). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils 10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social-Media-Giganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Representanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020). Zunächst haben nur Institutionen das Recht, die Sperrung oder Löschung von Inhalten zu verlangen. Den Bürgerinnen und Bürgern soll diese Möglichkeit ab Mitte 2021 zustehen (FNS 25.11.2020).
Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (PACE 22.4.2021, S.4; vergleiche TM 8.4.2021). Das Urteil könnte laut Aussagen von Juristen für mehr als zehn Medien positive rechtliche Konsequenzen haben, nicht jedoch für jene Medienhäuser, denen meist ein Naheverhältnis zur Gülen-Bewegung unterstellt wurde, die namentlich im Dekret genannt werden (TM 8.4.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht, die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (AM 24.3.2020). Innerhalb der ersten 42 Tage der Corona-Krise wurden laut Innenminister 402 Personen nach Durchsuchung von 6.000 Accounts wegen angeblicher Verbreitung "falscher und provokativer" Posts in sozialen Medien festgenommen. Begründet wurde dies damit, dass die Beiträge u.a. einen Versuch zur Verbreitung von Panik in Bezug auf den Coronavirus darstellten, oder die Anschuldigung in Richtung Regierung zu wenig gegen die Eindämmung des Virus getan und hinsichtlich der Todes- und Infektionszahlen gelogen zu haben, darstellten (France24 27.4.2020; vergleiche FNS 16.3.2020). Zu den Betroffenen gehörten auch Mediziner, die in ihren Beiträgen die Bürger über grundlegende Gesundheitsvorkehrungen informierten, und vor der Unzulänglichkeit staatlich empfohlener Maßnahmen warnten (POMED 17.4.2020).
Der Ausbruch des Coronavirus in der Türkei veranschaulichte den Anstieg des öffentlichen Misstrauens gegenüber den Medien als auch die Fragmentierung hinsichtlich des Weges, wie die Bürger ihre Informationen beziehen. Viele Türken, die an der Integrität der traditionellen Medien zweifeln, haben die rosige Berichterstattung über die Reaktion der Türkei auf die Pandemie mit Skepsis betrachtet und sich stattdessen den sozialen Medien zugewandt (CAP 10.6.2020).
Im Herbst 2020 standen medizinische Vereinigungen, wie die Türkische Ärztekammer (TTB) im Schussfeld der Kritik seitens der Staatsspitze, da sie die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Corona-Krise ebenso kritisierten wie die mangelnde DatenTransparenz des Gesundheitsministeriums. Mitte Oktober 2020 verlangte Staatspräsident Erdoğan den Einfluss der Ärztekammer und anderer Berufsverbände gesetzlich einzuschränken, da diese seiner Meinung nach in einem unerträglichen Ausmaß gegen die Verfassung handelten. Überdies warf der Staatspräsident der Spitze der Ärztekammer die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Der Vorsitzende der ultra-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Regierungspartner der AKP, Davlet Bahçeli, beschuldigte die Ärztekammer, "den Terrorismus zu preisen" (AM 15.10.2020; vergleiche BI 14.10.2020).
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020; vergleiche AA 24.8.2020), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können. Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem BlankoBann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 10.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2020 in Kraft. Das ganze Jahr 2020 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 30.3.2021, S.42).
Die Europäische Kommission sah 2020 weitere Rückschritte hinsichtlich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, wobei die Gesetzgebung und ihre Umsetzung nicht im Einklang mit europäischen Normen stehen und sich nicht an die türkische Verfassung halten. Wiederkehrende Verbote, unverhältnismäßige Interventionen und übermäßige Gewaltanwendung bei friedlichen Demonstrationen, Ermittlungen, Verwaltungsstrafen und strafrechtliche Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf Terrorismus-bezogener Aktivitäten wurden weiterhin gemeldet (EC 6.10.2020). Infolgedessen haben heute viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 24.8.2020). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, wurden Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition ebenso verboten wie Demonstrationen oder Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021; vergleiche BS 29.4.2020).
Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI und Minderheiten (ÖB 10.2020). Auch Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020).
Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2018 Ermittlungen gegen 8.728 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 4.837 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 18.5.2020b). Unabhängigen Beobachtungen zufolge haben die Sicherheitskräfte zwischen April 2019 und Dezember 2019 bei mindestens 1.138 friedlichen Zusammenkünften und Demonstrationen interveniert, bei denen mindestens 2.851 Personen festgenommen wurden (EC 6.10.2020). Die türkische Menschenrechtsvereinigung İHD zählte hingegen für das gesamte Jahr 2019 1.344 Interventionen und 3.741 Festnahmen. Laut İHD wurden 3.935 Personen während Versammlungen oder Protesten von Sicherheitskräften geschlagen und verletzt, der höchste Wert in den vergangenen fünf Jahren (İHD 18.5.2020b).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 30.3.2021, S.40).
Im Jahr 2019 fällte das Verfassungsgericht in 37 Einzelanträgen Urteile zur Versammlungsfreiheit, wobei es in 19 dieser Anträge eine Verletzung und in 7 davon keine Verletzung feststellte. Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies ist das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020).
Vereinigungsfreiheit
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-Terror-Gesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 30.3.2021, S.42).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.44). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS 30.3.2021, S.44). Ein Antrag des Vereins für Menschenrechte auf Aufhebung der Bestimmung scheiterte und wurde vom Staatsrat [Anm.: entspricht in etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof] abgewiesen. Das Berufungsverfahren läuft (Stand Oktober 2020) (ÖB 10.2020).
Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen war, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und 19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurden (ICSEM 4.2.2021, S.9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 30.3.2021, S.42).
Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 3.3.2021).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 30.3.2021, S.42).
Auswirkungen der COVID-19 Pandemie
Pandemie-bedingte Regeln zur sozialen Abstandsregelung sind oft selektiv angewandt worden, um die Auflösung von nicht genehmigten Demonstrationen im Jahr 2020 zu rechtfertigen (FH 3.3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.41). So haben, unter dem Vorwand von Covid-19, Provinzgouverneure friedliche Proteste von Frauenrechtsaktivistinnen und aktivisten, Beschäftigten im Gesundheitswesen, Anwälten und politischen Oppositionsparteien verboten (HRW 13.1.2021).
Opposition
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die Behörden schränken die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien, deren Anführer und Funktionäre ein, unter anderem durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. die Organisation von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien. Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker, die der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), angehören (USDOS 30.3.2021, S.53). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister, fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020).
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 aufgrund politisch motivierter Vorwürfe hinter Gittern sitzt, als Terrorist, und leugnete nebenbei die Existenz eines Kurdenproblems in der Türkei (TM 25.11.2020). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Hinzukam, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) äußerten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Gemeindevertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 24.1.2021; vergleiche DS 15.5.2020). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei sie oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019).
Laut Angaben der HDP sind (Stand September 2020) zwischen Juni 2015 und September 2020 22.321 Parteimitglieder festgenommen worden. Allein in den ersten beiden Jahren landeten 3.647 im Gefängnis. So sollen sich von den rund 22.000 noch 10.000 Mitglieder in Haft befinden (HDP 5.11.2020). Andere Quellen sprechen von lediglich 5.000 inhaftierten Parteifunktionären und Mitgliedern (Stand März 2020) (AA 24.8.2020).
Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, hält an. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (seit vier Jahren) sowie sieben weitere gewählte HDP-Abgeordnete sind weiterhin im Gefängnis (Stand Oktober 2020). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) forderte nach 2018 in einem Urteil im Dezeber 2020 neuerlich die sofortige Freilassung von Demirtaş. Die Große Kammer des EGMR entschied, unter anderem seien sein Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt worden. Die Türkei wurde zu einer Entschädigungszahlung von 60.400 Euro an Demirtaş verurteilt (ZO 22.12.2020). Während ein Gericht in Ankara das Urteil mit der Begründung zurückwies, dass keine türkische Übersetzung vorliege, bezeichnete Staatspräsident Erdoğan die Entscheidung des EGMR als politisch motiviert, wobei sich das Gericht somit hinter Terroristen stelle (Standard 26.12.2020). Während umgekehrt der EGMR die lange und unrechtmäßige Untersuchungshaft gegen Demirtaş als politisch motiviert sah, forderte das Europäische Parlament im Jänner 2021 auf Basis des EGMRUrteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDP-Mitglieder, die sich in Haft befinden, betonend, dass die türkischen Behörden ihnen die Ausübung ihrer demokratischen Mandate unabhängig und frei von Drohungen und Behinderungen garantieren müssen (EP 21.1.2021).
Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, wurden unterdessen nicht behoben. Anfang Juni 2020 wurde ein Parlamentsabgeordneter der Republikanischen Volkspartei (CHP) und zwei der HDP aufgrund gerichtlicher Verurteilungen aus dem Parlament ausgeschlossen (AP 4.6.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Gegen die aktuellen HDP-Ko-Vorsitzenden und andere Abgeordnete sowohl der HDP als auch der CHP wurden aufgrund ihrer Äußerungen zur Militäroperation "Friedensquelle" (2019) im Nordosten Syriens gerichtliche Untersuchungen eingeleitet (EC 6.10.2020). Am 17.3.2021 entzog das türkische Parlament dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Immunität und das Mandat. Gergerlioğlu war am 19.2.2021 vom Obersten Kassationsgericht wegen Terrorismus-Propaganda infolge eines Re-Tweets eines, bis dato nicht inkriminierten, Interviews mit einem PKK-Kommandanten zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden (ÖB 18.3.2021; vergleiche BAMF 22.3.2021). Hier handelte es sich um die Bestätigung eines Urteils vom Februar 2018. Der Grund für die Strafe wegen Verbreitung terroristischer Propaganda war, dass Gergerlioğlu im August 2016 in einem Tweet den türkischen Staat u.a. ermutigte, eine friedliche Lösung für die anhaltenden Auseinandersetzungen mit der PKK zu suchen (AM 17.3.2021). Das Verfassungsgericht lehnte letztlich am 31.3.2021 eine Beschwerde Gergerlioğlus ab (ZO 31.3.2021).
Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 mit einer Gefängnisstrafe von fast zehn Jahren bestraft, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. In der zweiten Juni-Hälfte 2020 wurde das Urteil von einem Berufungsgericht bestätigt. Die CHPPolitikerin kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Allerdings wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Das Europäische Parlament zeigte sich ob der politischen und gerichtlichen Schikanen gegen Canan Kaftancıoğlu besorgt und sah die Anklagen als politisch motiviert an (EP 21.1.2021)
Schon in der Periode vor den letzten Lokalwahlen vom März 2019 waren im Zuge der Notstandsdekrete bis Ende 2017 insgesamt über 90 gewählte Gemeindeverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, vereinzelt Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 14.6.2019; vergleiche PACE 24.1.2019, TM 3.9.2019, DS 4.9.2019). Bei den jüngsten Lokalwahlen am 31.3.2019 wurden im ersten Fall Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 24.8.2020). Nebst den sechs siegreichen HDP-Bürgermeisterkandidaten wurde 88 gewählten Gemeinderatsmitgliedern der HDP vom Innenministerium die Akkreditierung verweigert, angeblich wegen anhängiger strafrechtlicher Ermittlungen (HDP 18.11.2019). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismusbedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vergleiche AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vergleiche DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt (bianet 9.3.2020). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Die Entlassung der Bürgermeister hat Kritik seitens der EU und des Europarates ausgelöst, da ihre Entlassung die Ergebnisse der Wahlen vom März 2019 infrage stellt (Ahval 20.8.2019; vergleiche CoE 20.8.2019, EU 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer großangelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).
2020 setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDPBürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP, denen die Regierung Verbindungen zur PKK vorwarf, Mitte Mai 2020 festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt. Er forderte in einer Erklärung die Türkei auf, Maßnahmen aufzuheben, die das Funktionieren der lokalen Demokratie behindern (Duvar 19.5.2020).
Mehr als 50 Personen wurden am 14.7.2020 in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, darunter die Sprecherin der Freien Frauenbewegung (TJA) wurde vorgeworfen, Verbindungen zur PKK zu haben. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die HDP-Ko-Bürgermeisterin für Diyadin im türkischen Agri-Distrikt, festgenommen und durch einen staatlichen Treuhänder ersetzt worden war (AM 14.7.2020).
Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP-Abgeordneten zu beantragen. Unter den Festgenommenen befanden sich prominente Politiker wie der Ko-Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, und der frühere Parlamentarier Süreyya Önder, der im Auftrag der türkischen Regierung über Jahre hinweg zwischen dem türkischen Staat und dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan vermittelt hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet. Mehrmalige parlamentarische Anträge der HDP die Vorfälle zu untersuchen, wurden damals von der AKP und der rechtsnationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) abgelehnt (FAZ 27.9.2020; vergleiche HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vergleiche SDZ 7.1.2021).
Mit der Festnahme bzw. Amtsenthebung der beiden Ko-Bürgermeister von Kars Anfang Oktober 2020 (bianet 2.10.2020) waren (Stand Ende November 2020) in 59 der insgesamt 65 Gemeinden, die die HDP bei den Lokalwahlen im März 2019 gewonnen hatte, die Bürgermeister abgesetzt und die meisten durch staatliche Treuhänder ersetzt (Duvar 25.11.2020). 18 der ursprünglich 37 Ko-Bürgermeister standen im September 2020 noch unter Arrest (HDP 5.11.2020). Kritik kam u.a. von seiten des Europarates. Der Präsident des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, Anders Knape, zeigte sich zutiefst besorgt über die anhaltenden Verhaftungen von demokratisch gewählten Vertretern der Opposition. Die jüngste Entscheidung der Behörden, den Bürgermeister von Kars, Ayhan Bilgen, wegen angeblicher terroristischer Verbindungen aus seinem Amt zu verdrängen, sei ein weiterer Versuch, die lokale Selbstverwaltung des Landes zu untergraben und Millionen von Wählern das Recht zu verwehren, ihrem Wählerwillen gerecht zu werden (CoE 1.10.2020).
Mitte Februar wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKK-Geiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vergleiche Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen festgenommen (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar. Der Kommunikationsdirektor der Regierung, Fahrettin Altun, etwa bezeichnete die HDP als politischen Arm der PKK, welcher die PKK-Gewalt loben und billigen würde (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verhalftet (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021).
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u.a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKK-Führung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDP-Mitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDPMitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vergleiche Duvar 18.3.2021).
In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021). Der Verfassungsgerichtshof wies am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vergleiche AM 9.4.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition während der COVID-19-Krise sind deutlicher geworden. Die bürgerlichen Freiheiten wurden weiter beschnitten (IDEA 6.4.2021). Spannungen zwischen Erdoğan und dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, von der CHP wurden im Frühjahr 2020 evident. Entgegen Erdoğans Weisungen hatte der Bürgermeister eine Abriegelung Istanbuls befürwortet und eine eigene Spendenkampagne gestartet (Reuters 1.4.2020). Im weiteren Verlauf nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung hat auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen, vor allem der HDP, verboten, regierungsfreundliche Veranstaltungen hingegen erlaubt (USDOS 30.3.2021, S.41).
Haftbedingungen
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 10.2020). In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen (AA 24.8.2020). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinaus gehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 30.3.2021). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 10.2020). Die Regierung gestattete es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 30.3.2021, S.10).
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S.38). Die Zahlen hinsichtlich der Gefängnisinsassen bzw. der Haftplätze variieren je nach Quelle. Die Civil Society in the Penal System Association (CİSST), eine türkische auf Gefängnisse spezialisierte NGO, zählte mit April 2021 282.703 Gefängnisinsassen, inklusiver jener in offenen Vollzugsanstalten, bei einer Gesamtkapazität von 200.230. Darunter befanden sich rund 3.000 Kinder unter 18 Jahren. 743 Kinder lebten bei ihren Müttern im Gefängnis (CİSST 27.4.2021). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13% der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020). Das Justizministerium lässt weitere 26 Gefängnisse bauen, während 17 Haftanstalten 2020 renoviert wurden, um die steigende Anzahl von Insassen bewältigen zu können, die sich laut Ministerium von 120.000 im Jahr 2010 auf fast 251.000 Ende 2020 mehr als verdoppelt hat (Ahval 3.4.2021). Die Türkei hat (Stand Mai 2020) mit 344 Gefängnisinsassen auf 100.000 Einwohner die zweithöchste Inhaftierungsrate aller OECDLänder (OECD 30.3.2021). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S.4f.; S.32 Tab.), wobei sich erstere in den letzten zehn Jahren mit einem Anstieg um 115% mehr als verdoppelte (CoE 30.3.2021, S.34 Tab.)
