Bundesverwaltungsgericht
08.03.2022
W196 2195656-1
W196 2218416-1/20E
W196 2195668-1/22E
W196 2195656-1/19E
W196 2195658-1/20E
W196 2195665-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) römisch 40 , geb. römisch 40 , 2) römisch 40 , geb. römisch 40 , 3) römisch 40 , geb. römisch 40 , 4) römisch 40 , geb. römisch 40 und 5) römisch 40 , geb. römisch 40 alle Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.03.2019, ZI 1) 1208505208-180937058, und vom 02.04.2018, Zlen 2) 1159657208-170855119, 3) 1159656701-170855089, 4) 1159656908-170855105 und 5) 1159657306-170855127, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.11.2021, zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist jeweils gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (BF2) sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer (BF3 bis BF5). Die Beschwerdeführer (BF) sind allesamt Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen.
1. BF2 und ihre drei minderjährigen Söhne, BF3 bis BF5, stellten am 18.07.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 20.07.2017 wurde BF2 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer niederschriftlichen Erstbefragung unterzogen. Dabei führte sie zu ihren Fluchtgründen befragt aus, dass ihr älterer Bruder im Jahr 1994 zu den tschetschenischen Kämpfern gegangen sei und dass sie seither ständig von den russischen Behörden zum Bruder befragt, sowie beschuldigt werde, diesen zu unterstützen. Wenn irgendwo eine Bombe in die Luft gehe, würden sie und ihr Ehemann sofort verhört werden. Am 10.07.2017 hätten die Polizisten sogar ihr Haus verbarrikadiert und angezündet. Aus Angst um ihr Leben, habe sie beschlossen, gemeinsam mit ihren Kindern, ihr Heimatland zu verlassen.
3. Am 12.03.2018 fand die niederschriftliche Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) statt. Dabei gab BF2 zunächst an, russische Staatsangehörige, Tschetschenin und Muslimin zu sein. Sie sei Mutter dreier Kinder und verheiratet. Ihr Ehemann würde sich noch in Tschetschenien aufhalten, da ihm von der dortigen Polizei seine Dokumente abgenommen worden wären, weshalb er nicht habe ausreisen können.
Außer ihrem Mann würden sich noch ihre Schwester und ihr jüngerer Bruder in der Russischen Föderation aufhalten. Ihre Eltern seien bereits verstorben und ihr älterer Bruder sei seit dem ersten Tschetschenienkrieg verschollen. Aufgrund dessen Tätigkeit als Widerstandkämpfer hätten die beiden anderen Geschwister Tschetschenien verlassen müssen. Sie würden sich nunmehr in Inguschetien aufhalten, was etwa eine halbe Stunde von der Heimat entfernt liege. Der jüngere Bruder sei als Unternehmer im Baugewerbe tätig und geschäftlich in Russland und Kasachstan unterwegs. Die Schwester arbeite als Verkäuferin.
Zur Schwester habe BF2 noch Kontakt; diese sei gegen ihre Ausreise gewesen.
Zu ihrem verschollenen Bruder führte BF2 näher aus, dass dieser einmal vom früheren Präsidenten Tschetscheniens gefragt worden sei, ob er dessen „rechte Hand“ sein möchte. Ihr Bruder hätte dieses Angebot – sich politisch aktiv zu engagieren – zwar abgelehnt, bei Kriegsausbruch sei er aber, wie viele andere junge Männer auch, in den Krieg gezogen. Seither gelte er als verschollen.
In Tschetschenien komme es immer wieder zu Attentaten, wofür die Behörden den verschollenen Bruder verantwortlich machen würden; sie würden offensichtlich davon ausgehen, dass der Bruder noch am Leben sei. Auch BF2 „spüre“, dass er noch lebe und sie vermute, dass er sich einer Gruppe von Widerstandskämpfern angeschlossen, oder ins Ausland abgesetzt habe. BF2 und ihrem Ehemann würden die tschetschenischen Behörden nunmehr unterstellen, den verschollenen Bruder zu unterstützen.
Am 01.09.2016 wäre BF2 von den tschetschenischen Behörden geladen und zum verschollenen Bruder befragt worden. Man hätte sie anlässlich ihres Verhörs in einer Zelle festgehalten, wo auch Schwerstverbrecher untergebracht gewesen wären, und vier von diesen hätten sie sogar vergewaltigt; ihrem Mann habe sie von dieser „Schande“ nicht erzählt.
Nach diesem Vorfall hätten sie und ihre Familie wieder „gut“ weitergelebt, bis man am 10.07.2017 mitten in der Nacht ihr Haus in Brand gesetzt habe. Da die Fenster niedrig gelegen wären, habe ihr Mann mit einem Stuhl die Fenster eingeschlagen, um so aus dem Haus zu gelangen. Eine Schachtel mit Dokumenten, welche neben dem Bett bereitgestellt lag, hätten sie gerade noch „retten“ können. Ihr Mann habe versucht, über die Haustüre hinauszugelangen; diese hätte er jedoch nicht zu öffnen vermocht. Erst nachdem die Löschungsarbeiten beendet worden wären, sei ihrer Familie von der Feuerwehr berichtet worden, dass die Eingangstür ihres Hauses von außen mit Gegenständen blockiert gewesen sei. Für BF2 sei somit klar gewesen, dass man versucht habe, sie und ihre Familie zu ermorden.
In der Früh sei ihre Familie dann zu Verwandten gefahren und ihr Ehemann habe für BF2 und die Kinder ein Reisepaket nach Tunesien besorgt, von wo aus sie nach Österreich gelangen konnten. Außer den genannten Vorfällen hätte es keine Verfolgungshandlungen BF2 betreffend mehr gegeben.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative habe BF2 nicht in Erwägung gezogen, da sie zunächst keine Probleme gehabt habe. Sie hätte gedacht, die Behörden hätten ihren Bruder bereits vergessen. Lediglich einmal sei sie zum Verhör geladen worden und danach sei versucht worden, sie und ihre Familie durch Brandstiftung umzubringen. Ab diesem Vorfall sei ihr klar gewesen, dass es für sie und ihre Familie in ganz Russland nicht sicher sei; selbst in Österreich sei bereits eine Person im Auftrag des Präsidenten Tschetscheniens ermordet worden.
Vom BFA dazu befragt, ob sie noch mit ihrem Mann in Kontakt stehe, gab BF2 ferner bekannt, dass dessen Bruder am 08.03.2018 ermordet worden sei, als dieser mit dem Fahrzeug ihres Ehemannes unterwegs gewesen war; Sie vermute, man habe es eigentlich auf ihren Mann abgesehen gehabt. Davor hätte sie noch Kontakt zu ihrem Ehemann gehabt, nun müsse sich dieser aber um das Begräbnis seines Bruders kümmern.
4. Mit Bescheiden des BFA vom 02.04.2018, ZIen 2) 1159657208-170855119, 3) 1159656701-170855089, 4) 1159656908-170855105 und 5) 1159657306-170855127, wurden die von BF2 und den BF3 bis BF5 gestellten Anträge auf internationalen Schutz vom 18.07.2017 jeweils gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) und gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen, gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 wurde ihnen ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation gemäß Paragraph 46, FPG zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde ferner die Frist für ihre freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VI.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die von BF2 behauptete Verfolgung aufgrund ihrer Angehörigeneigenschaft zu ihrem Bruder, einem Veteranen der Tschetschenienkriege, mit Hinblick auf ihre Aussagen und die behördlichen Länderfeststellungen nicht nachvollziehbar bzw. glaubhaft sei und dass letzterer zufolge BF2 und ihren Kindern im Falle ihrer Rückkehr nach Russland auch keinerlei sonstige Gefährdung drohe. Ihre Existenz wäre zudem aufgrund der individuellen Umstände von BF2 (Alter, Ausbildung und Erwerbsfähigkeit) gesichert. Da alle Familienmitglieder gleichermaßen von der Rückkehrentscheidung betroffen wären, stelle diese auch keinen Eingriff in ihr in Artikel 8, EMRK gewährleistetes Recht auf Familienleben dar und es sei die BF betreffend auch kein im Bundesgebiet schützenswertes Privatleben erkennbar.
5. Gegen diesen Bescheid erhoben BF2 und ihre Kinder, BF3 bis BF5, am 02.05.2018 fristgerecht vollumfänglich Beschwerde wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
Dazu führten sie zusammengefasst aus, dass sich die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen nur am Rande mit dem konkreten Fluchtvorbringen der BF befassen würden und dass die Behörde, sofern sie alle ihr zugänglichen Quellen vollständig ausgewertet hätte, zu einer anderen Entscheidung gelangen hätte müssen. Denn wie in der Beschwerde unter Heranziehung unterschiedlicher Berichte aufgezeigt, würden Familienangehörige von Widerstandskämpfern in Tschetschenien nach wie vor verfolgt werden und es bestünde auch eine akute Gefährdung für Rückkehrende, in der Heimat gefoltert und getötet zu werden. Die von BF2 geschilderte Sachverhaltslage sei demnach durchwegs lebensnah bzw. es entspreche diese der politischen und praktischen Realität Tschetscheniens.
Darüber hinaus hätte das BFA, sofern es BF2 näher befragt hätte, aber auch feststellen müssen, dass das eigentliche Ziel der tschetschenischen Sicherheitsbehörden der Sohn ihres verschollenen Bruders gewesen sei. Diesen hätte BF2 bzw. ihre Familie einmal in ihrem Haus versteckt, um ihn vor einer Inhaftierung zu schützen, und es sei daraufhin sogar zur Hausdurchsuchung gekommen.
Bei gesetzmäßiger Führung des Ermittlungsverfahrens und nach einer mängelfreien Beweiswürdigung hätte die Behörde BF2 und ihren Kindern somit die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen müssen.
BF2 sei vor ihrer Flucht zwei Mal von den tschetschenischen Sicherheitsbehörden abgeholt und zum verschollenen Bruder befragt worden und am 10.07.2017 habe man ihr Haus verbarrikadiert und in Brand gesetzt. Ihr Fluchtvorbringen lasse sich zweifelsfrei unter einem der in der GFK taxativ aufgezählten Fluchtgründe subsumieren, nämlich die Verfolgung aufgrund der politischen Gesinnung, die ihr aufgrund des politischen Engagements ihres Bruders unterstellt werde. Weiters werden BF2 und ihre Familienangehörigen wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie eines Widerstandskämpfers verfolgt und es drohe BF2 auch Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen in islamischer Gesellschaft durch ihre Familie sowie durch die tschetschenische Gemeinschaft aufgrund des bereits erfolgten Übergriffes auf ihre sexuelle Integrität (anlässlich ihrer zweiten Befragung zum verschollenen Bruder). Die Verfolgung gehe unbestritten vom Staat aus, weswegen eine innerstaatliche Fluchtalternative auszuschließen sei.
Da aus den Länderberichten der Behörde, den ergänzend angeführten Berichten in der Beschwerde, sowie aus den Aussagen von BF2 hervorgehe, dass ihr und der Familie in Tschetschenien Tod und Folter drohe, würde den BF im Falle einer Rückkehr aber jedenfalls eine Verletzung des Artikel 3, EMRK drohen. Zudem würde es ihnen, aufgrund des Verlustes ihres Hauses und Vermögens in Folge der Brandstiftung, ihrer Zugehörigkeit zur Familie des Widerstandskämpfers und der wirtschaftlichen Lage in Tschetschenien besonders schwerfallen, dort wieder Fuß zu fassen.
Schließlich sei noch darauf hinzuweisen, dass die BF allesamt gut in Österreich integriert wären und hier ein schützenswertes Privatleben aufgebaut hätten. Daher wäre bei richtiger rechtlicher Beurteilung zumindest auszusprechen gewesen, dass ihre Rückkehr auf Dauer unzulässig sei.
6. Die Beschwerdevorlage betreffend BF2 langte am 18.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde zunächst der Gerichtsabteilung W103 zugewiesen. Nach einer Unzuständigkeitseinrede aufgrund Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung (Paragraph 20, AsylG) wurde ihr Verfahren der Gerichtsabteilung W196 neu zugeteilt; infolge Annexität (Familienzugehörigkeit) galt dies auch für die Verfahren BF3 bis BF5 betreffend.
7. In der Folge gelangte BF1 im Besitz eines tschechischen Schengenvisums ins Bundesgebiet und er stellte am 02.10.2018 ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
8. Bei seiner am 03.10.2018 erfolgten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er in seiner Heimat öfters festgenommen worden sei, wobei ihm im Zuge einer Festnahme am 05.07.2017 sogar sein Reisepass abgenommen wurde. Am 10.07.2017 habe man sodann sein Haus angezündet. Danach sei er nach Inguschetien geflohen, wo man ihn ebenso gefunden, nach Tschetschenien entführt und dort gefoltert habe. Sein Schwager sei ein Freund des früheren tschetschenischen Präsidenten gewesen und der Geheimdienst würde wissen wollen, wo sich der Angehörige aufhalte. Er selbst wisse dies nicht, denn der Schwager sei verschollen. Im Falle einer Rückkehr befürchte BF1, dass man ihn und seine Familie töte.
9. Aufgrund der – im Rahmen einer weiteren Einvernahme am 19.12.2018 - getätigten Angaben zu seiner im Bundesgebiet aufhältigen Familie (BF2 und BF3 bis BF5) wurde, BF1 betreffend, von einer (Dublin-)Überstellung nach Tschechien abgesehen und auch sein Verfahren in Österreich zugelassen.
8. Am 15.02.2019 wurde BF1 sodann vor dem BFA einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen führte BF1 dabei näher aus, dass er mit seiner Familie in Tschetschenien zunächst ein normales Leben geführt habe. Erst am 10.09.2016 hätten die Behörden seine Frau bezüglich ihres Bruders vorgeladen und sie den ganzen Tag festgehalten und verhört. Sie sei dabei weder geschlagen noch beleidigt worden; man hätte sie lediglich bedroht und beschuldigt, dass ihr Bruder bei ihr gewohnt habe und von ihr unterstützt worden sei. Der Bruder seiner Ehefrau sei ein Widerstandskämpfer gewesen.
Am 05.07.2017 sei dann auch er einvernommen worden und am 10.07.2017 hätten Unbekannte ihr Haus angezündet. Die Haustür sei von außen mit einem Metallrohr verriegelt gewesen, seine Familie hätte aber durch das Fenster aussteigen können. Sie hätten nur eine Schachtel mit Dokumenten mitnehmen können. Einen Beweis dafür, dass die Behörden hinter der Brandstiftung steckten, habe er nicht, seine Nachbarn hätten damals aber bewaffnete uniformierte Männer in ihrer Straße gesehen. Er glaube, dass die Behörden das Haus angezündet hätten, um sie einzuschüchtern und zu einem Geständnis zu zwingen.
Seine Familie sei nach dem Brandereignis zu seinen Eltern nach Inguschetien gefahren. Danach habe er für seine Ehefrau und die Kinder die Ausreise organisiert und sie nach Europa geschickt; seine Familie sei am 13.07.2017 ausgereist. Er selbst sei bei den Eltern geblieben, da er seinerzeit noch keinen Reisepass gehabt habe.
Am 24.02.2018 hätten sodann russische Spezialbehörden – vermutlich FSB – das Haus seiner Eltern gestürmt und sie hätten ihn daraufhin nach Tschetschenien in eine Zentrale mitgenommen. Dort habe er den ganzen Tag in einer Zelle verbracht und am 25.02.2018 wäre er dazu gedrängt worden, mittels Unterschrift auf einem bereits vorbereiteten Dokument zuzugeben, dass er den Bruder seiner Ehefrau unterstützt habe.
Da er sich geweigert habe, zu unterschreiben, sei er von seinen „Entführern“ brutal geschlagen worden. An diesem Gewaltakt wären viele Männer beteiligt gewesen. Einer habe ihm letztlich mit einem Gewehrkolben eines Maschinengewehrs einen Schlag ins Gesicht versetzt, woraufhin er das Bewusstsein verloren habe. Dadurch habe er eine Gehirnerschütterung erlitten und seine Nase sei gebrochen gewesen. Am darauffolgenden Tag, dem 26.02.2018, sei er ohne weiter befragt zu werden, wieder freigelassen worden. Weil es für ihn gefährlich gewesen sei, in Tschetschenien zu bleiben, habe er sich dann dazu entschlossen, nach Georgien zu fahren, wo er sich bis zum 07.09.2018 aufgehalten habe.
Während seines Aufenthaltes in Georgien wären seine Eltern zweimal aufgesucht worden, um nach ihm befragt zu werden. Zudem sei sein jüngerer Bruder am 08.03.2018 ermordet worden, als dieser mit dem zurückgelassenen Auto von BF1 nach Tschetschenien gefahren sei; das Attentat hätte vermutlich ihm selbst gegolten.
BF1 habe sich daraufhin um ein Visum bemüht, um ebenso nach Europa zu gelangen und er habe schließlich auch jemanden in Russland gefunden, der ihm ein solches besorgen habe können. Das Visum habe er in Rostow abgeholt; er habe fürchterliche Angst gehabt, wieder in Russland zu sein. Nachdem er sich dort drei Tage lang aufgehalten habe, sei er schließlich am 10.09.2018 mit Litauern in Richtung Europa gefahren; das habe er alles über das Internet organisiert.
Warum der Bruder seiner Ehefrau verschollen sei, wisse er nicht. Dieser sei jedoch bereits seit dem ersten Tschetschenienkrieg vermisst; er sei als Waffenlieferant und als Kämpfer am Krieg beteiligt gewesen. Am 01.09.2016 sei seine Frau festgehalten und befragt worden und im Juli 2017 wäre die Situation eskaliert, als ihr Haus angezündet worden sei. Davor habe es keine Probleme gegeben, diese hätten erst begonnen nachdem irgendjemand im Spätsommer 2016 den Behörden erzählt habe, dass seine Frau bzw. er selbst Kontakt zum Bruder/Schwager gehabt hätten. Wer ihn diesbezüglich beschuldigt haben könnte, sei ihm allerdings nicht bekannt. Zwar sei es richtig, dass man von einer Verfolgung durch Kadyrow in anderen Teilen Russlands sicher sei, er bzw. seine Familie sei jedoch vom FSB verfolgt worden und es würden diese überall in Russland sowie auch in Europa Menschen töten.
Wegen seiner Religionszugehörigkeit, politischen Einstellung, etc. hätte es hingegen zu keiner Zeit wesentliche Probleme gegeben.
Wenn er bei seiner Erstbefragung erklärt habe, dass ihm am 04.07.2017 von der tschetschenischen Polizei sein Reisepass eingezogen worden wäre, so handelte es sich dabei lediglich um seinen Inländerpass. Einen Reisepass habe er zuvor gar nie besessen. Einen solchen habe er erst im Herbst 2017 in Inguschetien beantragt; er habe dafür auch gar nicht selbst zu den Behörden gehen müssen, sondern es sei ihm der Pass einfach über einen Mittelsmann zugeschickt worden. Es hätte sich dabei um eine „korrupte Vorgehensweise“ gehandelt.
Bei der Ausreise aus Russland sei er zwar von den russischen als auch von den ukrainischen Grenzbeamten kontrolliert worden, aber auch diese wären korrupt gewesen, und mittels Bestechung hätte man ihn und seinen Fahrer passieren lassen. Der Umstand, dass seine Frau und Kinder auf legalem Wege mit einem Touristenvisum per Flugzeug ausgereist seien, sei nur insofern möglich gewesen, als er und seine Familie nur von einzelnen Beamten verfolgt würden; nicht jedoch vom gesamten russischen Behördenapparat.
Sein Reisepass sei ihm später während der Flucht in Ungarn von „Zigeunern“ gestohlen worden.
In der Russischen Föderation würden noch seine Eltern und drei seiner Brüder leben; allesamt in Inguschetien. Ansonsten habe er keine Verwandten im Heimatland; die anderen seien alle ausgereist. Den in Russland aufhältigen Verwandten würde es eigentlich nicht schlecht gehen; sie führen ein normales Leben. Seine Eltern würden eine Rente beziehen. Ein Bruder arbeite beim Autoservice und ein anderer in Moskau. Der dritte Bruder lebe bei den Eltern und sei arbeitslos.
9. Mit Bescheid vom 18.03.2019, ZI 1) 1208505208-180937058, wurde sodann auch der Antrag von BF1 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) und gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen, gemäß Paragraph 57, AsylG wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß Paragraph 46, FPG zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde ferner die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt römisch VI.).
Auch BF1 betreffend wurde ausgeführt, dass ihm die Glaubhaftmachung seines Fluchtvorbringens nicht gelungen sei und dass ihm im Hinblick auf die behördlichen Länderfeststellungen auch sonst keinerlei Gefährdungen im Herkunftsstaat drohe. Seine Rückkehr werde ferner als zulässig befunden, da die Fortsetzung seines Familienlebens auch in der Russischen Föderation möglich sei und weil das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthaltes das Recht auf Ausübung seines Familien- und Privatlebens in Österreich überwiege.
10. Die gegen diesen Bescheid am 15.04.2019 vollumfänglich erhobene Beschwerde wurde zusammengefasst damit begründet, dass die Behörde aus nicht nachvollziehbaren Gründen, davon ausgehe, dass BF1 keine politische Verfolgung geltend gemacht habe. Denn BF1 habe in seiner Einvernahme ausdrücklich angegeben, dass ihm die russischen Behörden eine regimefeindliche Gesinnung unterstellen würden, da er seinen Schwager unterstützt haben soll. Aus diesem Grund würden die russischen Behörden BF1 auf eine Stufe mit dem politisch verfolgten Schwager stellen.
Sofern das BFA festhalte, dass die russischen Behörden keine Veteranen der Tschetschenienkriege verfolgen würden und ihren Fokus nur mehr auf IS-Kämpfer gerichtet hätten, beruhe dies nur auf einer Vermutung der österreichischen Botschaft in Moskau und es bedürfe dies sohin einer weiteren Überprüfung durch den Abgleich mit anderen Länderinformationen. Aus in der Beschwerde zitierten Berichten lasse sich jedenfalls entnehmen, dass Angehörige von ehemaligen Widerstandskämpfern von massiver Verfolgung bedroht würden; wobei auch Fälle nach dem Jahr 2011 dokumentieren seien.
Zum Vorhalt, dass gemäß dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht „Adat“ der nächste männliche Verwandte das klassische Ziel einer familienbezogenen Verfolgungshandlung sei und sohin nicht der BF, sondern der zweite Bruder der Ehefrau verfolgt werden müsste, sei anzumerken, dass dieser Bruder aufgrund einer Heirat die Staatsangehörigkeit von Kasachstan innehabe und größtenteils auch in Kasachstan lebe. Insofern sei es auch durchaus nachvollziehbar, warum die Behörden gegen BF1 und seine Ehefrau vorgehen würden.
Den weiteren Ausführungen der Behörde, wonach es nicht nachvollziehbar sei, dass die Probleme, welche auf Grundlage des ersten Tschetschenienkrieges fußen würden, erst im Jahr 2016 begonnen hätten, sei zu entgegnen, dass die Sicherheitskräfte Tschetscheniens ohne Muster und Logik handeln würden und insofern auch eine Verfolgung nach 20 Jahren noch möglich sei. Eine gewisse Beharrlichkeit der russischen Sicherheitsbehörden um mutmaßliche Unterstützer und Angehörige von ehemaligen Widerstandskämpfern unter Druck zu setzen, ergebe sich aber jedenfalls aus der Tatsache, dass die Eltern von BF1 mehrmals nach seiner Ausreise nach Georgien von den Sicherheitsbehörden aufgesucht worden wären.
In Zusammenhang mit dem weiteren Vorhalt, dass BF1 und seine Frau Russland auf legalem Wege verlassen konnten, übersehe das BFA ferner, dass BF1 – wie in der Einvernahme vorgebracht - nur mittels Bestechung ausreisen habe können; wobei sich dies auch mit den behördlichen Länderfeststellungen decke, wonach Korruption in Russland weitverbreitet sei.
Bezüglich vermeintlich widersprüchlicher Ausführungen des BF1 betreffend seine Verfolger sei überdies anzumerken, dass er grundsätzlich die staatliche Verfolgung durch den Behördenapparat vorgebracht habe, auch wenn die Verfolgungshandlungen von einzelnen Beamten umgesetzt worden wären. Denn die Handlungen eines oder mehrerer Beamten wären unweigerlich dem Staat zuzurechnen. Dass der Staat willens und in der Lage sei, Schutz vor Übergriffen durch Beamte zu gewähren, könne anhand der Länderfeststellungen weiters verneint werden.
Vor diesem Hintergrund sei das Fluchtvorbringen des BF1 durchaus wahrscheinlich und somit auch als glaubwürdig zu klassifizieren.
Darüber hinaus habe es die Behörde aber auch unterlassen, näher auf den Umstand, der Systemkritik durch den BF1 selbst einzugehen. Dieser habe mehrfach geäußert, dass er seine Meinung kundgetan, und auch gegen Putin in der Wahl gestimmt habe. Insofern erscheine das Vorgehen der Sicherheitskräfte in Tschetschenien als sehr plausibel, da gleich zwei Elemente – die Angehörigeneigenschaft zu einem ehemaligen Widerstandskämpfer sowie die ablehnende Haltung gegenüber dem bestehenden System – aufeinander treffen würden.
Bezüglich der vorgebrachten Lichtbilder des BF1 und der Schlussfolgerung der Behörde, dass diesen nur ein untergeordneter Beweiswert zukomme, dürfe hinzugefügt werden, dass diese ein klares Indiz darstellen würden, dass sich das Fluchtvorbringen tatsächlich ereignet hätte. Gleiches gelte für das vorgelegte Schriftstück der Nachbarn, welche bezeugen könnten, dass das Haus der Familie von Sicherheitskräften niedergebrannt worden sei. Der Verweis, dass die Echtheit und Richtigkeit nicht festgestellt, und somit das Schriftstück nicht als Beweis herangezogen werden könne, sei unzureichend und fuße auf einer mangelhaften Ermittlung der Behörde, welche verpflichtet gewesen wäre, dies genauer zu überprüfen. In Zusammenschau mit der chronologischen Aufzählung der Ereignisse und dem Detailgehalt der Erzählung ist BF1 jedenfalls die Glaubwürdigkeit zuzusprechen. Auch die Ansicht der Behörde, wonach BF1 in Bezug auf den Diebstahl seines Reisepasses nicht glaubwürdig sei, sei verfehlt.
Darüber hinaus habe es die Behörde unterlassen, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es sich bei BF1 um einen Familienvater handle und sich dessen Familie derzeit auch im Verfahren auf internationalen Schutz befinde. Somit hätte die Behörde auch näher auf die Möglichkeiten der Rückkehr einer Familie eingehen müssen; Denn BF1 müsste jedenfalls drei Kinder und eine Ehefrau versorgen und bedürfe sohin weitreichender Unterstützungen und Ressourcen.
Bei Führung eines mängelfreien Verfahrens hätte BF1 der Status des Asylberechtigten zuerkannt werden müssen. Der Umstand, dass er in Russland wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie und der politischen Gesinnung verfolgt werde, lasse für ihn die Definition eines Flüchtlings im Sinne der GFK zutreffen.
Entgegen der Ansicht der belangten Behörde sei BF1 in der Heimat jedenfalls realer Gefahr der Verletzung von Artikel 2 und 3 EMRK ausgesetzt, zumal ihm dort Inhaftierung und Folter drohe; und müsste ihm sohin in eventu der Status des Subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt werden.
Letztlich erweise sich aber auch die von der Behörde gem Artikel 8, Absatz 2, EMRK bzw Paragraph 9, BFA-VG durchgeführte Interessenabwägung als nicht haltbar. Denn aufgrund der bereits erfolgten fortgeschrittenen Integration von BF1 und dem Umstand, dass auch seine Frau und Kinder im Bundesgebiet aufhältig wären, müsste zumindest von einer Rückkehrentscheidung abgesehen werden.
11. Die Beschwerdevorlage betreffend BF1 langte am 06.05.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde (infolge Annexität) ebenso der zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugewiesen.
12. Zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde für den 22.11.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anberaumt. Zu dieser erschienen BF1 und BF2 sowie die minderjährigen BF3 bis BF5 und ihre Vertretung. Die belangte Behörde hatte sich mit Schreiben vom 03.11.2021 entschuldigt. Der Verhandlung wurde ferner ein Dolmetscher für die russische Sprache beigezogen.
Die Verhandlung nahm im Wesentlichen folgenden Verlauf:
„Eröffnung der Verhandlung
RI: Verstehen Sie mich auch auf Deutsch?
BF1: Ein bisschen.
BF2: Auch ein bisschen.
BF3-BF5: Ja.
Es werden keine Gründe wegen Befangenheit gegen die D geltend gemacht.
BF2-BF5 verlassen den Verhandlungssaal.
Beginn der Befragung von BF1
(…)
RI: Sie haben am 03.10.2018 den Asylantrag gestellt. Wann sind Sie nach Österreich eingereist?
BF1: Am 02.10.2018.
RI: Wieso sind Sie ausgereist? Was ist vorgefallen? Wieso haben Sie den Entschluss gefasst Ihren Heimatort zu verlassen?
BF1: Ich habe in einem College als Lehrer für Wirtschaft gearbeitet und dort auch als Fahrlehrer für die Praxis und für den Theorieunterricht gearbeitet. Es war ebenfalls in diesem College (College ist eine dreijährige Berufsausbildung nach der Matura).
RI: Was ist passiert?
BF1: Ich wurde vom ROWD einvernommen, das entspricht der österreichischen Polizei. Man hat mir gesagt, dass das unser Verwandter ist und er zu uns nach Hause kommt. Er soll bei uns übernachten und bei uns leben. Ich habe ihnen erklärt, dass ich ihn nie lebend gesehen habe. Er ist der Bruder meiner Frau. Er gilt seit 1994 als verschwunden. Bei der Einvernahme ging es um den Bruder meiner Frau. Er hat beim ersten Krieg teilgenommen und war aktiv auf der Seite des Wiederstandes, gegen die russische Föderation, dabei. Man hat mir jedoch vorgeworfen, dass er zu uns kommt und ich ihm helfe. Bei uns gilt die Hilfe für den Widerstand als Widerstand. Man hat mich am 05.06.2017 dorthin geladen. Man hat mir den russischen Inlandspass abgenommen, damit ich nicht in eine andere Region fahre und mich dort verstecke. Dann wurde ich freigelassen. Ich bin nach Hause gefahren und zu Hause herrschte Panik. Es ist nämlich so, dass wenn man jemanden „zu bearbeiten beginnt“ dann wird derjenige nie in Ruhe gelassen. Wir haben bis zum 10.07.2017 dort gelebt, weil unser Haus wurde in der Früh in Brand gesetzt. Unser Haus war im Dorf römisch 40 . Wir waren alle zu Hause als das passierte. Draußen stand das Auto. Ich wollte die Türe aufmachen, aber sie ging nicht auf. Wir sind durch das Fenster gegangen. Die Kinder waren noch klein. Wir haben nur unsere Dokumente mitgenommen, sie waren in einer Schuhschachtel. Wir sind gleich nach Inguschetien. Tschetschenien und Inguschetien sind wie Nord- und Südkorea, nur damit Sie das verstehen. Nordkorea entspricht Tschetschenien.
RI: Was hat man sich davon versprochen, Ihr Haus anzuzünden. Was sollte dies bewirken?
BF1: Bei den Leuten, die geholfen haben, werden die Häuser oft in Brand gesetzt. Das ist deswegen so, weil man den Leuten einen Schaden und Schmerzen hinzufügen will. Solche Vorfälle gibt es viele, man kann darüber im Internet lesen.
RI: Das bewirkt doch, wie bei Ihnen, dass sich die Leute absetzen.
BF1: Ja, deswegen fahren die Leute von dort weg, weil es gefährlich ist.
RI: Dies hilft nicht, um den Bruder Ihrer Gattin zu finden.
BF1: Ja, aber die Methoden von den Leuten sind so. Solche faschistischen Methoden haben diese Leute. Damals sind 27 Personen spurlos verschwunden, sie wurden umgebracht. Darüber sprechen alle Menschenrechtsorganisationen. Es gibt auch diesbezügliche Videoaufnahmen im Internet. Als ich im Jahr 2017 verfolgt wurde, wurden viele Menschen ohne Gericht umgebracht. Das war für die Leute ein Geschäft, sie haben 50.000 Dollar für jeden Umgebrachten erhalten. Niemand schaut sich das an, nicht Putin und sonst auch niemand.
RI: Also sind diese Personen nicht spurlos verschwunden?
BF1: Die Leute wurden mitgenommen und in verschiedenen ROWD-Einheiten untergebracht. Man konnte sie nicht finden. Man sagt, dass sie erdrosselt wurden, damit man keine Patronen verliert und auch kein Blut herumspritzt. Einer wurde erschossen und die anderen wurden erdrosselt, so stand es in den Zeitungen.