Mit Stand vom 10.3.2021 gibt es in der Türkei 374 Gefängnisse, darunter 267 geschlossene Gefängnisse, 80 abgetrennte offene Gefängnisse, 9 geschlossene Gefängnisse für Frauen, 7 offene Gefängnisse für Frauen, 4 Erziehungshäuser für Kinder und 7 geschlossene Gefängnisse für Kinder. Geschlossene Gefängnisse und Hochsicherheitsgefängnisse sind weiter in Typen unterteilt, z. B. geschlossene Gefängnisse vom Typ A oder Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F (DIS 31.3.2021, S.1).
Die Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EC 6.10.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBTPersonen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S.1).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S.1).
Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben. Die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen sind nach wie vor weitgehend wirkungslos. Auch die Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), die als Nationaler Präventionsmechanismus (gemäß Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter) fungieren soll, ist nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020).
An Orten, an denen es keine speziellen Gefängnisse gibt, werden Minderjährige in getrennten Abteilungen innerhalb der Gefängnisse für männliche und weibliche Erwachsene untergebracht. Kinder unter sechs Jahren können bei ihren inhaftierten Müttern bleiben. Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 30.3.2021, S.8; vergleiche DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z.B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S.29). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S.19), zuletzt z.B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021).
LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt, obwohl es immer noch Berichte über Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Erniedrigung gibt, insbesondere von transsexuellen Häftlingen (DFAT 10.9.2020). Laut der türkischen NGO Civil Society in the Penal System Association (CİSST), gehören Mitglieder von sexuellen Minderheiten zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S.48).
Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter speziellen Einschränkungen, darunter lange Einzelhaft, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung (USDOS 30.3.2021, S.21; vergleiche PI 2.2018). In Medienberichten wurde auch behauptet, dass Besucher von Häftlingen mit Terrorbezug Übergriffen, und Insassen Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt waren. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 30.3.2021, S.21). Das türkische Strafgesetzbuch sieht außerdem vor, dass Haftstrafen zwar für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden, nicht jedoch, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019).
Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 30.3.2021, S.9).
Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft. Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden seien (CoE-CPT 5.8.2020).
Kurdische Häftlinge
Mit Beginn des Ausnahmezustands wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S.16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S.30;68). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S.30;68), sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S.30;68; vergleiche İHD 23.10.2020, S.7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novelen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen KurdischTürkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S.55).
Hochsicherheitsgefängnisse
In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und T-TypGefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Frauen werden entweder in Frauengefängnissen oder in den Frauenabteilungen der Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F oder D untergebracht. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S.11-13). Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen zu halten oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, S.4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S.70). Viele HDP- oder hochrangige Personen befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDP-Mitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, Sitzung 36).
Isolationshaft
Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S.26). Im Einjahreszeitraum von 27.4.2020 bis 27.4.2021 zählte die NGO CİSST 1316 Menschenrechtsverletzungen an Gefangenen, wobei 12,5% hiervon auf die Verhängung der Isolationshaft zurückzuführen waren (CİSST 27.4.2021). Auch bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11% aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren wegen schwerer lebenslänglicher Haftstrafen läuft. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S.26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem gemäß sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S.25.) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihrer Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, S.48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen waren von dieser neuen Bestimmung betroffen. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der allzu weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020; vergleiche AA 24.8.2020, DFAT 10.9.2020). Der ständige Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Türkei kritisierte den Ausschluss von Untersuchungshäftlingen und jenen, die wegen ihrer politischen Aktivitäten inhaftiert sind, von der neuen Gesetzeslage. Stattdessen hätten die türkischen Regierungsparteien beschlossen, das Leben von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und denjenigen, die sie als politische Gegner betrachten, bewusst dem Risiko einer tödlichen Erkrankung an COVID-19 auszusetzen (EP 15.4.2020).
Die in den Gefängnissen Verbliebenen erleben durch die Corona-bedingten Quarantänemaßnahmen erschwerte Haftbedingungen und Einschränkungen ihrer Rechte. Erschwerend komme laut Menschenrechtsverteidigern hinzu, dass wegen der Pandemie keine externen Kontrollen, etwa des Wachpersonals, in den Gefängnissen durchgeführt werden können. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) berichtet von gravierenden Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch erhalten zu haben. Zudem wurde infolge der Lage Insassen über mehrere Monate hinweg der Besuch durch ihre Anwälte verwehrt. Nicht zuletzt wächst auch die Not kranker Häftlinge, da ihre Behandlung häufig wegen Corona unterbrochen worden ist (DW 17.3.2021).
NGOs bezeichneten die COVID-Situation in den Haftanstalten bereits im Frühjahr 2020 als alarmierend. Gefangene können Reinigungs- und Hygieneprodukte nur gegen eine Gebühr in der Kantine erhalten. Häftlinge wurden nur in Notfällen ins Krankenhaus eingeliefert, und die 14-tägige Quarantänezeit nach einem Krankenhausbesuch konnte aufgrund des Ärztemangels in den Gefängnissen nicht eingehalten werden. Das Personal, das außerhalb der Gefängnisse arbeitet, trägt angeblich keine Schutzbekleidung, und an den Eingängen und in den Warteräumen der Anwälte in den Gefängnissen sind keine Desinfektionsmittel erhältlich (EPO 15.5.2020).
Die türkische NGO CİSST berichtet, dass die engen Verhältnisse, auch infolge der Überbelegung, sowohl in den Zellen als auch in den Speisesälen ein grundlegendes Problem hinsichtlich der COVID-19-Epedemie darstellen. Was die Hygienemaßnahmen anlangt, so wurden zu Beginn der Epidemie die Gefängnisse regelmäßig desinfiziert. Die diesbezügliche Frequenz hat jedoch abgenommen. In einigen Gefängnissen wurden einige Stationen in Quarantänestationen umgewandelt, während andere immer mehr überfüllt sind, sodass dort keine Frischluft zirkulieren kann. Mancherorts ist dies überdies den kleinen Fenstern geschuldet. In einigen Gefängnissen führen die Gefängnisbeamten Leibesvisitationen und Inspektionen durch, ohne die Regeln des Social Distancing einzuhalten bzw. ohne Masken zu tragen. Während der Zelleninspektionen werden die Gefangenen nicht mit Masken ausgestattet. Seifen, Bleich- und Desinfektionsmittel werden nur in einigen Gefängnissen kostenlos verteilt. Obwohl einige Gefangene glaubten, die Symptome von Covid-19 zu haben, wurden ihre Bitten, getestet zu werden, nicht erfüllt. Aufgrund der Maßnahmen gegen Covid-19 mussten einige weibliche Gefangene ihre Kinder im Alter von 0-6 Jahren dem anderen Elternteil überlassen, sodass sowohl die Frauen als auch ihre Kinder negativ betroffen waren (CİSST 1.3.2021).
Nach Angaben der Gefängnisbehörde gab es (Stand 18.2.2021) in 55 der 372 türkischen Gefängnisse positive Covid-19-Fälle. Insgesamt seien 240 Häftlinge infiziert und seit Beginn der Pandemie 19 Menschen in Haft an Covid-19 gestorben. Die Zahlen stoßen bei türkischen NGOs jedoch auf Skepsis, da es viele Beschwerden gab, wonach Gefangene mit Covid-19-Symptomen nicht getestet worden waren. Zudem bestünde eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen und den Angaben von Familienangehörigen, Anwälten und Abgeordneten (DW 17.3.2021).
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 10.6.2020), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 10.2020; vergleiche BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 10.2020). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolischorthodoxe Christen, Juden und griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 10.6.2020). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'is, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 10.2020). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 10.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgemeinschaften dürfen keine Stiftungen gründen. Seit 2004 dürfen sie sich allerdings legal als Vereine organisieren (AA 24.8.2020).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 10.6.2020).
Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der "Provozierung von Hass und Feindseligkeit" vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es religiösen Führern, wie Imamen, Priestern und Rabbinern, die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden, oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 10.6.2020). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter Journalisten, die 2016 französische Charlie-Hebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 10.6.2020). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 77,5% davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2% der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 5% aller Muslime ausmachen. 4% der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 10.6.2020; vergleiche BMZ10.2020). Die nichtmuslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'is. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.000 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 10.6.2020).
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservatismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019). 3% bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1% - und 2% als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vergleiche USDOS 10.6.2020). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55% auf 51%, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99% steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60% als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).
Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 3.3.2021). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NL-MFA 31.10.2019).
Im Jahr 2020 hat sich die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei weiterhin besorgniserregend entwickelt. Die Regierung unternahm wenig bis gar keine Anstrengungen, um viele seit langem bestehende Probleme im Bereich der Religionsfreiheit anzugehen, und sie ignorierte die anhaltenden Angriffe auf und die Zerstörung von Eigentum religiöser Minderheiten im ganzen Land. Trotz wiederholter Bitten seitens der Gemeinden religiöser Minderheiten um die Erlaubnis, interne Vorstandswahlen für nicht-muslimische Stiftungen abzuhalten, hat die Regierung diese Wahlen 2020 nicht zugelassen. Viele religiöse Minderheiten fühlten sich weiterhin im Zusammenhang mit Vorfällen bedroht, die von nicht-staatlichen Akteuren oder aufgrund von direktem Druck seitens des Staates verübt wurden. Alevitische, armenische und protestantische Gemeinden und Organisationen berichteten, dass sie Morddrohungen erhalten haben. Die Behörden erhoben politisch motivierte Anklagen wegen Blasphemie gegen Einzelpersonen und Gruppen, während offizielle Vertreter des Staates durch Hassreden und die Verunglimpfung nicht-religiöser Personen auffielen. Religiöse Stätten - einschließlich Gotteshäuser und Friedhöfe - waren Vandalismus, Beschädigung und in einigen Fällen Zerstörung ausgesetzt, was die Regierung regelmäßig nicht verhinderte oder bestrafte (USCIRF 4.2021, S.82).
Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden (EC 6.10.2020; vergleiche BMZ 10.2020), inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (USCIRF 4.2020; vergleiche BMZ 10.2020), sowie Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten werden weiterhin verübt. Um alle diskriminierenden Elemente gegen Religionen und Glaubensgruppen zu beseitigen, benötigen auch die Schulbücher eine Überarbeitung (EC 6.10.2020).
Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an, wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USDOS 30.3.2021, S.68; vergleiche USCIRF 4.2021, S.82). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant Dink Foundation über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S.68).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKPRegierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht (USDOS 10.6.2020). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandregister eingetragen. - Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr in dem Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. - Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Somit sind Atheisten, Agnostiker, Aleviten, andere nichtsunnitische Muslime, Baha'i, Jesiden oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, nicht vom Unterricht befreit (USDOS 10.6.2020).
Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Sunniten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (AA 24.8.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nichtmuslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 10.2020). Mitglieder von Minderheiten werden in der Arbeitswelt diskriminiert, insbesondere wenn der Arbeitgeber Verbindungen zur Regierung hat. Zudem ist die Religion auf den Identitätsausweisen vermerkt, wodurch die Diskriminierung bei einer Stellenbewerbung erleichtert wird (OD 15.1.2020).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (BMZ 10.2020; vergleiche USDOS 10.6.2020, OD 15.1.2020) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 10.6.2020). Den Islam zu verlassen gilt als Verrat an der türkischen Identität und innerhalb der Familie als Schande, denn die vorherrschende Ansicht angesichts der Verknüpfung von Religion und Nationalismus ist, dass ein "wahrer" Türke Muslim ist (OD 15.1.2020). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 24.8.2020).
Aleviten
Alevi ist die Bezeichnung für eine große Zahl von heterodoxen schiitischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen Merkmalen. Damit bilden die Aleviten die größte religiöse Minderheit in der Türkei. Technisch gesehen fallen sie unter die schiitische Konfession des Islam, folgen aber einer grundlegend anderen Interpretation als die schiitischen Gemeinschaften in anderen Ländern. Sie unterscheiden sich auch erheblich in ihrer Praxis und Interpretation des Islam von der sunnitischen Mehrheit (MRGI 6.2018a). Während die meisten Aleviten ihren Glauben als eigenständige Religion betrachten, identifizieren sich einige als Schiiten oder Sunniten oder sehen ihre alevitische Identität überwiegend in einem kulturellen und nicht religiösen Rahmen. Aleviten sind meist säkular und unterstützen eine strikte Trennung von Religion und Politik (DFAT 10.9.2020).
Die Zahl der Aleviten ist umstritten. Schätzungen aus verschiedenen Quellen variieren beträchtlich, von etwa 10% bis zu 40% der Gesamtbevölkerung. Aktuelle Zahlen deuten auf eine Zahl von 20 bis 25 Millionen hin (MRGI 6.2018a). Die türkische Regierung erkennt die Aleviten nicht offiziell an, weshalb sie bei Volkszählungen zu den Muslimen hinzugezählt werden (Gatestone 18.1.2018; vergleiche DFAT 10.9.2020). Viele Aleviten sind auch Kurden, obwohl die geschätzten Zahlen wiederum sehr unterschiedlich sind (zwischen einer halben und mehreren Millionen). Kurdische Aleviten identifizieren sich primär eher als Aleviten (DFAT 10.9.2020). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollen. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRGI 6.2018a). Während die Aleviten über die ganze Türkei verstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95%) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 10.9.2020).
Das Alevitentum wird offiziell nur als kulturelles Phänomen, nicht aber als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevi) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind, und dies trotz anders lautender Urteile des Obersten Berufungsgerichtes (Kassationsgericht) vom November 2018 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (USDOS 10.6.2020; vergleiche ÖB 10.2020, FH 3.3.2021). Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB 10.2020). Dies hat auch den Ausschluss von staatlichen Zuwendungen zur Folge (FH 3.3.2021). Mitglieder der Regierungspartei (AKP) und ihres Koalitionspartners (MHP) lehnen Bestrebungen ebenso ab, alevitische Versammlungshäuser als Gebetsstätten anzuerkennen, wie andere Belange der Religionsfreiheit, die Aleviten betreffend, zu lösen (USCIRF 4.2021, S.82). Führungspersönlichkeiten der Aleviten nannten die Anzahl der 2.500 bis 3.000 Gebetshäuser als unzureichend, um die Bedürfnisse der Gläubigen zu befriedigen. Der Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet erklärte im März 2018, dass Moscheen der geeignete Ort der Religionsausübung sowohl für Sunniten als auch für Alevis seien. Diese Position wird auch weiterhin von der Regierung eingenommen (USDOS 10.6.2020).
Die türkische Regierung hat den Aktionsplan, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt wurde und sich auf Entscheidungen des EGMR über Cemevi und obligatorischen Religionsunterricht bezieht, nicht umgesetzt. Andererseits dürften inzwischen erste Schritte zur Umsetzung eines EGMR-Urteils aus 2016 hinsichtlich der Verletzung der Religionsfreiheit und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gesetzt worden sein (ÖB 10.2020).
Als zweitgrößte religiöse Gruppe des Landes werden die Aleviten von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als fremd und unzuverlässig angesehen (BMZ 10.2020). Die Aleviten sehen sich weiterhin mit Hassverbrechen konfrontiert, jedoch haben sich die Ermittlungen bisher als ineffektiv erwiesen (EC 6.10.2020). Wenn auch nicht in verbreitetem Ausmaß, so werden Aleviten auch das Ziel von Bedrohungen und Gewalt. So wurden 2019 Häuser von Aleviten mehrfach mit Graffiti und Drohparolen besprüht (ÖB 10.2020; vergleiche USDOS 10.6.2020). Im Jänner 2021 kam es zu einem ähnlichen Vorfall, als Häuser in der Provinz Yalova in roter Farbe mit einem "X" und der Bezeichnung "Alevi" markiert wurden (TM 26.1.2021). 2020 erfolgte ein Angriff auf den Oppositionsführer der Republikanische Volkspartei (CHP) Kılıçdaroğlu – ein Alevit – durch ein Mitglied der Gruppierung Graue Wölfe. Ein Teil der Aleviten bemüht sich um Anerkennung als eigene Konfession und Gleichstellung mit dem sunnitischen Islam. Das Thema Aleviten und Anerkennung ihrer Rechte bzw. Reformen zur Gleichstellung ihres Status verschwand seit dem Putschversuch 2016 gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs (ÖB 10.2020). Allerdings wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdoğan und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben (Gatestone 18.1.2018).
Ethnische Minderheiten
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten, nicht-muslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen (USDOS 30.3.2021, S.70; vergleiche GIZ 12.2020). Daneben gibt es aber auch noch andere christliche Religionsgruppen, z.B. aramäische Christen, die vom Sonderstatus nicht profitieren (GIZ 12.2020). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 30.3.2021, S.70).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.), Araber (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 24.8.2020). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018b).
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 30.3.2021, S.71).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem. Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 3.3.2021). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan Ende September 2020 verstärkte sich die anti-armenische Rhetorik, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien. Allerdings verurteilten Regierungsvertreter wiederum die Einschüchterung ethnischer Armenier scharf (USDOS 30.3.2021, S.73).
Schulbücher müssten laut Europäischer Kommission überarbeitet werden, um Überreste diskriminierender Referenzen zu den Minderheiten zu eliminieren. Auch die staatlichen Subventionen für Minderheitenschulen sind gesunken und ergehen nur unregelmäßig. Gesetzliche Einschränkungen für muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Mittelschulen bleiben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch werden jedoch an öffentlichen staatlichen Schulen fortgesetzt, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Die uneingeschränkte Achtung und der Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten der Minderheiten gemäß den europäischen Normen ist noch nicht vollständig erreicht. Die Regierung hat die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Allerdings beschloss die Behörde für Pressewerbung (BİK), die derzeitige Finanzierung für Zeitungen, die von Mitgliedern der armenischen, griechischen und jüdischen Gemeinden betrieben werden, zu erhöhen (EC 6.10.2020). Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 10.2020).
Kurden
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die WestTürkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 10.2020). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP, besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen, mehrheitlich kurdischen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 30.3.2021, S.70), auch 2019, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang (İHD 18.5.2020b). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 6.10.2020).
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 30.3.2021, S.71) und blieben es auch (EC 6.10.2020).
Der Druck auf kurdische Medien und auf die Berichterstattung über kurdische Themen hält an (EC 6.10.2020). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 6.10.2020). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 24.8.2020).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020).
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 10.2020). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Gesetzliche Einschränkungen des muttersprachlichen Unterrichts in Grund- und Sekundarschulen bleiben allerdings bestehen (EC 6.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020). In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an KurdischLehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 10.2020).
Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure, die die willkürliche Zensur verschärften, haben negative Auswirkungen auf den Kunst- und Kulturbereich. Nach einer zweiten Runde der Ernennung von staatlichen Treuhändern in vormals von der HDP regierten Gemeinden, wurden die Bemühungen zur Förderung der Schaffung von Sprach- und Kulturinstitutionen in diesen Provinzen weiter untergraben. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte (EC 6.10.2020).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 10.2020).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020; vergleiche TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 24.8.2020). Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die Kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S.71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereicht vollständig (AA 24.8.2020) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2020 immer wieder von Gewaltakten, einschließlich Mord und Totschlag, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 10.2020; vergleiche TM 17.9.2020, IRB 7.1.2020). Nebst der (spontanen) Gewalt von Einzelpersonen kommt es auch zu organisierten gewalttätigen Angriffen türkischnationalistischer Milizen gegen kurdische Gruppen. Erstere sind überall in der Türkei zu finden, aber besonders im Westen und in Großstädten wie Istanbul und Ankara (UKHO 1.10.2019).
Bewegungsfreiheit
Artikel 23, der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden (ÖB 10.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45). Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der GülenBewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vergleiche USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45).
Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen (AA 24.8.2020).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 10.2020).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).
Grundversorgung / Wirtschaft
Das reale Bruttoinlandsprodukt wuchs im vierten Quartal 2020 um 5,9% im Vergleich zum Vorjahr und schloss damit eine bemerkenswerte Erholung in der zweiten Jahreshälfte ab, die zu einem Wachstum von 1,8% für das Gesamtjahr führte, trotz der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (WB 6.4.2021; vergleiche GTAI 15.4.2021). Dieses Wachstum wurde allerdings erkauft mit Zinsen unter der Inflationsrate und einer starken Kreditexpansion (+35%) (GTAI 15.4.2021), die auch die Inlandsnachfrage ankurbelte (WB 6.4.2021). Eine Konsequenz war die starke Abwertung der türkischen Lira um rund 30%. Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren mahnen bereits seit Längerem strukturelle Reformen an. Die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken. Die ausufernde expansive Wirtschaftspolitik der letzten Jahre begrenzt den Handlungsspielraum für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Konjunktur. Außenpolitische Spannungen verstärken die Unsicherheiten (GTAI 15.4.2021). Die Behörden lockerten die Geldpolitik und gaben ein Konjunkturprogramm in Höhe von insgesamt 13% des BIP heraus, wovon der größte Teil auf die Unterstützung des Bankensektors in Form von teilweisen Kreditgarantien und Kreditstundungen entfiel. Andere fiskalische Unterstützung beinhaltete soziale Unterstützungszahlungen an Haushalte, Hilfe für beurlaubte Arbeiter, Steuerstundungen und andere Unterstützung für Firmen. Das durch diese Maßnahmen erzielte Wachstum ging auf Kosten steigender Preise und makroökonomischer Anfälligkeiten. Die Inflation erreichte im Februar 2021 15,6%. Von einem Überschuss im Jahr 2019 bewegte sich die Leistungsbilanz zurück ins Defizit, da die Einnahmen aus dem Tourismus schwanden, die Warenexporte sanken und die Goldimporte stiegen. Analysen deuten darauf hin, dass die Armut im Jahr 2020 um bis zu 2,1 Prozentpunkte gestiegen sein könnte - was 1,6 Millionen neuen Armen entspricht. Für das Jahr 2021 wird für die Türkei die höchste Armutsquote seit 2012 prognostiziert (WB 6.4.2021).
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 10.2020).
Sozialbeihilfen / -versicherung
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität, gewährt (AA 24.8.2020). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 24.8.2020). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019).
Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 202 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 567 TL und 854 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2020 alle zwei Monate Anspruch auf 587 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 10.2020).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vergleiche SSA 9.2018).
Arbeitslosenunterstützung
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2020 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1177 TL, der Maximalbetrag 2.853 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 10.2020). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2020; vergleiche ÖB 10.2020).
COVID-19-Pandemie
Wegen der Corona-Krise hat die Regierung die Regelung zur Kurzarbeit zugunsten der Arbeitnehmer geändert. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde ein neuer Übergangsartikel geschaffen (Übergangsartikel 23). Dieser bestimmt, dass bei Kurzarbeitergeldanträgen aufgrund der Corona-Krise bis zum 20.6.2020 die Leistungsvoraussetzungen gelockert werden: Damit genügt es, dass der Versicherte in den vergangenen drei Jahren für 450 Tage (statt 600 Tage) Beiträge entrichtet hat. Auch muss er vor dem Leistungsanspruch lediglich 60 (statt 120) Tage ununterbrochen beschäftigt gewesen sein. Weiterhin wurde der Präsident ermächtigt, die Geltungsfrist dieser Bestimmung bis zum 31.12.2020 zu verlängern sowie die Maßstäbe für die Berechnung des Kurzarbeitergelds zu ändern. Mit der am 16.4.2020 verfügten Übergangsbestimmung des Gesetzes 7244 gilt ein Kündigungsverbot für alle Arbeitsverhältnisse für eine Dauer von drei Monaten. Dabei ist nicht von Belang, ob der Arbeitnehmer unter den Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes fällt oder nicht. Eine Ausnahme besteht lediglich im Fall einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung (MPI-SR 20.6.2020).
Behandlung nach Rückkehr
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das Allgemeine Informationssammlungssystem, das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das Zentrale Melderegistersystem (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), türkische Hisbollah, Al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern von der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2020). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten deutschen Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 24.8.2020). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2020). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den Sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vergleiche Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt festgenommen werden (AA 27.4.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 27.4.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind. Allein 2020 wurden über ein Dutzend aus Österreich einreisende Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Türkei angehalten und, sofern sie nicht in Untersuchungshaft kamen, mit einer Ausreisesperre belegt (ÖB 10.2020).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 10.2020). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020; vergleiche ÖB 10.2019). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020).
Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
● Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, EMail: info@link-turkey.com
● Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@brueckeistanbul.org, http://bruecke-istanbul.com/
● TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB 10.2020).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Artikel 4, des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Artikel 9, des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Artikel 16, sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Nach Einschätzung des DFAT wendet die Türkei die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020).
Gemäß Artikel 8, des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Artikel 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor (ÖB 10.2020). So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Artikel 9,) (ÖB 10.2020). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Artikel 9, Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben (DFAT 10.9.2020). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Artikel 11, (1)). Artikel 13, des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 10.2020).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Artikel 19, des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
COVID-19 – Aktuelle Lage in der Türkei
Laut worldometers.info, Stand 23.02.2022, gibt es in der Türkei 13.675.581 Coronavirus-Fälle. Es gibt 92.990 Todesfälle. 12.853.899 Personen sind wieder genesen.
Beginnend mit 1. Juli wird ein fast vollständiger Normalisierungsprozess durchgeführt. Alle Ausgangsbeschränkungen unter der Woche und am Wochenende wurden aufgehoben. Weiterhin muss ein Mindestabstand zur nächsten Person eingehalten werden. An allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, gilt Maskenpflicht. Auf öffentlichen Plätzen wurde ein Rauchverbot auch im Freien eingeführt. Gastronomische Stätten haben geöffnet. Einzelhandel und körpernahe Berufe haben geöffnet. Versammlungen und Hochzeiten sind unter Einhaltung der allgemeinen Regeln erlaubt. Mit 15. Jänner 2022 wurde die Verpflichtung zur Vorlage eines negativen PCR-Tests für ungeimpfte Personen beim Besuch von Kinos, Konzerten, Theaterstücken oder anderen Events aufgehoben.
Für das Buchen und den Check-in bei Inlandsflügen sowie bei Überlandbussen, Schiffen und Bahn in der Türkei benötigt man einen sogenannten HES-Code (Hayat Eve Sigar). Der HES-Code wird auch beim Betreten von Amtsgebäuden und in Einkaufszentren verlangt. Ausländer erhalten den HES-Code durch das Ausfüllen des Einreiseformulars (siehe „Einreise und Reisebestimmungen“).
Reisende mit Endziel Türkei müssen frühestens 72 h vor der Einreise ein Formular (Entry Form to Turkey) ausfüllen. Bei Einreise in die Türkei kann kontrolliert werden, ob dieses Formular ausgefüllt wurde, bzw. kann im Falle des Nichtausfüllens die Einreise für ausländische Staatsangehörige verweigert werden. Für Transitreisende ist diese Verpflichtung zum Ausfüllen des Formulars nicht gültig. Mit den ausgefüllten Daten wird automatisch ein persönlicher HES-Code erstellt, welcher für den Aufenthalt in der Türkei notwendig ist. Bei der Einreise zu Land, Wasser oder Luft ist die Vorlage eines der genannten Zertifikate notwendig: Impfzertifikat, Genesungsbestätigung oder negatives Testergebnis.
Mit 20. August 2021 wird die Türkei dem digitalen Covid-Zertifikat der EU angeschlossen. Somit werden in der Türkei ausgestellte COVID-Zertifikate in der EU akzeptiert und die Türkei akzeptiert wiederum das EU Digital COVID Certificate.
Um die Auswirkungen der Lockdowns aufgrund von COVID-19 auf die türkische Wirtschaft zu begrenzen, wurden von der türkischen Regierung bereits mehrere Wirtschaftspakete ins Leben gerufen. Diese Wirtschaftspakete, welche im März und September des Jahres 2020 sowie zuletzt im März 2021 bekannt gegeben wurden, beinhalten Maßnahmen wie Steuersenkungen und -stundungen, Unterstützungen für Kurzarbeit, Einsetzung von Komitees zur Koordination der Maßnahmen sowie Einführung von Weiterbildungsangeboten im berufsbildenden Bereich (https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-infos-tuerkei.html, Abruf 23.02.2022).
2. Beweiswürdigung
Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der bP, der von ihr vorgelegten Beweismittel, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes und die Einsichtnahme in die dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden länderkundlichen aktuellen Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat der bP, welche auch bereits vom BFA berücksichtigt wurden.
2.1 Zur Person der beschwerdeführenden Partei
Die Identität der bP steht aufgrund des von ihr vorgelegten und überprüften türkischen Nüfus (türkischer Personalausweis) fest.
Die sonstigen personenbezogenen Feststellungen hinsichtlich der bP ergeben sich aus ihren in diesen Punkten einheitlichen, im Wesentlichen widerspruchsfreien Angaben sowie ihren im Verfahren dargelegten Sprach- und Ortskenntnissen und den seitens der bP vorgelegten Bescheinigungsmitteln. Zudem erfolgte Einsichtnahme in das ZMR, das GVS, das IZF und den SA, woraus sich ergab, dass die bP strafrechtlich unbescholten ist und nicht mehr von der Grundversorgung lebt.
Die Feststellungen zum Privatleben in Österreich, zu ihren Lebensumständen in der Türkei, zu den Lebensumständen ihrer Familienangehörigen sowie zur Ausreise aus der Türkei und der Einreise in Österreich ergeben sich aus ihren diesbezüglich widerspruchsfreien Angaben in der Einvernahme vor der belangten Behörde. Die bP brachte keine Nachweise über besuchte Deutschkurse, abgelegte Deutschprüfungen, Vereinsmitgliedschaften oder ein ehrenamtliches Engagement in Vorlage. Empfehlungsschreiben von Freunden wurden ebenso wenig vorgelegt. In der behördlichen Einvernahme war die bP nicht in der Lage die ihr in der deutschen Sprache gestellte Frage zu verstehen oder darauf zu antworten.
Dass die bP in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und bis zu ihrer Entlassung aus disziplinären Gründen am 05.11.2021 Leistungen aus der Grundversorgung bezog, ergibt sich aus dem vom Gericht eingeholten Auszug aus der GVS und dem im Akt befindlichen Aktenvermerk (AS 133).
Die festgestellte strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem hg. erstellten Auszug aus dem Strafregister. Die Feststellung hinsichtlich des Verstoßes gegen ihre Wohnsitzbeschränkung gemäß Paragraph 15 c, AsylG ergibt sich aus dem im Akt befindlichen Schreiben des BFA vom 09.11.2021 (AS 137).
2.2. Zu den angegebenen Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates
2.2.1 Die beschwerdeführende Partei brachte im Rahmen der Erstbefragung vor, dass sie 2018 zum Militärdienst einberufen worden sei. Dort sei sie zusammengeschlagen worden, weil sie Kurde sei. Nach einem Monat sei sie dann geflüchtet, anschließend jedoch verhaftet worden und habe zwei Jahre in Haft verbracht. Nach ihrer Entlassung habe sie sich jeden Tag bei der Polizei melden müssen. Sie habe auch noch ein weiteres Gerichtsverfahren erwartet, habe aber zuvor das Land verlassen. Ihr würden mehrjährige Haftstrafen drohen.
Im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA brachte die bP zur Begründung ihres Antrages vor, dass sie ihr Land verlassen habe, weil sie als Kurde unerwünscht gewesen sei. Sie sei wiederholt wegen des Singens kurdischer Lieder sowie wegen der Teilnahme an Demonstrationen verhaftet worden. Darüber hinaus wäre sie vor sieben bis acht Jahren in einer Form misshandelt worden, die zur Ertaubung eines Ohres geführt habe, ihr vor neun bis zehn Jahren im Zuge eines Streits Verbrennungen zugefügt worden und sie vor sechs bis sieben Jahren mit einem Messer angegriffen worden. Im Übrigen sei sie gerichtlich verurteilt worden
2.2.2. Das BFA führte im angefochtenen Bescheid im Rahmen der Beweiswürdigung (Bescheid, Seite 74ff) zunächst aus, dass die bP selbst keine Probleme aufgrund ihres religiösen Hintergrundes oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorgebracht habe und sich auch im Zuge des amtswegigen Ermittlungsverfahrens keine diesbezüglichen Hinweise ergeben hätten.