RI: Wer berichtet davon?
BF1: Bei uns gibt es einen oppositionellen Sender und alle wissen das.
RI: Sind die Leichen aufgetaucht?
BF1: Die Leichen wurden nicht gefunden und deswegen gelten die Leute bis jetzt als spurlos verschwunden. Dort passieren schreckliche Sachen. Sie können es deshalb nicht verstehen, weil es bei ihnen Beweise und Zeugen gibt, dort wird es durch Folter ersetzt. Ich schaue mir die Nachrichten auf dem oppositionellen Kanal an, dort verschwinden jeden Monat Menschen. Ich gehöre sozusagen dazu.
RI: Sie sind ausgewandert und nicht verschwunden.
BF1: Ich bin weggefahren, weil ich das Glück hatte, wegfahren zu können.
RI: Sie haben gesagt, Sie wurden wegen dem Bruder Ihrer Frau gefragt. Weswegen genau? Was wollte man vom Bruder Ihrer Gattin?
BF1: Es gibt keine Verjährungsfrist. Alle Leute, die für das Regime gekämpft haben. Der Bruder meiner Gattin war ein Geschäftsmann und hat die oppositionellen Personen mit Munition versorgt.
RI: Wie hat der Bruder Ihrer Gattin geheißen?
BF1: römisch 40
RI: Sie sind dann nach Inguschetien gefahren, wie war das mit der gebrochenen Nase?
BF1: An dem Tag als ich nach Inguschetien gefahren bin. Ich dachte, dass niemand dorthin fahren wird. Ich wusste genau, dass die tschetschenischen Polizisten nicht dorthin fahren können, um jemanden von dort zu holen. Wegen einer Festnahme kam es dort zu einem Schusswechsel. Da haben die tschetschenischen Polizisten auf die inguschetischen Polizisten geschossen und umgekehrt. Am 11. bin ich nach Ossetien gefahren, das ist eine andere Republik. Ich hatte Angst um meine Frau und meine Kinder, weil meine Frau ja die Schwester von ihm war. Dort haben wir eine Touristenreise in einem Reisebüro gekauft. Für die Fahrkarten haben wir 110.000 Rubel bezahlt. Ich selbst bin dortgeblieben, weil ich keinen Pass hatte. In Inguschetien habe ich ohne Anmeldung gelebt und habe dort die Adressen gewechselt. Ich habe meine Frau und meine Kinder am 13.07.2017 nach Tunesien geschickt, weil ich Angst um meine Kinder und meine Frau hatte. Es hat nämlich Vorfälle gegeben, bei denen sogar schwangere Frauen, die mit jemanden Verwandt waren, umgebracht wurden. Ich selbst bin in Inguschetien geblieben, das ist eine kleine Republik. Dort habe ich oft die Adressen gewechselt und bei Freunden oder Verwandten gelebt. Wir hatten ein Haus in Inguschetien und auch in Tschetschenien. In Inguschetien haben meine Eltern gelebt und in Tschetschenien hatten wir ein eigenes Haus. Meine Eltern haben in Inguschetien zwei Häuser, in einem leben sie selbst und in einem mein Bruder. Das Haus ist in römisch 40 . Manchmal bin ich zu ihnen gegangen, hatte aber Angst, dass ich von irgendjemanden geholt werden könnte. Ich hatte keinen Pass und konnte mir auch offiziell keinen Auslandsreisepass ausstellen, um von dort ausreisen zu können. Im September 2017 habe ich 500 Dollar gezahlt, habe einem Bekannten meine Passfotos übergeben. Er heißt römisch 40 . Ende Jänner 2018 brachte er mir meinen Pass, am 24.02. wartete ich, bis meine Angelegenheiten erledigt werden. Ich wollte nirgendwohin fahren, weil ich dachte, dass man mich jetzt in Ruhe lassen wird. Am 24.02.2018 in der Früh drangen in das Haus die Russen vom Föderalen Sicherheitsdienst (FSB). Man hat mir einen Sack über den Kopf gestülpt und mich nach Hankala gebracht. Das war ein niedriger Raum mit einem kleinen Fenster. Dort lagen schon fertige Papiere, die ich hätte unterschreiben sollen. Dort ist gestanden, dass ich den Bruder meiner Frau unterstützt habe und er bei uns übernachtet hat. Ich konnte das nicht unterschreiben, weil ich Angst hatte, dass man mich gleich nach der Unterschriftsleistung umbringen wird. Ich habe das abgelehnt und dann hat man begonnen mich zu foltern. Man hat mich an ein Heizungsrohr angebunden und Schläge auf den Rücken und Beine versetzt. Ich hatte Hämatome und habe auch diesbezüglich Fotos vorgelegt. Am 25.02. wurden die Misshandlungen fortgesetzt. Einer von ihnen war sehr aggressiv, er hat mich beschimpft. Ich habe es nicht ausgehalten und ihm daraufhin eine Antwort gegeben. Er hatte ein Sturmgewehr und der Teil den man hält bzw. wo man anlegt, war mit einem Gummi überzogen und er hat mir damit einen Schlag (BF1 zeigt auf seine Nase) versetzt. Ich habe auch diesbezüglich Fotos vorgelegt. Ich wurde bewusstlos. Ich kam dann wieder zu mir, wusste aber nicht wo ich mich befand. Zwei Personen hielten mich fest. Aus meiner Nase lief Blut. Man hat mir einen Fetzen und Wasser gegeben. Der Arzt hat meinen Blutdruck überprüft. Er sagte, dass sie es nicht fortsetzen sollen und dann wurde ich weiterhin bis zum 26.02.2017 dort festgehalten. Am 26.02.2017 hat man mir gesagt, dass man mich zwar entlässt, aber man noch auf mich zukommen wird. Gleich am 26.02.2017 bin ich mit einem Taxi weggefahren und zwar Richtung Georgien. Dort gibt es einen Kontrollposten, er heißt Werchnilars (phonetisch). Ich hatte Angst im Territorium Russlands zu bleiben. Ich befand mich dann in der Nähe des Bazars in Tiflis. Dort habe ich mich an die Ärzte gewandt. Dort wurden Röntgenbilder von meinem Kopf und meiner Nase gemacht. Der Arzt sagte mir, dass wenn man mich weitergefoltert hätte und mir einen Bruch zugefügt hätte, dann hätte ich es nicht überlebt. Ich habe Tabletten eingenommen. In Georgien habe ich bei Freunden gelebt. Ich dachte mir dann, wie ich zu meiner Familie komme. Ich habe über das Internet eine Möglichkeit gesucht und wusste nicht was ich tun soll, weil meine Familie zu der Zeit schon in Österreich war. Wenn ich mich nicht irre, dann war es am 07.09. da kam ich nach Rostow. Ich habe vorher eine telefonische Vereinbarung für ein Visum gemacht. Ich glaube es war eine Frau. Ich kann mich jetzt nicht an die Summe erinnern, vielleicht waren es 20.000 Rubel.
RI: Was wollte die verschiedenen Obrigkeiten/die Behörden von Ihrem Bruder?
BF1: Sie wollten zu einem Ergebnis kommen. Wenn jemand festgenommen und umgebracht wird, dann gilt es als Ergebnis.
RI: Wurde der Bruder Ihrer Gattin gesucht, um umgebracht zu werden?
BF1: Man wollte mir anhängen, dass ich ihm geholfen habe und er bei uns übernachtet hat. Sie wissen einfach nicht, welche Situation in Tschetschenien und in der Russischen Föderation herrscht.
RI: Wurde der Bruder Ihrer Gattin gesucht?
BF1: Ja, sie haben nach ihm gesucht. Wie soll ich das sagen…wenn jemand ein Verwandter ist, kann dieser zur Verantwortung gezogen werden. So etwas wird dort praktiziert. Als ich noch gearbeitet habe, habe ich Studenten gehabt. Es gab einen Studenten, dessen Onkel im Wald war. Es kamen ständig Polizisten und haben ihn gefragt, wo dieser Onkel ist und was er macht. Man hat mich auch gefragt, wie er sich beim Unterricht verhält, ob er anwesend ist und was er tut.
RI: Sie sind der Ehemann, wurde Ihre Frau irgendwie behelligt? Man könnte eher annehmen, dass die Schwester des gesuchten Bruders weiß, wo dieser sich aufhält.
BF1: Ja, aber das ist mein Haus und wenn er bei mir übernachtet hat, dann glaubt man, dass ich ihm geholfen habe.
RI: Wenn der Bruder Ihrer Frau gesucht wurde, könnte er sich verstecken und Ihre Frau weiß vielleicht, wo er sich befindet. Wurden Sie oder Ihre Frau nicht gefragt, wo er sich aufhält?
BF1: Sie wurde auch dorthin geladen und sie hat dort den ganzen Tag verbracht. ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern wann es war, möglicherweise am 01.09.2016. Sie wurde nicht bedroht oder geschlagen, sie wurde nur befragt.
RI: Was hat man Ihre Frau gefragt?
BF1: Sie sagte, dass man sie nach ihrem Bruder gefragt hat. Zum Beispiel wo er sich befindet, ob er zu uns kommt und ob er sich bei uns aufhält. Bei uns ist es so, wenn jemand bei uns übernachtet, dann gilt derjenige als Komplize.
RI: Wieso hat man geglaubt, dass der Bruder Ihrer Frau bei Ihnen ist, wenn es so gefährlich ist, wird der gesuchte Bruder Ihrer Frau doch versuchen sich woanders zu verstecken.
BF1: Vielleicht hat es jemand so gesagt. Das ist nicht wahr, aber möglicherweise hat es jemand so angegeben, weil es plötzlich begonnen hat.
RI: Meinen Sie, dass z.B. ein Nachbar etwas gesagt hat?
BF1: Ehrlich gesagt kann ich keine Person nennen. Bei uns ist es so, wenn jemand dem anderen nicht gefällt, dann werden die Leute oft verraten oder denunziert. Auch, wenn das nicht der Realität entspricht.
RI: Dass der Bruder Ihrer Frau ein Widerstandskämpfer war, dies war schon so?
BF1: Was er konkret gemacht hat, weiß ich nicht. Er war aber ein Freund von unserem tschetschenischen Präsident Dudaev. Ich weiß nicht, warum wir ins Blickfeld geraten sind. Manchmal habe ich auch etwas gesagt, weil ich mit der Obrigkeit, mit der Diktatur und Korruption nicht einverstanden war. Vielleicht hat mich deswegen jemand denunziert.
Als ich weggefahren bin und bereits in Georgien gelebt habe… Ich hatte einen jüngeren Bruder namens römisch 40 , er war am 28.02. in Moskau und als ich in Georgien war ist er mit einem Flugzeug nach Inguschetien geflogen. Ich habe mein Auto bei meinen Eltern in Inguschetien im Hof gelassen. Er ist mit dem Auto in die tschetschenische Republik gefahren und wurde umgebracht, das war am 08.03. Er wurde meinetwegen umgebracht. Ich habe seine Fotos vorgelegt, als er in Moskau war und auch ein Foto von seinem Führerschein. Ich habe auch das Grab fotografiert, wo seine Daten stehen. Mein jüngerer Bruder ist meinetwegen gestorben, aber ich trage keine Schuld daran. Ich glaube, das man dachte, dass ich es bin, weil er mit meinem Auto unterwegs war.
RI: Sie wurden auch nicht umgebracht.
BF1: Man hat mich nicht umgebracht, weil ich weggefahren bin. Vielleicht dachte man, dass ich zurückgekommen bin.
RI: Wie kam Ihr Bruder um?
BF1: Er wurde im Auto erschossen.
RI: Was hat Ihr Bruder in Moskau gemacht?
BF1: Er hat dort gearbeitet. Er war 2m groß und niemals krank. Er wurde erschossen, da man ihn mit mir verwechselt hat. Ich habe auch das Foto von dem Friedhof vorgelegt, wo er begraben wurde. Dort steht auch geschrieben, dass er am 08.03. ums Leben kam. Ich bin hierhergekommen, weil mein Leben in Gefahr war. Wenn jemand ergriffen wird, dann wird diese Person niemals in Ruhe gelassen.
RI gibt der Regierungsvorlage die Gelegenheit Fragen an den BF1 zu stellen.
Regierungsvorlage, Haben Sie geplant demnächst einen Deutschkurs zu absolvieren?
BF1: Ich möchte sogar B1 abschließen. Das ist der Plan. Ich habe zu Hause sehr gut gelernt. Ich habe am College sehr gute Noten gehabt. Ich habe keine Schulstunden ausgelassen, ich war immer in der Schule.
Regierungsvorlage, Keine weiteren Fragen.
Der BF1 verlässt und BF2 betritt den Verhandlungssaal.
Beginn der Befragung von BF2
RI: Wann sind Sie mit den Kindern nach Österreich gekommen?
BF2: Im Jahr 2017, über Tunesien nach Österreich.
RI: Ich frage Sie genauso wie Ihren Mann. Wieso sind Sie ausgereist? Was ist geschehen? Sie wissen bestimmt mehr über Ihren Bruder.
BF2: Mein Bruder ist 1962 geboren, er ist schon älter. Als er noch jung war, während des Krieges, ist er wie alle Tschetschenen in den Krieg gegen die russischen Soldaten gezogen. Was er dort genau gemacht hat, weiß ich nicht. 1994 ist er spurlos verschwunden. Viele sind damals gestorben bzw. spurlos verschwunden. Das war ein schrecklicher Krieg.
RI: Wie Ihr Bruder gekämpft hat, wissen Sie gar nicht?
BF2: Unsere Kämpfer bildeten kleine Partisanen-Einheiten. Bei uns in Tschetschenien hat es keine Flieger oder militärische Technik gegeben. Es gab nur Schusswaffen. Ich war damals glaube ich 14 Jahre alt. Es hat die ganze Zeit Bombardierungen gegeben. Es kamen ständig Flugzeuge, es waren keine gewöhnlichen, sondern welche die Bomben hatten. Unsere Männer haben sich soweit es möglich war gewehrt. Sie verfügten nur über die technischen Mittel, welche sie den russischen Soldaten wegnehmen konnten.
RI: Wissen Sie seit damals nicht mehr, wo sich Ihr Bruder befindet? Denken Sie, dass er nicht mehr am Leben ist?
BF2: Er wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Im Internet befindet sich diese Information.
RI: Das heißt, ist er vermutlich noch am Leben?
BF2: Ich weiß es nicht.
RI: Was glauben Sie?
BF2: Wenn ich mich an ihn erinnere, dann tut er mir so leid, weil er am Leben bleiben sollte. Er hat einen Sohn. Ich weiß nicht.
RI: Wo ist der Sohn Ihres Bruders?
BF2: Neben der tschetschenischen Republik befindet sich noch eine Republik und diese heißt Inguschetien. Entweder hat er in Kasachstan oder in Inguschetien gelebt.
RI: Das heißt, seit Ihr Bruder verschwunden ist, haben Sie nichts von ihm gehört?
BF2: Bei uns gibt es ein Rayon, es heißt Komsomolsk und dort wurden sehr viele Leichen gefunden, aber die Leiche von meinem Bruder wurde dort nicht gefunden. Ich weiß es nicht. Dort sind viele Leute spurlos verschwunden und verschwinden bis jetzt auch noch.
RI: Lebt der Sohn Ihres Bruders mit seiner Mutter?
BF2: Nein, seine Mutter lebt in Kasachstan.
RI: Was ist passiert, weshalb Sie ausreisen mussten?
BF2: Derzeit wird in Tschetschenien folgendes praktiziert, bei uns gibt es keinen Krieg, aber wir stehen nach wie vor unter Druck. Wir werden nach wie vor okkupiert. Die Leute die in Verbindung zum Krieg stehen und dessen Familien werden immer wieder geladen und befragt. Da in Tschetschenien nach wie vor Terrorakte verübt werden, werden manchmal die Verwandten gequält und geladen. Da werden die Leute gefragt, wo der jeweilige Bruder oder der Mann sich befinden. Man will die Sachen dem Mann oder dem Sohn anhängen. So kommt man zu Arbeitsergebnissen. Man bekommt höhere Dienstgrade, das ist so als würde eine Sonderoperation durchgeführt werden und deswegen werden die Verwandten nicht in Ruhe gelassen. Dort wird kein Gesetz eingehalten und ohne Gericht oder Verhandlung werden die Leute ins Gefängnis gebracht oder sie verschwinden einfach.
RI: Hat es einen solchen Terroranschlag gegeben oder was genau ist passiert?
BF2: Bei uns gibt es oft Vorfälle. Es kommt vor, dass ein Terrorist eine Polizeistation sprengt. Das passiert manchmal und auch vor kurzem ist so etwas passiert. In den letzten Jahren hat man jemanden gebraucht, der dies angeblich gemacht hat und so ist meine Familie ins Blickfeld geraten.
RI: Wie genau kam Ihre Familie ins Blickfeld? Was genau passierte?
BF2: Ich weiß nicht, was dort passiert ist und um welchen Terrorakt es sich gehandelt hat. Im Jahr 2016 wurde ich geladen. Ich war dann von der Früh bis zum Abend in einer ROWD-Abteilung. In der Früh sind Leute zu uns gekommen, das war ein örtlicher Polizeibeamter. Man sagte mir, dass ich in die örtliche ROWD-Abteilung kommen soll. Man hat mich geladen und dann begonnen, mich zu befragen. Man hat mich gefragt, ob ich eine Verbindung zu meinem Bruder habe und ob ich weiß, womit er sich beschäftigt hat. Ich habe gesagt, dass ich nichts weiß. Es kam zu einem Terrorakt, aber ich weiß nicht wo. Ich glaube, dass man diesen Terrorakt mit meinem Bruder in Verbindung setzen wollte. Man hat mich den ganzen Tag lang befragt. Ich bin von einem in ein anderes Zimmer gegangen und ich wurde überall befragt. Man hat mir ständig die gleichen Fragen gestellt, aber ich weiß nicht, wo er sich befindet. Ich wollte das nicht erzählen, aber sie haben mich verhöhnt und dann war es schon abends.
RI: Wann kamen Sie wieder weg von dort? Waren Sie verletzt?
BF2: Am Abend kam ich wieder von dort weg, es war schon dunkel.
RI: Glauben Sie, dass sie ernsthaft nach Ihrem Bruder gesucht haben oder nur eine Amtshandlung durchgeführt haben?
BF2: Die Leute wissen, dass er spurlos verschwunden ist, aber sie müssen ihre Arbeit machen. Wenn etwas passiert, dann muss es jemanden angehängt werden und ein Akt angelegt werden.
RI: Wurden Sie in weiterer Folge weiterbefragt?
BF2: Nein.
RI: Wurden Sie vor Ihrem Mann, gleichzeitig oder nach Ihrem Mann befragt?
BF2: Es war vorher, schon 2016. Mein Mann wurde im Jahr 2017 befragt.
RI: Wieso so viel später?
BF2: Ich weiß es nicht und kann es auch nicht erklären. Dort wird nichts erklärt. Bei uns bei ROWD gibt es Willkür.
RI: Wieso sind Sie mit Ihrem Mann nicht in Inguschetien oder in Kasachstan geblieben?
BF2: In Inguschetien gibt es auch Willkür, das gibt es in ganz Russland; überall in Russland. Auch von hier könnten sie mich holen. Hier gibt es auch Vorfälle. Es wurde ja auch ein tschetschenischer Blogger umgebracht.
RI: Warum sind Sie dann nicht nach Amerika bzw. weit weg gereist?
BF2: Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich bin in das Land gekommen, in welches ich konnte. Die Möglichkeit hatte ich und das habe ich in Anspruch genommen.
RI: Wurde Ihre Familie sonst bezüglich Ihres Bruders gefragt? Ihr Bruder ist 1994 spurlos verschwunden und 2016 wurde nach ihm gesucht, das sind 20 Jahre Unterschied.
BF2: Früher wurde ich schon geladen, es ist lange her. Das war nur für das Protokoll. Man hat mich dorthin geladen und gefragt, was ich darüber weiß und ob ich mit ihm in Verbindung stehe. Es ist lang her. Damals hatte ich nur ein Kind, es ist lange her. An den letzten Vorfall kann ich mich gut erinnern.
Festgehalt wird, dass es sich demnach um das Jahr 2004 oder 2006 handeln muss, als die BF2 das erste Mal bezüglich ihres Bruder gefragt wurde.
RI gibt der Regierungsvorlage die Gelegenheit Fragen an die BF2 zu stellen.
Regierungsvorlage, Was war das auslösende Ereignis, weshalb Sie Tschetschenien verlasen haben?
BF2: Ich hatte Angst um das Leben meiner Kinder und mein eigenes. Das Leben steht bei uns an erster Stelle.
Regierungsvorlage, Gab es danach noch einen Vorfall?
BF2: Das war der einzige Vorfall und aufgrund dessen sind wir gekommen. Ich weiß, wie es den anderen geht und was sie durchmachen müssen.
Regierungsvorlage, Keine weiteren Fragen.
Regierungsvorlage legt folgende Unterlagen, welche in Kopie zum Akt genommen werden, vor:
(…)
BF2: Sie sind Frauen und können mich verstehen. Ich bin in dieses Land gekommen, weil ich weiß, es gibt Sicherheit und Gesetze werden eingehalten. Ich bin für meine Kinder und mich hergekommen. Wenn man uns zurückschicken würde, werden wir nicht am Leben gelassen. Ich bin in dieses Land gekommen, weil ich wusste, dass hier Frauen- und Kinderrechte gelten.
BF2 verlässt den Verhandlungssaal und BF3-BF5 betreten den Verhandlungssaal.
Beginn der Befragung von BF3-BF5
BF3-BF5 werden in Deutsch einvernommen.
RI: Könnt Ihr euch erinnern, wie es war, als Ihr von Tschetschenien weggefahren seid? Wieso seid Ihr weggefahren?
BF4: Ich kann mich nicht erinnern, ich war noch klein. Ich will mich auch nicht mehr daran erinnern.
BF3: Ich war damals 13. Ich weiß nur noch, dass wir mit dem Flugzeug von Tunesien nach Österreich kamen. Unsere Mama hat uns gesagt, wir fliegen auf Urlaub. Wir haben uns gewundert, weil zu uns gesagt wurde es ist ein Urlaub und dann sind wir geflüchtet. Uns wurde nicht gesagt, dass wir flüchten.
RI gibt der Regierungsvorlage die Gelegenheit Fragen an die BF3-BF5 zu stellen.
Regierungsvorlage an BF4: Wie stellst du dir deine Zukunft vor?
BF4: Ich mache zurzeit die Schule und möchte weiterhin die Schule besuchen. Jetzt besuche ich die HAK und möchte die Matura machen. Ich möchte eine Lehre machen, den Führerschein und in eine Abendschule gehen. Die Matura dauert vier Jahre und in der Zeit möchte ich arbeiten, vielleicht samstags.
Regierungsvorlage an BF3: Was würdest du gerne nach der Schule machen?
BF3: Ich besuche derzeit die polytechnische Schule, die zweite Klasse. Ich verbessere mir das Zeugnis, leider kann ich nur die polytechnische Schule besuchen, weil ich keinen positiven Bescheid habe. Ich will gerne eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann oder Maurer machen. Ich habe auch schon im Einzelhandel drei Mal geschnuppert.
RI an BF5: Was möchtest du gerne einmal machen?
BF5: Ich will Zahnarzt werden.
Regierungsvorlage merkt an, dass der BF5 derzeit die Neue Mittelschule besucht.
BF5: Die 1b besuche ich.
RI an BF5: Spielst du ein Instrument?
BF5: Nein, Der Musikunterricht fällt leider oft aus.
BF1 und BF2 betreten wieder den Verhandlungssaal, BF3-BF5 verlassen den Verhandlungssaal.
Regierungsvorlage, Ich möchte anmerken, mir ist bewusst, dass die Familie noch keine fünf Jahre in Österreich ist. Ich möchte jedoch hervorheben, dass Entfremdung zum Herkunftsland erfolgt ist. Das zeigt sich vor allem darin, dass die Kinder bereits besser Deutsch als Russisch sprechen. Außerdem haben die Kinder ihre wichtigsten Jahre für ihre Entwicklung in Österreich verbracht und sehen Österreich auch als ihren Lebensmittelpunkt an. Alle drei Kinder sind sehr gut in Österreich integriert und haben sehr ambitionierte und konkrete Pläne für ihre Zukunft in Österreich. Die gesamte Familie hat ihre Zeit in Österreich erfolgreich genutzt, um sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Hervorheben möchte ich auch noch die ausgeprägte ehrenamtliche Tätigkeit von BF1 und BF2. Dazu möchte ich auch auf die vielfachen vorgelegten Integrationsunterlagen verweisen.
Schluss der Verhandlung“
13. Am 03.01. und am 08.02.2022 legten die BF noch diverse (weitere) Integrationsunterlagen vor.
14. Zuletzt wurden die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine begleitend beobachtet.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässigen Beschwerden erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Identität und den persönlichen Verhältnissen der BF:
1.1.1. Die Identität der BF steht fest. BF1 und BF2 sind miteinander verheiratet und die Eltern dreier Söhne, die minderjährigen BF3 bis BF5. Alle BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen und muslimischen Glaubens. Ihre Muttersprache ist Tschetschenisch, BF1 und BF2 beherrschen zudem die russische Sprache.
BF1 ist in römisch 40 geboren und BF2 in römisch 40 ; diese Orte liegen jeweils in der Teilrepublik Tschetschenien. Die beiden sind seit 2004 miteinander verheiratet. Nach der Heirat lebten sie (und später auch ihre gemeinsamen Kinder) in römisch 40 /Tschetschenien, wo sich die Familie - bis kurz vor der Ausreise von BF2 bis BF5 – gemeinsam in einem großen Haus aufhielt. Die BF verfüg(t)en im Herkunftsland über Eigentum und sie vermochten ihren Lebensunterhalt (zumindest vorwiegend) durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten.
BF1 hat einen Bachelor-Abschluss in Bankwesen und er hat den Beruf des Buchhalters/Ökonom erlernt. Er war früher Fahrschullehrer und hat zuletzt am College in römisch 40 Tschetschenien unter anderem Wirtschaft unterrichtet. Seine Ehefrau, BF2, hat eine Berufsausbildung als Grundschullehrerin und Buchhalterin/Ökonomin. Zuletzt hat sie als Kassiererin bei einem Energieversorger gearbeitet.
Im Herkunftsland leben noch die Eltern sowie drei Brüder des BF1.
Die Familienmitglieder leben allesamt in Inguschetien. Die Eltern haben dort zwei Häuser und beziehen die Rente, ein Bruder arbeitet beim Autoservice und ein anderer in Moskau. Der dritte Bruder lebt bei den Eltern und ist arbeitslos. Ein weiterer Bruder von BF1 ist am 08.03.2018 verstorben, seine Todesursache ist nicht bekannt.
Von Seiten der BF2 befinden sich noch eine Schwester und ein Bruder im Herkunftsland und es leben diese ebenso in Inguschetien. Die Schwester ist als Verkäuferin beschäftigt und der Bruder im Baugewerbe. Ein anderer Bruder von BF2 ist seit dem ersten Tschetschenienkrieg verschollen. Ihre Eltern sowie eine zweite Schwester sind bereits gestorben; letztere war an Krebs erkrankt.
1.1.2. Die BF leiden allesamt an keinerlei schwerwiegenden Krankheiten und sie befinden sich (aktuell) auch in keiner medizinischen Behandlung.
1.2. Zu den Fluchtgründen:
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in die Heimat einer staatlichen oder staatlich geduldeten asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wären; das von BF1 und BF2 geschilderte Fluchtvorbringen, wonach sie aufgrund ihres Angehörigenverhältnisses zu einem während des ersten Tschetschenienkrieges aktiven Widerstandskämpfer und der damit einhergehenden unterstellten politischen Gesinnung verfolgt würden, hat sich letztlich als unglaubwürdig erwiesen. Auch sonst haben sie im Falle ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine – wie auch immer geartete - Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.
Von Seiten des Gerichts sind somit keine Gründe erkennbar, warum sich die BF nicht wieder in Tschetschenien niederlassen könnten. Es stünde ihnen aber allenfalls auch eine mögliche und zumutbare innerstaatlichen Fluchtalternative in anderen Teilen Russlands, etwa in Inguschetien, Moskau oder St. Petersburg zur Verfügung.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr in den Herkunftsstaat:
Vom Nichtbestehen einer Verfolgungsgefahr abgesehen, können im gegenständlichen Verfahren auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass die BF im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation (aus jetziger Perspektive) einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe oder sonst einer konkreten individuellen Gefahr ausgesetzt wären oder dass sie im Falle einer Rückkehr als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts zu befürchten hätten; dies selbst im Hinblick auf den aktuell von Russland geführten Krieg gegen die Ukraine.
Die BF wären im Falle ihrer Rückkehr auch in keine existenzbedrohende Notlage gedrängt. Ihre Existenz ist durch mögliche Erwerbstätigkeit von BF1 und BF2 gesichert, welche beide gesund und im erwerbsfähigen Alter sind sowie auch über gute (Schul-)Bildung und Berufserfahrung verfügen. Darüber hinaus könnten die BF – im Bedarfsfall – auf ein soziales und familiäres Netzwerk zurückgreifen und sie haben im Herkunftsland auch Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
1.4. Zum Privat- und Familienleben in Österreich:
BF2 und ihre minderjährigen Söhne (BF3 bis BF5) reisten im Juli 2017 illegal nach Österreich ein. Sie stellten am 18.07.2017 ihre gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. BF1 folgte ihnen im Oktober 2018; seine Antragstellung erfolgte am 02.10.2018.
In Österreich befindet sich eine Cousine von BF2; das Bestehen einer besonders engen Beziehung zu dieser kann aber verneint werden. Abgesehen davon verfügen die BF über keine familiären oder verwandtschaftlichen Verhältnisse in Österreich.
Sie leben im guten Einvernehmen mit ihren Mitmenschen, ihre sozialen bzw. freundschaftlichen Kontakte zu in Österreich aufhältigen Personen gehen jedoch nicht über das übliche Maß hinaus.
BF1 und BF2 haben sich jeweils im Rahmen des sozialen Projektes „Gemeinnützige Beschäftigung für Asylwerbende“ ehrenamtlich engagiert (BF1 in der Zeit von 02.09 bis. 11.10.2019, von 05.10. bis 23.10.2020, sowie von 02.08. bis 10.09.2021 indem er bei Arbeiten in den Gartenanlagen städtischer Schulen/Kinderbetreuungseinrichtungen bzw. bei Pflegearbeiten von Straßen ehrenamtlich mitgeholfen hat, und BF2 in der Zeit vom 30.09. bis 16.10.2019, vom 12.11. bis 22.12.2020 sowie vom 02.08. bis 10.09.2021 durch hauswirtschaftliche Tätigkeiten in diversen Seniorenwohnhäusern). Zudem hat sich BF1 freiwillig bei Aufräumarbeiten aufgrund Überflutung in römisch 40 im Jahr 2021 beteiligt und BF2 hat ihre Unterkunft in der Reinigung unterstützt.
BF1 verfügt ferner über ein A1- Deutschzertifikat und von BF2 wurden zuletzt Nachweise über den Besuch von Deutschkursen auf dem Niveau A2.3 vorgelegt; sie verfügen beide über elementare Deutschkenntnisse.
Die minderjährigen BF3 bis BF5 besuchen in Österreich jeweils die Schule: BF3 hat im Sommer 2021 die Pflichtschulabschlussprüfung positiv abgelegt und er besucht derzeit die zweite Klasse der polytechnischen Schule. BF4 besucht aktuell die Handelsakademie für Berufstätige im Ausmaß von 25 Wochenstunden und BF5 befindet sich gegenwärtig in der ersten Klasse der Mittelschule.
Alle drei Kinder sind zudem Mitglieder im Ringerverein römisch 40 .