Anschließend wies das BFA darauf hin, dass die bP in ihrer Erstbefragung ein Vorbringen erstattet habe, welches sich im völligen und unauflöslichem Widerspruch zu ihren Angaben gegenüber der erkennenden Behörde befinde. Die Behauptungen der bP, dies habe an einer unzureichenden Leistung des Dolmetschers gelegen, habe das BFA nicht folgen können, da zum einen der Dolmetscher von der LPD römisch 40 regelmäßig herangezogen werde und das diesbezügliche Vertrauen tendenziell gegen die Angaben der bP spreche, und zum anderen sei es nicht nachvollziehbar, dass sprachliche Verständigungsschwierigkeiten dazu führen, dass eine Fluchtgeschichte festgehalten werde, die in sich zwar schlüssig sei, jedoch mit den tatsächlichen Erfahrungen des Asylwerbers überhaupt nichts zu tun habe. Auch habe die bP die Niederschrift der Einvernahme nach erfolgter Rückübersetzung unterfertigt und angegeben, keine Ergänzungen oder Korrekturen zu wünschen.
Zu den vorgebrachten Verletzungen bzw. Narben der bP führte das BFA aus, dass deren Entstehung allesamt sechs bis zehn Jahre zurückliege, weshalb von einem zeitlichen Konnex mit ihrer Ausreise im Jahr 2021 keinesfalls ausgegangen werden könne und diese daher ganz offensichtlich nicht fluchtauslösend gewesen seien. Eine ärztliche Begutachtung der Verletzungen habe unterbleiben können, da dadurch keinesfalls eine Aussage hinsichtlich der Motivation des Angreifers bzw. der Angreifer getroffen werden könne.
Zu jenen Strafverfahren hinsichtlich derer die bP schriftliche Urteilsausfertigungen beizuschaffen vermochte, hielt das BFA fest, dass auch diese keinen zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Ausreise im Jahr 2021 aufweisen würden, da beide Urteile im Jahr 2016 erlassen worden seien und sich mit strafrechtlich relevantem Fehlverhalten im Jahr 2015 auseinandersetzen würden. Hinsichtlich der Verurteilungen selbst führte das BFA aus, dass der Bestrafung durch das Schwurgericht römisch 40 ein ordentliches Verfahren vorangegangen sei, zumal eine hinreichende Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Beweismaterial stattgefunden habe und auch verschiedene Umstände, die Milderungsgründe darstellen, vom türkischen Gericht hinreichend berücksichtigt worden seien. Auch dem vorgelegten Rechtsmittelurteil sei nicht zu entnehmen, dass die bP zu Unrecht verurteilt worden wäre, sondern sei sie in der ersten Instanz sogar teilweise freigesprochen worden, was eine Voreingenommenheit der türkischen Justiz gegenüber ihrer Person kontraindiziere. Hinsichtlich des (offensichtlich strafbaren) Verhaltens der bP gehe die belangte Behörde von einer legitimen Strafverfolgung aus. Dies aufgrund der in der schriftlichen Urteilsausfertigung ausgeführten Parolen, welche die bP mit mehreren Mittätern gerufen habe. In diesen Parolen sei zweifelsohne und auch nach Überzeugung des BFA eine psychische Unterstützung bzw. Propaganda für die PKK zu erblicken, welche auf den einschlägigen EU-Terrorlisten zu finden sei und deren Symbole in Österreich nach dem SymboleG verboten seien. Die zur Bewährung ausgesetzte zehnmonatige Haftstrafe, welche vom Schwurgericht römisch 40 verhängt worden sei, könne daher keinesfalls als außer Verhältnis stehend erachtet werden. Auch beim Rechtsmittelurteil der 16. Strafkammer des Obersten Gerichtshofs sei vor diesem Hintergrund nicht a priori davon auszugehen, dass diesem eine illegitime Strafverfolgung zugrunde liegen könne und habe ein Rechtsmittel der bP sogar einen Teilfreispruch zur Konsequenz. Das BFA führte diesbezüglich weiters aus, dass beide Verurteilungen eine geraume Zeit zurückliegen würden und wohl bereits verbüßt seien, sodass die bP diesbezüglich keine nennenswerten Befürchtungen mehr geltend machen könne. Hinsichtlich der beiden offenen Verfahren der bP verwies das BFA zum einen auf die vorangegangenen Ausführungen zu den beiden vorgelegten Urteilen und führte weiters aus, dass es sich hierbei ebenfalls um Vorwürfe handle, welche mehrere Jahre zurückliegen, sodass im Ergebnis auch hinsichtlich dieser strafrechtlichen Vorwürfe keine Indizien vorliegen würden, diese wären konstruiert bzw. die Strafverfolgung wäre illegitim.
Die belangte Behörde führte weiters aus, der bP sei in der behördlichen Einvernahme die Möglichkeit geboten worden ihre persönliche Meinung zur PKK und ÖCALAN kundzutun, wobei den diesbezüglichen Angaben der bP keine Distanzierung von der PKK oder deren terroristischer Straftaten entnommen werden könne, sondern habe die bP diese gegenüber der belangten Behörde vielmehr gerechtfertigt und ihr Verständnis ausgedrückt, sodass es bei der bP nicht völlig lebensfremd wäre, dass diese ihre Sympathie zur PKK öffentlich kundtue. Insgesamt sei es der bP misslungen, glaubhaft darzulegen, dass die Begründung für die Akte der Strafverfolgung, die sich gegen ihre Person gerichtet haben, in der ethnischen Zugehörigkeit der bP oder einer (legalen) politischen Überzeugung zu suchen seien bzw., dass sie aus diesen Gründen diskriminiert worden sei. Im Umkehrschluss stehe aus Sicht der erkennenden Behörde fest, dass die Strafverfolgungsmaßnahmen des türkischen Staates wohlbegründet, gerechtfertigt sowie angemessen gewesen seien und vergleichbares Handeln auch von mitteleuropäischen Sicherheitsbehörden und Gerichten zu erwarten gewesen wäre. Hinsichtlich der offenen Verfahren wies das BFA ausdrücklich darauf hin, dass aufgrund der Vorgeschichte der bP und ihrer Ideologisierung der Verdacht neuerlichen strafrechtswidrigen Handels gegen dieselben Rechtsgüter naheliege, die türkischen Gerichte sie aber im Falle ihrer Unschuld jedenfalls freisprechen könnten, sodass aus der Anhängigkeit von Strafverfahren keinesfalls darauf geschlossen werden könne, dass die bP mit Sicherheit auch verurteilt werden würde, wobei diesbezüglich nochmals auf den Teilfreispruch durch die 16. Strafkammer des Obersten Gerichtshofs verwiesen wurde, wodurch die Unvoreingenommenheit der Justiz im Fall der bP bewiesen werde.
Zu etwaigen Fahndungsmaßnahmen hielt das BFA fest, dass die bP selbst nicht beantworten habe können, ob nach ihr gefahndet wird oder nicht. Dies könne zwar angesichts der offenen Strafverfahren nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden (bzw. seien gewisse Fahndungsmaßnahmen sogar wahrscheinlich, wenn die bP Gerichtsverhandlungen unentschuldigt versäumte, dem wäre jedoch auch in Österreich so), auch darin könne jedoch keine Illegitimität des staatlichen Handelns abgeleitet werden, da schon die den allfälligen Fahndungsmaßnahmen zugrundeliegenden Gerichtsverfahren nach Überzeugung des BFA nicht illegitim gewesen seien und Fahndungsmaßnahmen per se im Übrigen üblicherweise nicht von besonders eingriffsinvasiver Natur seien. Auch könne keinesfalls sämtlichem Handeln des türkischen Staates pauschal und von vornherein die Unrechtmäßigkeit oder Unverhältnismäßigkeit unterstellt werden, auch wenn nicht außer Acht gelassen werde, dass es in Einzelfällen zu Verstößen gegen elementare Verfahrensvorschriften oder Verletzungen der Menschenwürde kommen könne.
Im Verbot der Propaganda für die PKK könne nach Ansicht der belangten Behörde auch keine Einschränkung der Meinungsfreiheit erblickt werden, zumal die Meinungsfreiheit zum Schutze der Öffentlichkeit bzw. zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit auch in zahlreichen europäischen Staaten (wie auch in Österreich) gewissen Beschränkungen unterworfen sei.
Aufgrund der bisherigen Überlegungen kam das BFA im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gekommen, dass die bP nicht wegen des Singens kurdischer Lieder oder der Verwendung der kurdischen Sprache in Ihrem Herkunftsstaat verfolgt werde. Das diesbezügliche Vorbringen der bP stehe in unauflöslichem Widerspruch zum vorliegenden Beweismaterial (schriftliche Urteilsausfertigung und Länderinformationsblatt).
Hinsichtlich dem Vorbringen der bP, wonach man „gekommen“ sei und sie „geholt“ habe, wenn sie ihrer periodischen Meldeverpflichtung nicht nachgekommen sei, merkte die belangte Behörde an, dass ein derartiges Vorgehen auch von österreichischen Behörden geradezu zu erwarten wäre, da eine Meldeverpflichtung üblicherweise (und entsprechend ihres eigenen Vorbringens auch im Fall der bP) das gelindere Mittel zur Verhängung einer Haft darstellte und folglich die Greifbarkeit der betroffenen Person gesichert sein müsse, andernfalls die entsprechende Sicherheitsdienststelle ihren Auftrag vernachlässigen würde. Das Verhalten der bP indiziere demnach eine gewisse Sorglosigkeit in eigener Sache in Verbindung mit einer Gleichgültigkeit gegenüber der Rechtsordnung Ihres Herkunftsstaates. Die zeige sich auch in ihrer im Zuge der Einvernahme ans Licht getretenen Meinung, der türkische Staat (bzw. dessen Sicherheitskräfte) würden sie willkürlich, rechtswidrig und aus eigenem Antrieb verfolgen, obwohl die bP mit ihrem anschließenden Vorbringen eingestand, dass die gegen sie verhängten gerichtlichen Kontrollmaßnahmen im Auftrag der Staatsanwaltschaft verlängert worden wären. Aus dem Vorbringen der bP leite die belangte Behörde daher ab, dass die bP dazu geneigt sei, jeglichem Verwaltungs- und Justizhandeln des türkischen Staates gegen ihre Person zu unterstellen, dieses würde in völlig rechtswidriger Art und Weise und aufgrund niederer Motive erfolgen, auch wenn sich dann in weiterer Folge herausstellen sollte, dass dem offenbar nicht so ist, woraus abgeleitet werden könne, dass die bP gegenüber den Behörden ihres Herkunftsstaates offenbar erhebliche Vorbehalte hege und geneigt sei, diesen auch zu Unrecht in einem nachteiligen Licht darzustellen, bzw. sie Belastungstendenzen aufweise, was eine gewisse Skepsis gegenüber ihren Angaben rechtfertigte.
Der Behauptung der bP, man habe sie wiederholt als „Agent“ anwerben wollen, entgegnete das BFA, dass es auch in Österreich und anderen mitteleuropäischen Staaten nicht unüblich sei, dass die Kriminalpolizei und der Verfassungsschutz Personen als V-Männer als menschliche Quellen anwerben würden, die in bestimmten kriminellen Milieus verkehren bzw. verankert seien. Im konkreten Fall der bP biete sich aufgrund ihrer (angesichts der Ausführungen der türkischen Behörden) Nähe zur PKK an, sie zur Unterstützung von Ermittlungen gegen die PKK, der Aufdeckung von terroristischen Straftaten, der Überführung von Straftätern sowie dem Ermitteln von Aufenthaltsorten von gesuchten Personen heranzuziehen, was die türkischen Behörden unter Zugrundelegung ihres Vorbringens wohl auch beabsichtigt hätten. Dass die türkischen Behörden die bP dazu drängen würden, als V-Mann für diese zu arbeiten, lege auch nahe, dass die strafrechtlichen Vorwürfe, welche gegen die bP erhoben worden seien, und die ihr unterstellte Ideologisierung gerade nicht völlig aus der Luft gegriffen seien. Dass die Behörden im Übrigen auf potentielle V-Männer einen gewissen Druck ausüben würden, um diese zur Kooperation zu bewegen, sei wohl schlichte Realität und habe die bP selbst angegeben, man habe Ihr laufendes Verfahren gegen Sie verwendet, sodass davon ausgegangen werden könne, dass der bP gegenüber erwähnt worden sei, dass eine produktive Zusammenarbeit als VMann mit den Strafverfolgungsbehörden positive Auswirkungen auf ihr eigenes Strafverfahren haben könnte. Die belangte Behörde vermochte darin keine „Erpressung“ zu erblicken.
Eine pauschale Verfolgung der Angehörigen der kurdischen Minderheit in der Türkei wurde vom BFA bereits aus Kapazitätsgründen als vollkommen illusorisch abgetan, zumal in der Türkei 15 Millionen Kurden leben würden und finde eine solche auch keine Deckung in den landeskundlichen Feststellungen.
Der Behauptung der bP, wonach die kurdische Sprache in der Türkei verboten sei, entgegnete die belangte Behörde, dass es laut dem aktuellen Länderinformationsblatt zwar gesetzliche Einschränkungen für muttersprachlichen Unterricht an Grund- und Mittelschulen gebe, jedoch optionale Kurse in Kurdisch an öffentlichen staatlichen Schulen angeboten werden würden und es auch Universitätsprogramme auf Kurdisch gebe. Mit dem 4. Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern ermöglicht. Die Verwendung der kurdischen Sprache sei sohin zweifelsfrei legal.
Dem Vorbringen der beschwerdeführenden Partei, wonach sie Probleme gehabt habe, sich in den Arbeitsmarkt ihres Herkunftsstaates zu integrieren, entgegnete das BFA, dass die bP dies mit ihrer Verurteilung begründet und angegeben habe, dass potentielle Arbeitgeber üblicherweise einen Strafregisterauszug fordern würden. Dass die bP als Vorbestrafter mit besonderen Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert sei, könne tatsächlich nicht ausgeschlossen werden, dies treffe jedoch auch auf Personen mit einer kriminellen Vergangenheit in Österreich zu und vermöge dies keine Asylrelevanz zu entfalten.
Zu einer allfälligen Befürchtung der bP, wonach sie aufgrund einer gewissen Nähe zur HDP verfolgt werde, führte die belangte Behörde aus, dass zwar nicht verkannt werde, dass sich die HDP gegenwärtig in einem Verbotsverfahren in der Türkei befinde, sie damit jedoch das Schicksal zahlreicher Vorgängerparteien teile und dies üblicherweise nicht dazu führte, dass sämtliche Sympathisanten oder Parteimitglieder staatlichen Sanktionen unterworfen wurden, sondern stets führende Persönlichkeiten im Fokus behördlichen Interesses gestanden seien. Darauf, dass dies nun anders wäre, gebe es keinerlei Hinweise, zumal zu beachten sei, dass sich das Verbotsverfahren im Anfangsstadium befinde, die bP keine exponierte Stellung in der kurdischen Gesellschaft eingenommen habe, sondern nicht einmal Parteimitglied gewesen sei, und sich im Übrigen rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren würden, wovon ein nennenswerter Anteil mit der kurdischen Opposition sympathisieren dürfte, weshalb die behördliche Verfolgung eines einzelnen Sympathisanten oder Mitglieds, dem keine nennenswerte Bedeutung zukomme, nicht naheliegend sei, sondern in Anbetracht der (auch in der Türkei) beschränkten behördlichen Ressourcen sogar lebensfremd anmute.
Das BFA führte weiters aus, dass eine Verfolgung aufgrund des alevitischen Glaubens der bP weder von dieser vorgebracht worden sei, noch den aktuellen Länderinformationen zu entnehmen sei.
Letztlich verwies das BFA darauf, dass die bP angegeben habe, einmal erfolglos ein Visum beantragt zu haben, weshalb sie es bei Ihrer nunmehrigen Ausreise unterlassen habe, neuerlich den legalen Versuch, in den Schengenraum einzureisen, zu unternehmen. Auf Vorhalt, dass in der VISA-Applikation des Bundesministeriums für Inneres kein entsprechender (abgewiesener) Antrag erfasst sei, habe die bP ihre Angaben dahingehend modifiziert, sie habe doch keinen solchen Antrag gestellt. Auch diese Unwahrheit spreche gegen die Glaubwürdigkeit der bP als Person.
Das BFA fasste abschließend zusammen, dass es der bP nicht gelungen sei, eine individuelle Verfolgung Ihrer Person glaubhaft zu machen, sondern handle es sich bei ihrem Vorbringen einerseits um unsubstantiierte Behauptungen oder um bloße Diskriminierungen von minderer Intensität, andererseits um legitimes polizeiliches Vorgehen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung bzw. um Vorfälle, die mangels eines zeitlichen Zusammenhangs keinesfalls eine Asylrelevanz aufweisen könnten.
Aus Sicht des BFA habe die bP die Türkei aus asylfremden Motiven verlassen. Dies einerseits zur Verbesserung ihrer individuellen Lebensumstände, andererseits um sich potentiellen Strafverfolgungsmaßnahmen wegen ihrer Unterstützung der PKK zu entziehen.
2.2.3. Mit den Ausführungen in der Beschwerde ist es der beschwerdeführenden Partei aufgrund folgender Erwägungen nicht gelungen, den soeben dargestellten tragenden Argumenten der Beweiswürdigung des BFA entgegenzutreten:
In der Beschwerde wurde auf das Wesentliche zusammengefasst ausgeführt, dass das BFA ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe, da sie der Entscheidung unzureichende Länderberichte zugrunde gelegt bzw. die ihr zur Verfügung stehenden Berichte nicht korrekt ausgewertet habe, die Beweiswürdigung unschlüssig sei und dass es das BFA unterlassen habe, sich mit dem individuellen Vorbringen der bP sachgerecht auseinanderzusetzen. Hätte das BFA die in der Beschwerde angeführten Berichte und Entscheidungen berücksichtigt und die persönliche Situation der bP ausreichend erhoben, hätte es eine anderslautende Entscheidung treffen müssen.
Mit diesen Ausführungen kritisiert die Beschwerde die beweiswürdigenden Argumente des BFA lediglich kursorisch und pauschal, die Beschwerde hat nämlich kein einziges Argument des BFA konkret aufgegriffen und versucht, es zu entkräften. Sie hat weder erklärt, weshalb die bP in der Erstbefragung ein ihren späteren Angaben divergierendes Vorbringen erstattete, noch weshalb die bP nicht bereits zeitnah zu den erlittenen Verletzungen oder den Verurteilungen in der Türkei ihr Heimatland verlassen habe. Die Beschwerde lässt weiters unbekämpft, dass das BFA davon ausgeht, dass es sich im Fall der bP um eine legitime Strafverfolgung handle, den vorgelegten Urteilen nicht zu entnehmen sei, dass sie zu Unrecht verurteilt worden sei und die bP allem Anschein nach in der Türkei tatsächlich die PKK unterstützt bzw. propagandiert habe. Auch den Ausführungen des BFA, wonach es sich auch bei der periodischen Meldeverpflichtung und der Kontrolle durch die türkische Polizei um kein rechtswidriges Handeln handle, dass in dem Angebot einer positiven Auswirkung auf das Strafverfahren bei einer Unterstützung als V-Mann keine Erpressung erblickt werden kann und dass die kurdische Sprache in der Türkei nicht verboten sei, trat die Beschwerde nicht entgegen. Dass die belangte Behörde davon ausgeht, dass im Verbot der Propaganda für die PKK keine Einschränkung der Meinungsfreiheit zu erkennen sei, ließ die Beschwerde ebenfalls unbekämpft.
Die Beschwerde zog sich insgesamt lediglich auf das Argument zurück, die Behörde habe der Entscheidung unzureichende Länderberichte zugrunde gelegt bzw. die ihr zur Verfügung stehenden Berichte nicht korrekt ausgewertet, wobei in der Beschwerde nicht substantiiert dargelegt wurde, inwiefern Länderberichte unkorrekt ausgewertet worden seien. Sofern in der Beschwerde ausgeführt wird, dass Kurden in der türkischen Gesellschaft Diskriminierungen ausgesetzt sein können, so ist dem zu entgegnen, dass auch das BFA im Bescheid von derartigen Diskriminierungen gegenüber Kurden ausging, die Verurteilungen der bP jedoch nicht als Diskriminierungen, sondern als legitime Strafverfolgung aufgrund von Propaganda für eine Terrororganisation betrachtete. Auch die in der Beschwerde angeführte Beschränkung der Meinungsfreiheit gegenüber Kurden wurde vom BFA nicht bestritten, sie legte jedoch nachvollziehbar dar, weshalb im Verbot der Propaganda für die PKK keine Einschränkung der Meinungsfreiheit zu erkennen sei. Dass die belangte Behörde der Entscheidung unzureichende Länderberichte zugrunde gelegt habe, konnte die Beschwerde ebenfalls nicht aufzeigen, zumal sie sich wiederholt selbst auf die vom BFA herangezogenen Länderberichte bezog. Sofern in der Beschwerde Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und dem UK Home Office zitiert werden, so ist dem entgegenzuhalten, dass diese Berichte aus den Jahren 2016 und 2017 stammen und somit schon mangels Aktualität nicht beachtlich sein können. Darüber hinaus zeigen diese kein derart anderes Bild von der Situation für Kurden in der Türkei als sich dieses in den von der belangten Behörde herangezogenen Länderberichten findet und bezieht sich ein in der Beschwerde zitierte Ergebnis einer Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Kurden auf einen USDOS Bericht, wobei anzumerken sei, dass auch das herangezogene Länderinformationsblatt USDOS Berichte berücksichtigt. Die Beschwerde konnte insgesamt nicht darlegen, inwiefern die zitierten Länderberichte zu einem anderen Ergebnis geführt hätten und ist dies auch für das Bundesverwaltungsgericht nicht ersichtlich.
Mit diesen Angaben hat die Beschwerde die vom BFA vorgenommene Beweiswürdigung nicht entkräftet. Dem für das Bundesverwaltungsgericht ausschlaggebendsten und tragendsten Argument des BFA, wonach es sich bei den erfolgten Verurteilungen der bP als auch den offenen Verfahren um eine legitime Strafverfolgung handle, den vorgelegten Urteilen nicht zu entnehmen sei, dass sie zu Unrecht verurteilt worden sei und die bP allem Anschein nach in der Türkei tatsächlich die PKK unterstützt bzw. propagandiert habe, trat die Beschwerde – wie bereits erwähnt – nicht entgegen.
Soweit die Beschwerde aus aktueller Sicht allgemein die Lage der Kurden anspricht, so ergibt sich aus der aktuellen Betrachtung der Lage in der Türkei nicht, dass eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende, systematische asylrelevante Verfolgung von Personen stattfindet, alleine weil sie der kurdischen Volksgruppe angehören.
Der Annahme des BFA, wonach die bP aus asylfremden Gründen nach Österreich gereist sei, einerseits zur Verbesserung ihrer individuellen Lebensumstände, andererseits um sich potentiellen Strafverfolgungsmaßnahmen wegen ihrer Unterstützung der PKK zu entziehen, trat die Beschwerde nicht entgegen.
2.2.4. Zusammenfassend wird festgehalten, dass die Beweiswürdigung des BFA im angefochtenen Bescheid schlüssig und nachvollziehbar ist und von der bP nicht (substantiiert) bekämpft wurde. Letztlich konnte die Beschwerde nicht aufzeigen, dass das Ermittlungsverfahren des BFA oder die Beweiswürdigung mangelhaft wäre oder Fehler aufweisen würde. Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich daher der beweiswürdigenden Argumentation des BFA an und geht wie bereits das BFA davon aus, dass die bP ihren Herkunftsstaat nicht aus asylrelevanten Gründen verlassen hat, sondern es sich im Fall der bP um eine legitime Strafverfolgung aufgrund einer Unterstützung bzw. Propaganda für die PKK handelt.
Es kam nicht hervor, dass die in der Türkei geführten Strafverfahren rechtsstaatlichen Anforderungen nicht entsprochen hätten bzw. im Hinblick auf die Straftaten unverhältnismäßige Strafen verhängt worden wären oder eine Verurteilung auf Grund der ethnischen Zugehörigkeit bzw. wegen der politischen Überzeugung erfolgt wären.
Zwar gibt es Mängel im Rechtssystem, doch zeigen gerade die von der bP vorgelegten Unterlagen und Aussagen auf, dass hier der Eindruck erweckt wird, dass rechtsstaatliche Verfahren durchgeführt wurden. Die bP musste aufgrund der von ihr vorgelegten Verurteilung auch keine Haftstrafe verbüßen, sondern wurde die Strafe auf Bewährung ausgesetzt.
Wie schon das BFA richtig ausführte, kann auch aus der Anhängigkeit von Strafverfahren keinesfalls darauf geschlossen werden, dass die bP mit Sicherheit auch verurteilt werden würde.
Auch kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Haft auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in asylrelevanter Weise Repressalien ausgesetzt wäre oder, dass es dagegen keine wirksamen Instrumentarien zur Hintanhaltung gäbe. Die bP ist gesund und ist somit nicht wahrscheinlich, dass sie durch allfällige Mängel in der Gesundheitsversorgung in Haftanstalten davon betroffen sein könnte. Dass die bP sonst bei einer Haftverbüßung einer realen Gefährdung ausgesetzt wäre, brachte sie persönlich im Rahmen der behördlichen Einvernahme als Rückkehrbefürchtung nicht in konkreter Weise vor. Lediglich allgemein brachte sie vor, dass sie im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland mit vielen Problemen konfrontiert sei und ihr eine schwierige Zeit bevorstehe.
Zwar ergeben sich Mängel in Haftanstalten, jedoch sind die Fallzahlen angesichts der ca 260.000 Personen in Haftanstalten keine sehr hohen und kann lediglich die bloße Möglichkeit erkannt werden, dass auch die bP davon betroffen sein könnte. Die Berichte sind hier unterschiedlich und ist ihnen in der Argumentation bzw. Bewertung der Berichter im Wesentlichen gemeinsam, dass es an einer Nachvollziehbarkeit der konkreten Vorwürfe (an den türkischen Staat) mangelt vergleiche dazu etwa die Ausführungen des EGMR, Urteil v. 28.06.2011 – 8319/07 – (Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, zur Problematik der Bewertung von Länderberichten).
Abgesehen davon, gibt es aber auch in Haft die reale Möglichkeit sich gegen Missstände zur Wehr zu setzen und ist darauf zu verweisen, dass sich die bP schon in der Vergangenheit zur rechtlichen Unterstützung eines befreundeten Rechtsanwaltes bediente.
2.3. Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat:
Die getroffenen Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat basieren auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA und sind bereits im angefochtenen Bescheid enthalten.
Wie bereits ausgeführt wurde, trat die Beschwerde den vom BFA herangezogenen Länderfeststellungen nicht substantiiert entgegen, sondern bezog sich selbst auf diese.
Dass es zu Diskriminierungen von Kurden in ihrem Herkunftsstaat im Allgemeinen kommen kann wird nicht bestritten, jedoch ist es der bP eben nicht gelungen eine lediglich auf ihrer Volksgruppe beruhenden Verfolgung glaubhaft zu machen, wie sich näher aus der Beweiswürdigung zum Vorbringen ergibt.
Weder aus der Berichtslage des BFA noch aus den in der Beschwerde angeführten Berichten lässt sich, vor allem unter zentraler Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse, die Prognose stellen, dass die bP im Falle einer Rückkehr eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende asylrelevanten Verfolgungsgefahr oder eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende reale Gefährdung für hier maßgebliche Rechtsgüter zu gegenwärtigen hätte. Den Berichten ist nicht zu entnehmen, dass Kurden in der Türkei allgemein einer systematischen Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt wären.
Die Feststellungen zur Lage in der Türkei in Bezug auf den Coronavirus COVID-19 werden aufgrund der übereinstimmenden Feststellungen einer Vielzahl von öffentlich zugänglichen Quellen als notorisch bekannt angesehen.
3. Rechtliche Beurteilung
Gemäß Paragraph 6, BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes.
Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, Bundesgesetzblatt Nr. 194 aus 1961,, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, Bundesgesetzblatt Nr. 173 aus 1950,, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, Bundesgesetzblatt Nr. 29 aus 1984,, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
A)
Zu Spruchpunkt römisch eins des angefochtenen Bescheides
Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
1. Paragraph 3, AsylG
(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 2, 3) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.
(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (Paragraph 5, BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.
(4b) In einem Familienverfahren gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer eins, gilt Absatz 4, mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Flüchtling im Sinne von Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist eine Person, die aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.
Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern, ob eine vernunftbegabte Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen aus Konventionsgründen wohlbegründete Furcht erleiden würde (VwGH 9.5.1996, Zl. 95/20/0380). Dies trifft auch nur dann zu, wenn die Verfolgung von der Staatsgewalt im gesamten Staatsgebiet ausgeht oder wenn die Verfolgung zwar nur von einem Teil der Bevölkerung ausgeübt, aber durch die Behörden und Regierung gebilligt wird, oder wenn die Behörde oder Regierung außerstande ist, die Verfolgten zu schützen (VwGH 4.11.1992, 92/01/0555 ua.).
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005 ist eine Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Artikel 9, Statusrichtlinie. Demnach sind darunter jene Handlungen zu verstehen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15, Absatz 2, EMRK keine Abweichung zulässig ist (Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft, Keine Strafe ohne Gesetz) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon – wie in ähnlicher beschriebenen Weise – betroffen ist.
Nach der auch hier anzuwendenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine Verfolgung weiters ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (z.B. VwGH vom 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 14.10.1998, Zl. 98/01/0262). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).
Verfolgung kann nur von einem Verfolger ausgehen. Verfolger können gemäß Artikel 6, Statusrichtlinie der Staat, den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschende Parteien oder Organisationen oder andere Akteure sein, wenn der Staat oder die das Staatsgebiet beherrschenden Parteien oder Organisationen nicht in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes müssen konkrete, den Asylwerber selbst betreffende Umstände behauptet und bescheinigt werden, aus denen die von der zitierten Konventionsbestimmung geforderte Furcht rechtlich ableitbar ist vergleiche zB vom 8. 11. 1989, 89/01/0287 bis 0291 und vom 19. 9 1990, 90/01/0113). Der Hinweis eines Asylwerbers auf einen allgemeinen Bericht genügt dafür ebenso wenig wie der Hinweis auf die allgemeine Lage, zB. einer Volksgruppe, in seinem Herkunftsstaat vergleiche VwGH 29. 11. 1989, 89/01/0362; 5. 12. 1990, 90/01/0202; 5. 6. 1991, 90/01/0198; 19. 9 1990, 90/01/0113).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Konvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes befindet.
2. Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Der Antrag war nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 AsylG zurückzuweisen.
Nach Ansicht des BVwG sind auch die dargestellten Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status als Asylberechtigter, nämlich eine glaubhafte Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat aus einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK angeführten Grund nicht gegeben.
Im Falle der Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat bedarf es einer Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung ("prosecution") einerseits und der Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ("persecution") andererseits. Keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist im Allgemeinen in der staatlichen Strafverfolgung zu erblicken (VwGH 06.12.2019, Ra 2019/20/0547).
Keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist im Allgemeinen in der staatlichen Strafverfolgung zu erblicken. Allerdings kann auch die Anwendung einer durch Gesetz für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleich treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen "Verfolgung" im Sinne der GFK aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung im Sinne der GFK gleichkommt, kommt es somit entscheidend auf die angewendeten Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an (Hinweis E vom 27. Mai 2015, Ra 2014/18/0133, mwN).
Wie sich aus den Erwägungen ergibt, handelt es sich um legitime Strafverfolgung und nicht um eine Verfolgung, die aus Gründen des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK erfolgt. Es kam nicht hervor, dass die in der Türkei geführten Strafverfahren rechtsstaatlichen Anforderungen nicht entsprochen hätten bzw. im Hinblick auf die Straftaten unverhältnismäßige Strafen verhängt worden wären oder eine Verurteilung auf Grund der ethnischen Zugehörigkeit bzw. wegen der politischen Überzeugung erfolgt wären.