Die BF sind in einer Betreuungsstelle für Asylwerber untergebracht und sie beziehen die Grundversorgung; ihr Lebensunterhalt im Bundesgebiet wird seit ihrer Einreise zur Gänze aus finanziellen Zuwendungen der öffentlichen Hand bestritten.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.5. Zur maßgeblichen Lage im Herkunftsstaat:
„Artikel römisch eins. Politische Lage
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 1.2021c; vergleiche CIA 5.2.2021). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau (GIZ 1.2021a; vergleiche EASO 3.2017). Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 1.2021a; vergleiche EASO 3.2017, AA 21.10.2020c). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 1.2021a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vergleiche FH 4.3.2020). Die Wahlbeteiligung lag der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.com 19.3.2018; vergleiche FH 3.3.2021). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018). Wahlbetrug ist weit verbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BTI 2020). Präsident Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vergleiche OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin (GIZ 1.2021a). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin, für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren (GIZ 1.2021a; vergleiche FH 3.3.2021), dies gilt aber nicht für weitere Präsidenten (FH 3.3.2021). Die Volksabstimmung über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem sie aufgrund der Corona-Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der sogenannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 1.2021a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen Hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als 'obere Parlamentskammer' das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten (GIZ 1.2021a): Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt (GIZ 1.2021a; vergleiche AA 1.10.2021c). Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 1.2021a).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, welche die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern und die Partei der Volksfreiheit (PARNAS), eine demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 1.2021a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteienstärke gliedert sich nach den Wahlen von September 2021 wie folgt: Einiges Russland (324 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (57 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (21 Sitze), Gerechtes Russland (27 Sitze) und die neu gegründete Partei Neue Leute (13 Sitze). Alle in der Duma vertretenen Parteien gelten als dem Kreml nahestehend (BAMF 27.9.2021). Diese sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik (SWP 11.2018). Während Präsident Putin und die Zentrale Wahlkommission von einer 'freien und fairen' Abstimmung sprachen, bezeichnete die unabhängige Wahlrechtsorganisation Golos die Wahl mit Blick auf Berichte über massive Unregelmäßigkeiten als 'eine der schmutzigsten' in der Geschichte des Landes. Aufgrund der Wahlfälschungsvorwürfe kam es zu Demonstrationen und Festnahmen (BAMF 27.9.2021).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international nicht anerkannt annektierten Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 1.2021a; vergleiche AA 21.10.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 1.2021a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ('exekutive Machtvertikale') deutlich (GIZ 1.2021a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung meist ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten Parteien waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer 'smarten Abstimmung' aufgerufen. Die Bürger sollten irgendjemand wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Aufgrund der Eskalation der Ukraine-Krise und der Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine als eigenständige Republiken durch Russland, verhängen die EU und USA scharfe Sanktionen (Tagesspiegel.de 23.2.2022). Auch Kanada, Japan und Australien schließen sich den Sanktionen an (Merkur.de 23.2.2022). Das Sanktionspaket der EU umfasst ein Handelsverbot für russische Staatsanleihen, um eine Refinanzierung des russischen Staates zu erschweren. Zudem sollen mehrere Hundert Personen und Unternehmen auf die EU-Sanktionsliste kommen. Darunter sind jene 350 Abgeordnete des russischen Parlaments, die für die russische Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der Ostukraine gestimmt haben, aber auch Banken, die in der Ostukraine Geschäfte machen. Auch sollen die Freihandelsregelungen der EU mit der Ukraine nicht mehr für die Gebiete in der Ostukraine gelten. Von Personen, Organisationen und Unternehmen, die auf die EU-Sanktionsliste gesetzt werden, werden sämtliche in der EU vorhandenen Vermögenswerte eingefroren. Zudem dürfen gelistete Personen nicht mehr in die EU einreisen, und mit den Betroffenen dürfen auch keine Geschäfte mehr gemacht werden. Auch die Zertifizierung der deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 wird bis auf weiteres gestoppt. Die USA verbieten Geschäfte in oder mit den beiden von Russland anerkannten Separatistengebieten in der Ostukraine. Weiters werden Sanktionen gegen zwei russische Banken und gegen drei Unterstützer Putins und deren Angehörige verhängt (Tagesspiegel.de 23.2.2022).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.10.2021c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 1.10.2021
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (27.9.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw39-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 28.9.2021
BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff 17.2.2021
CIA – Central Intelligence Agency [USA] (5.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/, Zugriff 16.2.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 16.2.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 16.2.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 16.2.2021
Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020
Merkur.de (23.2.2022): Sanktionen gegen Russland: Nicht nur EU und USA greifen durch - immer mehr Länder strafen Putin ab, https://www.merkur.de/wirtschaft/nord-stream-2-sanktionen-eu-ukraine-russland-putin-kiew-usa-kanada-japan-australien-91364843.html, Zugriff 23.2.2022
MDR - Mitteldeutscher Rundfunk (16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020
ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020
Presse.com (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020
Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020
Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020
Tagesspiegel.de (23.2.2022): EU-Außenminister einigen sich auf Sanktionen gegen Russland, https://www.tagesspiegel.de/politik/putin-selbst-vorerst-nicht-auf-der-liste-eu-aussenminister-einigen-sich-auf-sanktionen-gegen-russland/28091828.html, Zugriff 23.2.2022
Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020
Tschetschenien
Letzte Änderung: 15.11.2021
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2021).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021, FH 3.3.2021). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Ramsan Kadyrow bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 6.2021). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Tschetschenien 89,2% der Stimmen. Zeitgleich fand in Tschetschenien auch die Wahl des Republikoberhauptes statt. Amtsinhaber Ramsan Kadyrow gewann diese Wahl nach vorläufigem Ergebnis mit 99,7% der abgegebenen Stimmen (CK 20.9.2021). In Tschetschenien regiert Kadyrow unangefochten autoritär. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 3.3.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, welche ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 3.3.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021).
Während der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Herrschaft des amtierenden Republikoberhauptes Ramsan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny als Staatsikone auszustellen und sich als 'Fußsoldat Putins' zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute 'föderale Machtvertikale' dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum 'inneren Ausland' Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.2.2021
CK - Caucasian Knot (20.9.2021): Edinaya Rossiya Party wins parliamentary elections in Chechnya, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/56796/, Zugriff 28.9.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021
HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435?reduced=true, Zugriff 11.3.2020
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020
Dagestan
Letzte Änderung: 16.11.2021
Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 13.1.2020). Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten bessergestellt als Tschetschenien (AA 2.2.2021), bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands (AA 13.2.2019).
Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien (SWP 4.2015) und wird nicht ganz so ausgeprägt kontrolliert wie in Tschetschenien (AA 2.2.2021). Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen (SWP 4.2015). Auch die Menschenrechtslage in Dagestan ist grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien (AA 2.2.2021), obwohl auch dort mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einhergehen (AA 2.2.2021; vergleiche SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew wurde das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien ausgehebelt. Der Kreml hatte schon länger damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden; im Nordkaukasus wurde davon jedoch Abstand genommen. Wassiljew ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan – und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht – Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll (NZZ 12.2.2018). Der Nachfolger Wassiljews ist seit Oktober 2020 Sergej Melikow. Dieser war davor Vertreter der Region Stawropol im Föderationsrat (Russland Analysen 5.10.2020).
Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef Abdussamad Gamidow, zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet, um die wirtschaftlich abgeschlagene und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängende Nordkaukasus-Republik auszubeuten. Kurz zuvor waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018; vergleiche Standard.at 5.2.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.2.2021
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (13.1.2020): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022550.html, Zugriff 17.2.2021
Russland Analysen (5.10.2020): Chronik: 28. September – 10. Oktober 2020, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/chronik?c=russland&d1=2020-09-28&d2=2020-10-10&t=&o=50&l=50&x=0#eintraege, Zugriff 10.3.2021
Dekoder (24.5.2016): Nicht-System-Opposition, https://www.dekoder.org/de/gnose/nicht-system-opposition, Zugriff 10.3.2020
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan: Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351?reduced=true, Zugriff 10.3.2020
Standard.at (5.2.2018): Regierungsspitze in russischer Teilrepublik Dagestan festgenommen, https://www.derstandard.at/story/2000073692298/regierungsspitze-in-russischer-teilrepublik-dagestan-festgenommen, Zugriff 10.3.2020
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 10.3.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 02.03.2022
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 25.2.2022a; vergleiche EDA 25.2.2022). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 25.2.2022a). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 25.2.2022).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vergleiche Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).
In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).
Nachdem Präsident Putin am 21.2.2022 die separatistischen Gebiete Luhansk und Donezk in der Ostukraine als eigenständige Republiken anerkannt hatte (Tagesspiegel 23.2.2022), startete er am 24.2.2022 einen militärischen Großangriff auf die Ukraine (Standard 25.2.2022). Die russischen Streitkräfte griffen das Nachbarland aus mehreren Richtungen an (ORF.at 25.2.2022). Da sich die Kampfhandlungen derzeit auf das Gebiet der Ukraine beschränken, entnehmen Sie detailliertere Informationen bitte dem CMS Ukraine und den dazugehörigen Kurzinformationen der Staatendokumentation. Die Situation wird von der Staatendokumentation einem laufenden Monitoring unterzogen.
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (25.2.2022a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff 25.2.2022
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (8.2.2021): Analyse: Söldner im Dienst autoritärer Staaten: Russland und China im Vergleich, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/327198/soeldner-im-dienst-autoritaerer-staaten, Zugriff 8.4.2021
Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 7.4.2021
Deutschlandfunk (29.9.2020): An Russland kommt im Nahen Osten niemand mehr vorbei, https://www.deutschlandfunk.de/fuenf-jahre-russischer-militaereinsatz-in-syrien-an.724.de.html?dram:article_id=484951, Zugriff 8.4.2021
DW - Deutsche Welle (29.9.2020): Russland im Syrien-Krieg: Gekommen, um zu bleiben, https://www.dw.com/de/russland-im-syrien-krieg-gekommen-um-zu-bleiben/a-55096554, Zugriff 8.4.2021
EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (25.2.2022): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html#par_textimage, Zugriff 25.2.2022
ORF.at (25.2.2022): Russland bricht Krieg in Europa vom Zaun, https://orf.at/stories/3248939/, Zugriff 25.2.2022
SN - Salzburger Nachrichten (15.10.2020): Terrorzelle in Russland ausgeschaltet, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/terrorzelle-in-russland-ausgeschaltet-94250941, Zugriff 8.4.2021
Der Standard (25.2.2022): Russland greift Ukraine an: Zahlreiche Explosionen in Hauptstadt Kiew, https://www.derstandard.at/jetzt/livebericht/2000133645058/russland-greift-ukraine-an-zahlreiche-explosionen-in-hauptstadt-kiew?responsive=false, Zugriff 25.2.2022
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 7.4.2021
Der Tagesspiegel (23.2.2022): EU-Außenminister einigen sich auf Sanktionen gegen Russland, https://www.tagesspiegel.de/politik/putin-selbst-vorerst-nicht-auf-der-liste-eu-aussenminister-einigen-sich-auf-sanktionen-gegen-russland/28091828.html, Zugriff 25.2.2022
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).
Ein Risikomoment für die volatile Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Trotzdem wird sowohl in Tschetschenien als auch in Dagestan immer wieder von bewaffneten Übergriffen berichtet (ÖB Moskau 6.2021).
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2021). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).
[Anmerkung Staatendokumentation:] Bitte vergleichen Sie hierzu auch alle Kapitel zur Allgemeinen Menschenrechtslage (einschließlich der Kapitel zu Tschetschenien, Dagestan und Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein).
Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehörten bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehörten bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (CK 2.7.2020a, CK 2.7.2020b, CK 27.10.2020, CK 24.12.2020, CK 20.2.2021). Von Jänner bis inklusive August 2021 sind 26 Personen im Zuge des Konfliktes im Nordkaukasus getötet werden [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] (CK 15.4.2021, CK 21.7.2021, CK 12.8.2021, CK 27.9.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 8.4.2021
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (19.6.2019): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 9.4.2021
CK - Caucasian Knot (2.7.2020a): In January 2020, there were no victims of armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51356/, Zugriff 8.4.2021
CK - Caucasian Knot (2.7.2020b): In February and March 2020, four people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51357/, Zugriff 8.4.2021
CK - Caucasian Knot (27.10.2020): In Quarter 2 of 2020, 11 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52582/, Zugriff 8.4.2021
CK - Caucasian Knot (24.12.2020): 15 people suffered in armed conflict in Northern Caucasus in Q3 2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53177/, Zugriff 8.4.2021
CK - Caucasian Knot (20.2.2021): In Quarter 4 of 2020, 26 persons fell victim to armed conflict in North Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53738/, Zugriff 8.4.2021
CK - Caucasian Knot (15.4.2021): In the 1st quarter of 2021, 19 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/55259/, Zugriff 18.10.2021
CK - Caucasian Knot (21.7.2021): One person killed during armed conflict in Northern Caucasus in Quarter 2 of 2021, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/56193/, Zugriff 18.10.2021
CK - Caucasian Knot (12.8.2021): In July 2021, six people were killed in armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/56855/, Zugriff 18.10.2021
CK - Caucasian Knot (27.9.2021): In August 2021, no victims of armed conflict recorded in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/56857/, Zugriff 18.10.2021
Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 9.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 18.10.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 9.4.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 8.4.2021
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 16.11.2021
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2021). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020).
Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2021). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs- und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto 'Schuldvermutung' im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Anwälte im Menschenrechtsbereich beklagen ungleiche Spielregeln in Gerichtsverfahren und steigenden Druck gegen die Anwälte selbst (ÖB Moskau 6.2021).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2021). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Weiters wurde mit der Verfassungsänderung, die am 4.7.2020 in Kraft trat, das Recht des Föderationsrats, Richter des Verfassungsgerichtshofs auf Vorschlag des Präsidenten zu entlassen, verankert (ÖB Moskau 6.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Mit Ende 2020 waren beim EGMR 13.650 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2020 wurde die Russische Föderation in 173 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2021).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020). Im Juli 2017 trat eine weitere neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der 'Absicht' angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann. Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.3.2021
AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 23.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 23.3.2021
BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff 17.5.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 23.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 23.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html, Zugriff 23.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 23.3.2021
Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 02.03.2022
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetschenien und Dagestan. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vergleiche, ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art 'alternative Justiz'. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2021). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Ein neueres Beispiel betrifft die Familie eines ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof in Tschetschenien. Kadyrow hat die Familie zu 'Terroristen' erklärt, da die beiden Söhne als Verаntwortliche hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal vermutet werden (Snob 10.2.2022).
Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Es gibt ein Gesetz, welches die Verwandten von Terroristen verpflichtet für Schäden zu haften, die bei Angriffen entstanden sind. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (US DOS 11.3.2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2021). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2021) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Elena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021). Dissens und Kritik werden in Tschetschenien weiterhin rücksichtslos unterdrückt (HRW 13.1.2022).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige werden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 8.4.2021
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 8.4.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 8.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, Zugriff 8.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 8.4.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 8.4.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 3.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 8.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
Snob (10.2.2022): Warum Ramsan Kadyrow (fast) alles darf, https://www.dekoder.org/de/article/ramsan-kadyrow-kritiker, Zugriff 21.2.2022
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 8.4.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 8.4.2021
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 02.03.2022
Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung (US DOS 11.3.2020).
Das Untersuchungskomitee (SK) ist zuständig für schwere und sehr schwere Straftaten (z.B. Mord, Vergewaltigung, Verbrechen an Minderjährigen, Straftaten im Zusammenhang mit den verfassungsmäßigen Rechten einer Person; Bestechlichkeit und Fehlverhalten von Beamten) (EASO 3.2017).
Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamte, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führt (US DOS 11.3.2020), ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 3.3.2021; vergleiche AI 7.4.2021, HRW 13.1.2022).
Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden gegen Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).
Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen 'fremdländischen' Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 2.2.2021).
Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen 'Kadyrowzy'. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Rebellenkämpfern. Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Aufseiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Gründung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Bedienstete. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramsan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch 'ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben' (EASO 3.2017).
Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem 'langen Arm' des Regimes von Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs etwa auch in Moskau präsent. Sie berichten von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von LGBTI-Personen, die gegen ihren Willen nach Tschetschenien zurückgeholt worden sind (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 14.2.2022
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 24.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 24.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 3.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 24.3.2021
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 02.03.2022
Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21 Punkt 2, der Verfassung und Artikel 117, des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche EASO 3.2017). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugsbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche EASO 3.2017, AA 2.2.2021). Folter ist jedoch noch immer allgegenwärtig, und die Täter bleiben häufig straffrei (AI 7.4.2021; vergleiche HRW 13.1.2022, AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020).
Immer wieder gibt es auch Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 2.2.2021). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (US DOS 11.3.2020). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtlichen Tötungen. Ramsan Kadyrow lässt solche Formen von Gewalt anwenden, um die Kontrolle über die Republik Tschetschenien zu behalten. Diese Aktivitäten finden manchmal über die Grenzen Russlands hinaus statt (FH 3.3.2021).
Im August 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta Videos von Wachen, die in Jaroslawl Gefangene organisiert prügelten. Die Behörden verhafteten nach einem öffentlichen Aufschrei mindestens 12 Gefängniswachen, aber die NGO Public Verdict berichtete schon im Dezember 2018 über systematische Misshandlung in einem anderen Gefängnis in der Region. Im Juli 2019 veröffentlichte Public Verdict ein weiteres Video, das anhaltende Misshandlungen in Jaroslawl zeigt. Im November 2020 verurteilten Gerichte elf Gefängniswärter wegen Folter und verurteilten sie zu drei bis vier Jahren Haft. Die Gefängnisdirektoren wurden freigesprochen (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 23.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 14.2.2022
EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 23.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2021 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 3.2.2022
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 21.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 23.3.2021
Korruption
Letzte Änderung: 16.11.2021
Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).
Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 3.3.2021). Obwohl das Gesetz Strafen für Behördenkorruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vergleiche EASO 3.2017, BTI 2020). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vergleiche EASO 3.2017, BTI 2020). Die meisten Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung sind oft nur symbolischer Natur. Korruptionsvorwürfe der politischen Elite gelten als Instrumente in Machtkämpfen (BTI 2020). Zu den Formen von Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördenkorruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).
Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny dokumentiert regelmäßig Korruptionsfälle auf höchster politischer Ebene, ohne dass die staatlichen Strukturen darauf reagieren (BTI 2020). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung. 2020 nimmt Russland im Ranking des Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International den 129. Platz von 179 ein (GIZ 1.2021a).
Korruption ist auch in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die Zeitung 'Kommersant' den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 6.2021). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).
Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 2.2.2021). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau ausgeflogen. Alle vier standen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018). Wladimir Wassilews Ernennung [zum Republiksoberhaupt von 2018-2020] bekräftigt die Bedeutung von Dagestan für den russischen Staat und die Tatsache, dass Putin nicht länger bereit ist, die von den Subventionen abgezogenen Mittel zu ignorieren (PONARS Eurasia 11.2018). Der Nachfolger Wassilews ist Sergej Melikow. Dieser war davor Vertreter der Region Stawropol im Föderationsrat (BPB 26.10.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 16.3.2021
BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (26.10.2020): Chronik: 28. September – 10. Oktober 2020, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/317747/chronik-28-september-10-oktober-2020, Zugriff 16.3.2021
BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff 16.3.2021
EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 16.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 16.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 16.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
PONARS Eurasia (11.2018): The Kremlin’s New Man in Dagestan. Corruption Supplants Security as Moscow's Chief Concern, PONARS Eurasia Policy Memo No. 549, https://www.researchgate.net/publication/337674069_The_Kremlin%27s_New_Man_in_Dagestan_Corruption_Supplants_Security_as_Moscow%27s_Chief_Concern, Zugriff 16.3.2021
SEM – Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/europa-gus/rus/RUS-korruption-d.pdf, Zugriff 16.3.2021
USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 16.3.2021
WI – Warsaw Institute (25.2.2019): Federal clean-up in Dagestan, https://warsawinstitute.org/federal-clean-dagestan/, Zugriff 16.3.2021
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 02.03.2022
Der russische Staat wünscht sich, dass NGOs vor allem im sozialen Bereich tätig sind. Das Engagement in Bezug auf andere, politische Aktivitäten, wird mit Misstrauen betrachtet (BTI 2020). Somit geraten NGOs zunehmend unter Druck. Auf Basis des sog. NGO-Gesetzes aus 2012 werden russische NGOs, die politisch aktiv sind und aus dem Ausland Finanzmittel erhalten, in ein vom Justizministerium geführtes Register 'ausländischer Agenten' eingetragen, was mit verstärkten Berichts- und Kennzeichnungspflichten und bürokratischer Kontrolle der Tätigkeit der NGO einhergeht (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche GIZ 1.2021a, AA 2.2.2021, FH 3.3.2021, BTI 2020). Die Bezeichnung als 'Agent' provoziert unter der russischen Bevölkerung eine negative Konnotation mit den Tätigkeiten dieser NGOs im Sinne von Spionagetätigkeiten (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Organisationen, die sich nicht eintragen lassen, haben mit hohen Geldstrafen zu rechnen bzw. können aufgelöst werden. 2016 wurde die NGO Agora, eine Vereinigung von Menschenrechtsanwälten, als erste Organisation aufgrund von Nichtbefolgung des NGO-Gesetzes aufgelöst (ÖB Moskau 6.2020). Mit 1. März 2021 trat eine Verschärfung des Strafgesetzes in Kraft, wonach eine 'mutwillige Umgehung' der Verpflichtungen einer 'NGO, welche die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt', mit Strafen von 300.000 Rubel (ca. 3.310 Euro) bis zu Haftstrafen von 2-5 Jahren geahndet werden kann (ÖB Moskau 6.2021). Die international bekannte NGO Memorial ist aktuell mit Geldstrafen in Höhe von 6,1 Mio Rubel (ca. 68.000 Euro) wegen fehlender Kennzeichnungen u.a. auf Social-Media-Kanälen konfrontiert (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021). Ende Dezember 2021 hat das Oberste Gericht in Moskau entschieden, Memorial aufzulösen (Tagesschau.de 28.12.2021). Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Schließungspläne mit mehrfachen Verstößen gegen das umstrittene Gesetz zu 'ausländischen Agenten' (Standard Online 25.11.2021). Das Oberste Gericht folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die NGO Memorial habe in ihren Publikationen auf den Hinweis verzichtet, dass sie als 'ausländischer Agent' eingestuft wird (Arte.tv 29.12.2021). Memorial wurde in der Vergangenheit aus denselben Gründen bereits mehrfach zu teils hohen Geldstrafen verurteilt (Standard Online 25.11.2021). Mit Ende 2020 waren beim Justizministerium 75 NGOs als ausländische Agenten registriert (FH 3.3.2021). Ende 2019 wurde zudem die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, auch natürliche Personen als 'ausländische Agenten' zu listen, sofern diese Medieninhalte von solchen verbreiten oder erarbeiten und dafür Geld erhalten (AA 2.2.2021; vergleiche Standard Online 3.12.2019).
Um eine Alternative zu ausländischer Finanzierung russischer NGOs zu schaffen, werden seit 2017 sogenannte präsidentielle Subventionen vergeben, größtenteils an NGOs mit patriotischer bzw. sozialer Ausrichtung; in einigen Fällen erhielten auch als 'ausländische Agenten' deklarierte Einrichtungen staatliche Zuwendungen. Die Kehrseite der staatlichen Unterstützung ist, dass die Empfänger sich im Gegenzug einer intensiven behördlichen Kontrolle ihrer Geschäftstätigkeit unterwerfen müssen (ÖB Moskau 6.2021). In einem Bereich hat der Staat Interesse an Zusammenarbeit und Beratung gezeigt, insbesondere in ländlichen Regionen: Wenn Aktivitäten auf Sozialpolitik ausgerichtet sind, nicht auf politisches Engagement (BTI 2020).
Im Mai 2015 wurde ein Gesetz angenommen, um die Tätigkeit von ausländischen oder internationalen Nichtregierungsorganisationen, die eine Bedrohung für die verfassungsmäßigen Grundlagen, für die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die Sicherheit des Staates darstellen, auf dem Territorium der Russischen Föderation für unerwünscht zu erklären (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche BTI 2020, FH 3.3.2021). Die Klassifizierung als unerwünschte Organisation zieht ein Verbot der Gründung bzw. die Liquidierung bereits bestehender Strukturen der ausländischen NGO in Russland nach sich, sowie ein Verbot der Verteilung von Informationsmaterialien bzw. der Durchführung von Projekten. Weiters ist es russischen Banken verboten, Finanzoperationen durchzuführen, wenn ein Kunde als unerwünschte NGO eingestuft wurde (ÖB Moskau 6.2021). Die Verbote betreffen nicht nur die NGO selbst, sondern auch Personen, die sich an ihrer Tätigkeit beteiligen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Das Gesetz sieht Geldstrafen sowie bei wiederholter Verletzung auch Freiheitsstrafen von mehreren Jahren vor (ÖB Moskau 6.2021). Mit Ende 2020 gelten 29 ausländische NGOs als unerwünschte Organisationen, da sie die nationale Sicherheit gefährden würden. Die Bezeichnung gibt den Behörden die Möglichkeit, eine Bandbreite an Sanktionen gegen diese Gruppierungen zu verhängen (FH 3.3.2021).
Menschenrechtler beklagen staatlichen Druck auf zivilgesellschaftliche Akteure. Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung sind autoritäre, die Grundrechte einschränkende Tendenzen zu beobachten. Jedoch entstehen an vielen Orten neue Formen zivilgesellschaftlichen Agierens: Autofahrer protestieren gegen die Willkür der Verkehrspolizei, 'Strategie 31' setzt sich für die Versammlungsfreiheit ein, Umweltschützer verhindern Atommülltransporte, die Künstlergruppe 'Wojna' setzt auf spektakuläre Protestaktionen. Die Verbindungen zwischen diesen 'Initiativen von unten' und den etablierten russischen NGOs sind aber noch gering (GIZ 1.2021a).
Die Gesetzeslage zu NGOs hat sich in den vergangenen Jahren signifikant verändert, mit dem Ergebnis, dass derzeit unpolitische bzw. Pro-Regierungs-NGOs, die etwa im sozialen Bereich tätig sind, eher unterstützt werden und im Gegensatz dazu kritische NGOs, Medien und Einzelpersonen, vor allem jene, die sich öffentlich kritisch zu Themen wie Menschenrechte, Umweltschutz und dergleichen äußern, mit Einschränkungen und Repression konfrontiert sind (ÖB Moskau 6.2021). In Dagestan können NGOs tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee zur Verhinderung von Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 2.2.2021). Gemeinnützige Stiftungen sind in Dagestan der am weitesten entwickelte Teil der Zivilgesellschaft. Dies sind die stärksten, stabilsten und zahlreichsten NGOs in der Republik und umfassen Stiftungen wie 'Hope and Pure Heart'. Diese Organisationen sind äußerst professionell, verfügen über gut entwickelte IT-Plattformen und verwenden eine gemeinsam nutzbare Datenbank aller Bedürftigen in Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien. Die Zielgruppen ihrer Aktivitäten sind alleinerziehende Mütter, Waisen und Senioren, die alleine leben. Da sie sich nicht mit politischen und bürgerrechtlichen Themen befassen, passt ihre Tätigkeit in den aktuellen politischen Kontext und die konservative Wertebasis und wird von den Behörden nicht kontrolliert. Dagestan hat die am weitesten entwickelte, vielfältigste und unabhängigste Zivilgesellschaft der drei nordkaukasischen Republiken (Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan). Dagestan unterliegt nicht der erhöhten staatlichen Kontrolle und dem Druck Tschetscheniens oder dem Konservativismus und der traditionellen Lebensweise Inguschetiens. Stattdessen gibt es viele verschiedene Gruppen, die sich aktiv für ihre zivilgesellschaftlichen Positionen einsetzen. Dagestan ist auch die erste Region, die die Umwelt aktiv auf die öffentliche Tagesordnung setzt. Aufgrund regelmäßiger Machtwechsel auf Republiks- und lokaler Ebene hat sich in Dagestan kein ausschließliches Zentrum gebildet, das Unterdrückung und Kontrolle über NGOs und Basisinitiativen ausüben würde (CSIS 1.2020).
Unbestrafte und nicht untersuchte, grobe Menschenrechtsverletzungen und Druck auf Menschenrechtsorganisationen haben die Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft in Tschetschenien stark eingeschränkt. Trotzdem konnten viele lokale NGOs dem Druck standhalten und sich an die neuen Regeln anpassen. Die Popularität von gemeinnützigen Aktivitäten und sozialen Projekten zur Unterstützung von einkommensschwachen und schutzbedürftigen Gruppen wächst, ebenso die Anzahl sozialer Initiativen für Kinder und Jugendliche. Auch das Thema Menschen mit Beeinträchtigungen wird de-stigmatisiert. Ein weiterer wichtiger positiver Trend ist, dass immer mehr junge Menschen an Freiwilligenarbeit interessiert sind. Die Reduzierung der Auslandsfinanzierung (nach Angaben des Justizministeriums erhalten derzeit nur 16 NGOs in Tschetschenien Geld aus dem Ausland) wird teilweise durch das Programm der Präsidentenzuschüsse kompensiert, von dem mehrere lokale NGOs profitieren. Insbesondere die Abteilungen für öffentliche Angelegenheiten und religiöse Organisationen arbeiten im Rahmen des Zuschussprogramms des Präsidenten eng zusammen (CSIS 1.2020).
Die NGO Memorial zählte Ende 2020 349 Menschen als politische (61) oder religiöse Gefangene (288). Darunter waren Teilnehmer der Moskauer Wahlproteste 2019, Menschenrechtsaktivisten und Anwälte ethnischer Minderheiten (FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 12.4.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html, Zugriff 12.4.2021
Arte.tv (29.12.2021): Russische Justiz ordnet Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial an, https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/russische-justiz-ordnet-aufloesung-der-menschenrechtsorganisation-memorial, Zugriff 29.12.2021
BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/de/berichte/country-dashboard-RUS.html, Zugriff 12.4.2021
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 12.4.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 12.4.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 12.4.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html, Zugriff 12.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 12.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
Standard Online (3.12.2019): Putin billigt Gesetz zu Journalisten als 'ausländische Agenten', https://apps.derstandard.at/privacywall/story/2000111799282/putin-billigt-gesetz-zu-journalisten-als-auslaendische-agenten, Zugriff 12.4.2021
Standard Online (25.11.2021): Russlands wichtigste Menschenrechts-NGO steht vor der Schließung, https://www.derstandard.at/story/2000131442463/russische-ngo-steht-vor-der-schliessung, Zugriff 29.12.2021
Tagesschau.de (28.12.2021): Empörung über Auflösung von Memorial, https://www.tagesschau.de/ausland/russland/memorial-russland-aufloesung-103.html, Zugriff 29.12.2021
Ombudsperson
Letzte Änderung: 28.05.2021
Für die Russische Föderation gibt es wie für jedes der Föderationssubjekte einen Menschenrechtsbeauftragten [Ombudsperson]. Die Amtsinhaberin Tatjana Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. In ihrem Jahresbericht vom April 2020 gibt sie gleichwohl an, dass die meisten Beschwerden das Verhalten von Polizei und Justiz betreffen. Andere wichtige Beschwerdegründe waren die Nicht-Genehmigung von Versammlungen und – mit großem Abstand – die Behandlung von Häftlingen (AA 2.2.2021). Die Effektivität der regionalen Ombudspersonen variiert erheblich, und lokale Behörden unterminieren manchmal die Unabhängigkeit (US DOS 11.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 26.3.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 26.3.2021
Wehrdienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 16.11.2021
Alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren werden zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten (ÖB Moskau 6.2021). Es gibt in Russland zweimal im Jahr eine Stellung – eine im Frühling, eine im Herbst (Global Security 1.10.2020a). Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium, wobei die Anzahl der Wehrpflichtigen aus den jeweiligen Regionen stark variiert (ÖB Moskau 6.2021). Im Jahr 2020 wurden russlandweit 263.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Global Security 1.10.2020a).
Neben dem Grundwehrdienst gibt es auch die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (dies steht auch weiblichen Staatsangehörigen offen). Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden (ÖB Moskau 6.2021), sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte (ÖB Moskau 6.2021, vergleiche Jamestown 10.4.2018). Mitte April 2019 sagte Präsident Putin, dass die Wehrpflicht in Russland allmählich der Vergangenheit angehören wird. 2019 dienen ca. 370.000 Kontraktniki (Vertragssoldaten) in den russischen Streitkräften, im Vergleich zu ca. 260.000 Wehrpflichtigen (WI 19.4.2019). Der Verteidigungsminister stellte die Aufgabe, die Zahl der Vertragssoldaten bis 2025 auf 475.000 zu erhöhen (RBTH 22.4.2019). Im Oktober 2020 äußerte sich der Generaloberst Jewgeni Burdinski, dass es derzeit wohl nicht notwendig sei, auf eine komplette Vertragsarmee umzusteigen, da dies - auch aufgrund der Corona-Pandemie - wohl zu teuer ist (Global Security 1.10.2020b).
Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als 'untauglich' von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren oder die einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, sind verbreitet, aber rückläufig. Diese Versuche konzentrieren sich vor allem auf das Stadium vor der Einberufung, da nur ein Drittel der jungen Männer, die jährlich das wehrfähige Alter erreichen, tatsächlich eingezogen wird. Etwa ein Drittel ist untauglich, ein Drittel erhält keine Aufforderung, bei der Einberufungskommission vorstellig zu werden. Grundsätzlich gibt es aber keine Rekrutierungsprobleme, da genug junge Männer Grundwehrdienst leisten wollen. Neben einer patriotischen Gesinnung ist ein Grund dafür auch die Tatsache, dass die Ableistung des Grundwehrdienstes Voraussetzung für bestimmte (v.a. staatliche) berufliche Laufbahnen ist. Nichtsdestotrotz gibt es jedes Jahr einige hundert junge Männer, denen der Stellungsbefehl zugestellt wurde, welche die Stellungskommission durchlaufen, die Entscheidung der Stellungskommission zur Einberufung auch nicht beeinspruchen, aber dann dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet haben. In diesen Fällen gibt es jährlich einige hundert strafrechtliche Verfahren bzw. Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung (ÖB Moskau 6.2021). Im Durchschnitt erhalten russische Wehrpflichtige ca. 2.000 Rubel (ca. 22€) pro Monat, während professionelle Vertragssoldaten ca. 25.000–35.000 Rubel (275–385€) erhalten. Letztere können auch noch mit einigen zusätzlichen Zahlungen rechnen (WI 19.4.2019).
Im Jahr 2015 wurde durch Staatspräsident Putin ein Dekret erlassen, das die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweiterte und seitdem ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige (Dedowschtschina) sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte umfasst. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Dedowschtschina kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 2.2.2021). Nach grundlegenden Reformen im russischen Heer in den Jahren 2008–2012, die auch Maßnahmen zur Humanisierung des Wehrdienstes sowie einer Reduzierung des Grundwehrdienstes von zwei auf ein Jahr beinhalteten, hat sich die Zahl der Gewaltverbrechen im Heer deutlich reduziert. Offizielle Statistiken dazu werden nicht publiziert. NGOs gehen dennoch von hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt oder geduldet (ÖB Moskau 6.2021).
Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, die seit 1999 formal in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie Freiheitsstrafen aufgrund anderer Delikte in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch auch zur Verbüßung von Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 2.2.2021).
Bis ins Jahr 2014 wurden etwa aus Tschetschenien überhaupt keine Wehrpflichtigen eingezogen. Aus Tschetschenien werden nunmehr jährlich ein paar hundert Rekruten einberufen. Nachdem junge Männer aus der Region aber teilweise eine Einberufung anstreben, gibt es Fälle, in denen sie dies durch Anmeldung eines Wohnsitzes in einer anderen Region zu erreichen versuchen (ÖB Moskau 6.2021). Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken können durch den Dienst in den Streitkräften der Russischen Föderation eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erlangen. Erstmalig können sich diese Personen dann nach drei Jahren um die Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft bewerben (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 7.4.2021
Global Security (page last updated 1.10.2020a): Russian Military Personnel – Conscription, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/personnel-draft.htm, Zugriff 7.4.2021
Global Security (page last updated 1.10.2020b): Military Service - Contract Service, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/personnel-contract.htm, Zugriff 7.4.2021
Jamestown Foundation (10.4.2018): 2018 Spring Draft Highlights Russia’s Demographic Decline, Eurasia Daily Monitor Volume: 15 Issue: 54, https://www.ecoi.net/de/dokument/1429303.html, Zugriff 7.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2019): Will Russia be able to win a war without conscripts?, https://www.rbth.com/lifestyle/330270-win-a-war-without-coscripts, Zugriff 7.4.2021
WI - Warsaw Institute (19.4.2019): Putin (Again) Announces End of Compulsory Military Service in Russia, https://warsawinstitute.org/putin-announces-end-compulsory-military-service-russia/, Zugriff 7.4.2021
Wehrersatzdienst
Letzte Änderung: 16.11.2021
Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissens- oder religiösen Gründen wird durch Artikel 59, Absatz 3, der Verfassung garantiert (AA 2.2.2021). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB Moskau 6.2021). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften, was in der Praxis kaum vorkommt, bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Der Zivildienst wird im Normalfall bei einem staatlichen Dienst, wie z.B. einer Klinik oder der Feuerwehr, abgeleistet. Die Anzahl der Berufe, in denen der Ersatzdienst geleistet werden kann, wurde 2019 von 114 auf 140 erhöht (AA 2.2.2021). Mit Stand vom Februar 2021 absolvierten laut Angaben der Föderalen Agentur für Arbeit und Beschäftigung 1.224 Personen in Russland einen alternativen Zivildienst (Rostrud 1.2.2021). Vereinzelt kommt es zu gerichtlichen Verfahren, etwa wenn die pazifistische Gesinnung eines Wehrpflichtigen in Zweifel steht (ÖB Moskau 6.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 7.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
Rostrud – Федеральная Служба по Труду и Занятости (Föderale Agentur für Arbeit und Beschäftigung) (1.2.2021): Численность граждан, проходящих альтернативную гражданскую службу (по состоянию на 01.02.2021 г.) (Anzahl von Bürgern, die alternativen Zivildienst leisten), https://rostrud.gov.ru/rostrud/deyatelnost/?CAT_ID=14516, Zugriff 7.4.2021
Wehrdienstverweigerung
Letzte Änderung: 16.11.2021
Für Wehrdienstverweigerer sind folgende Strafen vorgesehen: Geldstrafen von bis zu 200.000 Rubel [ca. 2.700€] oder in der Höhe von 18 Monatslöhnen des Verurteilten sowie Freiheitsentzug von sechs Monaten bis zu zwei Jahren. Für die Weigerung, den alternativen Zivildienst zu absolvieren, ist eine Geldstrafe von bis zu 80.000 Rubel [ca. 1.100€] oder in der Höhe von sechs Monatslöhnen vorgesehen bzw. bis zu sechs Monate Haft. In den letzten Jahren wurden keine Haftstrafen, sondern in der Regel Geldstrafen in der Höhe von ca. 20.000-100.000 Rubel (ca. 300-1.500 Euro) verhängt (ÖB Moskau 6.2021). Seit einer gesetzlichen Neuregelung im Juli 2017 ist Wehrdienstverweigerern der Eintritt in den Staatsdienst für eine Dauer von zehn Jahren verboten (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche Jamestown 8.11.2017). Die Zahl der Wehrdienstverweigerer hat sich von 2016 bis 2018 halbiert und lag laut offiziellen Angaben vom Oktober 2018 bei 1.600 Personen (Global Security 1.10.2020).
Quellen:
Global Security (page last updated 1.10.2020): Russian Military Personnel – Conscription, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/personnel-draft.htm, Zugriff 7.4.2021
Jamestown Foundation (8.11.2017): How Many Soldiers Does Russia Have? in: Eurasia Daily Monitor Volume: 14 Issue: 144, https://jamestown.org/program/many-soldiers-russia/, Zugriff 7.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 29.9.2021
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 02.03.2022
Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Stärkung des Gerichtshofs (GIZ 1.2021a). Die Verfassung postuliert die Russische Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Artikel 19, Absatz 2,). Für die Russische Föderation gibt es, wie für jedes der Föderationssubjekte, einen Menschenrechtsbeauftragten. Die Amtsinhaberin Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Artikel 15, Absatz 4, der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland hat folgende UN-Übereinkommen ratifiziert (AA 2.2.2021):
● Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)
● Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)
● Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)
● Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)
● Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)
● Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)
● Behindertenrechtskonvention (AA 2.2.2021).
Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 309 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat 94 dieser Empfehlugen nicht angenommen und weitere 34 lediglich teilweise angenommen. Die nächste Sitzung für Russland im UPR-Verfahren wird im Mai 2023 stattfinden. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen [Anm.: Zur mangelhaften Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland vergleiche Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 2.2.2021). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 6.2021).
Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikane bis hin zu Misshandlungen durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2021).
Einerseits wird in Russland soziales Engagement und freiwillige soziale Arbeit (etwa auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie) begrüßt und unterstützt. Sogenannte 'Bürgerkammern' sollen als Dialogplattform zwischen der Bevölkerung und dem Staat dienen. Andererseits wurde der Freiraum für eine kritische Zivilgesellschaft seit den Protesten 2011/2012 immer weiter eingeschränkt. Im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet. Kritische inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt (ÖB Moskau 6.2021) und sehen sich in manchen Fällen sogar Bedrohungen oder tätlichen Angriffen bzw. strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021, HRW 13.1.2022). Der Einfluss des konsultativen 'Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte' unter dem Vorsitz von Waleri Fadejew ist begrenzt. Er befasst sich in der Regel nicht mit Einzelfällen, sondern mit grundsätzlichen Fragen wie Gesetzesentwürfen, und seine Stellungnahmen zu dem Verlauf von Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau blieben ohne Folge (AA 2.2.2021).
Rassismus und Xenophobie richten sich in Russland traditionell vor allem gegen Migranten aus Zentralasien, Personen aus dem Kaukasus und vermehrt auch gegen dunkelhäutige Personen. Weitere Opfer von Hassverbrechen sind ideologische Gegner (Angriffe v.a. der nationalistischen Gruppierung SERB), LGBTIQ-Personen und Obdachlose. Die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren ist gesunken, und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen sind beträchtlich zurückgegangen. Anti-LGBTIQ-Rhetorik ist nunmehr eine der am weitesten verbreiteten Formen von Hassreden. Der Islam wird häufig mit Terrorismus in Verbindung gebracht. Die häufigsten Opfer rassistischer Gewalt sind Zentralasiaten, andere 'nicht-slawisch' aussehende Personen, Roma und dunkelhäutige Personen. Die Zahl der Opfer bei Hassverbrechen ist zwar klar geringer als noch vor 10 Jahren, dennoch aber nicht unbedeutend. Keinen Rückgang gab es bei Angriffen gegen Mitglieder oppositioneller Gruppierungen (ÖB Moskau 6.2021).
Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Den Hintergrund bilden in ihrem Ausmaß weiter rückläufige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien (AA 2.2.2021). Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend 'Aufständische' und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 12.3.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 12.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 12.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 12.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 12.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 3.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 30.9.2021
Tschetschenien
Letzte Änderung: 02.03.2022
NGOs beklagen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen mitunter Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten, aber auch Einzelpersonen, welche das Regime kritisieren (ÖB Moskau 6.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Das Republiksoberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Jelena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021).
Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen. Nach wie vor gibt es Clans, welche Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche BAMF 11.2019).
2017 und laut der NGO LGBTI Network in geringem Ausmaß bis 2019 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021, HRW 17.1.2019). Es gibt Berichte über Personen, die nach Folterungen gestorben sind [vgl. Kapitel Sexuelle Minderheiten] (FH 3.3.2021). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angeblichen außergerichtlichen Tötungen von 27 Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten. Im März 2018 entschied das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, kein Strafverfahren in der Sache zu eröffnen. Die russische Menschenrechtsombudsperson wurde Berichten zufolge bei der Untersuchung dieser Vorgänge in Tschetschenien bewusst getäuscht. Im März 2021 publizierte die Nowaja Gazeta die Aussagen eines tschetschenischen Polizisten, welcher Augenzeuge der Festnahmen und außergerichtlichen Tötungen war (ÖB Moskau 6.2021).
Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot, auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen homosexuelle Männer berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Schikanen, Strafverfahren und körperliche Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger werden weiterhin begangen (AI 7.4.2021). Im Februar 2020 wurden die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina, und eine Menschenrechtsanwältin angegriffen und mit Schlägen traktiert. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte über Personen, die bloß aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 6.2020). [Bezüglich Morde bzw. Vorfälle gegen tschetschenische Kritiker in Europa und Russland siehe Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].
Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert und kann als stabil, wenn auch volatil, bezeichnet werden. Die Stabilisierung erfolgte jedoch um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, das heißt menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige und äußerst engmaschige Kontrolle der Zivilgesellschaft. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 12.3.2021
AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 11.3.2020
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 16.2.2022
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/684671/685623/685628/6029277/21602088/Deutschland___Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_L%C3%A4nderreport_21_%2D_Russische_F%C3%B6deration_%28Stand_November_2019%29%2C__November_2019.pdf?nodeid=21601757&vernum=-2, Zugriff 12.3.2020
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 12.3.2021
HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 11.3.2020
Moscow Times (7.2.2020): Prominent Russian Journalist, Lawyer Attacked in Chechnya, https://www.themoscowtimes.com/2020/02/07/prominent-russian-journalist-lawyer-attacked-in-chechnya-a69199, Zugriff 26.3.2020
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto,-259,684, Zugriff 12.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 30.9.2021
Dagestan
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die Menschenrechtslage ist in Dagestan grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien. Die Kontrolle der Zivilgesellschaft ist weniger ausgeprägt, und die Bewohner Dagestans sind im direkten Vergleich hinsichtlich persönlicher Freiheit bessergestellt. Doch auch in Dagestan gehen mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen. Von dem Vorgehen der Sicherheitsbehörden wegen Verdachts auf Extremismus sind nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch NGOs im sozialen/humanitären Bereich oder regierungskritische Journalisten betroffen. Im Gegensatz zu Tschetschenien können NGOs in Dagestan tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee gegen Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 2.2.2021). Die Haltung der Behörden in Dagestan ist milder gegenüber der Presse und den Institutionen der Zivilgesellschaft, die auch ein höheres Maß an Protestaktivität aufweisen als andere russische Regionen. Darüber hinaus sind Regierungs- und regierungsnahe Strukturen in Dagestan gegenüber Aktivisten etwas toleranter als in anderen Teilen Russlands. Während Demonstrationen verboten und aufgelöst werden können, werden jedoch manche Demonstrationen toleriert. Wenn dies nicht der Fall ist, gibt es starken Widerstand von Aktivisten, welche die Entscheidungen der Behörden mit rechtlichen Schritten erfolgreich anfechten. Obwohl es registrierte NGOs und spezifische Projekte gibt, ist die Zivilgesellschaft eher durch soziale Bewegungen und Initiativen vertreten. Nur wenige Organisationen in Dagestan sind ausschließlich im Bereich der Menschenrechte tätig. Zu denen, die dies tun, gehört Memorial. Eine andere Menschenrechtsorganisation - 'Patientenmonitor' - arbeitet daran, die Rechte von Patienten zu schützen, die in staatlichen Einrichtungen behandelt werden. Die Hauptschwierigkeiten der Menschen bestehen darin, ambulant kostenlose Medikamente zu erhalten, Medikamente und Dienstleistungen in stationären Einrichtungen zu erhalten sowie Analysen und diagnostische Tests durchführen zu lassen. 'Patientenmonitor' bietet Menschen, deren Rechte nicht beachtet werden, kostenlose Rechtshilfe und bekämpft Korruption in medizinischen Einrichtungen. Auch Umweltaktivisten sind in Dagestan aktiv (CSIS 1.2020).
Wenngleich von offizieller Seite im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet wurde, kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen. Nach Einschätzung von Experten hat sich die Struktur des bewaffneten Widerstands geändert. Es soll keine Lager in den Wäldern mehr geben, stattdessen werden Anschläge von Personen, die nach außen hin ein normales Leben führen, vorbereitet. Bewaffnete Gruppen stehen offiziellen Sicherheitsorganen gegenüber, dem Partisanenkrieg auf der einen Seite wird mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung auf der anderen Seite begegnet. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen. Entführungen und Fälle von Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Tötungen kommen ebenso vor. Bei der Vorgehensweise bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorbekämpfung sind mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozio-ökonomischen Lage in Dagestan schafft wiederum einen weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten (ÖB Moskau 6.2021).
In Bezug auf Beobachtungslisten von Salafisten ist zu sagen, dass in den meisten Quellen derzeit keine Hinweise auf die Weiterführung dieser Listen zu finden sind [vgl. dazu Kapitel Religionsfreiheit/Dagestan] (HRW 13.1.2022; vergleiche FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, AI 7.4.2021). Nach Einschätzung des Menschenrechtszentrums Memorial dürften solche Listen inoffiziell weiterhin geführt werden, wenngleich Beschwerden diesbezüglich abgenommen haben und Grundrechtsverletzungen nicht mehr im früheren Ausmaß vorkommen (ÖB Moskau 6.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 12.3.2021
AI - Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html, Zugriff 12.3.2021
AI - Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 16.2.2022
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 12.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 12.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 3.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 30.9.2021
Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die tschetschenische Führung unterdrückt weiterhin rücksichtslos jede Form von Dissens (HRW 13.1.2022). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen bzw. mit deren Ideologie zu sympathisieren, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigung, Entführung, Misshandlung und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft) (ÖB Moskau 6.2021). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt (ÖB Moskau 6.2020). Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2021). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).
Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird eine Person allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diese zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Im Mai 2016 wandte sich Kadyrow in einem TV-Beitrag mit einer deutlichen Warnung vor Kritik an die in Europa lebende tschetschenische Diaspora: Diese werde für jedes ihrer Worte ihm gegenüber verantwortlich sein, man wisse, wer sie seien und wo sie lebten, sie alle seien in seinen Händen, so Kadyrow. Das tschetschenische Oberhaupt hat auch verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Vereinzelt sind Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte. Auch innerhalb Russlands werden immer wieder Fälle bekannt, in denen tschetschenische Sicherheitsorgane außerhalb der Republik tätig werden (ÖB Moskau 6.2021): Im September 2020 wurde Salman Tepsurkajew, Moderator des Kadyrow-kritischen Telegram-Kanals '1Adat', aus Gelendschik (Region Krasnodar) entführt und nach Tschetschenien gebracht, wo er gefoltert und öffentlich erniedrigt wurde (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Im Februar 2021 wurden zwei Personen von Polizisten aus Nischnij Nowgorod entführt, wohin sie mit Hilfe des LGBT-Netzwerks geflohen waren, und nach Tschetschenien gebracht, wo ihnen 'Zusammenarbeit mit illegalen bewaffneten Gruppen' vorgeworfen wird. Im Juni 2021 wurde die Tschetschenin Chalimat Taramowa, welche wegen häuslicher Gewalt und Drohungen aus Tschetschenien geflohen war, von Polizisten in einem Krisenzentrum für Frauen in Dagestan festgenommen und zurück nach Tschetschenien gebracht, wo sie den Familienangehörigen, vor welchen sie u.a. wegen ihrer sexuellen Orientierung geflohen war, übergeben wurde. Der Vater ist Berichten zufolge ein hochrangiger tschetschenischer Beamter (ÖB Moskau 6.2021).
Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).
Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vergleiche Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vergleiche Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. Für die Jahre 2017, 2018, 2019, 2020 und 2021 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018; vergleiche US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, HRW 13.1.2022, AI 7.4.2021).
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2021). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).
Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Blogger wegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der in Europa lebende Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vergleiche RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille aufgefunden (SZ 4.2.2020; vergleiche Zeit.de 5.7.2020, ÖB Moskau 6.2021). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet (Kurier.at 23.7.2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Der Mann, der sich Anzor aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).
Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Offiziellen russischen Vertretern zufolge kehren angesichts einer drohenden gerichtlichen Verfolgung in Russland nur wenige FTFs (foreign terrorist fighters) nach Russland zurück. Frauen und Kinder von FTFs, die keine Verbrechen begangen haben, werden von Russland zurückgeholt (v.a. Kinder), diese werden soweit möglich rehabilitiert und resozialisiert. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen. In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrern gestattet, nach Hause zurückzukehren. In Dagestan wurden Frauen – angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand - als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu 7 – 7,5 Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafen aufgrund von Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind. Vor dem Verbot des sogenannten IS war die Rückkehr nach Russland einfacher (auch für Männer) und die Konsequenzen milder. Grundsätzlich werden betroffene Familienangehörige als Hochrisikogruppe betrachtet und befinden sich unter Aufsicht der Behörden. Formen der Diskriminierung sind etwa Verweigerung eines Kindergarten- oder Schulplatzes oder Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden (ÖB Moskau 6.2021).
Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2021).
Quellen:
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Meinungs- und Pressefreiheit, Internet
Letzte Änderung: 02.03.2022
Meinungs- und Pressefreiheit sind zwar verfassungsrechtlich garantiert (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021), die Wahrnehmung ist in der Praxis jedoch durch ein ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften begrenzt (AA 2.2.2021). Am 1. April 2020 wurde ein Gesetz aus dem Jahr 2019 geändert, das 'Falschinformationen' unter Strafe stellt. Die neuen Bestimmungen verbieten es, "wissentlich Falschinformationen über Ereignisse zu verbreiten, die eine Gefahr für das Leben und die Sicherheit der Bevölkerung darstellen, und/oder über Maßnahmen der Regierung zum Schutz der Bevölkerung". Einzelpersonen drohen bis zu fünf Jahre Haft, wenn die Verbreitung der Information zu einer Körperverletzung oder zum Tod eines Menschen führt, für Medien sind hohe Geldstrafen vorgesehen. Auf Grundlage dieses Gesetzes wurden Hunderte Menschen in Verwaltungsverfahren zu Geldstrafen verurteilt, und gegen mindestens 37 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet. Bei den Betroffenen handelte es sich zumeist um zivilgesellschaftliche Aktivisten, Journalisten und Blogger. Gegen mindestens fünf Medienunternehmen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Die Zeitung Nowaja Gazeta und ihr Chefredakteur wurden im August und im September 2020 wegen Berichten über COVID-19 zu Geldstrafen verurteilt und angewiesen, die entsprechenden Artikel im Internet zu löschen (AI 7.4.2021). Ein weiteres Mittel der staatlichen Behörden, gegen kritische Stimmen in der Medienlandschaft vorzugehen, ist die 2012 verabschiedete Gesetzgebung zum Extremismus (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Sie sollte ursprünglich dabei helfen, rassistische und terroristische Straftaten im Land einzudämmen, wird von den Behörden jedoch aufgrund ihrer vagen Formulierung häufig überschießend angewendet. Diese Einschränkung der Grundrechte führt zu einem schwindenden Raum für eine unabhängige Zivilgesellschaft und ist durch ein hartes Durchgreifen gegen unabhängige politische Stimmen gekennzeichnet (ÖB Moskau 6.2021). Auch die 'Bedrohung der nationalen Sicherheit' dient regelmäßig als Rechtfertigung für Eingriffe in die Pressefreiheit und andere Grundrechte. Selbst ein schlichtes 'liken' oder 'retweeten' eines Beitrags, den die Behörden als 'extremistisch' einstufen, kann zu Strafen führen (AA 2.2.2021), darunter z.B. Kommentare über die Illegalität der Annexion der Krim. Mehrere Personen, von denen viele politisch nicht aktiv waren, wurden unter dieser Anti-Extremismus-Gesetzgebung verurteilt (ÖB Moskau 6.2021). Das oben erwähnte Gesetz zur 'Verbreitung von Falschnachrichten' sanktioniert die Verbreitung von 'fake news', die eine Gefährdung für Leib und Leben der Bevölkerung darstellen. Es wurden zahlreiche Strafen verhängt und der Strafrahmen im März 2020 erhöht (höhere Geldstrafen; bis zu fünf Jahre Haft). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde diese Gesetzgebung noch ausgedehnt. Seit April 2020 ist auch die Verbreitung von 'fake news' zur Pandemie strafbar (AA 2.2.2021; vergleiche HRW 13.1.2021, FH 14.10.2020). Nach einer Schätzung haben die Behörden innerhalb von drei Monaten mindestens 170 Verwaltungs- und 42 Strafverfahren wegen angeblicher Online-Verbreitung von Falschinformationen über Covid-19 eingeleitet (HRW 13.1.2021). Im Frühjahr 2020 setzte die Regierung auch Überwachungssysteme ein, angeblich um das COVID-19-Quarantäneregime durchzusetzen (FH 14.10.2020). 2021 traten neue Gesetzesänderungen in Kraft, die die freie Meinungsäußerung weiter einschränken. Eine Änderung könnte es den Behörden ermöglichen, ein Verfahren wegen Beleidigung ohne einen Kläger und ein Opfer einzuleiten. Durch andere Änderungen wurde die Definition des Straftatbestands der Verleumdung erweitert und eine Freiheitsstrafe als mögliche Strafe eingeführt (HRW 13.1.2022). Die staatliche Kontrolle von Internet und sozialen Medien wird zunehmend verschärft (AA 2.2.2021; vergleiche HRW 13.1.2022, FH 14.10.2020).
Ein Großteil der staatlichen Fernseh- und Printmedien steht unter staatlicher oder staatsnaher Kontrolle (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Die wenigen unabhängigen bzw. kritischen Medien (z.B. TV-Sender Doschd, Radiosender Echo Moskwy, Zeitung Nowaja Gazeta) werden mit administrativen und finanziellen Mitteln unter Druck gesetzt (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Kritische Journalisten sind in Russland mit Drohungen, physischer Gewalt und Verhaftungen konfrontiert (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Insbesondere kommt es auch im Nordkaukasus mitunter zu physischen Attacken und Verfolgung von Journalisten. Der Großteil dieser Fälle bleibt ungeklärt (ÖB Moskau 6.2021). Angriffe, Verhaftungen, Razzien in Büros und Drohungen gegen Journalisten sind weit verbreitet, und die Behörden richteten sich 2020 aktiv gegen Journalisten außerhalb Moskaus (FH 3.3.2021). Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf Journalisten oder Todesfälle unter gewaltsamen Umständen. Journalisten werden manchmal auch infolge ihrer beruflichen Tätigkeit verhaftet und z.B. wegen angeblicher Drogenvergehen oder terrorismusbezogener Anklagen strafrechtlich verfolgt. Gegen die auf Tschetschenien spezialisierte Journalistin Jelena Milaschina wurden vonseiten des tschetschenischen Oberhaupts Ramsan Kadyrow im April 2020 Morddrohungen ausgesprochen (ÖB Moskau 6.2021).
Im Herbst 2017 wurde eine gesetzliche Grundlage zur Listung gewisser ausländischer Medien als ausländische Agenten geschaffen. Eine im November 2019 beschlossene Gesetzesnovelle ermöglicht es, auch natürliche Personen, die Nachrichten von Medien, welche bereits als ausländische Agenten eingetragen sind, verbreiten (z.B. Journalisten, Blogger, etc.), als ausländische Agenten zu qualifizieren. Ausländischen Personen bzw. Unternehmen ist es nach Änderungen im Gesetz über die Massenmedien seit 2014 verboten, mehr als 20% der Anteile an russischen Medien zu halten. Zahlreiche Internetseiten wurden aufgrund des Verdachts extremistischer Inhalte ohne vorhergehenden Gerichtsbeschluss von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor gesperrt (ÖB Moskau 6.2021). Im November 2020 wurde dem Parlament ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt, der den Behörden die Befugnis geben soll, Webseiten zu blockieren, die russische staatliche Medieninhalte zensiert haben. Zu den genannten Webseiten zählen Twitter, Facebook und YouTube (HRW 13.1.2021). Dieses Gesetz trat 2021 in Kraft (HRW 13.1.2022). Auch verschlüsselte E-Mail-Dienste wurden blockiert (FH 14.10.2020). 2021 trat ein weiteres Gesetz in Kraft, das Strafen für Hersteller vorsieht, die auf den in Russland verkauften Geräten keine bestimmte russische Software vorinstallieren. Auch verpflichten neue Bestimmungen beliebte ausländische Webseiten und Apps, Vertretungen in Russland zu eröffnen. Zu den Sanktionen bei Nichteinhaltung der Vorschriften gehören Geldstrafen, Werbeverbote und Sperrungen. Die Behörden verhängen weiterhin hohe Geldstrafen gegen Social-Media-Plattformen wegen Nichteinhaltung der Vorschriften. Auch verlangten die russischen Behörden 2021, dass YouTube Kanäle sperrt, die mit Nawalny-Gruppen verbunden sind, die als 'extremistisch' eingestuft wurden. Im August 2021 forderten sie Apple und Google auf, Nawalnys App aus ihren Stores zu entfernen. Die Unternehmen kamen der Aufforderung schließlich nach, aber Google stellte die App im Oktober wieder ein (HRW 13.1.2022).
Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung) abgeschwächt wurde. Nur wenn jemand innerhalb eines Jahres mehrmals 'extremistischen Inhalt' veröffentlicht oder verbreitet hat, kann ein Strafverfahren eröffnet werden. Passiert das zum ersten Mal, drohen statt mehrjähriger Gefängnisstrafen lediglich Bußgelder oder Arrest. Im Mai 2020 wurde eine neue Strategie zur Extremismusbekämpfung bis 2025 unterzeichnet. Darin wird Extremismus als eine der Hauptgefahren für die verfassungsmäßige Ordnung des Staates bezeichnet. Als Gefährdung der Stabilität der russischen Gesellschaft wird auch die Tätigkeit einzelner ausländischer NGOs im Zusammenhang mit der Verbreitung extremistischer Ideologien bezeichnet (ÖB Moskau 6.2021). Die Gesetze zu 'ausländischen Agenten' und 'unerwünschten Organisationen' wurden dazu genutzt, unabhängige NGOs zu verleumden, ihnen die Finanzmittel zu entziehen und ihre Mitglieder streng zu bestrafen. Nach weiteren drakonischen Gesetzesänderungen, die im Dezember 2020 in Kraft traten, können jetzt auch Mitarbeiter von NGOs, nicht registrierte Gruppen und Einzelpersonen als 'ausländische Agenten' eingestuft werden (AI 7.4.2021).
In den Internetmedien, die weiterhin beträchtliche Wachstumsraten aufweisen, hat sich eine erhebliche Dynamik entfaltet. 78% der erwachsenen russischen Bevölkerung nutzt das Internet. Die IT-Versorgung des Landes ist eine der Prioritäten der Regierung. Dennoch bleibt es vorerst ein großstädtisches Phänomen. Der Einfluss der Internetmedien und der Blogger-Szene (wie z.B. Projekt Snob, Alexej Nawalny), als Ventil für unabhängige und kritische Meinungsäußerungen, wächst (GIZ 1.2021a). Die Medienbehörde Roskomnadzor stellte ihre Bemühungen zur Schließung des verschlüsselten Nachrichtendienstes Telegram ein und hob das zwei Jahre alte Verbot der Plattform im Juni 2020 auf. Die Aufhebung des Verbotes hängt mit der Zusammenarbeit des Unternehmens in Terrorismusfällen zusammen (FH 3.3.2021).
In einem weltweiten Ranking zur Pressefreiheit 2020 nimmt die Russische Föderation derzeit den 149. Platz von 180 Ländern und Territorien ein (RoG 2020). Reporter ohne Grenzen veröffentlichte seine Liste der 20 schlimmsten 'digitalen Raubtiere' der Pressefreiheit im Jahr 2020 - 'Unternehmen und Regierungsbehörden, die digitale Technologie einsetzen, um Journalisten auszuspionieren und zu belästigen und damit unsere Fähigkeit zu gefährden, Nachrichten und Informationen zu erhalten'. Russland findet sich auf dieser Liste (RoG 12.3.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 14.2.2022
FH – Freedom House (14.10.2020): Bericht zur Freiheit digitaler Medien und des Internet (Berichtszeitraum Juni 2019 - Mai 2020) - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2039111.html, Zugriff 24.3.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 24.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 24.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html, Zugriff 24.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
RoG – Reporter ohne Grenzen (2020): 2020 World Press Freedom Index, https://rsf.org/en/ranking_table, Zugriff 24.3.2021
RoG – Reporter ohne Grenzen (12.3.2020): RSF unveils 20/2020 list of press freedom’s digital predators, https://rsf.org/en/news/rsf-unveils-202020-list-press-freedoms-digital-predators, Zugriff 24.3.2021
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition
Letzte Änderung: 02.03.2022
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert, werden durch lokale Behörden in der Praxis jedoch häufig eingeschränkt (US DOS 11.3.2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2021, FH 3.3.2021). Die Organisation ungenehmigter Protestveranstaltungen zieht regelmäßig die Verhaftung der Organisatoren und die Verhängung von Geld- oder mehrwöchigen administrativen Arreststrafen nach sich (AA 2.2.2021). Das Gesetz sieht harte Strafen für nicht genehmigte Proteste und andere Verstöße gegen das öffentliche Versammlungsrecht vor - bis zu 300.000 Rubel (ca. 4.000 Euro) für Einzelpersonen, 600.000 Rubel (8.000€) für Veranstalter und eine Million Rubel (13.600€) für Gruppen oder Unternehmen. Demonstranten mit mehreren Verstößen innerhalb von sechs Monaten können mit einer Geldstrafe von bis zu einer Million Rubel (13.600€) belegt oder für bis zu fünf Jahre inhaftiert werden (USDOS 11.3.2020). Ausnahmen wie die Demonstrationen gegen die Festnahme und Amtsenthebung eines Provinzgouverneurs in Chabarowsk, gegen die im Sommer 2020 lange nicht eingeschritten wurde, bestätigen diese Regel. Wiederholte Verstöße gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder auch Mahnwachen können strafrechtlich geahndet werden (bis zu drei Jahre Lagerhaft). Zudem kam es 2019/2020 zu Verurteilungen von Demonstranten wegen angeblicher Gewalt gegen Polizeibeamte, von denen einige nach öffentlichen Protesten und der Veröffentlichung von Videos aufgehoben wurden (AA 2.2.2021). Im Dezember 2020 verabschiedete die Duma zwei neue Gesetze, die Mahnwachen für Einzelpersonen verbieten und die Protestorganisatoren dazu auffordern, umfangreiche Unterlagen auszufüllen (FH 3.3.2021; vergleiche AI 7.4.2021). Mit Verweis auf die Pandemie wurden die Auflagen für öffentliche Versammlungen und Mahnwachen von Einzelpersonen verschärft, in einigen Regionen wurden sie ganz verboten. Öffentliche Proteste umfassen in der Regel nur wenige Teilnehmer, finden aber ungeachtet aller Repressalien regelmäßig statt. Die Zahl der Einzelpersonen, die wegen einer Mahnwache festgenommen und strafrechtlich verfolgt wurden, steigt an (AI 7.4.2021).