Auch kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die bP aufgrund der Anhängigkeit von Strafverfahren in der Türkei auch zu einer Haftstrafe verurteilt werden würde oder sie in Haft auf Grund ihrer politischen Überzeugung oder ethnischen Zugehörigkeit in asylrelevanter Weise Repressalien ausgesetzt wäre oder, dass es dagegen keine wirksamen Instrumentarien zur Hintanhaltung gäbe.
Aus dem Vorbringen der bP und der aktuellen Berichtslage ergibt sich auch sonst nicht, dass Personen mit dem Profil der bP derzeit im Falle der Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wären.
Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status eines Asylberechtigten zu gewähren, die Entscheidung des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde somit hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. abzuweisen.
Zu Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides:
Nichtzuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter:
1. Paragraph 8, AsylG
(1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK [Recht auf Leben], Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, ist mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht.
(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Absatz eins, oder aus den Gründen des Absatz 3, oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß Paragraph 9, Absatz 2, vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
(5) In einem Familienverfahren gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer 2, gilt Absatz 4, mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.
(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß Paragraph 9, Absatz eins und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.
(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird.
Artikel 2, EMRK lautet:
„(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden.
(2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt: a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen; b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern; c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken.“
Während entsprechend des 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.
Artikel 3, EMRK lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
Folter bezeichnet jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Artikel eins, des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984).
Unter unmenschlicher Behandlung ist die vorsätzliche Verursachung intensiven Leides unterhalb der Stufe der Folter zu verstehen (Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht 10. Aufl. (2007), RZ 1394).
Unter einer erniedrigenden Behandlung ist die Zufügung einer Demütigung oder Entwürdigung von besonderem Grad zu verstehen (Näher Tomasovsky, FS Funk (2003) 579; Grabenwarter, Menschenrechtskonvention 134f).
Artikel 3, EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt und umfasst jede physische Person (auch Fremde), welche sich im Bundesgebiet aufhält.
Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Rückkehrentscheidung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Artikel 3, EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person im Falle seiner Rückkehrentscheidung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden vergleiche etwa EGMR, Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06).
Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Artikel 3, EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (für viele: VfSlg 13.314; EGMR 7.7.1989, Soering, EuGRZ 1989, 314). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat der bP zu berücksichtigen, auch wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein „ausreichend reales Risiko“ für eine Verletzung des Artikel 3, EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes („high threshold“) dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt vergleiche Karl Premissl in Migralex „Schutz vor Abschiebung von Traumatisierten in „Dublin-Verfahren““, derselbe in Migralex: „Abschiebeschutz von Traumatisieren“; EGMR: Ovidenko vs. Finnland; Hukic vs. Scheden, Karim, vs. Schweden, 4.7.2006, Appilic 24171/05, Goncharova & Alekseytev vs. Schweden, 3.5.2007, Appilic 31246/06.
Der EGMR erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein "real risk" (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe ("substantial grounds") dafür sprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Artikel 3, MRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der EGMR in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Riskio iSd Artikel 3, MRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen ("in the most extreme cases") diese Voraussetzung erfüllt vergleiche etwa EGMR vom 28. November 2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich, RNr. 218 mit Hinweis auf EGMR vom 17. Juli 2008, Nr. 25904/07, NA gg. Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen ("special distinguishing features"), aufgrund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen vergleiche etwa EGMR Sufi und Elmi, RNr. 217).
Der EGMR geht weiters allgemein davon aus, dass aus Artikel 3, EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische od. sonst. unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Artikel 3, EMRK führen vergleiche für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 [„St. Kitts-Fall“], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).
Voraussetzung für das Vorliegen einer relevanten Bedrohung ist auch, dass eine von staatlichen Stellen zumindest gebilligte oder nicht effektiv verhinderbare Bedrohung der relevanten Rechtsgüter vorliegt oder dass im Heimatstaat des Asylwerbers keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht (mehr) vorhanden ist und damit zu rechnen wäre, dass jeder dorthin abgeschobene Fremde mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in [nunmehr] Paragraph 8, Absatz eins, AsylG umschriebenen Gefahr unmittelbar ausgesetzt wäre vergleiche VwGH 26.6.1997, 95/21/0294).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder nicht effektiv verhinderbaren Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist (VwGH 26.6.1997, Zl. 95/18/1293, 17.7.1997, Zl. 97/18/0336). So auch der EGMR in stRsp, welcher anführt, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller „Beweise“ zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt - so weit als möglich - Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (zB EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005).
Aus jüngster Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vergleiche zB. 06.11.2018, Ra 2018/01/0106 mwN) ergeben sich für die Auslegung von Paragraph 8, AsylG folgende Leitlinien:
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH hat ein Drittstaatsangehöriger "nur dann Anspruch auf subsidiären Schutz ..., wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, eine der drei in Artikel 15, der Richtlinie definierten Arten eines ernsthaften Schadens zu erleiden" vergleiche zuletzt EuGH 24.4.2018, C-353/16, MP, Rn. 28, mwN).
Artikel 15 der RICHTLINIE 2011/95/EU lautet:
VORAUSSETZUNGEN FÜR SUBSIDIÄREN SCHUTZ
Ernsthafter Schaden
Als ernsthafter Schaden gilt
a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder
b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder
c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Der EuGH hat im Urteil vom 18.12.2014, C-542/13, M´Bodj, klargestellt, dass der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Artikel 3, MRK nicht abgeschoben werden kann, nicht bedeutet, dass ihm subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Subsidiärer Schutz (nach Artikel 15, Litera a und b der Statusrichtlinie) verlangt nach dieser Auslegung durch den EuGH dagegen, dass der ernsthafte Schaden „durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht“ werden muss und dieser „nicht bloß Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsland“ ist.
Zur letztgenannten Voraussetzung (Litera c,) des Artikel 15, der Statusrichtlinie (bewaffneter Konflikt) hat der EuGH bereits festgehalten, dass das "Vorliegen einer solchen Bedrohung ... ausnahmsweise als gegeben angesehen werden" kann, "wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt (...) ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region ‚allein durch ihre Anwesenheit‘ im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein" vergleiche EuGH 17.2.2009, C-465/07, Elgafaji, Rn. 35). Auch wenn der EuGH in dieser Rechtsprechung davon spricht, dass es sich hiebei um "eine Schadensgefahr allgemeinerer Art" handelt (Rn. 33), so betont er den "Ausnahmecharakter einer solchen Situation" (Rn. 38), "die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre" (Rn. 37). Diesen Ausnahmecharakter betonte der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung, Urteil vom 30. Jänner 2014, C-285/12, Diakite, Rn. 30.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 18.12.2014, M'Bodj, C- 542/13) widerspricht es der Statusrichtlinie und ist es unionsrechtlich unzulässig, den in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutz Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck dieses internationalen Schutzes aufweisen, etwa aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, die insbesondere auf Artikel 3, MRK gestützt sind.
2. Fallbezogen ergibt sich daraus Folgendes:
Im gegenständlichen Fall kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle der Rückkehr tatsächlich real Gefahr laufen würde einer relevanten Verletzung der hier maßgeblichen Rechtsgüter ausgesetzt zu sein. Das Vorbringen der bP dazu blieb zuletzt auch sehr allgemein bzw. vage. Aus dem Vorbringen der bP ergab sich kein zu berücksichtigender Sachverhalt, der gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG zur Unzulässigkeit der Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung in den Herkunftsstaat führen könnte.
Die bP hat im Verfahren keine relevanten Erkrankungen dargelegt, weshalb sich daraus kein Rückkehrhindernis ergibt.
Letztlich ist auch auf die Judikatur des VwGH zu verweisen, wonach die allfällige Trennung von Familienangehörigen ebenso wie mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung im Heimatland im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen sind vergleiche VwGH 09.07.2009, 2008/22/0932; 22.02.2011, 2010/18/0417) und selbst Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der alleinigen Rückkehr auftreten können, hinzunehmen sind vergleiche VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2015/21/0180).
Unter Berücksichtigung der individuellen Situation der bP ist festzuhalten, dass hinsichtlich der Lebensbedingungen in ihrem Herkunftsstaat von einer lebensbedrohenden Notlage, welche bei einer Rückkehr die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Artikel 3, EMRK indizieren würde, aus Sicht des BVwG nicht gesprochen werden kann.
Bei der bP handelt es sich um einen gesunden, arbeitswilligen und erwerbsfähigen Mann der in der Provinz Kahramanmaras (Landkreis römisch 40 ) aufgewachsen ist, dort sozialisiert wurde und dort auch über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt. Sie besuchte neun Jahre lang die Schule, verfügt über Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft und auf Baustellen und beherrscht die türkische sowie die kurdische Sprache. Die bP hat im Verfahren auch gar nicht vorgebracht, dass sie im Falle einer Rückkehr nicht in der Lage sein würde, ihre Existenz zu sichern.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die wirtschaftliche Situation ob der COVID-19-Pandemie angespannt ist, allerdings nicht so weit als dass dadurch die Existenz der bP mittelfristig gefährdet wäre. Von der beschwerdeführenden Partei selbst sind dahingehend keine Bedenken bezüglich der Rückkehrsituation dargelegt worden. Die Türkei unternimmt (wie nahezu alle anderen Staaten weltweit und damit beispielsweise auch Österreich) entsprechende Maßnahmen zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage einerseits und zur Absicherung der eigenen Staatsangehörigen in ihren Grundbedürfnissen andererseits. Die bP verfügt darüber hinaus über familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Sowohl die Eltern der bP, als auch fünf Geschwister sowie weitere Verwandte leben in der Türkei. Im Verfahren sind keine Gründe hervorgekommen, weshalb die bP bei ihrer Familie keine Aufnahme mehr finden sollte. Abschließend ist festzuhalten, dass in der Türkei eine entsprechende soziale Unterstützung, zB. Arbeitslosenunterstützung besteht.
Es wäre der bP zumutbar, durch eigene und notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite, zB. Verwandte, sonstige sie schon bei der Ausreise unterstützende Personen, Hilfsorganisationen, religiös-karitativ tätige Organisationen – erforderlichenfalls unter Anbietung ihrer gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung – dazu beizutragen, um das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ stattfinden, wobei hier auf kriminelle Aktivitäten nicht verwiesen wird.
Auch aufgrund der Präsenz des Coronavirus COVID-19 in der Türkei, der Zahl der Infektionen, des typischen Krankheitsverlaufes, der persönlichen Umstände der bP (insbesondere deren Alter und Gesundheitszustand) sowie des Umstandes, dass der türkische Staat auf die Situation reagierte, kann nicht festgestellt werden, dass die bP im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefahr iSd Artikel 2, bzw. Artikel 3, EMRK ausgesetzt wäre. Ebenfalls könnte dies nicht aus der Verpflichtung, sich anlässlich der Einreise einer Untersuchung zu unterziehen, sich in Quarantäne zu begeben bzw. eine befristete Ausgangssperre einzuhalten, abgeleitet werden.
Ergänzend ist anzuführen, dass auch eine Rückkehrhilfe (über diese wird im erstinstanzlichen Verfahren schon informiert) als Startkapital für die Fortsetzung des bisherigen Lebens in der Türkei gewährt werden kann. Im Rahmen der Rückkehrhilfe wird dabei der Neubeginn zu Hause unterstützt, Kontakt zu Hilfsorganisationen im Heimatland vermittelt, finanzielle Unterstützung geleistet und beim Zugang zu Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten geholfen.
Auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens ergibt sich somit kein „reales Risiko“, dass es derzeit durch die Rückführung der bP in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe kommen würde.
Es kam im Verfahren nicht hervor, dass konkret für die bP im Falle einer Rückverbringung in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr bestünde, als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt zu sein.
Dieses Ergebnis entbindet die Vollzugsbehörde nicht von ihrer Verpflichtung, bei der Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme Artikel 3, EMRK (insbesondere im Hinblick auf die COVID-19-Situation im Herkunftsstaat der bP) zu beachten (VfGH v. 26.06.2020, Zl. E 1558/2020-12).
Letztlich ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerde den Erwägungen zur Zumutbarkeit und Möglichkeit der Rückkehr in die Türkei nicht substantiiert entgegengetreten ist und in weiterer Folge auch nicht nachvollziehbar dargelegt hat, wie sich eine Rückkehr in den Herkunftsstaat konkret auf die individuelle Situation auswirken würde, insbesondere, inwieweit die bP durch die Rückkehr einem realen Risiko einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre.
Es war unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher zu Recht kein Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, die Entscheidung des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde somit hinsichtlich Spruchpunkt römisch II. abzuweisen.
Zu den Spruchpunkten römisch III., römisch IV. und römisch fünf.:
Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen / Rückkehrentscheidung / Zulässigkeit der Abschiebung:
1. Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 erteilt wird.
1.1. Gegenständlich wurde der Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch in Bezug auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen.
1.2. Wie aus dem Verfahrensgang ersichtlich, erfolgte die Abweisung auch nicht gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, AsylG 2005 [Ausschluss v. subs. Schutz] und ist auch keine Aberkennung [v. subs. Schutz] gemäß Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 ergangen.
1.3. Gemäß Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
1.4. Ein Sachverhalt, wonach der bP gem. Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer eins -, 3, AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen wäre, liegt hier nicht vor, weshalb eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ vom Bundesamt zu recht nicht zu erteilen war.
2. Da sich die bP nach Abschluss des Verfahrens nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG [Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung] fällt und ihr auch amtswegig kein Aufenthaltstitel gem. Paragraph 57, AsylG zu erteilen war, ist diese Entscheidung gem. Paragraph 10, Absatz 2, AsylG mit einer Rückkehrentscheidung gem. dem 8. Hauptstück des FPG [Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde] zu verbinden.
Dem zur Folge hat das Bundesamt gemäß Paragraph 52, Absatz eins, FPG [Rückkehrentscheidung] gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (Z1) oder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde (Z2).
Gemäß Absatz 2, leg cit hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Ziffer 2,) und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
2.1. Die bP ist Staatsangehöriger der Türkei und kein begünstigter Drittstaatsangehöriger. Es kommt ihr auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gegenständlich gem. Paragraph 52, Absatz 2, FPG grundsätzlich die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zu prüfen.
3. Gemäß Paragraph 52, FPG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:
Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG lautet:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.
Artikel 8, EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens:
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“
Für die Beurteilung ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Artikel 8, EMRK vorliegt sind nach der höchstgerichtlichen Judikatur insbesondere nachfolgende Umstände beachtlich:
Privatleben:
Nach der Rechtsprechung des EGMR vergleiche aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z. B. eine Rückkehrentscheidungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen vergleiche dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vergleiche dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
Bei der Schutzwürdigkeit des Privatlebens manifestiert sich der Grad der Integration des Fremden insbesondere an intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen vergleiche EGMR 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554; vergleiche auch VwGH 5.7.2005, 2004/21/0124; 11.10.2005, 2002/21/0124).
Familienleben:
Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00); etwa bei Zutreffen anderer Faktoren aus denen sich ergibt, dass eine Beziehung genügend Konstanz aufweist, um de facto familiäre Bindungen zu erzeugen: z. B. Natur und Dauer der Beziehung der Eltern und insbesondere, ob sie geplant haben ein gemeinsames Kind zu haben; ob der Vater das Kind als eigenes anerkannt hat; ob Unterhaltszahlungen für die Pflege und Erziehung des Kindes geleistet wurden; und die Intensität und Regelmäßigkeit des Umgangs (EGMR v. 8.1.2009, Zl 10606/07, Fall Grant gg. Vereinigtes Königreich).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nur dann unter den Schutz des Artikel 8, Absatz eins, EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen vergleiche dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22. August 2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29. März 2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479).
Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, 97/21/0778; 26.6.2007, 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine „hinreichend starke Nahebeziehung“ besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung vergleiche VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.
Der Begriff des "Familienlebens" in Artikel 8, EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt vergleiche dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Artikel 8 ;, Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vergleiche auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Artikel 8, EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt vergleiche Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
3.1. Die bP hält sich seit ihrer Einreise in Österreich im September 2021, somit seit etwa einem halben Jahr, in Österreich auf. Sie geht in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach und war von ihrer Einreise in Österreich bis zum 05.11.2021 zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes in Österreich auf staatliche Zuwendungen angewiesen. Anschließend wurde sie aus disziplinären Gründen aus der Grundversorgung entlassen. Die bP verfügt über keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Besuchte Deutschkurse oder abgelegte Deutschprüfungen wurden nicht nachgewiesen. Die bP konnte sich in Österreich noch keinen Freundeskreis aufbauen. Sie ist weder Mitglied eines Vereins in Österreich, noch ehrenamtlich tätig. Aufgrund der erst kurzen Aufenthaltsdauer der bP in Österreich, der geringen Integrationsschritte und der Tatsache, dass in Österreich zwei Schwestern, ein Bruder, eine Tante sowie Cousins und Cousinen der bP leben und die bP seit 06.12.2021 bei ihrer Schwester in römisch 40 im gemeinsamen Haushalt lebt, stellt die Rückkehrentscheidung allenfalls einen sehr geringen Eingriff in das Recht auf Privatleben dar.