Kundgebungen und Demonstrationen von oppositionellen Gruppen werden entweder nicht genehmigt oder müssen abseits zentraler Plätze stattfinden. Gleichzeitig zeigen die Behörden eine zunehmende Intoleranz gegenüber nicht genehmigten Demonstrationen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Im Sommer 2019 kam es in Moskau zu einer Reihe von - zum Teil nicht genehmigten - Protestaktionen mit bis zu 60.000 Teilnehmern, nachdem zahlreiche oppositionelle Kandidaten nicht zur Wahl zum Moskauer Stadtparlament zugelassen worden waren. Mehr als tausend Personen wurden festgenommen, gegen einige wurde ein Strafverfahren eröffnet. Mehrere Angeklagte wurden zu Haftstrafen verurteilt, darunter Personen, welche die Menschenrechtsorganisation Memorial zu politischen Gefangenen erklärt hat. Kreml-freundliche Gruppierungen hingegen berichten nicht über Probleme, entsprechende Genehmigungen der Moskauer Stadtverwaltung für Demonstrationen an zentralen Plätzen der Stadt zu erhalten (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche Zeit Online 2.8.2019).
In Bezug auf die Vereinigungsfreiheit ist zu sagen, dass öffentliche Organisationen ihre Statuten und die Namen ihrer Leiter beim Justizministerium registrieren müssen. Die Finanzen der registrierten Organisationen werden von den Steuerbehörden überprüft, und ausländische Gelder müssen registriert werden [bez. Organisationen siehe auch Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten] (US DOS 11.3.2020). Obwohl Gewerkschaftsrechte rechtlich geschützt sind, sind sie in der Praxis eingeschränkt. In führenden Branchen, einschließlich der Automobilherstellung, kam es zu Streiks und Protesten der Arbeiter, aber gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung und Repressalien sind weit verbreitet. Arbeitgeber ignorieren häufig Kollektivverhandlungsrechte. Der größte Gewerkschaftsverband arbeitet eng mit dem Kreml zusammen, obwohl in einigen Industriesektoren und Regionen unabhängige Gewerkschaften tätig sind (FH 3.3.2021).
Oppositionspolitiker und -aktivisten werden häufig mit fabrizierten Anklagen und anderen Formen administrativer Belästigung konfrontiert, die ihre Teilnahme am politischen Leben verhindern sollen. Alexej Nawalny wurde im August 2020 mit einem Nervengift vergiftet, als er Korruption und Kampagnen in Sibirien untersuchte. Später gab es Beweise dafür, dass der Anschlag vom Inlandsgeheimdienst FSB durchgeführt worden war. Nawalny musste nach Deutschland evakuiert werden, um zu verhindern, dass die Behörden in seine Behandlung eingreifen (FH 3.3.2021). Als Nawalny im Jänner 2021 in seine Heimat zurückkehrte, wurde er festgenommen (Standard.at 28.2.2021; vergleiche HRW 13.1.2022), weil er während seiner Abwesenheit gegen Bewährungsauflagen aus einer früheren Verurteilung wegen Untreue verstoßen haben soll. Ein Gericht wandelte die frühere Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe um (Standard.at 28.2.2021). Die Verurteilung wurde international scharf kritisiert und wird auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ungerechtfertigt angesehen (Standard.at 28.2.2021; vergleiche HRW 13.1.2022). Alexej Nawalny wurde zu mehr als zweieinhalb Jahren Haft in einem Straflager verurteilt (Standard.at 28.2.2021). Nach der Duma-Wahl im September 2021 hat das Ermittlungskomitee ein neues Strafverfahren gegen Alexej Nawalny und Vertraute wegen Schaffung und Führung einer extremistischen Organisation eingeleitet. Weiteren Personen aus dem Umkreis Nawalnys wird eine Beteiligung an dieser Organisation vorgeworfen. Nawalny drohen damit nun weitere sechs bis zehn Jahre Haft. Das neue Verfahren erfasst potenziell einen sehr weiten Personenkreis. So können alle ehemaligen Mitstreiter Nawalnys nun auch wegen Beteiligung an einer extremistischen Organisation haftbar gemacht werden. Prinzipiell können die Ermittlungsbehörden den Vorwurf dann auch auf Teilnehmer von Protestdemonstrationen ausweiten (Standard.at 30.9.2021). Das neue Verfahren gegen Nawalny löste landesweite Proteste aus, die von den Behörden unterdrückt wurden. Die Behörden verboten aufgrund Extremismusvorwürfen drei Gruppen, die angeblich mit Nawalny in Zusammenhang stehen sollen (HRW 13.1.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 26.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 14.2.2022
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 26.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
Standard.at (28.2.2021): Regierungskritiker Nawalny in russisches Straflager überstellt, https://www.derstandard.at/story/2000124540577/regierungskritiker-nawalny-in-russisches-straflager-ueberstellt, Zugriff 26.3.2021
Standard.at (30.9.2021): In Moskau wird der Ton rauer, https://www.derstandard.at/story/2000130039784/in-moskau-wird-der-ton-rauer, Zugriff 18.10.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 26.3.2021
Zeit Online (2.8.2019): Moskau genehmigt zwei Großkundgebungen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/russland-moskau-proteste-kundgebungen-demonstrationen-polizei, Zugriff 26.3.2021
Haftbedingungen
Letzte Änderung: 02.03.2022
Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der ganz überwiegende Anteil der Häftlinge ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 2.2.2021). Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich seit Ende der 1990er Jahre langsam, aber kontinuierlich verbessert. Die Haftbedingungen entsprechen aber zum Teil noch nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Im Piloturteil-Verfahren des EGMR zum Fall 'Ananjew und andere gegen Russland' hat das Gericht festgestellt, dass die Bedingungen in den Untersuchungsgefängnissen (russ. SIZO) einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gemäß Artikel 3, EMRK entsprechen und das Problem systemischer Natur ist. Im März 2017 veröffentlichte die Föderale Strafvollzugsbehörde (FSIN) einen Bericht, laut welchem die Zahl der Selbstmorde und der Erkrankungen mit direkter Todesfolge aufgrund verbesserter Bedingungen im Jahr 2016 um 12% bzw. 13% gesunken ist. Menschenrechtsverteidiger äußerten jedoch Zweifel an diesen Zahlen (ÖB Moskau 6.2021). Gefangene können Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsperson einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Option aber nicht immer genutzt. Aktivisten berichten, dass nur Gefangene, die glauben, keine andere Option zu haben, die Konsequenzen einer Beschwerde riskieren. Beschwerden, die bei den Aufsichtskommissionen eingingen, konzentrierten sich häufig auf geringfügige persönliche Anfragen. Die Behörden gestatten Vertretern der öffentlichen Aufsichtskommissionen regelmäßig, Gefängnisse zu besuchen, um die Haftbedingungen zu überwachen. Es gibt in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußern sich besorgt darüber, dass einige Mitglieder der Kommissionen behördennahe Personen sind und Personen, die in der Strafverfolgung arbeiten. Laut Gesetz haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Mitglieder der Kommission können auch Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen durchführen, Sicherheitsbewertungen durchführen und Zugang zu psychiatrischen Einrichtungen in Gefängnissen erhalten. Es gibt Berichte, dass die Gefängnisbehörden die Mitglieder der Aufsichtskommissionen daran hindern, Beschwerden von Gefangenen entgegenzunehmen (US DOS 11.3.2020).
Die häufigsten Vorwürfe betreffen die schlechten hygienischen Zustände, den Mangel an medizinischer Betreuung, den akuten Platzmangel (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021, FH 3.3.2021, US DOS 11.3.2020), Misshandlungen durch Aufsichtspersonen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021, US DOS 11.3.2020), Korruption und fehlende Resozialisierungsmaßnahmen. Kritisiert werden auch die Bedingungen bei der Verbringung von Häftlingen in oft weit entfernte Strafkolonien. 2020 ist eine Gesetzesnovelle in Kraft getreten, gemäß welcher Häftlinge in Russland ihre Haftstrafe in der Nähe ihres Wohnorts oder in der Nähe des Wohnorts ihrer Angehörigen verbüßen sollen (ÖB Moskau 6.2021).
Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Häftlinge stetig gesunken, von über 1 Mio. auf ca. 520.000 im Februar 2020. Dennoch ist Russland mit 360 Häftlingen auf 100.000 Einwohner in Europa immer noch führend. Ca. 18% der Häftlinge befinden sich in Untersuchungshaftanstalten (ÖB Moskau 6.2021). In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl der Häftlinge kontinuierlich um durchschnittlich 32.000 pro Jahr gesunken (WPB 8.3.2019). Die Regierung ist bestrebt, die Anzahl der Gefängnisinsassen weiter zu verringern. So gibt es Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen (wie beispielsweise im Bereich der Drogendelikte einen Gesetzesentwurf zu freiwilliger Entziehungstherapie oder Arbeitseinsätze statt Freiheitsstrafen) zu verhängen, um die Anzahl der Strafgefangenen zu verringern. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich; sie reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis zu solchen, die laut NGOs als 'Folterkolonien' berüchtigt sind. Hauptprobleme sind Überbelegung (in Moskau, weniger in den Regionen), qualitativ schlechtes Essen und veraltete Anlagen mit den einhergehenden hygienischen Problemen. Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in den russischen Haftanstalten entsprechen nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgt oft in Schlafsälen. In den Strafkolonien schützt die Unterbringung in Gruppen den einzelnen Häftling am ehesten vor schikanöser Behandlung durch das Gefängnispersonal. Laut Menschenrechtsorganisationen kann jedoch in allen Strafkolonien gegen Häftlinge, denen Verstöße gegen die Anstaltsregeln vorgeworfen werden, sogenannte Strafisolierhaft (Schiso) angeordnet werden. Häftlinge sind in dieser Isolationshaft oft besonders üblen Haftbedingungen und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt (AA 2.2.2021). Vorwürfe in Bezug auf Folter und andere Misshandlungen in den Haftanstalten werden weiterhin gemeldet. Täter werden so gut wie nie zur Verantwortung gezogen. Aus ganz Russland trafen unzählige Foltervorwürfe ein. Im Dezember 2019 erhielt die gemeinnützige Stiftung 'Nuschna Pomosch' (Nötige Hilfe) von der Ermittlungsbehörde Statistiken über Folterungen in Haftanstalten. Demzufolge wurden von 2015 bis 2018 jährlich zwischen 1.590 und 1.881 Beschwerden wegen 'Amtsmissbrauchs' durch Strafvollzugsbeamte verzeichnet. Nur bei 1,7 - 3,2% dieser Beschwerden wurden Ermittlungen durchgeführt (AI 16.4.2020).
Die medizinische Versorgung ist nicht überall befriedigend (AA 2.2.2021; vergleiche US DOS 11.3.2020). Ein Großteil der Häftlinge bedarf medizinischer Versorgung. Sowohl von TBC- als auch HIV-Infektionen in bemerkenswertem Umfang wird berichtet. Problematisch ist ebenso die Zahl der drogenabhängigen oder psychisch kranken Inhaftierten. Todesfälle wegen unterlassener medizinischer Hilfeleistung kommen laut NGOs vor. Die COVID-19-Prävention und die medizinische Versorgung Infizierter richten sich nach den Vorgaben des russischen Föderalen Strafvollzugsdienstes und den ihm unmittelbar unterstellten Einrichtungen (ÖB Moskau 6.2021). Die Gesundheitsversorgung und die sanitären Anlagen in den Strafvollzugsanstalten sind nach wie vor mangelhaft, und durch die COVID-19-Pandemie wurde die Situation noch verschlimmert. Die Behörden setzen zwar Kontroll- und zusätzliche Hygienemaßnahmen um, die Belegung der Gefängnisse wurde jedoch nicht verringert (AI 7.4.2021). Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind laut NGOs deutlich besser als in den Strafkolonien (qualitativ besseres Essen, frische Luft, wenig Foltervorwürfe). Hauptproblem ist auch hier die Überbelegung. Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer verlängerten Gerichte die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 2.2.2021). Der Chef der föderalen Strafvollzugsbehörde (FSIN) gibt an, dass es an Personal fehlt, um Menschen mit Beeinträchtigungen in Haftanstalten zu betreuen (ÖB Moskau 6.2021).
Im Allgemeinen sind die Haftbedingungen in Frauengefängnissen besser als in Männergefängnissen, aber auch diese bleiben unter dem Standard (US DOS 11.3.2020).
Russland erweiterte Anfang 2017 seinen Strafkatalog. Somit können Richter bei einigen Vergehen statt einer Haftstrafe Zwangsarbeit anordnen. Die russische Gefängnisbehörde FSIN eröffnete im Jänner 2017 vier 'Besserungszentren' – in Sibirien, Russlands Fernost, im Kaukasus und im Wolgagebiet – und sieben Aufnahmepunkte für Zwangsarbeiter. Insgesamt bieten sie zunächst 900 Verurteilten Platz. Im Gegensatz zur Haftstrafe sind die Täter 'nicht von der Gesellschaft isoliert'. Sie können Telefon und Internet benutzen, einen Teil des verdienten Geldes behalten, einen Arzt aufsuchen und nach Verbüßung eines Drittels der Strafe auch außerhalb der Zentren mit ihren Familien zusammenleben – vorausgesetzt, sie verstoßen weder gegen ihre Arbeitspflicht noch gegen andere Auflagen. Der Konsum von Alkohol und Drogen zieht die Umwandlung der Zwangsarbeit in Haft nach sich (Handelsblatt 2.1.2017; vergleiche Der Standard.at 10.1.2017).
Im Juli 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta ein durchgesickertes Video von Strafvollzugspersonal in Jaroslawl, das einen Gefangenen brutal schlägt. Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 15 Verdächtige. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019; vergleiche FH 4.2.2019). Laut Freedom House veröffentlichte die NGO Public Verdict ein Video, das den anhaltenden Missbrauch in Jaroslawl zeigt. Im November 2020 verurteilten Gerichte elf Gefängniswärter wegen Folter zu drei bis vier Jahren Haft. Die Gefängnisdirektoren wurden freigesprochen (FH 3.3.2021). Trotz offizieller Zusicherungen nach der Veröffentlichung durchgesickerter, grausamer Videos von Folterungen von Insassen, werden Folterungen und Misshandlungen im russischen Strafvollzug fortgesetzt und bleiben regelmäßig ungestraft. Im Oktober 2021 kündigten die Strafverfolgungsbehörden die Einleitung von Ermittlungen an, nachdem neue Medienberichte über durchgesickerte Videos erschienen waren, die zahlreiche Vergewaltigungen und andere Misshandlungen von männlichen Häftlingen in einem Gefängniskrankenhaus in der Region Saratow dokumentieren. Die Person, der die Videos zugespielt wurden, floh aus dem Land (HRW 13.1.2022).
Laut Berichten des 'Komitees Ziviler Beistand' müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern speist, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. Laut den Moskauer Vertretern des 'Komitees gegen Folter' gibt es hingegen keine gezielte staatliche Diskriminierung. Es ist flächendeckend sichergestellt, dass muslimische Strafgefangene Zugang zu Gebetsräumen und Imamen haben. Allerdings werden außer medizinisch indizierten Ernährungsvorgaben keine anderen Speisevorschriften, seien sie religiöser oder sonstiger Art, beachtet (AA 2.2.2021).
In denjenigen Fällen, in welchen die Strafverfolgung nicht sachfremd motiviert ist, oder die Sicherheitsbehörden kein besonderes Interesse haben, d.h. im Bereich 'normaler' Kriminalität, kann davon ausgegangen werden, dass Strafverfahren in nordkaukasischen Regionen mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung (Karatschai-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien, Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan) ähnlich wie im Rest der Russischen Föderation verlaufen. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen im Nordkaukasus besser als im Rest Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien in der Regel als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an denen die Sicherheitsbehörden kein besonderes 'sachfremdes' Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien in der Regel eher günstig auswirken, da sie neben den besseren materiellen Bedingungen auch auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 1.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html, Zugriff 1.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 16.2.2022
Der Standard.at (10.1.2017): Zwangsarbeit statt Haft in Russland, https://www.derstandard.at/story/2000050437057/zwangsarbeit-statt-knast-in-russland, Zugriff 11.3.2020
FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 11.3.2020
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021
Handelsblatt (2.1.2017): Zwangsarbeit statt Knast, https://www.handelsblatt.com/politik/international/russlands-neuer-strafenkatalog-zwangsarbeit-statt-knast/19195230.html?ticket=ST-8052534-klHgWpsWYfm2euFZS9La-ap6, Zugriff 11.3.2020
HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 11.3.2020
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020
WPB – World Prison Brief (8.3.2019): Russia’s falling prison population , https://www.prisonstudies.org/news/russia%E2%80%99s-falling-prison-population, Zugriff 11.3.2020
Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 02.03.2022
Artikel 28, der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit (AA 2.2.2021). Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei als 'traditionelle Religionen' de facto eine herausgehobene Stellung (AA 2.2.2021), die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) spielt allerdings eine zentrale Rolle (AA 2.2.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Die ROK arbeitet bei bestimmten Themen eng mit der Regierung zusammen (FH 3.3.2021). Rund 68% identifizieren sich als russisch-orthodoxe Christen, 7% als Muslime, und 25% gehören religiösen Minderheiten an, darunter Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Juden und Baha'i (USCIRF 4.2020). Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben zwischen 14 und 20 Millionen Muslime (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche GIZ 1.2021c).
Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker. Sie werden durch die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Europäischen Teils Russlands und Sibiriens' sowie die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Nordkaukasus' vertreten. Darüber hinaus sind zahlreiche andere Konfessionen, wie der Buddhismus (ca. 600.000 Gläubige) - zu dem sich Burjaten, Kalmyken, Tuwa und andere Bevölkerungsgruppen in den Gebieten Irkutsk und Tschita bekennen -, das Judentum (ca. 200.000 Gläubige) sowie von den christlichen Kirchen die katholische Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche und eine Reihe von Freikirchen (vor allem Baptisten) in Russland vertreten. Sie sind im europäischen Russland und in Sibirien präsent (GIZ 1.2021c). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen (GIZ 1.2021c; vergleiche USCIRF 4.2020). Die russische Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als eine Bedrohung für die soziale und politische Stabilität des Landes und pflegt gleichzeitig bedeutende Beziehungen zu den sogenannten 'traditionellen' Religionen des Landes. Die Regierung aktualisiert regelmäßig Gesetze, welche die Religionsfreiheit einschränken, darunter ein Religionsgesetz von 1996, ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus von 2002 und neuere Gesetze über Gotteslästerung, wie beispielsweise 'Schüren von religiösem Hass' und 'Missionstätigkeit'. Diese vagen Gesetze geben den russischen Behörden weitreichende Befugnisse, religiöse Reden oder Aktivitäten zu definieren und zu verfolgen oder religiöse Literatur zu verbieten, die sie für schädlich halten. Das Religionsgesetz legt strenge Registrierungsanforderungen an religiöse Gruppen fest und ermächtigt Staatsbeamte, die Tätigkeit der Gruppierungen zu behindern (USCIRF 4.2020).
Seit Ende der Achtzigerjahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer 'religiösen Renaissance' bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als nicht gläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein 'kanonisches Territorium' verfügt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der ROK in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat (GIZ 1.2021c).
Seit einer Änderung des Anti-Extremismus-Gesetzes im Jahr 2007 gerieten bestimmte religiöse Gruppen ins Visier der russischen Behörden, vor allem die Zeugen Jehovas und islamische Gruppierungen wie Hizb ut-Tahrir, aber auch Falun Gong, Scientology, und andere. Im Zuge einer Verschärfung der anti-extremistischen Gesetzgebung im Jahr 2016 wurden die Auflagen für Missionarstätigkeiten neu geregelt (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche USCIRF 4.2020). Das Anti-Extremismus-Gesetz wird auch genutzt, um Muslime - insbesondere Anhänger der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat und Leser des türkischen Theologen Said Nursi - wegen friedlicher religiöser Aktivitäten zu verfolgen (USCIRF 4.2020). Auch andere nicht-traditionelle religiöse Gruppen kamen in letzten Jahren unter Druck, wie beispielsweise Adventisten, Baptisten, die Pfingstbewegung und die Heilsarmee (ÖB Moskau 6.2021).
Am 20.4.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, welche die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Die Verfolgung der Zeugen Jehovas unter dem Vorwurf des Extremismus nahm in den letzten Jahren zu, was sich an einer steigenden Zahl von Verurteilungen und längeren Haftstrafen zeigt (AI 7.4.2021). Die Polizei führt weiterhin Hausdurchsuchungen durch und eröffnet neue Strafverfahren gegen Zeugen Jehovas. Zu den Verurteilten und Angeklagten gehören auch Personen auf der von Russland besetzten Krim (HRW 13.1.2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 5.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 4.2.2022
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 5.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf, Zugriff 1.10.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2020): 2020 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028973/Russia.pdf, Zugriff 5.3.2021
Tschetschenien
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die tschetschenische Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist (BAMF 10.2013). Beim Sufismus handelt es sich um eine weitverbreitete und zudem äußerst facettenreiche Glaubenspraxis innerhalb des Islams. Heutzutage sind Sufis sowohl innerhalb des Schiitentums als auch unter Sunniten verbreitet (ÖIF 2013).
In Tschetschenien setzt Ramsan Kadyrow seine eigenen Ansichten bezüglich des Islams durch (USCIRF 4.2019; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Dieser soll moderat, aber streng kontrolliert sein. Salafismus und Wahhabismus duldet er nicht (USCIRF 4.2019). Die Autorität der Kadyrow-Regierung beruht auf der Wirkungskraft einer spezifischen islamischen Ideologie, die als Gegenentwurf zu den Lehren des Wahhabismus bzw. Salafismus konzipiert ist und die Gesellschaft gegen den Einfluss erstarkender fundamentalistischer Kräfte stabilisieren soll (Russland Analysen 21.9.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubhaften Aussagen von lokalen NGOs einher mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert werden soll (AA 2.2.2021). Die strafrechtliche Verfolgung dieser Art von Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vergleiche USCIRF 4.2020). Auch Verwandte, Freunde und Bekannte können ins Visier der Behörden geraten (ÖB Moskau 6.2021). Belästigungen von Muslimen bei Gottesdiensten kommen vor, ebenso wie Entführungen zur 'Kontrolle der religiösen Überzeugungen'. Dies dient der Einschüchterung der Bevölkerung (USCIRF 4.2020).
Frauen müssen sich islamisch kleiden und können in polygame Ehen gezwungen werden (USCIRF 4.2019). Polygamie kam schon in der Sowjetunion vor, allerdings nur heimlich. Nun wird sie durch die Scharia legitimiert (Welt.de 14.2.2017). Polygamie ist zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 2.2.2021). Die Religion verdrängt die alten Werte der traditionellen Dorfgemeinde. Der Islam wird dabei in unterschiedlichsten Formen gelebt und dient oft den Männern dazu, ihre Frauen zu unterdrücken (Welt.de 14.2.2017).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 9.3.2021
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam, Sitzung 111-113 [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
Russland Analysen (21.9.2018): Der Islam als multifunktionaler Stabilitätsregulator des tschetschenischen Sozialgefüges – ein theoretisches Modell zur Wirkungsweise der Religion in Tschetschenien, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/359/der-islam-als-multifunktionaler-stabilitaetsregulator-des-tschetschenischen-sozialgefueges-ein-theoretisches-modell-zur/, Zugriff 9.3.2021
USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2019): 2018 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008198/Tier1_RUSSIA_2019.pdf, Zugriff 20.3.2020
USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2020): 2019 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028973/Russia.pdf, Zugriff 9.3.2021
Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last, https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html, Zugriff 20.3.2020
Dagestan
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die meisten Muslime Dagestans gehören dem Sufismus an, einer gemäßigt-mystischen Richtung im Islam. Sie hören auf Scheichs, religiöse Führer, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Die Scheichs treten auch als Fürsprecher der Gläubigen vor Politikern auf. Der Sufismus ist seit vielen Jahrhunderten in Dagestan vorherrschend. Die zweitgrößte Gruppe der Muslime in Dagestan sind die Salafisten. Diese ultrakonservative Strömung breitet sich seit den 1990er-Jahren in der Region aus. Zunächst wurden sie als Wahhabiten bezeichnet. In Dagestan gibt es Schätzungen zufolge Zehntausende Salafisten, und sie haben ihre eigenen Moscheen. Die Salafisten wollen ein Kalifat bzw. einen Gottesstaat errichten. Die Sufis hingegen haben sich mit dem russischen Staat arrangiert. Die Radikalen unter den Salafisten wollen das Kalifat mit Gewalt durchsetzen und kämpfen dafür. In Dagestan gibt es einen bewaffneten islamistischen Untergrund. Seit Jahren verüben die Terroristen Anschläge gegen russische Sicherheitskräfte, es gab Hunderte Todesopfer. Sie ermordeten auch mehrere geistliche Führer der Sufis, die sich offen gegen die Ideologie der Salafisten aussprachen. Viele Salafisten in Dagestan fühlen sich zu Unrecht von den Behörden verdächtigt. Salafisten werden oft mit den Terror-Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates gleichgesetzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
In den Republiken Inguschetien und Dagestan wurde in der Vergangenheit versucht, einen Dialog zwischen Regierung und offizieller Geistlichkeit auf der einen Seite und islamistischer Opposition auf der Gegenseite zu führen. Derzeit befindet sich die Regierung in Dagestan aber wieder in Konfrontation mit salafistischen Gemeinden. Der 'Krieg gegen Wahhabiten', der dort schon 1999 ausgerufen worden war, hat allerdings dazu geführt, dass sich immer mehr junge Menschen zu einem puristischen, streng konservativen Islam bekennen (SWP 4.2017). Wenngleich von offizieller Seite im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet wurde, kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen. Nach Einschätzung von Experten hat sich die Struktur des bewaffneten Widerstands geändert. Es gibt keine Lager in den Wäldern mehr, stattdessen werden Anschläge von Personen, die nach außen hin ein normales Leben führen, vorbereitet. Bewaffnete Gruppen stehen offiziellen Sicherheitsorganen gegenüber, dem Partisanenkrieg auf der einen Seite wird mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung auf der anderen Seite begegnet. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen (dazu zählen auch in Dagestan Zeugen Jehovas). Entführungen und Fälle plötzlichen Verschwindenlassens von Personen, Folter und außergerichtliche Tötungen kommen in Dagestan ebenso vor. Bei der Vorgehensweise bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorismusbekämpfung sind mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten (ÖB Moskau 6.2021).
In Bezug auf Beobachtungslisten von Salafisten ist zu sagen, dass weder in den jüngsten Berichten der NGOs Human Rights Watch, Freedom House und Amnesty International, noch im staatlichen Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes Hinweise auf die Weiterführung dieser Listen zu finden sind (HRW 13.1.2022; vergleiche HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, AI 7.4.2021). Die österreichische Botschaft berichtet im neuesten Asylländerbericht, dass nach Einschätzung des Menschenrechtszentrums Memorial solch eine Liste inoffiziell weiterhin geführt wird, wenngleich Beschwerden diesbezüglich abgenommen haben und Grundrechtsverletzungen nicht mehr im früheren Ausmaß vorkommen (ÖB Moskau 6.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 9.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html, Zugriff 9.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 16.2.2022
Deutschlandfunk (28.6.2017): Salafisten contra Sufis, https://www.deutschlandfunk.de/die-religioese-landschaft-dagestans-salafisten-contra-sufis.886.de.html?dram:article_id=389688, Zugriff 20.3.2020
FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 9.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html, Zugriff 9.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 20.3.2020
Zeugen Jehovas
Letzte Änderung: 02.03.2022
Am 20.4.2017 billigte der Oberste Gerichtshof Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde (AA 2.2.2021; vergleiche FH 3.3.2021, USCIRF 11.2020), welche die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Die russischen Behörden gehen auch gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor (AA 2.2.2021). Bei einer Verurteilung drohen Freiheitsstrafen von zwei bis zu zehn Jahren (AA 13.2.2019). Das Verbot der Organisation und die Folgen für die Mitglieder variieren von Region zu Region (ÖB Moskau 6.2021).
Die Verfolgung der Zeugen Jehovas unter dem Vorwurf des Extremismus nahm zu, was sich an einer steigenden Zahl von Verurteilungen und längeren Haftstrafen zeigt. Dies betrifft auch die von Russland besetzte Halbinsel Krim (AI 7.4.2021). Eine Reihe von Zeugen Jehovas wurde zu Geld- und Haftstrafen verurteilt (ÖB Moskau 6.2021). Es gibt Berichte über Hausdurchsuchungen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021, USCIRF 11.2020, HRW 13.1.2022) und über Folter und Misshandlungen während der Vernehmung (AI 16.4.2020). Seit dem Verbot der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas im Jahr 2017 sollen über 1.000 Hausdurchsuchungen durchgeführt worden sein (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche USCIRF 11.2020). Die Polizei führt weiterhin Hausdurchsuchungen durch und eröffnete neue Strafverfahren gegen die Zeugen Jehovas, die in Russland seit 2017 als extremistisch verboten sind. Russische Gerichte verurteilten 92 Personen, von denen 27 zu Haftstrafen von bis zu acht Jahren verurteilt wurden. Ca. 15 Personen befinden sich in Haft, Hunderte in strafrechtlichen Ermittlungen und 63 in Untersuchungshaft. Zu den Verurteilten und Angeklagten gehören auch Personen auf der von Russland besetzten Krim. Die Behörden entzogen zwei Zeugen Jehovas die Staatsbürgerschaft und deportierten sie (HRW 13.1.2022). Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft hat wenige Tage nach einer Entscheidung des Plenums des Obersten Gerichtshofs vom November 2017, nach der Gerichte Eltern das Sorgerecht entziehen können, wenn sie ihre Kinder in die Aktivitäten einer extremistischen Organisation einbeziehen, empfohlen, Kinder, die religiös-extremistischer Ideologie ausgesetzt wurden, zu 'resozialisieren'. Das Ministerium erwähnt nur zwei Gruppen, nämlich Kinder von IS-Angehörigen und Zeugen Jehovas. Bisher ist es allerdings noch zu keinem derartigen Fall gekommen (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 11.3.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html, Zugriff 11.3.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 16.2.2022
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 11.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom [USA] (11.2020): The Global Persecution of Jehovah’s Witnesses, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045309/2020+Issue+Update+-+Jehovahs+Witnesses.pdf, Zugriff 11.3.2021
Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung: 16.11.2021
Russland ist ein multinationaler Staat, in dem Vertreter von mehr als 160 Völkern leben. Die Russen stellen mit 79,8% die Mehrheit der Bevölkerung. Größere Minderheiten sind Tataren (4,0%), Ukrainer (2,2%), Armenier (1,9%), Tschuwaschen (1,5%), Baschkiren (1,4%), Tschetschenen (0,9%), Deutsche (0,8%), Weißrussen und Mordwinen (je 0,6%), Udmurten (0,4%), Burjaten (0,3%) und andere. Vielfach ist die Verflechtung zwischen den nicht-russischen und russischen Bevölkerungsteilen durch interethnische Ehen und Kommunikation recht hoch, ebenso der Russifizierungsgrad der nichtrussischen Bevölkerungsteile. Nur wenige Gebietseinheiten, wie Tschetschenien, Dagestan, Tschuwaschien und Tuwa, sind stärker vom namensgebenden Ethnos geprägt. Russisch ist die einzige überall geltende Amtssprache. Parallel dazu wird in den einzelnen autonomen Republiken die jeweilige Volkssprache als zweite Amtssprache verwendet. Die Sprachen der kleinen indigenen Völker stehen unter gesetzlichem Schutz (GIZ 1.2021c). Minderheiten sind in der Regel politisch und gesellschaftlich gut integriert (AA 2.2.2021).
Die Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik, inklusive der Förderung von Minderheitensprachen im Bildungssystem (AA 21.5.2018). Trotzdem werden Rechte von Minderheiten nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert (ÖB Moskau 6.2021). Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021, FH 3.3.2021, BTI 2020). 'Racial profiling' ist bei den Behörden verbreitet. Minderheiten ohne anerkannten Rechtsstatus wie z.B. Sinti und Roma sind immer wieder Opfer von Diskriminierungen auch durch staatliche Organe (AA 2.2.2021). Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden daher verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank auch die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist ebenfalls die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen wie etwa die Organisation BORN (ÖB Moskau 6.2021). Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Die meisten Vorfälle gab es wie in den Vorjahren in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Gleichzeitig ist aber im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu bemerken, welcher im Zusammenhang mit sozialen Problemen (Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats stellte in ihrem Bericht vom März 2019 betreffend die Situation in der Russischen Föderation fest, dass die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren gesunken ist und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen stark zurückgegangen sind. In der Statistik des Sova-Center zu rassistischen und Neo-Nazi-Übergriffen in Russland sind für das Jahr 2019 Angriffe auf 48 Personen erfasst, von denen 6 getötet wurden. Die Zahl der Opfer bei Hassverbrechen ist zwar klar geringer als noch vor 10 Jahren, dennoch aber nicht unbedeutend. Keinen Rückgang gab es bei Angriffen gegen Mitglieder oppositioneller Gruppierungen (ÖB Moskau 6.2021).
Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, der Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung), der von den Behörden zum Teil überschießend angewandt worden war (z.B. für Likes und Re-Posts auf sozialen Medien), abgeschwächt wurde. Seither ist die Zahl der Verurteilungen wegen 'Anstiftung von Hass' deutlich zurückgegangen. Die Zahlen von strafrechtlicher Verfolgung wegen 'Aufruf zu und Rechtfertigung von Terrorismus' und wegen 'Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation' sind gestiegen (ÖB Moskau 6.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434107/4598_1528119149_auswaertiges-amt-bericht-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-april-2018-21-05-2018.pdf, Zugriff 11.3.2020
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 23.2.2021
BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf, Zugriff 17.2.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.2.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung: 02.03.2022
Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche GIZ 1.2021c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, welche diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Russland hat die Istanbul Konvention nicht ratifiziert. In der Gesellschaft herrschen stereotype Rollenbilder vor, traditionelle Geschlechterrollen werden vom Staat propagiert, Frauen sind im Durchschnitt schlechter bezahlt (ÖB Moskau 6.2021).
Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen (GIZ 1.2021c). Frauen mit kleinen Kindern gehören einer sozialen Gruppe an, die besonders von sozialer Unterstützung wie Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes und dem sogenannten 'Mutterschaftskapital' Nutzen ziehen vergleiche Kapitel Sozialbeihilfen) (Russland Analysen 21.2.2020a).
Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 1.2021c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur drei von 31 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 3.3.2021). In Russland herrscht noch immer ein konservatives Familienbild vor – die Frau als Hausfrau und Mutter. Jedoch sind Frauen in der Realität gezwungen, auch (Vollzeit) erwerbstätig zu sein, schon allein aufgrund der hohen Scheidungsrate. Daraus folgt logischerweise auch eine große Anzahl von alleinerziehenden Frauen (Russland Analysen 21.2.2020b).
Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021, HRW 10.2018). Häusliche Gewalt wird von den Behörden kaum beachtet, stattdessen werden Opfer häuslicher Gewalt, die zur Selbstverteidigung den Täter töten, häufig inhaftiert. Bis zu 80% der in Russland inhaftierten Frauen dürften unter diese Kategorie fallen (FH 3.3.2021). Es gibt in Russland sowohl staatliche Krisenzentren (Frauenhäuser) als auch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Das Zentrum ANNA etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder. Es wurde eine interaktive Karte mit Zentren, die betroffene Frauen in den meisten Regionen Russlands unterstützen, erstellt (ÖB Moskau 6.2021). Offizielle Studien legen nahe, dass mindestens jede fünfte Frau in Russland irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Ehemann oder Partner erlebt hat (HRW 10.2018). Nach offiziellen Statistiken ereignen sich 40% aller schweren Gewaltdelikte innerhalb der Familien. Es gibt kein System zur Prävention, und es gibt zu wenig Einrichtungen, in denen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügend Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 2.2.2021; vergleiche US DOS 11.3.2020, HRW 10.2018). Experten schätzen, dass 60% bis 70% der Fälle von häuslicher Gewalt nicht gemeldet werden (US DOS 11.3.2020). Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Durch eine Gesetzesänderung im Jänner 2017 wurde häusliche Gewalt im Erstfall zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021), wenn sie zu keinen dauerhaften körperlichen Schäden führt (FH 3.3.2021). Ende 2019 wurde ein neuer Gesetzesentwurf zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt ins russische Parlament eingebracht, dessen Behandlung bis zum Ende der Coronavirus-Epidemie aber ausgesetzt wurde. Gegner des Entwurfs sehen traditionelle Familienstrukturen in Gefahr. In der Zeit des Lockdowns aufgrund der COVID-19-Pandemie hatten sich die Anrufe bei der Hotline für Opfer von häuslicher Gewalt des ANNA-Zentrums um 74% erhöht (ÖB Moskau 6.2021). Die NGO 'nasiliu.net', welche sich gegen häusliche Gewalt engagiert, wurde vom russischen Justizministerium in die Liste der Organisationen eingetragen, welche 'die Funktion eines ausländischen Agenten' erfüllen (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche HRW 13.1.2022). Russlands Gesetze, polizeiliche Maßnahmen und Dienstleistungen für Opfer von häuslicher Gewalt sind unzureichend (HRW 13.1.2022). Mehrere Politiker und Experten, die sich für ein robustes Gesetz gegen häusliche Gewalt einsetzen, berichteten von Drohungen gegen sie und ihre Familien, unter anderem durch diejenigen, die behaupten, 'traditionelle' oder 'familiäre' Werte zu fördern (HRW 13.1.2021; vergleiche AI 16.4.2020). Russlands Ombudsperson stellte fest, dass die häusliche Gewalt während der Covid-19-Pandemie zugenommen hat (HRW 13.1.2021; vergleiche AI 7.4.2021) und sich die gemeldeten Fälle während des Lockdowns im Frühjahr 2020 mehr als verdoppelt haben (HRW 13.1.2021). Aus einer 2021 veröffentlichten Studie, die fast ein Jahrzehnt umfasst, geht hervor, dass in etwa 66% aller ermordeten Frauen in Russland Opfer von häuslicher Gewalt waren (HRW 13.1.2022).
Vergewaltigung ist illegal, und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung ist drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (US DOS 11.3.2020). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange sich das Opfer nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet (US DOS 11.3.2020; vergleiche EASO 3.2017).
NGOs stellten fest, dass der Zugang zu Notunterkünften oft kompliziert ist, da sie einen Wohnsitznachweis in dieser bestimmten Gemeinde sowie einen Nachweis über den Status eines Niedrigeinkommens benötigen. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und stehen den Opfern deshalb nicht zur Verfügung (US DOS 11.3.2020). Krisenzentren und Notunterkünfte von NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese sind auf staatlicher Ebene oft nicht verfügbar, und es gibt Fälle, in denen Frauen, bevor sie in NGO-Einrichtungen kamen, von staatlichen Einrichtungen abgewiesen wurden (HRW 10.2018). Aufgrund finanzieller Engpässe und staatlicher Beschränkungen bei der Beschaffung ausländischer Mittel haben NGOs Schwierigkeiten, ausreichend viele Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Großstädten gibt es staatliche Unterkünfte, die dringende Hilfe, wie zum Beispiel 'Krisenwohnungen' zur Verfügung stellen können. Neben staatlichen und NGO-Einrichtungen gibt es auch religiöse Einrichtungen der Russisch-Orthodoxen, der Katholischen und der Baptisten-Kirche, die Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bereitstellen. Um in eine staatliche Einrichtung aufgenommen zu werden, müssen Frauen oft eine ganze Reihe von Dokumenten mitbringen, wie beispielsweise Meldezettel, Reisepass, eine Überweisung von Sozial- oder Kinderschutzdiensten, eine persönliche schriftliche Erklärung, warum die Person Hilfe benötigt, ärztliche Atteste mit Angaben zu allen Impfungen und in einigen Fällen sogar Röntgenaufnahmen. Wenn eine Frau Kinder hat, muss sie auch für jedes ihrer Kinder Gesundheitsunterlagen vorlegen. Der Prozess der Beschaffung all dieser Dokumente kann bis zu zwei Wochen dauern, in einigen Fällen auch länger (HRW 10.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html, Zugriff 19.2.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 14.2.2022
EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 24.2.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 19.2.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html, Zugriff 19.2.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
HRW – Human Rights Watch (10.2018): 'I Could Kill You and No One Would Stop Me' Weak State Response to Domestic Violence in Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1447924/3175_1540546740_russia1018-web3.pdf, Zugriff 5.3.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 13.10.2021
Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 5.3.2021
Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 5.3.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 5.3.2021
Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu liegen nicht vor. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach Traditionen als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer 'Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit' (ÖB Moskau 6.2021). Die Heirat einer 17-jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).
Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Republiksoberhaupt Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Nach Aussagen eines tschetschenischen Rechtsanwalts werden Frauen sowohl nach islamischem als auch nach dem Adatrecht hoch geschätzt. Die Wirklichkeit im Tschetschenien von heute sieht jedoch so aus, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet ist und sich die Lage für Frauen äußerst schwierig gestaltet (EASO 9.2014; vergleiche Welt.de 14.2.2017, openDemocracy 7.8.2020). Gewalttätige Ehemänner werden selten bestraft, die Schuld wird üblicherweise der Frau zugeschoben (openDemocracy 7.8.2020). Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014; vergleiche Welt.de 14.2.2017). Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).
Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017; vergleiche openDemocracy 7.8.2020). Sie ist weit verbreitet, gesellschaftlich toleriert und oft äußerst brutal. Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich der Unterstützung nordkaukasischer Frauen und bieten etwa psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: z.B. die Organisationen 'Women for Development' und 'SINTEM' in Tschetschenien und 'Mat‘ i Ditja' (Mutter und Kind) in Dagestan (ÖB Moskau 6.2021). Im Jahr 2019 eröffnete in Tschetschenien die Organisation Women for Development - eine der ältesten und angesehensten Organisationen in Tschetschenien - mit Unterstützung des Zuschussprogramms für NGOs ein Krisenzentrum für Frauen. Es gab auch Pläne, ein Frauenhaus zu eröffnen; aufgrund der engen familiären Bindungen, die in der Republik herrschen, wäre es aber schwierig gewesen, die Einrichtung vor Männern und ihren Familien geheim zu halten, darum scheiterte dieses Vorhaben. Beamte haben das hohe Maß an Scheidung und häuslicher Gewalt anerkannt und ein Komitee zur Verhütung von Familienkonflikten unter dem Spirituellen Ausschuss der Muslime der Republik Tschetschenien eingerichtet. Mehrere NGOs, die Teil der Koalition der Frauen-NGOs im Nordkaukasus sind, arbeiten an den Themen häusliche Gewalt und Unterstützung für Frauen. 'Zulässige' Themen müssen jedoch in die allgemeine Logik traditioneller, kultureller, spiritueller, religiöser und nationaler Bräuche und Werte passen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Mehrheit der NGO-Direktoren und Mitarbeiter in Tschetschenien Frauen sind. Der Ausweg aus der humanitären Nachkriegskrise lag direkt auf den Schultern der Frauen, da sich die Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht frei bewegen konnte und ständigen Bedrohungen und Kontrollen ausgesetzt war. Da Frauen in Tschetschenien, als Folge der lokalen traditionellen Kultur, als verantwortlich für Empathie und Fürsorge angesehen werden, sind sie diejenigen, die die meisten gemeinnützigen und sozialen Projekte zusammenstellen, als Psychologinnen arbeiten, sich freiwillig für Kinder engagieren und sich mit den Themen von Familien mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Behinderungen beschäftigen (CSIS 1.2020). Es gibt Berichte, dass Frauen, die sich in anderen Republiken in Frauenhäusern aufhalten, teils gewaltsam von der Polizei zu ihren Familien zurückgebracht werden (HRW 13.1.2022).
In Dagestan werden Geschlechterfragen und Frauenrechte in der Arbeit von Malikat Jabirowas Organisation 'Mat i Ditja' (Mutter und Kind) sowie von der unabhängigen Journalistin Swetlana Anochina mit ihrem 'Daptar'-Projekt und ihrer Gruppe 'Väter und Töchter' behandelt, obwohl diese Initiativen nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich aktiv sind (CSIS 1.2020).
Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt, trotzdem ist davon auszugehen, dass Vergewaltigung in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet ist. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigungen passieren auch in Polizeistationen. Es handelt sich um ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an. Sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie wird isoliert und stigmatisiert, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuldig angesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014). Die Täter werden oft nicht bestraft (openDemocracy 7.8.2020).
Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art – durch einen Imam – zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Standesbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).
In den letzten Jahren repatriierte Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder sei geplant (ÖB Moskau 6.2021). Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen. In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrern gestattet, nach Hause zurückzukehren. In Dagestan wurden Frauen, angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand, als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu ca. sieben Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafen aufgrund Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche The Guardian 2.3.2019).
Weibliche Beschneidung kommt in Teilen von Dagestan vor. Etwa 1.240 Mädchen werden jährlich einer Genitalverstümmelung unterzogen (Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. 6.2020; vergleiche Caucasian Knot 19.6.2020). Neben Dagestan gibt es auch Berichte von Genitalverstümmelung in Tschetschenien und Inguschetien (ÖB Moskau 6.2021). In Tschetschenien wurden ältere Frauen einer Beschneidung unterzogen (Caucasian Knot 19.6.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 24.2.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021
Caucasian Knot (19.6.2020): Dagestan becomes centre of female circumcision problem in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51240/, Zugriff 9.4.2021
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://www.csis.org/analysis/civil-society-north-caucasus, Zugriff 24.2.2021
EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautenführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, Zugriff 24.2.2021
Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. (Autor), veröffentlicht von UN Human Rights Committee (6.2020): Russia’s Compliance with the International Covenant on Civil and Political Rights; Suggested List of Issues; Submitted for the consideration of the 8th periodic report by the Russian Federation for the 129th Session of the Human Rights Committee, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CCPR/Shared%20Documents/RUS/INT_CCPR_ICO_RUS_42488_E.pdf, Zugriff 9.4.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 13.10.2021
openDemocracy (7.8.2020): After a Chechen woman died, a journalist was targeted with death threats. Here’s why, https://www.opendemocracy.net/en/odr/after-a-chechen-woman-died-a-journalist-was-targeted-with-death-threats-heres-why/, Zugriff 30.3.2021
The Guardian (2.3.2019): 'We aren't dangerous': Why Chechnya has welcomed women who joined Isis, https://www.theguardian.com/world/2019/mar/02/we-arent-dangerous-why-chechnya-has-welcomed-women-who-joined-isis, Zugriff 19.2.2021
Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last, https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html, Zugriff 19.2.2021
Kinder
Letzte Änderung: 02.03.2022
Russland hat die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1990 ratifiziert und deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001) (AA 21.5.2021; vergleiche UNTC 25.10.2021). 2014 verabschiedete die russische Regierung die Grundlagen der staatlichen Jugendpolitik der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025. Die Föderale Agentur für Jugendangelegenheiten (Rosmolodesch) ist seit 2018 direkt der Regierung unterstellt und besitzt einen Jahresetat von ca. 8 Milliarden Rubel [ca. 8 Mio. Euro] (FES 2020).
Landesweit existiert kein Gesetz zu Kindesmissbrauch, aber Mord, Vergewaltigung sowie Körperverletzung sind gesetzlich strafbar. Verboten sind kommerzielle sexuelle Ausbeutung, Kinderprostitution sowie die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie. Gesetzlich verboten ist der Besitz von Kinderpornografie nur dann, wenn eine Absicht der Verbreitung besteht. Die Gesetze werden von Behörden im Allgemeinen umgesetzt. Einige Kinder sind gewerblicher sexueller Ausbeutung ausgesetzt (US DOS 30.3.2021). Gemäß Berichten kommt es vor, dass russische Kinder, darunter obdachlose, Opfer von Sexhandel in Russland und in anderen Ländern werden. Auch kommt es vor, dass Minderjährige in staatlichen Waisenheimen von Menschenhändlern in folgende Bereiche gelockt werden: Zwangsbettelei, Zwangskriminalität, Kinderpornografie, Sexhandel sowie Verwendung Minderjähriger durch bewaffnete Gruppierungen im Nahen Osten (US DOS 1.7.2021). Gewalt gegen Kinder ist weit verbreitet (US DOS 30.3.2021). Körperliche Züchtigung von Kindern zu Hause ist gesetzlich zugelassen. Körperliche Züchtigung von Kindern in Schulen und als Disziplinarmaßnahme in Strafanstalten ist nicht ausdrücklich verboten. Ungesetzlich ist körperliche Züchtigung als Strafmaßnahme im Zusammenhang mit Straftaten (GI 7.2020). Es gibt in Russland gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Das Zentrum ANNA etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AC o.D.). Es gibt kein System zur Prävention gegen häusliche Gewalt und nur sehr wenige Einrichtungen, wo Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können (AA 21.5.2021; vergleiche Humanium o.D.). Die Notwendigkeit der Eindämmung von Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornografie und Gewalt gegen Kinder wird in der Öffentlichkeit zunehmend thematisiert (AA 21.5.2021).
Die medizinische Versorgung für Kinder ist sehr angespannt. Es fehlen unter anderem Physiotherapeuten und Psychologen (AA 21.5.2021). Die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren beträgt 5,8 pro 1.000 Lebendgeburten (UNICEF o.D.; vergleiche WHI o.D.).
Das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen beträgt für Männer und Frauen 18 Jahre. Unter bestimmten Umständen können lokale Behörden Eheschließungen ab einem Alter von 16 Jahren bewilligen. Mehrere Regionen erlauben Eheschließungen ab einem Alter von 14 Jahren, wenn beispielsweise eine Schwangerschaft vorliegt oder ein Kind geboren wurde (US DOS 30.3.2021).
Bildung ist kostenlos. Es herrscht Schulpflicht bis zur 11. Schulstufe. Dennoch verweigern Regionalbehörden häufig den Schulbesuch für Kinder von Personen, welche keine örtliche Wohnsitzregistrierung aufweisen (darunter Roma). Roma-Kinder werden in Schulen, deren Qualitätsstandards niedrig sind, abgesondert. HIV-infizierte Kinder sind Diskriminierung im Bildungsbereich ausgesetzt (US DOS 30.3.2021). Der Zugang zu (inklusiver) Bildung gestaltet sich - trotz bestehender gesetzlicher Regelungen - für viele beeinträchtigte Kinder schwierig. Diesbezüglich fehlt beispielsweise ausgebildetes Personal an den Schulen (US DOS 30.3.2021; vergleiche Humanium o.D.). Seit 2019 läuft das sogenannte Nationale Projekt Bildung, welchem 784,5 Milliarden Rubel [ca. 9,7 Milliarden Euro] zur Verfügung stehen, um Schulen zu sanieren und zu modernisieren, Lehrpläne zu aktualisieren, Fachpersonal zu schulen und die Schulverwaltung umzustrukturieren und fortzubilden (Russland-Analysen 21.2.2020b).
Gesetzlich ist Kindern unter 16 Jahren eine Arbeitsaufnahme in den meisten Fällen verwehrt. Die Arbeitsbedingungen für Kinder unter 18 Jahren sind gesetzlich geregelt. 14-Jährige dürfen unter bestimmten Bedingungen und mit Erlaubnis der Eltern oder des Vormunds einer Arbeit nachgehen. Eine solche Arbeit darf der Gesundheit bzw. dem Wohlergehen des Kindes nicht schaden. Kindern unter 18 Jahren ist eine berufliche Beschäftigung in bestimmten Bereichen nicht gestattet, z.B. Arbeiten unter Tag und Sektoren, welche die moralische und gesundheitliche Entwicklung von Kindern gefährden. Gesetzliche Vorgaben werden von der Regierung effektiv umgesetzt, obwohl das Strafausmaß zu milde ist. Kinderarbeit kommt selten vor (US DOS 30.3.2021).
Es gibt staatliche Einrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen, innerhalb derer sie leben können und kostenlose medizinische Behandlung erhalten (ÖB Moskau 6.2021). Es existieren Berichte über Vernachlässigung, körperlichen, sexuellen und psychologischen Missbrauch von Kindern, welche in staatlichen Institutionen untergebracht sind. Besonders vulnerabel sind Kinder mit Beeinträchtigungen (US DOS 30.3.2021). Beeinträchtigte Kinder erfahren keine Gleichberechtigung, und es existieren zu wenige Unterbringungsmöglichkeiten und Infrastruktur (Humanium o.D.).
2009 wurde das Amt eines Kinderrechtsbeauftragten geschaffen (KRB o.D.a). Kinderrechtsbeauftragte werden vom Staatspräsidenten für eine Amtsperiode von fünf Jahren ernannt. Der Staatspräsident ist berechtigt, Kinderrechtsbeauftragte vorzeitig ihres Amts zu entheben. Zu den Aufgaben von Kinderrechtsbeauftragten, welche dem Staatspräsidenten gegenüber rechenschaftspflichtig sind, zählt beispielsweise die Bearbeitung von Beschwerden (KRB 27.12.2018). Die Kinderrechtsbeauftragte hat ab Dezember 2020 jährlich einen Tätigkeitsbericht und Bericht über die Lage der Kinder in allen Regionen vorzulegen (AA 21.5.2021; vergleiche KRB 27.12.2018).
Gemäß dem von der NGO Humanium erstellten Index bestehen in Russland wahrnehmbare Probleme bei der Realisierung von Kinderrechten (orange Stufe bzw. 7,84 von 10 maximal erreichbaren Punkten) (Humanium o.D.).
Nordkaukasus:
Gemäß dem russischen Ministerpräsidenten ist die Kindersterblichkeit im Nordkaukasus um 29% höher als im russischen Durchschnitt (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche Government.ru 15.6.2021), und es gibt nicht genügend Schulen (Government.ru 15.6.2021). Im Nordkaukasus sind mancherorts Mädchen Zwangs- bzw. Kinderheiraten ausgesetzt (US DOS 30.3.2021). Regionen in Russland haben eigene Kinderrechtsbeauftragte. Seit 2014 wird dieses Amt in Tschetschenien von Chirachmatow Chamsat Asurin-Basiriewitsch bekleidet (KRB o.D.b). Die derzeitige Kinderrechtsbeauftragte für Dagestan ist Eschowa Marina Jurewna (KRB o.D.c.).
[Anmerkung der Staatendokumentation:] Weitere Informationen zum Thema Minderjährige sind folgenden Kapiteln zu entnehmen: Relevante Bevölkerungsgruppen/Scheidung und Obsorge, Grundversorgung/Sozialbeihilfen und Rückkehr/Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf, Zugriff 25.10.2021
AC – Anna Center (o.D.): Центр "АННА" [Zentrum "ANNA"], https://www.anna-center.ru/, Zugriff 25.10.2021
FES – Friedrich-Ebert-Stiftung / Pavel Chikov (2020): Jugend und Menschenrechte in Russland: Ein Verhältnis mit Widersprüchen, http://library.fes.de/pdf-files/bueros/moskau/16507.pdf, Zugriff 25.10.2021
GI – Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children (7.2020): Corporal punishment of children in the Russian Federation, http://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/RussianFederation.pdf, Zugriff 25.10.2021
Government.ru – Webseite der Regierung [Russland] (15.6.2021): Совещание с членами Правительственной комиссии по вопросам социально-экономического развития Северо-Кавказского федерального округа [Sitzung mit Mitgliedern der Regierungskommission in Fragen der sozial-ökonomischen Entwicklung des nordkaukasischen Föderalkreises], http://government.ru/news/42494/, Zugriff 25.10.2021
Humanium (o.D.): Kinder in Russland: Die Verwirklichung der Kinderrechte in Russland, https://www.humanium.org/de/russland/, Zugriff 25.10.2021
KRB – Kinderrechtsbeauftragte beim Staatspräsidenten [Russische Föderation] (27.12.2018): Федеральный закон: Об уполномоченных по правам ребенка в Российской Федерации (Nr. 501-ФЗ) [Föderales Gesetz: Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation], http://deti.gov.ru/detigray/upload/documents/January2019/amRfIOZ71CtFW0jcp7UI.pdf, Zugriff 25.10.2021
KRB – Kinderrechtsbeauftragte beim Staatspräsidenten [Russische Föderation] (o.D.a): 10 лет Институту [Institution ist 10 Jahre alt], http://deti.gov.ru/pages/history, Zugriff 25.10.2021
KRB – Kinderrechtsbeauftragter in Tschetschenien [Russische Föderation] (o.D.b): Уполномоченный [Beauftragter], http://deti.gov.ru/region/chechen/bio, Zugriff 25.10.2021
KRB – Kinderrechtsbeauftragte beim Republiksoberhaupt Dagestans [Russische Föderation] (o.D.c.): Уполномоченный [Beauftragte], http://deti.gov.ru/region/dagestan/bio, Zugriff 25.10.2021
ÖB Moskau – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
Russland-Analysen (Nr. 382) / Theresa Hornke (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 25.10.2021
UNICEF – United Nations Children’s Fund (o.D.): Country profiles: Russian Federation, https://data.unicef.org/country/rus/, Zugriff 25.10.2021
UNTC – United Nations Treaty Collection (25.10.2021): Convention on the Rights of the Child, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-11&chapter=4&clang=_en, Zugriff 25.10.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (1.7.2021): 2021 Trafficking in Persons Report: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2055127.html, Zugriff 25.10.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048103.html, Zugriff 22.10.2021
WHI – Welthunger-Index (o.D.): Russische Föderation, https://www.globalhunge rindex.org/de/russia.html, Zugriff 25.10.2021
Scheidung und Obsorge
Letzte Änderung: 10.06.2021
Fragen der Obsorge für minderjährige Kinder sind in der Russischen Föderation grundsätzlich im Familienkodex von 1995 geregelt. Gemäß Artikel 61, haben die Eltern eines Kindes die gleichen Rechte und Pflichten in Bezug auf ihre Kinder. Die elterlichen Rechte erlöschen mit der Volljährigkeit des Kindes, also mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Gemäß Artikel 18, sind grundsätzlich die russischen Personenstandsbehörden (ZAGS) für die Durchführung von Scheidungsverfahren zuständig, in den Fällen der Artikel 21 bis 23 die Gerichte. Gemäß Artikel 21, hat eine Scheidung gerichtlich zu erfolgen, falls gemeinsame minderjährige Kinder existieren, es sei denn, der Ehepartner ist verschollen, geschäftsunfähig oder zu einer drei Jahre übersteigenden Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gemäß Artikel 24, Ziffer eins, können die Ehegatten dem Gericht im Scheidungsverfahren eine Vereinbarung vorlegen, in der sie unter anderem regeln, bei welchem Elternteil die Kinder leben werden und wie hoch die Alimentationszahlungen für die Kinder sein sollen. Fehlt eine solche Vereinbarung der Eltern oder verletzt sie die Interessen der Kinder oder eines Elternteils, so ist das Gericht verpflichtet, diese Fragen zu entscheiden. Gemäß Artikel 66, Ziffer eins, hat derjenige Elternteil, der nicht beim Kind lebt, das Recht auf Kontakt mit diesem, auf Teilhabe an der Erziehung und auf Entscheidung von Ausbildungsfragen. Gemäß Ziffer 3, sind bei Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung die Maßnahmen des Kodex über Verwaltungsübertretungen zu setzen. Bei böswilliger Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung kann das Gericht auf Antrag des nicht beim Kind lebenden Elternteils die Entscheidung fällen, diesem das Kind zuzusprechen, falls dies im Interesse des Kindes liegt. Dabei ist dessen Meinung zu beachten. Artikel 57, bestimmt generell, dass ein Kind das Recht hat, seine Meinung zu beliebigen familienrechtlichen Fragen, die seine Interessen berühren, auszudrücken und im Zuge von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren angehört zu werden. Die Berücksichtigung der Meinung des Kindes ist verpflichtend, wenn es älter als zehn Jahre ist, es sei denn, sie widerspräche seinen Interessen. Die Nichterfüllung einer Gerichtsentscheidung über die Ausübung elterlicher Rechte (z.B. Besuchsrechte) kann eine Verwaltungsübertretung gemäß Artikel 5 Punkt 35, des Kodex über Verwaltungsübertretungen darstellen und Geldstrafen von 2.000 bis 3.000 Rubel [ca. 28 - 42€] nach sich ziehen, im Wiederholungsfall 4.000 bis 5.000 Rubel [ca. 56 – 70€] oder bis zu fünf Tage Verwaltungshaft. Theoretisch möglich ist auch die Durchsetzung der elterlichen Rechte mithilfe eines Gerichtsvollziehers. Prinzipiell wird der Gerichtsvollzieher in der Praxis zunächst das Gespräch mit beiden Elternteilen suchen, um die Gründe der Nichterfüllung des Gerichtsurteils zu ergründen. Gelingt es im Rahmen des Gesprächs nicht, die Erfüllung der Gerichtsentscheidung herbeizuführen, müsste der Gerichtsvollzieher diese theoretisch zwangsweise durchsetzen. Dies geschieht in der Praxis aber äußerst selten, weil offensichtlich ist, dass sich eine Zwangsabnahme des Kindes äußerst negativ auf dessen psychischen Zustand auswirken würde und somit nicht im Interesse des Kindes läge. Die Praxis in der Russischen Föderation sieht so aus, dass bei Scheidungen minderjährige Kinder zu 99% bei der Mutter bleiben (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).
Obsorge in der Republik Tschetschenien:
Da die Republik Tschetschenien Teil der Russischen Föderation ist, gelten die russischen Gesetze auch dort und sind anzuwenden. In der Praxis spielen neben dem russischen Recht traditionell aber auch das islamische Recht und das Gewohnheitsrecht (Adat) eine Rolle. In Tschetschenien ist es traditionell üblich, dass die Kinder nach einer Scheidung in der Familie des Vaters bleiben (KA der ÖB Moskau 12.7.2018). Manchmal beschränken der Ex-Mann und seine Verwandten, ungeachtet ihrer gesetzlichen Rechte, den Umgang der Mutter mit dem Kind. Gemäß dem Islam werden die Kinder nach der Scheidung der Eltern bis zu einem bestimmten Alter von der Mutter erzogen, falls sie nicht nochmals geheiratet hat: Buben bis sieben Jahre, Mädchen bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Erst danach werden die Kinder dem Vater übergeben. Der Apparat des Bevollmächtigten für Menschenrechtsfragen in Tschetschenien versucht, Hilfestellungen in diversen Fragen zu geben, insbesondere in Familienfragen, wenn geschiedenen Frauen der Kontakt mit ihren Kindern verwehrt wird. Außerdem gibt es bei der geistlichen Führung der Muslime der tschetschenischen Republik noch die 'Kommission zur Regulierung familiärer Konflikte', deren Mitarbeiter sich bemühen, Konflikte friedlich zu regeln und es nicht zu Gerichtsverfahren kommen zu lassen. Das Arbeitsspektrum umfasst die ganze Bandbreite familienrechtlicher Probleme, insbesondere Konfliktsituationen zwischen den Eltern, die mit den Kindern zusammenhängen. Seit der Gründung im März 2012 sind 3.164 Ansuchen um Hilfeleistung an die Kommission gerichtet worden, von denen zu 2.963 Anträgen eine Entscheidung ergangen ist (KA der ÖB Moskau 12.7.2018). Die weitverbreitete tschetschenische Tradition, nach der Kinder nach einer Scheidung bei ihrem Vater bleiben (oder genauer gesagt von Frauen in der Familie ihres Vaters erzogen werden), wurde jahrelang infrage gestellt, da gewisse Männer ihre Ehepartnerinnen erpressen und sie daran hindern konnten, ihre Kinder zu sehen. Die Praxis von Gerichtsverhandlungen zur Vormundschaft und ein Pool von Mediatoren, die auch mit dem Muftiat zusammenarbeiten, sind zu erfolgreichen Methoden geworden, um dieses Problem zu lösen (CSIS 1.2020).
Nach Meinung russischer Beamter würden die örtlichen Gerichte im Nordkaukasus auch die örtlichen Traditionen bei ihren Entscheidungen beachten. Sie entscheiden zwar oft im Sinne der Mutter, die Entscheidung wird von den Verwandten des Vaters aber oft ignoriert. Im Nordkaukasus sollen Kinder nach der Scheidung immer in der Familie des Vaters bleiben – selbst nach dessen Tod -, und ein Gerichtsurteil bedeutet nichts. Nach Erfahrung tschetschenischer Gerichtsvollzieher leben die Kinder oft bei den Verwandten des Vaters, die das Kind dem behördlichen Zugriff entziehen würden, indem der Wohnort des (nicht gemeldeten) Kindes oft gewechselt wird. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass tschetschenische Gerichte offenbar nur selten mit Familienrechts- und Obsorgefragen befasst werden und außergerichtliche Lösungswege in der Praxis eine bedeutendere Rolle spielen. Selbst wenn Frauen vor Gericht Recht bekommen, ist eine Umsetzung des Urteils oft nicht möglich (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).
Ein Artikel vom 10.1.2012 über die Erziehung der Kinder nach der Scheidung besagt, dass, wenn die Eltern des Kindes zusammenleben, die materiellen Aufwendungen vom Vater getragen und die Kinder von der Mutter erzogen werden. Falls sich die Eltern scheiden lassen und die Kinder das Alter von 7-8 Jahren noch nicht erreicht haben, wird es vorgezogen, die Kinder an Frauen zu geben, vorzugsweise an die Mutter. Damit die Mutter das Recht hat, die Kinder zu erziehen, muss sie a) islamischen Glaubens, b) vernünftig (im Sinne von nicht psychisch erkrankt), c) Vertrauen erweckend (nicht sündhaft im Sinne des Islam) und darf d) nicht verheiratet sein. Falls die Mutter stirbt oder psychisch krank wird, geht das Recht der Erziehung auf die Großmutter mütterlicherseits über, danach auf die Großmutter väterlicherseits, danach auf die Schwester, schließlich auf nahe männliche Verwandte. Falls das Kind das Alter von 7-8 Jahren erreicht hat und die Eltern sich scheiden lassen, lässt man das Kind bei demjenigen Elternteil, welchen das Kind wählt. Dieses Wahlrecht steht Mädchen wie Buben gleichermaßen zu. Falls das Kind keinen Vater hat, wählt es zwischen der Mutter und dem Großvater väterlicherseits. Falls ein Sohn die Mutter wählt, bleibt er nachts bei der Mutter und tagsüber beim Vater. Falls der Sohn den Vater wählt, hat dieser nicht das Recht, jenem Besuche bei der Mutter zu verbieten. Falls die Mutter den Sohn besuchen will, hat der Vater nicht das Recht, ihr dies zu verbieten. Falls die Tochter den Vater wählt, hat er das Recht, ihr Besuche bei der Mutter zu verbieten, nicht jedoch, der Mutter Besuche bei der Tochter. Falls die Tochter die Mutter wählt, bleibt sie Tag und Nacht bei ihr, und der Vater hat das Recht, sie zu besuchen. Falls das Kind beide wählt, entscheidet das Los. Falls das Kind keinen Elternteil wählt, kommt es zur Mutter. Wenn ein Sohn volljährig wird, trägt er für sich selbst die Verantwortung. Wenn die Tochter volljährig und verheiratet ist, muss sie beim Ehemann leben. Falls sie nicht verheiratet ist und nie verheiratet war, wählt sie, bei wem sie leben möchte. Falls sie ohne Eltern leben möchte und man ihr das nicht gestattet, muss sie einen der Beiden wählen. Falls sie keine Eltern mehr hat, geht das Recht, sich um sie zu kümmern, auf den Bruder über, danach auf den Onkel väterlicherseits. Falls sie verheiratet war, soll sie mit den Eltern leben. Falls diese geschieden sind, wählt sie einen Elternteil, aber man verpflichtet sie nicht dazu. All das ist möglich, falls es keine Befürchtung gibt, dass sie sich unsittlich benehmen könnte. Falls eine solche Befürchtung besteht, haben der Vater, Großvater, Bruder oder Onkel das Recht, ihr zu verbieten, dass sie selbstständig lebt (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).
In Tschetschenien wurde im Juni 2017 ein Rat von Beamten und religiösen Autoritäten eingerichtet, der geschiedene Ehepaare wieder zusammenbringen soll (HRW 18.1.2018; vergleiche FH 4.3.2020). Personen, die zögerten zu kooperieren, einschließlich Frauen aus gewalttätigen Ehen, wurden angeblich unter Druck gesetzt (HRW 18.1.2018).
Quellen:
CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 9.3.2020
KA der ÖB Moskau – Konsularabteilung der Österreichischen Botschaft Moskau [Österreich] (12.7.2018): Information, per E-Mail
FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 12.3.2020
Sexuelle Minderheiten
Letzte Änderung: 02.03.2022
Seit 1993 sind homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen in Russland legal. Dennoch werden Homosexualität und andere nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen von einem Großteil der Bevölkerung abgelehnt. Seit 2013 gilt in Russland das Gesetz zum Verbot der an Minderjährige gerichteten Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen. Als Sanktionen sieht das Gesetz Geldstrafen sowie die temporäre Schließung von Medien, welche diese Propaganda verbreiten, vor (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Geldstrafen werden allerdings in der Praxis nur selten verhängt (AA 2.2.2021). Das Gesetz wird wiederholt zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung von LGBTIQ-Personen eingesetzt (AI 16.4.2020). Im September 2014 entschied der russische Verfassungsgerichtshof, dass das Gesetz nicht gegen die russische Verfassung verstößt. Die russischen Behörden kommen ihrer Verpflichtung, gegen homophobe Gewalt vorzugehen und diese zu ahnden, häufig nicht nach. Laut russischen LGBTIQ-Organisationen wird nur ein Bruchteil der Vorfälle zur Anzeige gebracht und wiederum nur in einem Bruchteil davon ein Strafverfahren eingeleitet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beurteilte das oben genannte Gesetz in einem Urteil vom Juni 2017 als willkürlich und diskriminierend. LGBTIQ-Eltern können mit Drohungen bezüglich Entzug oder Einschränkung des Sorgerechts konfrontiert sein. Besonders gefährdet, das Sorgerecht zu verlieren, sind Familien mit angenommenen/adoptierten Kindern und Transgender-Eltern (ÖB Moskau 6.2021). Mit einer Verfassungsänderung im Juli 2020 wurde die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau in der russischen Verfassung festgeschrieben (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021, AI 7.4.2021). Dadurch wurden die geltenden Einschränkungen für gleichgeschlechtliche Ehen und andere Beschränkungen verfestigt, die zum Beispiel die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare betrafen (AI 7.4.2021). Die Situation für Homosexuelle ist regional sehr unterschiedlich. In St. Petersburg findet jährlich ein 'Queerfest' statt. 2019 gelang es seinen Organisatoren erstmals, Sponsoren aus der Privatwirtschaft zu gewinnen; die örtliche Ombudsperson für Menschenrechte unterstützte den Dialog der Organisatoren mit den Sicherheitsbehörden zur Gewährleistung der Sicherheit der Teilnehmer. Gegen das jährliche LGBTIQ-Filmfestival 'Side by Side' in St. Petersburg richteten sich jedoch zu Beginn Bombendrohungen, die den Verlauf erheblich beeinträchtigten. 2020 fand das Festival wegen der Pandemie online statt (AA 2.2.2021).
Bei einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada Zentrum vom April 2019 gaben 3% der Befragten an, sie hätten eine positive Einstellung zu Homosexuellen, 39% äußerten eine neutrale Einstellung und 56% eine negative. 47% der Befragten befürworteten eine Gleichstellung Homosexueller mit anderen Bürgern (zum Vergleich: 2013: 39%, 2012: 46%, 2010: 45%, 2005: 51%). Bei der Anzahl von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle verzeichnet die Menschenrechtsorganisation Sova für das Jahr 2019 einen leichten Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Von einer hohen Dunkelziffer ist jedoch auszugehen. LGBTIQ-Personen können im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt sein, angefangen von sogenannten Mikro-Aggressionen bis hin zu physischen Übergriffen. Am stärksten gefährdet sind Transgender-Personen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes von der Öffentlichkeit als männlich wahrgenommen werden, sich aber entsprechend ihrer sexuellen Identität feminin kleiden und z.B. schminken, und Personen, die sich öffentlich für Rechte von LGBTIQ-Personen einsetzen. 2019 zirkulierten im Internet erneut Listen von LGBTIQ-Aktivisten, gegen die homophobe Gruppierungen Drohungen aussprachen. Im Juli 2019 wurde die Aktivistin Jelena Grigorjewa, die auf einer solchen Liste stand, getötet. Die Strafverfolgungsbehörden gehen nicht von einem homophoben Motiv aus (AA 13.2.2019). Der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen Dritter ist unzureichend (AA 2.2.2021). Die Regierung setzt ihren Kurs der Diskriminierung von LGBTIQ-Personen fort, und Untersuchungen von Drohungen und Angriffen werden oft unterlassen (HRW 13.1.2022). Homosexuelle können sich nicht überall darauf verlassen, dass Polizeikräfte sie bei Veranstaltungen oder Demonstration vor Übergriffen Dritter schützen. Laut glaubhaften Aussagen von NGOs bringen Opfer von homophoben Straftaten diese häufig nicht zur Anzeige. Wird dennoch Anzeige erstattet, weigert sich die Polizei häufig, diese aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benennt. Eine Ahndung der Tat durch die Justiz ist dann nur möglich, wenn das Tatopfer Beschwerde bei der vorgesetzten Polizeidienststelle, der Staatsanwaltschaft oder bei Gericht einlegt (AA 2.2.2021).
Als besonders gravierend gilt die Lage sexueller Minderheiten im Nordkaukasus (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Homosexuelle müssen mit Verfolgung durch lokale Behörden rechnen (AA 2.2.2021). Im April 2017 berichtete die Nowaja Gazeta über die massive Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche BAMF 11.2019). Über 100 Homosexuelle wurden durch tschetschenische Sicherheitskräfte festgenommen und gefoltert. In mindestens sechs Fällen sind die Opfer ermordet worden. Andere haben nach ihrer Freilassung Tschetschenien verlassen. Mehrere NGOs berichteten, dass homosexuelle Frauen und Männer bei ihnen in anderen Landesteilen Schutz gesucht haben. Als Reaktion auf die Berichte haben mehrere Staaten Opfer aufgenommen, die über die Menschenrechtsorganisation LGBTIQ-Netzwerk vermittelt wurden. Staatspräsident Putin hat eine Untersuchung der Vorfälle angeordnet, die bisher zu keinen Ergebnissen geführt hat. Eine Mitte September 2018 durchgeführte Reise der Ombudsfrau Tatjana Moskalkowa nach Grosny versuchten tschetschenische Behörden zu nutzen, (Presse-)Berichte über verschollene Personen als falsch darzustellen (AA 2.2.2021). Nachdem die russischen Behörden im Rahmen der OSZE keine substanzielle Antwort gegeben hatten, wurde der 'Moskauer Mechanismus' ausgelöst (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Im diesbezüglichen Bericht vom Dezember 2018 werden die Vorwürfe weitgehend bestätigt bzw. als glaubhaft bezeichnet. Bisher ist Russland nicht substanziell auf die Empfehlungen des OSZE-Berichts eingegangen (AA 2.2.2021). Medienberichte, denen zufolge in Tschetschenien Anfang 2019 über 40 LGBTIQ-Personen (AA 2.2.2021; vergleiche FH 3.3.2021, BAMF 11.2019) festgenommen und zwei zu Tode gefoltert worden seien (AA 2.2.2021), wurden von russischen Behörden dementiert. Lokale Behördenvertreter sagten einem Beauftragten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats 2019 (AA 2.2.2021), dass in Tschetschenien (sinngemäß) weder Homosexuelle noch Menschenrechtsverletzungen existieren. Nach glaubhaften NGO-Berichten wurden 2018/2019 auch lesbische Frauen Ziel von Verfolgung. Anders als bei homosexuellen Männern spielt hier jedoch nicht primär die staatliche Verfolgung, sondern Zwangsverheiratung und andere Maßnahmen durch das familiäre Umfeld eine Rolle (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). 2018 hat es beinahe monatlich einzelne Fälle von Gewalt und Anhaltungen von LGBTIQ-Vertretern durch die Polizei gegeben. Ein mögliches Motiv für die Anhaltungen könnte auch in der Erpressung von Lösegeld (es werden Summen in der Höhe von 13.000 Euro genannt) liegen. Die Gewalt gegen LGBTIQ-Personen geht dabei nicht nur von staatlichen Strukturen aus, sondern auch von Angehörigen, wobei hier die Gruppe der lesbischen und bisexuellen Frauen als besonders vulnerabel gilt (ÖB Moskau 6.2021). Die sich häufenden Beweise für die Entführung, Folterung und Tötung homosexueller Männer in Tschetschenien durch die Polizei in den vergangenen Jahren werden von den Behörden der Russischen Föderation ignoriert (AI 16.4.2020).
Seit der Veröffentlichung des Zeitungsberichtes zur Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien im April 2017 durch die Zeitung Nowaja Gazeta konnte das russische LGBTIQ-Netzwerk mehr als 150 Personen aus Tschetschenien evakuieren. Davon sind mehr als 140 LGBTIQ-Personen in europäische Länder und nach Kanada emigriert. Der Menschenrechtsorganisation zufolge waren die Evakuierungen schwierig, da sie hierbei teilweise von den Behörden und Familien der Betroffenen behindert wurden. Auch in anderen Teilen Russlands außerhalb Tschetscheniens waren die Betroffenen teilweise nicht in Sicherheit, in einigen Fällen kam es zu Entführungen, bei denen die Geflüchteten zu ihren Familien nach Tschetschenien zurückgebracht wurden (BAMF 11.2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 25.2.2021
AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 25.2.2021
AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html, Zugriff 16.2.2022
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/684671/685623/685628/6029277/21602088/Deutschland___Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_L%C3%A4nderreport_21_%2D_Russische_F%C3%B6deration_%28Stand_November_2019%29%2C__November_2019.pdf?nodeid=21601757&vernum=-2, Zugriff 12.3.2020
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 5.3.2021
HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html, Zugriff 4.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 14.10.2021
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 16.11.2021
In der Russischen Föderation herrscht laut Gesetz Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 11.3.2020). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese Rechte jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter des Militär- und Sicherheitsdiensts wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 11.3.2020; vergleiche FH 3.3.2021).
Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestanern etc.], das in der Verfassung verankerte Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes und auf Aufenthalt in der Russischen Föderation zu (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Wer zur Miete wohnt, benötigt eine Bescheinigung seines Vermieters und wird damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 2.2.2021). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein [bez. Registrierung vergleiche Kapitel Meldewesen] (FH 3.3.2021).
Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 2.2.2021; vergleiche ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017).
Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 2.2.2021). Personen, die innerhalb des Landes reisen, müssen ihren Inlandsreisepass mit sich führen (US DOS 11.3.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018; vergleiche FH 3.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 6.4.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.4.2021
ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf, Zugriff 6.4.2021
FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html, Zugriff 6.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 6.4.2021
Meldewesen
Letzte Änderung: 16.11.2021
Laut Gesetz müssen sich Bürger der Russischen Föderation an ihrem permanenten und temporären Wohnort registrieren (EASO 8.2018; vergleiche AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020). Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde, wo eine Person wohnt, und funktioniert relativ problemlos (DIS 1.2015; vergleiche EASO 8.2018). Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi oder per E-Mail (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung, etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren, braucht man einen Pass, einen Antrag auf Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse aus beantragt werden. Auch die Beendigung einer Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt (EASO 8.2018).
Wenn eine Person vorübergehend an einer anderen Adresse als dem Hauptwohnsitz (permanente Registrierung) wohnt, muss eine temporäre Registrierung vorgenommen werden, wenn der Aufenthalt länger als 90 Tage dauert. Die Registrierung einer temporären Adresse beeinflusst die permanente Registrierung nicht. Für die temporäre Registrierung braucht man einen Pass, einen Antrag auf temporäre Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man zur Registrierung berechtigt ist. Nach der Registrierung bekommt man ein Dokument, das die temporäre Registrierung bestätigt. Die temporäre Registrierung endet automatisch mit dem Datum, das man bei der Registrierung angegeben hat. Eine temporäre Registrierung in Hotels, auf Camping-Plätzen und in medizinischen Einrichtungen endet automatisch, wenn die Person die Einrichtung verlässt. Wenn eine Person früher als geplant den temporären Wohnsitz verlässt, sollten die Behörden darüber in Kenntnis gesetzt werden (EASO 8.2018).
Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe (Arbeitslosengeld, Pension, etc.) und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (BAA 12.2011; vergleiche ÖB Moskau 6.2021).
Es kann für alle Bürger der Russischen Föderation zu Problemen beim Registrierungsprozess kommen. Es ist möglich, dass Migranten aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden (ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017). In der Regel ist die Registrierung aber auch für Tschetschenen kein Problem, auch wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korruptem Verhalten seitens der Beamten kommen kann. Im Endeffekt bekommen sie die Registrierung (DIS 1.2015; vergleiche EASO 8.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 6.4.2021
ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf, Zugriff 6.4.2021
BAA Staatendokumentation [Österreich] (12.2011): Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation. Bericht zum Forschungsaufenthalt Russische Föderation – Republik Tschetschenien
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 6.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf, Zugriff 6.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 6.4.2021
Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropas
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Bevölkerung in Tschetschenien ist inzwischen laut offiziellen Zahlen auf 1,5 Millionen angewachsen. Gemäß Aussagen des Republiksoberhaupts Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2021). Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation (EASO 8.2018). Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen in Tschetschenien in die Stadt, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Wajnach-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als 'tschetschenische Diaspora' bezeichnet wird) veranstaltet werden, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Anzahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel Bewegungsfreiheit, bzw. Meldewesen] (EASO 8.2018). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen (Telegraph 24.2.2016; vergleiche EASO 8.2018). Diese kleinen Büros versuchen auch, den Handel zwischen den Regionen zu fördern. In ganz Russland gibt es ein Netz von 50 dieser offiziellen Vertretungen der tschetschenischen Republik. Obwohl es den Büros prinzipiell möglich wäre, Informationen zu einer bestimmten Person nach Grosny weiterzuleiten, können diese Vertretungen nicht als Knotenpunkt für das Sammeln von Informationen angesehen werden. Sie tätigen auch sonst keine weiteren, direkteren Aktionen. Obwohl die tschetschenischen Gemeinden in Russland Kadyrow teilweise behilflich bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker sind, scheint es keine Beweise zu geben, dass sie Informationen weitergeben (Galeotti 2019).
Laut einer Analyse der Jamestown Foundation soll die tschetschenische Diaspora in Europa rund 150.000 Personen umfassen, die tschetschenische Diaspora in Österreich zählt rund 35.000 Personen. Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Abgesehen davon sind auch vereinzelte Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt geworden. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können (ÖB Moskau 6.2021). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates, misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gelten dessen Möglichkeiten zur Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht ausgeschlossen werden. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Rezente Beispiele aus dem Jahr 2020 sind der Mord an Mamikhan Umarov alias Martin Beck (Anzor aus Wien), der Mord an Zelimkhan Khangoshvili in Berlin, der Mord an Imran Aliyev in Lille/Frankreich und der Angriff auf Tumso Abdurakhmanov in Gävle/Schweden (ÖB Moskau 6.2021) [vgl. dazu Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].
Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben. Dies gilt für alle Einwohner des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. Dies gilt nach Einschätzung von Experten aber auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist (ÖB Moskau 6.2021). Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen (AA 2.2.2021). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss (DIS 1.2015). Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission - davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Galeotti 2019). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich aber häufig auch in russischen Großstädten vor Ramsan Kadyrow nicht sicher (AA 2.2.2021), da bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, auch in Moskau präsent sind (AA 2.2.2021; vergleiche EASO 8.2018, New York Times 17.8.2017). Wie viele bewaffnete tschetschenische Kräfte es in Moskau gibt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (Galeotti 2019).
Relative Anonymität und Sicherheit bieten russische Städte, die groß genug sind, um als Neuankömmling nicht aufzufallen, und die weniger stark polizeilich überwacht sind als beispielsweise Moskau und St. Petersburg. Moskau und St. Petersburg sind insofern 'gefährlicher', als sie tendenziell dichter kontrolliert werden, ihre Kommunikationsinfrastruktur moderner ist und die Behörden wachsamer sind. Viel schwieriger ist es, sich in Moskau versteckt zu halten, da hier zum Beispiel viele Dokumentenkontrollen durchgeführt werden, routinemäßig bei Benutzung der U-Bahn die Registrierungen von Mobiltelefonen überprüft und neue Gesichtserkennungssysteme erprobt werden, die mit Straßenkameras verbunden sind. In geringerem Maße gilt vieles davon auch für St. Petersburg (Galeotti 2019).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 6.4.2021
Al Jazeera (28.11.2017): römisch eins s Chechnya's Kadyrov really 'dreaming' of quitting?, https://www.aljazeera.com/opinions/2017/11/28/is-chechnyas-kadyrov-really-dreaming-of-quitting, Zugriff 6.4.2021
EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf, Zugriff 6.4.2021
Galeotti, Mark (2019): License to kill? The risk to Chechens inside Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2012286/Galeotti-Mayak-RUF-2019-06-License+to+Kill+-+Chechens+in+the+RF+2019.pdf, Zugriff 6.4.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 6.4.2021
New York Times (17.8.2017): römisch eins s Chechnya Taking Over Russia?, https://www.nytimes.com/2017/08/17/opinion/chechnya-ramzan-kadyrov-russia.html?ref=opinion, Zugriff 6.4.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
Telegraph (24.2.2016): Ramzan Kadyrov: Putin's 'sniper' in Chechnya, http://s.telegraph.co.uk/graphics/projects/Putin-Ramzan-Kadyrov-Boris-Nemtsov-Chechnya-opposition-Kremlin/index.html, Zugriff 6.4.2021
Grundversorgung
Letzte Änderung: 10.06.2021
2019 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49% (WKO 4.2021). Die Arbeitslosigkeit befindet sich im Landesdurchschnitt auf einem moderaten Niveau (GIZ 1.2021b) und wird für das Jahr 2021 auf 5,2% prognostiziert (Statista 19.10.2020). Sie kann regional jedoch stark abweichen. Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2019). Das BIP lag 2020 bei ca. 1.474 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht einem Rückgang um ca. 3%(WKO 4.2021).
Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der weltweiten Gasreserven (25,2%), circa 6,3% der weltweiten Ölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert für das Wirtschaftswachstum 2021 nur ein Plus von 2,8%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 1.2021b).
Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).
Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).
Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes bis Ende Juli 2021 beschlossen (Presse.com 10.12.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/russland/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 18.2.2021
IOM – International Organisation for Migration (2019): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2019%2C_deutsch.pdf?nodeid=21860150&vernum=-2, Zugriff 18.2.2021
Presse.com (10.12.2020): EU verlängerte Wirtschaftssanktionen gegen Russland, https://www.diepresse.com/5909916/eu-verlangerte-wirtschaftssanktionen-gegen-russland, Zugriff 18.2.2021
Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020
Statista (19.10.2020): Russland: Arbeitslosenquote von 1992 bis 2019 und Prognosen bis 2025, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/17339/umfrage/arbeitslosenquote-in-russland/, Zugriff 21.4.2021
WKO – Wirtschaftskammer Österreich [Österreich] (4.2021): Länderprofil Russland, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-russland.pdf?_gl=1*2opol5*_ga*MTMwODMzNzE3OC4xNjE4OTg5NzU3*_ga_4YHGVSN5S4*MTYxODk4OTc1Ni4xLjEuMTYxODk4OTc1OS41Nw.., Zugriff 21.4.2021
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 02.03.2022
Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Bei einer Sitzung zur Entwicklung des Nordkaukasus im Juni 2021 bezeichnete Ministerpräsident Mischustin die Situation als nicht einfach (ÖB Moskau 6.2021). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).
Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im September 2021 bei 24.876 Rubel [ca. 292 Euro], landesweit bei 44.919 Rubel [ca. 526 Euro] (Rosstat o.D.). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im Oktober 2021 bei 13.845 Rubel [ca. 162 Euro] (Chechenstat 2022), landesweit bei 15.801 Rubel [ca. 185 Euro] (Rosstat 1.12.2021). Die durchschnittliche Höhe des Existenzminimums für das Jahr 2022 beträgt in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung 13.241 Rubel [ca. 154 Euro], für Pensionisten 10.447 Rubel [ca. 121 Euro] und für Kinder 11.784 Rubel [ca. 137 Euro] (Chechenstat 2022). Landesweit liegt das durchschnittliche Existenzminimum für das Jahr 2022 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 13.793 Rubel [ca. 161 Euro], für Pensionisten bei 10.882 Rubel [ca. 127 Euro] und für Kinder bei 12.274 Rubel [ca. 143 Euro] (RIA Nowosti 21.11.2021; vergleiche Gosudarstvennaja Duma 2022). Der Mindestlohn beträgt im Jahr 2022 13.890 Rubel [ca. 163 Euro] pro Monat (Gosudarstvennaja Duma 2022).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 6.4.2021
Chechenstat [Tschetschenien] (2022): Оперативные показатели (Operative Indikatoren), https://chechenstat.gks.ru/, Zugriff 16.2.2022
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 6.4.2021
Gosudarstvennaja Duma [Russische Föderation] (2022): Каким будет размер МРОТ с 1 января 2022 года (Wie hoch wird der Mindestlohn ab 1. Januar 2022 sein?), http://duma.gov.ru/news/53151/, Zugriff 16.2.2022
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 12.10.2021
RIA Nowosti (21.11.2021): В России утвердили прожиточный минимум на 2022 год (In Russland wurde das Existenzminimum für das Jahr 2022 beschlossen), https://ria.ru/20211121/mrot-1760047042.html, Zugriff 16.2.2022
Rosstat [Russische Föderation] (o.D.): Квартальная оценка среднемесячной начисленной заработной платы наёмных работников в организациях, у индивидуальных предпринимателей и физических лиц (Vierteljährliche Schätzung des durchschnittlichen Monatslohns), https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/ozenka_zar.xlsx, Zugriff 16.2.2022
Rosstat [Russische Föderation] (1.12.2021): Динамика среднего размера назначенных пенсий (Dynamik der durchschnittlichen Höhe der zugewiesenen Pensionen), https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/dok3-1-1.HTM, Zugriff 16.2.2022
Sozialbeihilfen
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Dieses bietet bedürftigen Personen Hilfe an (IOM 2020). Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).
Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).
Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).
Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht notwendig. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab (IOM 2020). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie ältere Menschen (IOM 2020). Das von EASO betriebene europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:
● Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);
● Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);
● Familien mit geringem Einkommen;
● Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).
Familienbeihilfe
Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2020). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).
Mutterschaft
Mutterschaftsurlaub kann für bis zu 140 Tage bei vollem Gehaltsbezug beantragt werden (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann der Urlaub auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns - bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.327 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2020). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).
Mutterschaftskapital
Zu den wichtigen sozialen Unterstützungsleistungen zählt das Mutterschaftskapital (ÖB Moskau 6.2021). Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich (RBTH 22.4.2017). Es wurde eingeführt, um Eltern finanziell zu unterstützen und dadurch die Geburtenrate in Russland zu erhöhen. Die Einmalzahlung wird Familien (grundsätzlich der Mutter) für jedes (seit 2020 auch das erste) zur Welt gebrachte oder adoptierte Kind gewährt (2021: 483.881,83 Rubel (über 5.000 Euro) für das erste Kind, 639.431,83 Rubel (ca. 7.000 Euro) für das zweite und jedes weitere Kind) (ÖB Moskau 6.2021). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt, und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).
Behinderung
Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2020). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021). Die Höhe der monatlichen Invaliditätspension ist abhängig vom Invaliditätsgrad. Es gibt staatliche Einrichtungen für ältere und behinderte Menschen (Erwachsene und Kinder), innerhalb derer sie leben können und kostenlose medizinische Behandlung erhalten. Die staatlichen Sozialzentren und Unterkünfte des Ministeriums für Arbeit und Sozialen Schutz gibt es für Erwachsene und für Kinder (ÖB Moskau 6.2021).
Arbeitslosenunterstützung
Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollte dies nicht möglich sein, wird der Person ein Arbeitlosenstatus zuerkannt. Mit diesem erhält die Person monatlich eine Unterstützung. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert (IOM 2020). Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 11.280 Rubel (ca. 141 €) (IOM 2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Außerdem darf die Person nicht in eine andere Region ziehen. Sollte die Person Fortbildungen zur Selbstständigkeit besuchen oder eine Rente beziehen, ist die Person von diesen Vorteilen ausgeschlossen. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2020).
Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen
Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Personen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021
BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 18.2.2021
IOM – International Organisation for Migration (2020): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/-/Russische_F%C3%B6deration_%2D_Country_Fact_Sheets_2020%2C_Deutsch.pdf?nodeid=22619450&vernum=-2, Zugriff 14.10.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 14.10.2021
RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881, Zugriff 18.3.2020
Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020
Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 16.11.2021
Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2021). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).
Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2021). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2021). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2020). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt. Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden (ÖB Moskau 6.2021).
Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, Vorsorge, Diagnose undambulante sowie stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2021), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vergleiche Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vergleiche AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2021).
Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken geleistet wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2021).
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2021). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). Auch Leistungen, die vom Staat für eine bestimmte Personengruppe, wie z.B. Personen mit Beeinträchtigungen, bestimmt wurden, sind gedeckt. Eine kostenfreie 24-Stunden-Versorgung steht allen Patienten im OMS-System zu (IOM 2020). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2021). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).
Durch jüngste Reformen und Gesetze erfolgte eine Minderung der Dominanz staatlicher Anbieter sozialer Dienstleistungen. Die Anzahl nicht-staatlicher Träger, wie z.B. NGOs, nimmt tendenziell zu, wobei in den einzelnen Regionen unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. So werden in einigen Regionen Sozialleistungen fast ausschließlich von staatlichen Trägern übernommen, in anderen agieren vermehrt auch nicht-staatliche Einrichtungen in diesem Bereich (ÖB Moskau 6.2021).
Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) vergleiche dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).
Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung im Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.2.2021
GTAI – German Trade and Invest (27.11.2018): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum, https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=russlands-privatkliniken-glaenzen-mit-hohem-wachstum,did=2183416.html, Zugriff 17.2.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 17.2.2021
IOM – International Organisation of Migration (2020): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/-/Russische_F%C3%B6deration_%2D_Country_Fact_Sheets_2020%2C_Deutsch.pdf?nodeid=22619450&vernum=-2, Zugriff 14.10.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 14.10.2021
Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter, https://ostexperte.de/russland-privatkliniken/, Zugriff 17.2.2021
Tschetschenien
Letzte Änderung: 10.06.2021
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).
Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:
● infektiöse und parasitäre Krankheiten
● Tumore
● endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
● Krankheiten des Nervensystems
● Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems
● Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde
● Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes
● Krankheiten des Kreislaufsystems
● Krankheiten des Atmungssystems
● Krankheiten des Verdauungssystems
● Krankheiten des Urogenitalsystems
● Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett
● Krankheiten der Haut und der Unterhaut
● Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes
● Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen
● Geburtsfehler und Chromosomenfehler
● bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben
● Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).
Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vergleiche GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).
In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).
Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 24.2.2021
BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 18.3.2020
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.2.2021
Gesundheitseinrichtungen in Tschetschenien
Letzte Änderung: 10.06.2021
Gesundheitseinrichtungen, die die ländlichen Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'Achkhoy-Martan RCH' (regional central hospital), 'Vedenskaya RCH', 'Grozny RCH', 'Staro-Yurt RH' (regional hospital), 'Gudermessky RCH', 'Itum-Kalynskaya RCH', 'Kurchaloevskaja RCH', 'Nadterechnaye RCH', 'Znamenskaya RH', 'Goragorsky RH', 'Naurskaya RCH', 'Nozhai-Yurt RCH', 'Sunzhensk RCH', Urus-Martan RCH', 'Sharoy RH', 'Shatoïski RCH', 'Shali RCH', 'Chiri-Yurt RCH', 'Shelkovskaya RCH', 'Argun municipal hospital N° 1' und 'Gvardeyskaya RH' (BDA CFS 31.3.2015).
Gesundheitseinrichtungen, die alle Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'The Republican hospital of emergency care' (former Regional Central Clinic No. 9), 'Republican Centre of prevention and fight against AIDS', 'The National Centre of the Mother and Infant Aymani Kadyrova', 'Republican Oncological Dispensary', 'Republican Centre of blood transfusion', 'National Centre for medical and psychological rehabilitation of children', 'The Republican Hospital', 'Republican Psychiatric Hospital', 'National Drug Dispensary', 'The Republican Hospital of War Veterans', 'Republican TB Dispensary', 'Clinic of pedodontics', 'National Centre for Preventive Medicine', 'Republican Centre for Infectious Diseases', 'Republican Endocrinology Dispensary', 'National Centre of purulent-septic surgery', 'The Republican dental clinic', 'Republican Dispensary of skin and venereal diseases', 'Republican Association for medical diagnostics and rehabilitation', 'Psychiatric Hospital ‘Samashki’, 'Psychiatric Hospital ‘Darbanhi’', 'Regional Paediatric Clinic', 'National Centre for Emergency Medicine', 'The Republican Scientific Medical Centre', 'Republican Office for forensic examination', 'National Rehabilitation Centre', 'Medical Centre of Research and Information', 'National Centre for Family Planning', 'Medical Commission for driving licenses' und 'National Paediatric Sanatorium ‘Chishki’' (BDA CFS 31.3.2015).
Städtische Gesundheitseinrichtungen in Grosny sind:
'Clinical Hospital N° 1 Grozny', 'Clinical Hospital for children N° 2 Grozny', 'Clinical Hospital N° 3 Grozny', 'Clinical Hospital N° 4 Grozny', 'Hospital N° 5 Grozny', 'Hospital N° 6 Grozny', 'Hospital N° 7 Grozny', 'Clinical Hospital N° 10 in Grozny', 'Maternity N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 1 in Grozny', 'Polyclinic N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 3 in Grozny', 'Polyclinic N° 4 in Grozny', 'Polyclinic N° 5 in Grozny', 'Polyclinic N° 6 in Grozny', 'Polyclinic N° 7 in Grozny', 'Polyclinic N° 8 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 1', 'Paediatric polyclinic N° 3 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 4 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 5', 'Dental complex in Grozny', 'Dental Clinic N° 1 in Grozny', 'Paediatric Psycho-Neurological Centre', 'Dental Clinic N° 2 in Grozny' und 'Paediatric Dental Clinic of Grozny' (BDA CFS 31.3.2015).