In Österreich leben wie bereits dargelegt zwei Schwestern, ein Bruder, eine Tante sowie Cousins und Cousinen der bP. Die bP lebt seit 06.12.2021 bei ihrer Schwester in römisch 40 im gemeinsamen Haushalt. Die Verwandten der bP sind weder finanziell noch ansonsten von ihr abhängig. Auch die bP ist dem Grunde nach nicht von ihrer Schwester abhängig, mit welcher sie im gemeinsamen Haushalt lebt, zumal sie grundsätzlich Anspruch auf Grundversorgungsleistungen hat und daher in Österreich hinreichend abgesichert ist. Eine rechtskräftige Entscheidung, wonach diese aus der Grundversorgung endgültig entlassen wurde, liegt gegenständlich nicht vor. Unabhängig davon sorgt jedoch gegenständlich die Schwester der bP für diese. Darüber hinaus ist dennoch auch anzumerken, dass bei der Prüfung, ob ein Familienleben iSd Artikel 8, EMRK vorliegt, zwar auf einen gemeinsamen Haushalt Bedacht zu nehmen ist, es muss hierbei jedoch auch berücksichtigt werden, wie lange dieser gemeinsame Haushalt bereits besteht. Die bP lebt erst seit knapp drei Monaten im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Schwester, was jedenfalls grundsätzlich keinen hinreichenden Zeitraum eines gemeinsamen Zusammenlebens darstellt. Eine besonders intensive Beziehung, die über das normale Maß zwischen Verwandten hinausgeht, wurde von der bP ebenfalls nicht vorgebracht, weshalb gegenständlich insgesamt festzuhalten ist, dass eine Rückkehrentscheidung im Zweifel einen sehr geringen Eingriff in das Recht auf Familienleben darstellt.
Da die Rückkehrentscheidung somit im Zweifel einen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben darstellt, bedarf es diesbezüglich einer Abwägung der persönlichen Interessen mit den öffentlichen Interessen, ob eine Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Im vorliegenden Fall ist der Eingriff in das Grundrecht auch gesetzlich vorgesehen und verfolgt gem. Artikel 8, Absatz 2, EMRK legitime Ziele, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, worunter auch die geschriebene Rechtsordnung zu subsumieren ist; das wirtschaftliche Wohl des Landes; zur Verhinderung von strafbaren Handlungen.
Öffentliche Ordnung / Verhinderung von strafbaren Handlungen (insb. im Bereich des Aufenthaltsrechtes):
Der EGMR geht davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Der EGMR erkennt in stRsp weiters, dass die Konventionsstaaten nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt sind, Einreise, Rückkehrentscheidung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen vergleiche uva. zB. Urteil Vilvarajah/GB, A/215 Paragraph 102, = NL 92/1/07 und NL 92/1/27f.). Die Schaffung eines Ordnungssystems mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt wird, ist auch im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig. Dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen kommt im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung (Artikel 8, Absatz 2, EMRK) daher ein hoher Stellenwert zu (VfGH 29.9.2007, B 328/07, VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251 uva.). Die öffentliche Ordnung, hier va. das Interesse an einer geordneten Zuwanderung, erfordert es daher, dass Fremde, die nach Österreich einwandern wollen, die dabei zu beachtenden Vorschriften einhalten. Die öffentliche Ordnung wird z. B. schwerwiegend beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Rückkehrentscheidung kann in solchen Fällen trotz eines vielleicht damit verbundenen Eingriffs in das Privatleben und Familienleben erforderlich sein, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte (VwGH 21.2.1996, 95/21/1256). Dies insbesondere auch deshalb, weil als allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz grundsätzlich gilt, dass aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen. (VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007). Der VwGH hat weiters festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine Rückkehrentscheidung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190). Aus Artikel 8, EMRK ist zudem kein Recht auf Wahl des Familienwohnsitzes ableitbar (VfGH 13.10.2007, B1462/06 mwN).
Die rechtswidrige Einreise und der rechtswidrige Aufenthalt im Bundesgebiet stellen eine Verwaltungsübertretung dar. Im darin enthaltenen Strafrahmen des FPG lässt der Gesetzgeber das hohe öffentliche Interesse an der Verhinderung bzw. Bekämpfung des nicht rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet erkennen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung stellt daher ein Instrument zur Verhinderung eines derartigen unter Strafe gestellten Verhaltens bzw. Unterlassens dar. Die allgemeine Lebenserfahrung zeigt, dass die Mehrzahl der Fremden nach rechtskräftigem Abschluss ihres Asylverfahrens der durch die Rückkehrentscheidung bestehenden auferlegten Ausreiseverpflichtung nicht (freiwillig) nachkommt. Nur für den Fall der Erlassung eines den Aufenthalt des Fremden beendenden Titels besteht (unbeschadet der sonstigen Zuständigkeit der Sicherheitsbehörde für Aufenthaltsbeendigungen von Fremden) für diesen Fremden nach Abschluss seines Asylverfahrens die gesetzliche Verpflichtung Österreich zu verlassen und können Organe des öffentlichen Sicherheitsdienste nur diesfalls im Falle der Weigerung im Auftrage der Sicherheitsbehörde diese im öffentlichen Interesse notwendige Aufenthaltsbeendigung auch mit behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durchführen.
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes vergleiche zB EGMR 31.7.2008, Darren Omoregie u.a. gg. Norwegen) von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den geordneten Arbeitsmarkt als auch für das Sozial- und Gesundheitssystem erhebliche Auswirkung hat.
Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass insbesondere bei nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältigen Fremden, welche daher auch grundsätzlich über keine arbeitsrechtliche Berechtigung verfügen, idR die reale Gefahr besteht, dass sie zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes in die gesellschaftlich unerwünschte, aber doch real vorhandene Schattenwirtschaft ausweichen, was wiederum erhebliche Folgewirkungen auf den offiziellen Arbeitsmarkt, das Sozialsystem und damit auf das wirtschaftliche Wohl des Landes hat vergleiche ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Artikel 8, EMRK, S 857 mwN).
Wenn das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein mussten, ist dies bei der Abwägung gegebenenfalls als die persönlichen Interessen mindernd in Betracht zu ziehen (EGMR 24.11.1998, Fall Mitchell, Appl. 40.447/98; 5.9.2000, Fall Solomon, Appl. 44.328/98; 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562, Fall Nnyanzi gg. Vereinigtes Königreich, Fall Darren Omoregie u.a. gg. Norwegen).
Privatleben iSd Artikel 8, Absatz eins, EMRK kann grundsätzlich nur im Rahmen eines legalen Aufenthaltes entstehen. Eine während des laufenden Asylverfahrens bloß vorläufige Aufenthaltsberechtigung ist nicht geeignet berechtigterweise schon die Erwartung hervorzurufen, in Österreich bleiben zu dürfen (EGMR in den Sachen Ghiban v. 7.10.04, 33743/03 und Dragan NVwZ 2005, 1043, Nnyanzi gg. Norwegen).
Der Asylwerber kann während seines Asylverfahrens nicht darauf vertrauen, dass ein in dieser Zeit entstehendes Privat- bzw. Familienleben auch nach der Erledigung seines Asylantrages fortgesetzt werden kann. Die Rechte aus der GFK dürfen nicht dazu dienen, die Einwanderungsregeln zu umgehen (ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Artikel 8, EMRK, S 857 mwN).
Verfügt die bP über einen gesicherten Aufenthalt und ist sie nicht straffällig geworden, so bewirken diese Umstände keine relevante Verstärkung ihrer persönlichen Interessen (Hinweis E 24. Juli 2002, 2002/18/0112; 31.10.2002, 2002/18/0190).
Das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration ist weiters dann gemindert, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf einen unberechtigten Asylantrag zurückzuführen ist (VwGH 26.6.2007, 2007/01/0479 mwN). Beruht der bisherige Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten (insbesondere bei Vortäuschung eines Asylgrundes [vgl VwGH 2.10.1996, 95/21/0169]), relativiert dies die ableitbaren Interessen des Asylwerbers wesentlich [vgl. die Erkenntnisse vom 28. Juni 2007, Zl. 2006/21/0114, und vom 30. August 2007, Zl. 2006/21/0246] (VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168).
Bei der Abwägung der Interessen ist auch zu berücksichtigen, dass es der bP bei der asylrechtlichen Rückkehrentscheidung grundsätzlich nicht verwehrt ist, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren vergleiche ÖJZ 2007/74, Peter Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Artikel 8, EMRK, S 861, mwN).
3.2. Im Einzelnen ergibt sich unter zentraler Beachtung der in Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins -, 9, BFA-VG genannten Determinanten Folgendes:
- Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war:
Die bP reiste nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein.
Erst ab Stellung des Antrages auf internationalen Schutz hatte die bP eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG.
Nach Abweisung dieses Antrages und Verfügung einer asylrechtlichen Rückkehrentscheidung durch das BFA wurde die vorläufige Aufenthaltsberechtigung durch Einbringung der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht für die Dauer des Beschwerdeverfahrens verlängert.
Abgesehen von der aus der bloßen Asylantragstellung resultierenden vorläufigen Aufenthaltsberechtigung für die Dauer des Verfahrens kam nicht hervor, dass die bP zu irgendeinem Zeitpunkt über einen anderen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet verfügt hätte.
Es kam nicht hervor, dass die beschwerdeführende Partei zu irgendeiner Zeit versucht hätte unter Einhaltung des geltenden Einreise- bzw. Aufenthaltsrechtes nach Österreich zu gelangen.
- das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens:
Wie bereits oben dargestellt, wird gegenständlich im Zweifel vom Vorliegen eines Familienlebens minderen Grades ausgegangen.
- Schutzwürdigkeit des Privatlebens / Die Frage, ob das Privatleben / Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstaates bewusst waren:
Während des bisherigen Aufenthaltes im Bundesgebiet in der Dauer von sechs Monaten hat die bP wie oben dargelegt nur sehr geringe private Anknüpfungspunkte in Österreich erlangen können.
- Grad der Integration:
Die bP geht in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Sie trat im Rahmen der Grundversorgung disziplinär in Erscheinung. Die bP verfügt über keine Kenntnisse der deutschen Sprache. Besuchte Deutschkurse oder abgelegte Deutschprüfungen wurden nicht nachgewiesen. Die bP konnte sich in Österreich noch keinen Freundeskreis aufbauen. Sie ist weder Mitglied eines Vereins in Österreich, noch ehrenamtlich tätig. Eine beachtliche Integration konnte nicht festgestellt werden.
- Bindungen zum Herkunftsstaat:
Die bP ist in der Türkei geboren, wurde dort sozialisiert, kann sich im Herkunftsstaat verständigen und hat ihr überwiegendes Leben in diesem Staat verbracht. Sie besuchte neun Jahre lang die Schule und verfügt über Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft und auf Baustellen. Darüber hinaus verfügt sie in der Türkei auch über familiäre Anknüpfungspunkte, so leben die Eltern der bP, als auch fünf Geschwister und weitere Verwandte dort. Mit diesen hat die bP nach wie vor regelmäßig telefonischen Kontakt. Da die bP sich erst etwa seit sechs Monaten nicht mehr in der Türkei aufhält, ist festzustellen, dass sie nicht als von der Türkei entwurzelt zu betrachten wäre.
- strafrechtliche Unbescholtenheit:
In der Datenbank des österreichischen Strafregisters scheinen keine Vormerkungen wegen gerichtlicher Verurteilungen auf.
- Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-. Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts:
Die bP reiste nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein was grundsätzlich als relevanter Verstoß gegen das Einwanderungsrecht in die Interessensabwägung einzubeziehen ist vergleiche zB. VwGH 25.02.2010, 2009/21/0165; 25.02.2010, 2009/21/0070). Sie legalisierte ihren Aufenthalt erst durch die Stellung des Antrages auf internationalen Schutz. Die bP verletzte durch die nichtwahrheitsgemäße Begründung ihres Antrages auf internationalen Schutz ihre Mitwirkungsverpflichtung im Asylverfahren.
Darüber hinaus missachtete die bP ihre Gebietsbeschränkung für das Bundesland Salzburg indem sie trotz aufrechter Gebietsbeschränkung zu ihren Verwandten nach Niederösterreich zog und dort seit 09.11.2021 mit Hauptwohnsitz gemeldet ist.
3.3. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass sich die bP erst seit lediglich sechs Monaten in Österreich aufhält und dieser Zeitraum nicht ausreichend dafür ist, sich in die Österreichische Gesellschaft nachhaltig zu integrieren.
Hinzu kommt erschwerend, dass der Asylantrag von vornherein unbegründet war, die bP die Asylbehörden offensichtlich durch Behauptung falscher Tatsachen versuchte in die Irre zu führen, um unberechtigt einen Aufenthaltstitel über das Asylverfahren zu erlangen. Erst durch Missachtung der österreichischen Rechtsordnung konnte sich die Partei diese Vorteile verschaffen.
Bestandteil einer gelungenen Integration ist ua., dass sich die asylwerbende Person auch im Asylverfahren im Wesentlichen regelkonform verhält, worüber sie überdies ausdrücklich zu Beginn und im Laufe des Verfahrens belehrt wird. Das Verhalten im Asylverfahren, also konkret vor den staatlichen Behörden des Aufnahmestaates in dem sie behauptet Schutz vor Verfolgung zu benötigen, kann somit bei einer Bewertung der Integration in Österreich nicht ausgeblendet werden. Auf Grund von nicht wahrheitsgemäßen Angaben führt dies gegenständlich zu einer Minderung der privaten Interessen der bP und zu einer Stärkung der genannten öffentlichen Interessen.
Die strafrechtliche Unbescholtenheit wirkt sich in der Bewertung neutral aus und führt nicht zur Verstärkung der privaten Interessen.
Letztlich ist auch auf die Judikatur des VwGH zu verweisen, wonach die allfällige Trennung von Familienangehörigen ebenso wie mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung im Heimatland im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen sind vergleiche VwGH 09.07.2009, 2008/22/0932; 22.02.2011, 2010/18/0417) und selbst Schwierigkeiten bei der Gestaltung der Lebensverhältnisse, die infolge der alleinigen Rückkehr auftreten können, hinzunehmen sind vergleiche VwGH 15.03.2016, Zl. Ra 2015/21/0180).
Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Einbeziehung der oa. Judikatur der Höchstgerichte ist gegenständlich ein überwiegendes öffentliches Interesse – nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, konkret das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung und Stärkung der Einwanderungskontrolle, das wirtschaftliche Wohl des Landes sowie zur Verhinderung von strafbaren Handlungen insbesondere in Bezug auf den verwaltungsstrafrechtlich pönalisierten, nicht rechtmäßigen Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet – an der Aufenthaltsbeendigung der bP festzustellen, das die Interessen der bP an einem Verbleib in Österreich überwiegt. Die Rückkehrentscheidung ist daher als notwendig und nicht unverhältnismäßig zu erachten.
Es erfolgte daher zu Recht die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gem. Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG.
4. Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.
Nach Paragraph 50, Absatz eins, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Nach Paragraph 50, Absatz 2, FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974,), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005).
Nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG ist Abschiebung in einen Staat unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht.
4.1. Die Zulässigkeit der Abschiebung der bP in den Herkunftsstaat Türkei ist gem. Paragraph 46, FPG gegeben, da nach den die Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz tragenden Feststellungen der vorliegenden Entscheidung keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des Paragraph 50, FPG ergeben würden.
Es waren unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände daher die Entscheidungen des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde somit hinsichtlich Spruchpunkte römisch III., römisch IV. und römisch fünf. abzuweisen.
Zu Spruchpunkt römisch VI.
Frist für freiwillige Ausreise
1. Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
1.2. Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, wurde die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt.
Zu Spruchpunkt römisch VII.
Einreiseverbot
1. Einreiseverbot Paragraph 53, FPG
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Anmerkung, Absatz eins a, aufgehoben durch Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2013,)
[…]
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Ziffer 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
[…]
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Absatz 3, maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. Paragraph 73, StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Absatz 3, Ziffer eins,, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.
Gemäß Paragraph 73, StGB stehen, sofern das Gesetz nicht ausdrücklich auf die Verurteilung durch ein inländisches Gericht abstellt, ausländische Verurteilungen inländischen gleich, wenn sie den Rechtsbrecher wegen einer Tat schuldig sprechen, die auch nach österreichischem Recht gerichtlich strafbar ist, und in einem den Grundsätzen des Artikel 6, der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, entsprechenden Verfahren ergangen sind.
Dem BFA wird nicht entgegen getreten, wenn es feststellt, dass eine derartige Tat auch in Österreich gerichtlich strafbar wäre. Gegenständlich wäre nach Ansicht des BVwG insbesondere Paragraph 282 a, Absatz 2, StGB einschlägig. Auch entsprach das Gerichtsverfahren (mangels entgegengesetzter substantiierter Hinweise) den Grundsätzen des Artikel 6, EMRK, sodass in diesem Fall die türkische Verurteilung herangezogen werden kann, um ein Einreiseverbot gegen die bP zu begründen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237 zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen vergleiche ErläutRV, 1078 BlgNR 24. Gesetzgebungsperiode 29 ff und Artikel 11, Absatz 2, Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Ziffer eins bis 9 des Paragraph 53, Absatz 2, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 anzunehmen.
In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinne der Ziffer 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht. Zudem ist festzuhalten, dass - wie schon nach bisheriger Rechtslage vergleiche VwGH 20.11.2008, 2008/21/0603) - in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern immer auf das zugrunde liegende Verhalten (arg.: Einzelfallprüfung) abzustellen ist. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild; darauf kommt es bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots an.
Paragraph 53, Absatz 3, FPG idgF hat im Vergleich zur Rechtslage vor dem 01.01.2014 keine inhaltliche Änderung erfahren. Daraus ist zu schließen, dass auch in Bezug auf die vom VwGH statuierten (obgenannten) Kriterien, die bei der Verhängung des Einreiseverbots und seiner Dauer zur Anwendung gelangen sollen, kein Wandel stattgefunden hat. Aus diesem Grund erachtet das Bundesverwaltungsgericht diese auch nach wie vor als anwendbar. Bei der Stellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in Paragraph 53, Absatz 3, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 umschriebene Annahme gerechtfertigt ist (VwGH 2012/18/0230, 19.02.2013)
Weiters ist bei der Entscheidung über die Dauer des Einreiseverbots auch auf die privaten und familiären Interessen des Fremden Bedacht zu nehmen (VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0002; vergleiche auch Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, Paragraph 53, FPG, K12).
Schließlich darf bei der Verhängung eines Einreiseverbots das Ausschöpfen der vorgesehenen Höchstfristen nicht regelmäßig schon dann erfolgen, wenn einer der Fälle des Paragraph 53, Absatz 2, Ziffer eins bis 9 bzw. des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FPG vorliegt vergleiche etwa VwGH 30.06.2015, Ra 2015/21/0002 mwH).
2. Das BFA verhängte gem. Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins, FPG ein auf fünf Jahre befristetes Einreiseverbot gegen die bP. Begründend führte das BFA aus, dass die bP in der Türkei wegen eines Terrorpropagandadelikts rechtskräftig zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt wurde. Zwar liege die Verurteilung schon über fünf Jahre zurück, jedoch werde die bP auch gegenwärtig als Beschuldigter in der Türkei geführt und habe die bP die PKK im Zuge der behördlichen Einvernahme verteidigt, sodass sie sich offenbar von ihrer Ideologie trotz entsprechender staatlicher Interventionsversuche nicht distanziert habe. Es müsse daher von einer aktuellen, gegenwärtigen Gefahr gesprochen werden.
Die bP sei in der Türkei wegen eines Terrorpropagandadelikts rechtskräftig verurteilt worden. Ihre Straftat gefährde daher die öffentliche Ordnung und Sicherheit in Ihrem Herkunftsstaat ganz erheblich und wäre Ihr Verhalten auch in Österreich strafbar. Dass der Aufenthalt von radikalisierten Personen in Österreich – auch wenn wie im Falle der PKK das Interessensgebiet dieser Personengruppe außerhalb des Schengenraums zu verorten sei – die öffentliche Ordnung und Sicherheit erheblich gefährde, stehe außer Frage, da es keinesfalls hinnehmbar sei, dass Österreich als sicherer Rückzugsort für terroristische Vereinigungen genutzt werden könne, da gerade solche Rückzugsgebiete der Aufbringung finanzieller Mittel, der Planung von Anschlägen, der Unterstützung aktiver Kämpfer, der Erholung von Kämpfern und der Anschlagsplanung dienen würden, sodass Österreich damit, dass Derartiges geduldet werden würde, den internationalen Kampf gegen den Terrorismus konterkarieren würde.
Auch dürfe nach Ansicht des BFA nicht übersehen werden, dass die bP im gegenständlichen Fall wegen unter anderem der herangezogenen Verurteilung um Gewährung internationalen Schutzes angesucht habe, jedoch wäre es geradezu paradox, würden die österreichischen Behörden eine (aus Sicht des BFA zu Recht erfolgte) Verurteilung wegen Terrorpropaganda im Herkunftsstaat bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen nicht zur Begründung eines Einreiseverbots heranziehen, da sich die Sichtweisen der Republik Österreich und der Türkischen Republik hinsichtlich der PKK im Wesentlichen decken würden, nachdem beide Staaten die PKK als terroristische Vereinigung qualifizieren würden. Dass kaum eine nennenswerte Gefahr bestehe, dass die PKK in Österreich (oder in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union) Terroranschläge begehe, tue dabei nichts zur Sache, da es völlig illegitim wäre, die Gefahr, die von einer Organisation oder Person ausgehe, daran zu messen, auf welchem Staatsgebiet Menschen welcher Herkunft erheblich gefährdet, wenn nicht gar getötet werden würden. Dass die PKK keinerlei Skrupel habe, zur Durchsetzung ihrer Ziele Menschenleben zu beenden, könne den eindrucksvollen Zahlen im Länderinformationsblatt entnommen werden.
Die bP habe durch Ihr (wenn auch im Ausland gesetztes) Verhalten gezeigt, dass sie kein Interesse daran habe, die Gesetze Österreichs zu respektieren. Ihr bisheriger Aufenthalt in Österreich habe ein Grundinteresse der Gesellschaft beeinträchtigt, nämlich jenes an Ruhe, an Sicherheit für die Person, an sozialem Frieden sowie an der Sicherheit der Republik.
Die bP habe durch Ihr persönlich vorwerfbares und strafbares Verhalten gezeigt, dass sie gewillt sei bzw. zumindest in Kauf nehme, durch ihr Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darzustellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre.
Zwar liege die herangezogene Verurteilung schon über fünf Jahre zurück, jedoch werde die bP auch gegenwärtig als Beschuldigter in der Türkei (vermutlich wegen wesensähnlicher Vorwürfe) geführt und habe im Zuge der Einvernahme gegenüber dem zur Entscheidung berufenen Organwalter die PKK verteidigt, sodass sie sich offenbar von Ihrer Ideologie trotz entsprechender staatlicher Interventionsversuche nicht distanziert habe. Auch gegenüber dem BFA habe die bP die PKK und ÖCALAN Abdullah in Schutz genommen. Es müsse daher von einer aktuellen, gegenwärtigen Gefahr gesprochen werden. Die begangenen Straftaten seien letztlich darauf ausgerichtet gewesen, die PKK zu glorifizieren und öffentlich ihre Unterstützung bzw. Sympathie für die PKK und deren Ziele kundzutun.
Sowohl die Verhinderung strafbarer Handlungen, als auch die Verhinderung des unrechtmäßigen Aufenthalts von Fremden im Bundesgebiet stelle jedenfalls ein Grundinteresse der Gesellschaft dar.
Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens sei unter Bedachtnahme auf das Gesamtverhalten der bP, d.h. im Hinblick darauf, wie sie Ihr Leben in Österreich insgesamt gestalte, davon auszugehen, dass die im Gesetz umschriebene Annahme, dass sie eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, gerechtfertigt sei.
Aufgrund der Tatsache, dass jene Taten, für die Sie verurteilt worden sei, bereits mehrere Jahre zurückliegen würden und bloß eine relativ kurze und vollständig bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe verhängt worden sei, habe das BFA davon Abstand genommen, Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer 6, FPG heranzuziehen und gegen die bP ein unbefristetes Einreiseverbot zu verhängen. Aufgrund der augenscheinlich nach wie vor vorliegenden Radikalisierung habe das BFA jedoch auch nicht überhaupt davon absehen können, der bP die Rückkehr in den Schengenraum für einen bestimmten Zeitraum zu untersagen. Bei Berücksichtigung der Faktenlage, bei Würdigung des von ihr an den Tag gelegten Fehlverhaltens und der vom Strafgericht herangezogenen Milderungsgründe sei – jedoch nicht die besondere Schwere von Terrordelikten übersehend – die Erlassung eines Einreiseverbots in der Dauer von fünf Jahren für angemessen und notwendig zu erachten, um der bP die Möglichkeit zu bieten, sich zu deradikalisieren und nach Ablauf der Frist neuerlich (und erstmals auf legalem Wege) ins österreichische Bundesgebiet einzureisen.
Insofern die bP in einem allfälligen Beschwerdeverfahren moniere, die Verhängung eines kürzeren Einreiseverbotes wäre ausreichend gewesen, um ihr das von ihr verwirklichte Unrecht vor Augen zu führen, so würde sich das BFA dem in Anbetracht Ihrer Radikalisierung nicht anschließen.
Auch die familiären Anknüpfungspunkte der bP seien nicht geeignet gewesen, das Bundesamt zur niedrigeren Bemessung des Einreiseverbots zu bewegen, da sie sich in den letzten Jahren niemals in Österreich aufhalten habe müssen, um ihre familiären Interessen, die ohnedies nicht von besonderer Relevanz seien, da keine Kinder Ihrer Person betroffen seien, zu wahren.
Dem wurde in der Beschwerde unsubstantiiert entgegengehalten, dass die familiären Anknüpfungspunkte der bP in Österreich nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Darüber hinaus wurde pauschal vorgebracht, es sei dem Bescheid eine nachvollziehbare Begründung für eine von der bP ausgehenden Gefährdung sowie für die angegebene Dauer des Einreiseverbotes nicht zu entnehmen.
Mit diesen Argumenten tritt die Beschwerde der Entscheidung des BFA aber nicht substantiiert entgegen.
3. Die durch das BFA dargelegten rechtskräftigen Verurteilungen liegen unbestrittener Weise vor, weshalb das BFA sohin bereits in Ansehung dessen zu Recht von der Erfüllung des Tatbestandes des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins, FPG durch das Fehlverhalten der bP ausgehen konnte, was das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch den weiteren Aufenthalt der bP im Bundesgebiet indizierte.
Zutreffend verwies das BFA in seiner Entscheidungsbegründung darauf, dass es bei einer Abwägung der im gg. Fall betroffenen Interessen einer Gesamtbeurteilung des bisherigen Verhaltens der bP und ihrer privaten- und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich bedurfte. Den durch das BFA herangezogenen Abwägungskriterien wird durch das BVwG nicht entgegen getreten. Unstrittig hat die bP auch familiäre- und private Anknüpfungspunkte in Österreich vorzuweisen, welche jedoch sehr gering ausgeprägt sind. In Gegenüberstellung zum daraus abzuleitenden persönlichen Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet kam jedoch der aus dem eben dargestellten Sachverhalt abzuleitenden Gefährdungsprognose zu Lasten der bP ein höheres Gewicht zu, weshalb sich das vom BFA verhängte Einreiseverbot schon dem Grunde nach als rechtskonform erwies.
Die zeitliche Dauer des gegen die bP erlassenen Einreiseverbots gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG im Ausmaß von fünf Jahren war darüber hinaus mit Blick auf die Radikalisierung der bP (Gutheißung terroristischer Straftaten)) in Verbindung mit der besonderen Verwerflichkeit von Terrordelikten als solchem sowie dem nicht gesetzeskonformen Verhalten der bP was die eine Ein- und Ausreise in europäische Mitgliedstaaten regelnden Bestimmungen angeht als angemessen anzusehen. Ein Einreiseverbot in der Dauer von fünf Jahren scheint für das BVwG daher angemessen, erforderlich und darüber hinaus auch als verhältnismäßig.
Die Beschwerde war somit auch hinsichtlich Spruchpunkt römisch VII. als unbegründet abzuweisen.
Absehen von einer mündlichen Beschwerdeverhandlung
Gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt Paragraph 24, VwGVG.
Gemäß Paragraph 24, VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Nach Absatz 4, leg. cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetze nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteienantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtslage nicht erwarten lässt, und einem Entfall der mündlichen Verhandlung weder Artikel 6, Absatz eins, der EMRK noch Artikel 47, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010, S 389, (2010, C 83/02) entgegensteht.
Gemäß Artikel 47, Absatz eins, GRC hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Zufolge des Absatz 2, leg. cit. hat jede Person das Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.
Nach Artikel 25, Absatz eins, GRC muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
Zur Frage der Verhandlungspflicht brachte der Verfassungsgerichtshof etwa in seinem Erkenntnis vom 14.03.2012, U 466/11, u.a. zum Ausdruck, er hege vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Zulässigkeit des Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung weder Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des Paragraph 41, Absatz 7, AsylG, noch könne er finden, dass der Asylgerichtshof der Bestimmung durch das Absehen von der Verhandlung einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt habe. Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergebe, dass das Vorbringen tatsachenwidrig sei, steht im Einklang mit Artikel 47, Absatz 2, GRC, wenn zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden habe, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt worden sei.
Übertragen auf den vorliegenden Beschwerdefall erfordert ein Unterbleiben einer Verhandlung vor dem BVwG somit, dass aus dem Akteninhalt der belangten Behörde die Grundlage des bekämpften Bescheides unzweifelhaft nachvollziehbar ist.
Der VwGH hat zur Frage der Verhandlungspflicht mit Erkenntnis vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 ausgesprochen, dass sich die bisher zu Paragraph 67 d, AVG ergangene Rechtsprechung auf das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten weitgehend übertragen lässt. Für den Anwendungsbereich der vom BFA-VG 2014 erfassten Verfahren ist primär Paragraph 21, Absatz eins und subsidiär Paragraph 24, Absatz 4, VwGVG als maßgeblich heranzuziehen. Für die Auslegung der Wendung in Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG 2014 "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde erklärt scheint", sind nunmehr folgende Kriterien beachtlich: Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die, die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende, Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf keine dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, dass gegen das in Paragraph 20, BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.
Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch die belangte Behörde vorausgegangen. Der Sachverhalt wurde nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung der belangten Behörde festgestellt. Insbesondere ist die belangte Behörde ihrer Ermittlungspflicht durch die detaillierte Befragung der beschwerdeführenden Partei nachgekommen. Es wurde in der Beschwerde auch kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt in konkreter und substantiierter Weise behauptet. Vielmehr finden sich dort im Wesentlichen Wiederholungen des bisherigen Vorbringens sowie eine letztlich als unberechtigt zu qualifizierende Kritik an der Beweiswürdigung der belangten Behörde.
Auch wurde den Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid nichts Substantiiertes entgegengehalten und hat auch ein Abgleich mit den aktuellsten Länderinformationen zum Herkunftsstaat nicht ergeben, dass sich die dortige Situation entscheidungswesentlich verändert hätte.
Mit der Beschwerde wurde daher auf Sachverhaltsebene nichts Entscheidungsrelevantes mehr vorgebracht und wurden auch keine weiteren Dokumente oder Unterlagen vorgelegt.
Dem BVwG liegt sohin kein Beschwerdevorbringen vor, das mit der bP mündlich zu erörtern gewesen wäre.
Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint, konnte gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
ECLI:AT:BVWG:2022:L510.2250107.1.00