Quellen:
BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
Dagestan
Letzte Änderung: 10.06.2021
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Dagestan eine eigene Gesundheitsverwaltung, welche die regionalen Gesundheitseinrichtungen (spezialisierte und zentrale Krankenhäuser, Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfallambulanzen, etc.) umfasst. Auch in Dagestan gibt es sowohl öffentliche als auch private Gesundheitseinrichtungen. Öffentliche Einrichtungen haben keine offiziellen Preislisten ihrer Behandlungen, da prinzipiell Untersuchungen, Behandlungen und Konsultationen kostenfrei sind. Jedoch muss auf die informelle Zuzahlung hingewiesen werden (beispielsweise, um die Wartezeit zu verkürzen). Die Zahlungen sind jedoch geringer als in privaten Institutionen. Die Qualität der Behandlung ist in öffentlichen Einrichtungen nicht schlechter – viele Fachärzte arbeiten sowohl in öffentlichen als auch privaten Einrichtungen. Die Ausstattung und die Geräte sind meist in privaten Einrichtungen besser (BDA CFS 25.3.2016).
Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).
Quellen:
BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (25.3.2016): Accessibility of healthcare: Dagestan, Country Fact Sheet via MedCOI
Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten, z.B. Posttraumatisches Belastungssyndrom PTBS/PTSD, Depressionen, etc.
Letzte Änderung: 10.06.2021
Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).
Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind in der gesamten Russischen Föderation behandelbar (BMA 12248). Dies gilt auch für Tschetschenien (BMA 14483). Während es in Moskau unterschiedliche Arten von Therapien gibt (Kognitive Verhaltenstherapie, Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen [EMDR] und Narrative Expositionstherapie), um PTBS zu behandeln (BMA 14271), gibt es in Tschetschenien eine begrenzte Anzahl von Psychiatern, die Psychotherapien wie kognitive Verhaltenstherapie und Narrative Expositionstherapie anbieten (BMA 14483). Diverse Antidepressiva sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar (BMA 12132, BMA 14483).
Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt, und es gibt nur selten eine Therapie. Die Möglichkeiten für psychosoziale Therapie oder Psychotherapie sind aufgrund des Mangels an notwendiger Ausrüstung, Ressourcen und qualifiziertem Personal in Tschetschenien stark eingeschränkt. Es gibt keine spezialisierten Institutionen für PTBS, jedoch sind Nachsorgeuntersuchungen und Psychotherapie möglich. Ambulante Konsultationen und Krankenhausaufenthalte sind im Republican Psychiatric Hospital of Grozny für alle in Tschetschenien lebenden Personen kostenlos. Auf die informelle Zuzahlung wird hingewiesen. Üblicherweise zahlen Personen für einen Termin wegen psychischer Probleme zwischen 700-2.000 Rubel (ca. 8-24€). In diesem Krankenhaus ist die Medikation bei stationärer und ambulanter Behandlung kostenfrei (BDA 31.3.2015).
Folgende häufig angefragte Inhaltsstoffe von Antidepressiva sind verfügbar (v.a. auch in Tschetschenien):
Sertralin (BMA 12132, BMA 14483)
Escitalopran (BMA 12248, BMA 12977)
Paroxetin (BMA 12863, BMA 14483)
Citalopram (BMA 12977)
Fluoxetin (BMA 14483)
Quellen:
BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248
International SOS via MedCOI (18.11.2019): BMA 12977
International SOS via MedCOI (12.2.2021): BMA 14483
International SOS via MedCOI (10.3.2020): BMA 12863
International SOS via MedCOI (25.2.2019): BMA 12132
International SOS via MedCOI (14.12.2020): BMA 14271
Behandlungsmöglichkeiten HIV/AIDS / Hepatitis / Tuberkulose
Letzte Änderung: 16.11.2021
Ein ernstes Problem bleibt die Bekämpfung von HIV/AIDS. Der Anteil der AIDS-Kranken an der Bevölkerung wächst in Russland schneller als im Rest der Welt. Bis zu 1,7% der Bevölkerung sind mit HIV infiziert. Bei den 35–39-Jährigen sind es sogar 3,2%. Die Zahl der Neuinfizierten steigt jährlich um mehr als 100.000. Die Krankheit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Eine 'Nationale Strategie der AIDS-Bekämpfung' soll die Verbreitung eindämmen. Da jedoch ein korrespondierender Umsetzungsplan fehlt, bleibt die Lage weiterhin außer Kontrolle. Die Kosten der Behandlung werden nur für russische Bürger übernommen. Infizierte Migranten werden nicht behandelt (AA 2.2.2021). HIV/AIDS ist in der Russischen Föderation mittels bestimmter antiretroviraler Medikamente generell behandelbar (BMA 13876). Dies gilt auch für Tschetschenien (BDA 6757).
Hepatitis ist in der Russischen Föderation generell behandelbar (BMA 12364).
Tuberkulose ist beispielsweise im Central Scientific Research Institute of Tuberculosis in Moskau behandelbar (BMA 13699). In Tschetschenien beispielsweise ist Tuberkulose in jedem Teil der Republik generell behandelbar, z.B. in Gudermes, Naderetchnyj, Shali, Shelkovskyj und Grosny. Es gibt in Grosny auch eine eigene Tuberkulose-Abteilung für Kinder (BDA 31.3.2015). In Moskau beispielsweise werden auch die Kosten für die Behandlung der häufig vorkommenden Krankheit Tuberkulose vom Moskauer Forschungs- und Klinikzentrum für Tuberkulosebekämpfung übernommen. Jeder, auch Migranten oder Obdachlose, haben Zugang zu diesen kostenlosen Gesundheitsleistungen (ÖB Moskau 6.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 25.2.2021
International SOS via MedCOI (7.8.2020): BMA 13876
International SOS via MedCOI (13.5.2019): BMA 12364
International SOS via MedCOI (19.6.2020): BMA 13699
Belgian Immigration Office (29.6.2018): Question & Answer, BDA 6757
BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 13.10.2021
Behandlungsmöglichkeiten Nierenerkrankungen, Dialyse, Lebertransplantationen, Diabetes
Letzte Änderung: 10.06.2021
Nierenerkrankungen und (Hämo-)Dialyse sind sowohl in der Russischen Föderation als auch in Tschetschenien behandelbar bzw. verfügbar (BMA 12506, BDA 31.3.2015). Auch Diabetes ist in der Russischen Föderation behandelbar (BMA 12353). Es werden in Russland auch prinzipiell Transplantationen durchgeführt, jedoch muss man sich auf eine Warteliste setzen lassen (BDA 31.3.2015). Leberfunktionstests sind in der RF generell verfügbar, Lebertransplantationen sind in Moskau grundsätzlich verfügbar (AVA 14382). Krankenhäuser haben bestimmte Quoten bezüglich der Behandlungen von Personen (z.B. Lebertransplantation) aus anderen Regionen oder Republiken der Russischen Föderation. Um solch eine Behandlung außerhalb der Region des permanenten Aufenthaltes zu erhalten, braucht die Person eine Garantie von der regionalen Gesundheitsbehörde, dass die Kosten für die Behandlung rückerstattet werden (BDA 31.3.2015).
Quellen:
BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI
International SOS via MedCOI (12.7.2019): BMA 12506
International SOS via MedCOI (8.5.2019): BMA 12353
International SOS via MedCOI (7.1.2021): AVA 14382
Rückkehr
Letzte Änderung: 16.11.2021
Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Bei Ankunft in der Russischen Föderation müssen sich alle Rückkehrer am Ort ihres beabsichtigten Wohnsitzes registrieren [vgl. Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen]. Dies gilt generell für alle russischen Staatsangehörigen, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert, und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 6.2021).
Rückkehrende haben wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen [vgl. Kapitel Sozialbeihilfen] (IOM 2020). Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mithilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB Moskau 6.2021).
Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 6.2021; vergleiche AA 2.2.2021). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 6.2021).
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten noch immer von willkürlichem Vorgehen der Polizei. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (auch ohne Durchsuchungsbefehle) finden bei diesen Personen häufiger statt (AA 2.2.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 25.2.2021
IOM – International Organisation for Migration (2020): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/-/Russische_F%C3%B6deration_%2D_Country_Fact_Sheets_2020%2C_Deutsch.pdf?nodeid=22619450&vernum=-2, Zugriff 21.10.2021
ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx, Zugriff 1.10.2021
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF)
Letzte Änderung: 02.03.2022
Gemäß den gesetzlichen Vorgaben fallen unbegleitete Minderjährige unter die Verantwortlichkeit der örtlichen Vormundschaftsbehörden. Die Vormundschaftsbehörden sind u.a. für die geeignete Unterbringung der Minderjährigen zuständig. Es gibt starke Diskrepanzen, was die Verfügbarkeit von Unterstützungsstrukturen in den unterschiedlichen Regionen anbelangt (Stadt-Land-Gefälle) (IOM 11.2.2022).
Kinder ohne elterliche Obhut werden anfangs, für eine Höchstdauer von sechs Monaten, in einem Sozialen Rehabilitationszentrum für Minderjährige untergebracht. Solche Zentren existieren beispielsweise in Moskau (IOM 11.2.2022). Später, so sich bis dahin keine aufnahmebereiten Verwandten finden, werden die betreffenden Kinder an ein Zentrum für Familienbildung und -förderung (früher „Waisenhaus“) übergeben (IOM 11.2.2022; vergleiche AA 2.2.2021). Laut den gesetzlichen Vorschriften dürfen Minderjährige nicht alleine leben. Zentren für Familienbildung und -förderung gibt es z.B. in Moskau. Es wird angenommen, dass Soziale Rehabilitationszentren und Zentren für Familienbildung und -förderung passable Lebensbedingungen für Kinder und Heranwachsende bieten, so die staatlichen Vorgaben erfüllt werden. Es gibt in der Russischen Föderation keine Jugendzentren oder betreute gemeinsame Wohneinheiten, welche speziell auf die Bedürfnisse unbegleiteter Jugendlicher zugeschnitten sind. Kinder aller Altersgruppen wohnen gemeinsam in den Zentren (IOM 11.2.2022).
In der Russischen Föderation existieren keine gezielten Unterstützungsprogramme für rückkehrende unbegleitete Minderjährige. Unbegleitete Minderjährige haben ein Anrecht auf diejenigen regelmäßigen Leistungen, welche Waisenkindern und Kindern ohne elterliche Obhut zustehen (IOM 11.2.2022).
Sollten minderjährige Rückkehrer Probleme beim Erwerb der russischen Sprache haben, können solche Sprachdefizite durch entgeltlichen Privatnachhilfeunterricht oder mit Unterstützung Freiwilliger behoben werden. Im Moskauer Gebiet existieren mehrere NGOs, welche sich um Kinder kümmern, die in den diversen Zentren untergebracht sind. Personen ohne elterliche Obhut, welche auf Probleme bei der Arbeitssuche stoßen, haben sich mit dem örtlichen Beschäftigungszentrum in Verbindung zu setzen. Registrierte Arbeitslose haben Anspruch auf Arbeitslosengeld. Arbeitslose russische Staatsbürger im erwerbsfähigen Alter und ohne Berufserfahrung, welche ohne elterliche Obhut aufwuchsen, erhalten für die ersten sechs Monate einen Geldbetrag, welcher dem Durchschnittsgehalt der jeweiligen Region entspricht. Ab dem siebten Monat wird ein monatliches Arbeitslosengeld in der Höhe von umgerechnet ca. 17 Euro ausbezahlt (IOM 11.2.2022).
Tschetschenien:
Soziale Rehabilitationszentren für Minderjährige existieren in Grosny, Shali und Shatoy. In Grosny gibt es eine Einrichtung (Internat), welche mit den Zentren für Familienbildung und -förderung vergleichbar ist. Inwieweit diese Einrichtung Qualitätsstandards erfüllt, ist unbekannt. Sollten minderjährige Rückkehrer Probleme beim Erwerb der russischen oder tschetschenischen Sprache haben, können solche Sprachdefizite durch entgeltlichen Privatnachhilfeunterricht oder mit Unterstützung Freiwilliger behoben werden (IOM 11.2.2022).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 25.2.2021
IOM – Internationale Organisation für Migration (11.2.2022): Antwort von IOM Moskau, per E-Mail
Dokumente
Letzte Änderung: 10.06.2021
Die von den staatlichen Behörden ausgestellten Dokumente sind in der Regel echt und inhaltlich richtig. Dokumente russischer Staatsangehöriger aus den russischen Kaukasusrepubliken (insbesondere Reisedokumente) enthalten hingegen nicht selten unrichtige Angaben. Gründe hierfür liegen häufig in mittelbarer Falschbeurkundung und unterschiedlichen Schreibweisen von beispielsweise Namen oder Orten. In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie z.B. Staatsangehörigkeitsnachweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle und Gerichtsurteile. Es gibt auch Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt werden (AA 13.2.2019). Auslandsreisepässe sind schwieriger zu bekommen, aber man kann auch diese kaufen. Es handelt sich bei den Dokumenten oft um echte Dokumente mit echten Stempeln und Unterschriften, aber mit falschem Inhalt. Die Art der Dokumente hierbei können z.B. medizinische Protokolle (medical journals), Führerscheine, Geburtsurkunden oder Identitätsdokumente sein. Ebenso ist es möglich, echte Dokumente mit echtem Inhalt zu kaufen, wobei die Transaktion der illegale Teil ist. Für viele Menschen ist es einfacher, schneller und angenehmer, ein Dokument zu kaufen, um einen zeitaufwändigen Kontakt mit der russischen Bürokratie zu vermeiden. Es soll auch gefälschte 'Vorladungen' zur Polizei geben (DIS 1.2015).
Weder die Staatendokumentation, noch der Verbindungsbeamte oder die Österreichische Botschaft können die Bedeutung von Reisepassnummern, welche sich auf die ausstellenden Behörden beziehen, nachvollziehen (VB 4.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf, Zugriff 1.3.2021
DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 10.3.2020
VB - Verbindungsbeamter für die Russische Föderation [Österreich] (4.3.2021): Auskunft per E-Mail“
„Kurzinformation der Staatendokumentation
Update zu den wichtigsten Ereignissen in der Russischen Föderation aufgrund des Angriffs auf die Ukraine
Am 23. Februar 2022 hat sich der Rat der Europäischen Union auf ein erstes Sanktionspaket als Reaktion auf die Anerkennung der Unabhängigkeit der von der Ukraine abtrünnigen selbsternannten „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ durch Russland geeinigt. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden Sanktionen gegen bestimmte russische Personen und Organisationen erlassen, ein Verbot von Transaktionen mit der russischen Zentralbank, Luftraumsperren für russische Luftfahrtunternehmen [Details siehe weiter unten] (Rat der EU 3.3.2022) und der Ausschluss von russischen Banken aus dem internationalen Finanz-Kommunikationssystem Swift. Zudem dürfen mit etlichen russischen Bankhäusern keine Geschäfte mehr gemacht werden, und ihre Vermögen werden eingefroren. Die EU verbietet weiters den Verkauf, die Lieferung, die Weitergabe oder die Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien in die Russische Föderation, u.a. Technologie für die Ölveredelung, Mikroprozessoren, etc.). Die russischen Staatsmedien RT und Sputnik werden in der EU verboten, um die "giftige und schädliche Desinformationen in Europa" zu untersagen (ZDF 28.2.2022).
Der Luftraum über allen EU-Staaten ist für russische Flugzeuge komplett gesperrt. Auch Kanada, Großbritannien, Norwegen, Nordmazedonien und Island haben sich der Luftraumsperre angeschlossen. Die Verbote gelten für alle in Russland registrierten und von Russland kontrollierten Flugzeuge, auch für Privatjets. Ausgenommen sind Flüge zu humanitären Zwecken, und das nur nach einer Genehmigung der Regierung (ORF.at 28.2.2022a). Auch die USA haben am 3.3.2022 ihren Luftraum für alle Flugzeuge, die sich im Besitz eines russischen Staatsbürgers befinden oder die von einem Russen geleast, gechartert oder betrieben werden, gesperrt (Handelsblatt 3.3.2022). Als Reaktion auf die Luftraumsperren dürfen künftig Flugzeuge aus 36 Staaten nicht mehr über Russland fliegen. Unter diesen Staaten befindet sich auch Österreich (ORF.at 28.2.2022b) [Anm. der Staatendokumentation: Zum Zeitpunkt der Erstellung der Kurzinformation steht Reaktion Russlands zur amerikanischen Luftraumsperre noch aus.]
Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“ zu nutzen (Tagesspiegel 2.3.2022). Derartige Begriffe sollen aus den Berichten gelöscht werden, ebenso wie alle Hinweise auf von den russischen Streitkräften in der Ukraine getötete Zivilisten (Arte.tv 26.2.2022). Der kritische Internetsender Doschd und der Radiosender Echo Moskwy wurden von russischen Behörden gesperrt. Der Generalstaatsanwalt gab an, die beiden Sender würden "absichtlich falsche Informationen" über den russischen Einmarsch in die Ukraine verbreiten. Nach zahlreichen Drohungen haben der Chefredakteur von Doschd und weitere fünf führende Redaktionsmitglieder Russland verlassen (Zeit Online 2.3.2022).
Der Krieg in der Ukraine löste zahlreiche Demonstrationen in Russlands Städten aus (FR 2.3.2022). Mit Stand 2.3.2022 sollen schon über 7.000 Demonstranten festgenommen worden sein, angeblich waren darunter auch Kinder in Begleitung ihrer Mütter (T-Online 2.3.2022). Die meisten Demonstranten wurden in Moskau festgenommen (FR 2.3.2022). Die russischen Sicherheitskräfte gehen vielerorts brutal gegen Demonstranten vor (Tagesschau 28.2.2022). Auch der inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny hat die Russen zu Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine aufgerufen (Tagesspiegel 2.3.2022).
Im Krieg in der Ukraine sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau bisher 498 russische Soldaten getötet worden. Zudem seien 1.597 Soldaten verletzt worden, teilte das Ministerium mit. Die Ukraine sprach zuletzt von rund 7.000 getöteten russischen Soldaten. Russland weist diese Zahl als falsch zurück. Auf ukrainischer Seite soll es laut offiziellen russischen Zahlen bislang 2.870 getötete "Soldaten und Nationalisten" sowie etwa 3.700 verletzte Menschen geben. Das russische Verteidigungsministerium erklärte außerdem, dass weder Wehrpflichtige noch Kadetten an der Operation in der Ukraine beteiligt seien und wies damit entsprechende Medienberichte zurück (Tagesschau 3.3.2022).
Auch Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow muss erstmals Tote melden. Laut Kadyrow seien zwei tschetschenische Kämpfer getötet und sechs weitere verletzt worden. Ob und in welcher Truppenstärke Tschetschenen im Ukrainekrieg mitkämpfen, ist unklar (Spiegel 1.3.2022). Kadyrow erwähnte, dass bis zu 70.000 Freiwillige bereit stünden (BZ 28.2.2022). Der Einsatz von tschetschenischen Eliteeinheiten in der Ukraine wird von einigen Beobachtern als eine Art „psychologische Kriegsführung“ Russlands gewertet. Die tschetschenischen Kämpfer sind für ihre Brutalität berüchtigt und sollen wohl Angst in der ukrainischen Bevölkerung wecken. Das Bild des brutalen Tschetschenen ist ein gern gepflegtes Klischee nicht nur in Tschetschenien sondern auch von Russland selbst (Tagesspiegel 1.3.2022). [Anmerkung: Informationen zur Anzahl von Tschetschenen auf russischer Seite sind nicht verifizierbar].
Laut eines Berichts des Nachrichtenportals Moscow Times steigt die Zahl der Menschen, die Russland verlassen wollen, deutlich an. Doch vor allem Männer mit russischem Pass müssen dazu offenbar weitere Kontrollen über sich ergehen lassen. Wie die Moscow Times und das russischsprachige Portal MediaZona berichten, wurden etliche Personen an russischen Flughäfen aufgehalten und ihnen die Ausreise verweigert. Die Männer seien abgeführt und anschließend vom russischen Geheimdienst FSB verhört worden. Ein Mann berichtete, dass die Geheimdienstler dabei grob vorgegangen seien. Er soll als Anarchist und Landesverräter bezeichnet worden sein und dass er in die Ukraine müsste, um dort zu kämpfen (FR 3.3.2022)
Nach der ersten erfolglosen Gesprächsrunde am 28.2.2022 soll am 3.3.2022 ein zweiter offizieller Gesprächstermin über eine Waffenruhe stattfinden. Kurz vor mutmaßlichen neuen Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine erhebt der Kreml erneut schwere Vorwürfe gegen den Westen. Vizeaußenminister Sergej Rjabkow sagte, dass in den vergangenen Tagen eine beispiellose wirtschaftliche, politische und Informationsattacke gegen Russland vonstatten gegangen sei und dass der Westen „hemmungslos, wenn nicht gar wahnsinnig“ Waffen, Ausrüstung und Kommunikationsmittel in die Ukraine gepumpt habe. Russland werde den „Sondereinsatz“ im Nachbarland aber wie geplant durchführen (Merkur 3.3.2022).
Quellen:
● Arte.tv (26.2.2022): NGO: Bereits mehr als 3000 Festnahmen bei Anti-Kriegs-Demos in Russland , https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/ngo-bereits-mehr-als-3000-festnahmen-bei-anti-kriegs-demos-russland, Zugriff 3.3.2022
● BZ – Berliner Zeitung (28.2.2022): Putins Prätorianer: Tausende Kämpfer aus Tschetschenien wollen in die Ukraine, https://www.berliner-zeitung.de/welt-nationen/putins-praetorianer-tausende-kaempfer-aus-tschetschenien-wollen-in-die-ukraine-li.214162, Zugriff 3.3.2022
● FR – Frankfurter Rundschau (2.3.2022): Bereits 6440 Menschen bei Anti-Kriegs-Protesten in Russland festgenommen, https://www.fr.de/politik/news-ukraine-konflikt-russland-protest-demonstration-moskau-verhaftungen-widerstand-putin-zr-91377694.html, Zugriff 3.3.2022
● FR – Frankfurter Rundschau (3.3.2022): Ukraine-Krieg: Russland verhindert Ausreise eigener Bürger, https://www.fr.de/politik/news-ukraine-krieg-russland-wladimir-putin-verluste-militaer-strategie-artillerie-raketen-zr-91380231.html, Zugriff 3.3.2022
● Handelsblatt (3.3.2022): US-Luftraum jetzt für russische Flugzeuge gesperrt, https://www.handelsblatt.com/dpa/politik-us-luftraum-jetzt-fuer-russische-flugzeuge-gesperrt/28120498.html?ticket=ST-6575583-VXmjJunzUzHWK6i64iuZ-ap6, Zugriff 3.3.2022
● ORF.at (28.2.2022a): Luftraum für russische Flugzeuge EU-weit gesperrt, https://orf.at/stories/3249780/, Zugriff 3.3.2022
● Rat der EU (3.3.2022): Restriktive Maßnahmen der EU als Reaktion auf die Krise in der Ukraine, https://www.consilium.europa.eu/de/policies/sanctions/restrictive-measures-ukraine-crisis/, Zugriff 3.3.2022
● Spiegel (1.3.2022): Kadirow meldet Tod von Elitekämpfern in Ukraine, https://www.spiegel.de/ausland/tschetschenfuehrer-ramsan-kadirow-meldet-tod-von-elite-kaempfern-in-ukraine-a-e42fec22-b496-4357-a883-e8779370dc6f, Zugriff 3.3.2022
● Tagesschau (28.2.2022): Fast 6000 Festnahmen in Russland, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/russland-proteste-ukraine-festnahmen-101.html, Zugriff 3.3.2022
● Tagesschau (3.3.2022): Moskau beziffert erstmals Verluste, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-charkiw-akw-russland-105.html, Zugriff 3.3.2022
● Tagesspiegel (1.3.2022): Putins Tschetschenen-„Bluthund“ meldet erstmals eigene Tote, https://www.tagesspiegel.de/politik/propaganda-ueber-brutale-killer-kommandos-putins-tschetschenen-bluthund-meldet-erstmals-eigene-tote/28110910.html, Zugriff 3.3.2022
● Tagesspiegel (2.3.2022): Nawalny ruft zu Demonstrationen gegen Putins Krieg auf, https://www.tagesspiegel.de/politik/kaempft-fuer-den-frieden-nawalny-ruft-zu-demonstrationen-gegen-putins-krieg-auf/28116124.html, Zugriff 3.3.2022
● T-Online (2.3.2022): Beklemmende Aufnahmen: Kinder auf Friedensdemo festgenommen, https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91759156/ukraine-krieg-russische-polizei-verhaftet-kinder-auf-friedensdemonstration.html, Zugriff 3.3.2022
● ZDF (28.2.2022): Die Sanktionen gegen Russland im Überblick, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-die-sanktionen-gegen-russland-im-ueberblick-100.html, Zugriff 3.3.2022
● Zeit Online (2.3.2022): Mehrere Redakteure verlassen nach Drohungen Russland, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/russland-tv-sender-doschd-rain-redakteure, Zugriff 3.3.2022“
Aus unbedenklichen tagesaktuellen Medienberichten und Informationen ergibt sich ferner, dass sich die Kampfhandlungen im Russland-Ukraine-Krieg derzeit auf die Ukraine beschränken. Zwar dürfte die russische Wirtschaft infolge verschärfter Sanktionen der EU, USA und weiterer Staaten im laufenden Jahr noch einen Einbruch erleben, eine etwaig daraus resultierende besorgniserregende Versorgungslage der in Russland aufhältigen Bevölkerung hat sich bislang aber noch nicht bemerkbar gemacht.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Identität und zu den persönlichen Verhältnissen der BF:
2.1.1. BF1 vermochte zwar – abgesehen von der Kopie eines russischen Inländerpasses – keine Dokumente vorlegen, welche seine Identität zweifelsfrei belegen konnten, einer VISA-Abfrage zufolge reiste er aber mit einem tschechischen Schengenvisum legal in den Schengenraum ein. Da nicht davon auszugehen ist, dass die tschechische Botschaft BF1 ein Visum ausgestellt hätte, ohne zuvor seine Identität hinreichend zu prüfen, werden die im Spruch geführten Angaben zu seiner Person nicht in Abrede gestellt. Die Identität von BF2 und den minderjährigen BF3 bis BF5 konnte hingegen aufgrund deren in Original vorgelegten russischen Reisepässen festgestellt werden.
Dass BF1 und BF2 miteinander verheiratet sind, konnten sie ferner mittels Heiratsurkunde belegen und dass sie die Eltern der minderjährigen BF3 bis BF5 sind, lässt sich aus deren Geburtsurkunden entnehmen; all diese wurden in Original vorgelegt. Die Feststellungen zur Volksgruppenzugehörigkeit, zum Glauben und zu den Sprachkenntnissen beruhen weiters auf den Angaben von BF1 und BF2 im Zuge ihrer Einvernahmen in Zusammenschau mit dem von ihnen verwendeten Idiom der Sprache Russisch und ihren geographischen Kenntnissen.
Die Feststellungen zur Herkunft, schulischen/akademischen und beruflichen Laufbahn von BF1 und BF2 und ihrem gemeinsamen Wohnsitz vor Verlassen des Herkunftslandes basieren ebenso auf dem Vorbringen von BF1 und BF2; selbiges gilt für die Feststellung zu ihren früheren Eigentumsverhältnissen, der Bestreitung ihres (familiären) Lebensunterhaltes und der (nach wie vor) im Herkunftsland beheimateten Verwandtschaft; welche sich in Inguschetien aufhält.
2.1.2 Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF ergeben sich aus den im Zuge des (Beschwerde-)Verfahrens vorgelegten medizinischen Befunden.
Zuletzt legten die BF als Nachweis für Erkrankungen ein Konvolut an medizinischen Unterlagen vor, aus dem sich entnehmen lässt, dass BF1 an einem Tinnitus leidet und sich am 13.03.2020 wegen einer Nasenseptumdeviation hat operieren lassen. Darüber hinaus war er wegen Diagnose Cervicalsyndrom mit Verspannungen und Impingementsyndrom im Februar 2020 in physiotherapeutischer Behandlung.
BF2 kam am 15.06.2021 auf eigenem Wunsch in psychiatrische Behandlung, wobei eine andauernde Persönlichkeitsänderung wegen Extrembelastung diagnostiziert wurde. Als Therapie wurde eine psychotherapeutische Bearbeitung der traumatisierenden Vergangenheit empfohlen.
Die minderjährigen BF3 Bis BF5 betreffend wurden keinerlei medizinische Unterlagen in Vorlage gebracht.
Es liegen somit keine Hinweise dafür vor, dass die BF an schwerwiegenden lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden würden oder akut medizinische Eingriffe oder Operationen bedürften.
2.2. Zu den Fluchtgründen:
Die BF stützten ihr Fluchtvorbringen im Wesentlichen darauf, dass der Bruder von BF2 ein Veteran des ersten Tschetschenienkrieges sei. Dieser gelte seither zwar offiziell als verschollen, die russischen bzw. tschetschenischen Behörden würden aber weiterhin nach ihm suchen und den BF unterstellen, ihn zu unterstützen. Die BF würden sohin wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie eines Widerstandskämpfers und/oder damit einhergehender unterstellter politischer Gesinnung verfolgt werden.
Ihre Verfolgung habe sich konkret darin ausgedrückt, dass BF2 am 01.09.2016 von der Polizei zum Verhör geladen und den ganzen Tag in einer Zelle festgehalten worden sei, wo sie unter anderem auch vergewaltigt worden sei. Am 05.07.2017 sei ferner der Inländerpass des BF1 sichergestellt worden, am 10.07.2017 sei das Haus der BF angezündet worden und am 24.02.2018 bis 26.02.2018 sei BF1, nachdem er zuvor im Hause seiner Eltern in Inguschetien vom russischen Militär verhaftet worden sei, in einem Keller festgehalten und Opfer körperlicher Übergriffe geworden. Schließlich sei auch der Bruder des BF1 am 08.03.2018 während der Autofahrt erschossen worden, wobei vermutet werde, dass es sich um eine Verwechslung gehandelt habe; denn der Bruder von BF1 sei seinerzeit mit dem Fahrzeug des BF1 unterwegs gewesen.
Auch wenn das Fluchtvorbringen der BF im Kern gleichbleibend vorgebracht wurde, so war ihre Fluchtgeschichte im Detail und im Hinblick auf die obangeführten Länderfeststellungen von vielen Widersprüchen und Ungereimtheiten gezeichnet, weshalb das zur Entscheidung berufene Gericht die Ansicht vertritt, dass dieser kein Glauben geschenkt werden kann.
So ist mit Hinblick auf die aktuellen Länderfeststellungen zur Lage in der Russischen Föderation zunächst darauf hinzuweisen, dass in Tschetschenien zwar gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, rigoros vorgegangen wird. Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist allerdings nicht mehr auszugehen. Zudem lässt sich auch aus der in der Beschwerde von BF2 (und dort nur auszugsweise zitierten) Accord-Anfragebeantwortung zur Lage von Familienangehörigen von Kämpfern des ersten Tschetschenienkrieges entnehmen, dass das Risiko für Verwandte von Personen, die nur im ersten Tschetschenienkrieg gekämpft hätten relativ gering sei. Die sonstigen in den Beschwerden angeführten Berichte bezüglich anhaltender Verfolgung der Familienangehörigen von Widerstandskämpfern in Tschetschenien beziehen sich wiederum vorrangig auf aktive Aufständische und Regimekritiker und eben nicht auf ehemalige Kriegsveteranen bzw. deren Verwandten.
Dass sich der verschollene Bruder der BF2 nach dem ersten Tschetschenienkrieg einer Gruppe von (jihadistischen) Widerstandskämpfern angeschlossen hätte, ist reine Spekulation und es wird festgehalten, dass nicht einmal bekannt ist, ob dieser überhaupt noch am Leben ist. Im Übrigen handelte es sich bei diesem, den Angaben der BF zufolge, um einen Waffenlieferanten des früheren Präsidenten Dudaev und um einen einfachen Kämpfer, wohingegen eine politische Tätigkeit seiner Person explizit verneint wurde. Ein besonderes Interesse der russischen Sicherheitsbehörden am Auffinden seiner Person sowie an der Verfolgung seiner Familie war sohin nicht nachvollziehbar.
Aber vor allem auch der Umstand, dass sich zahlreiche Familienmitglieder der BF weiterhin im Herkunftsland aufhalten, ohne dort mit nennenswerten Problemen konfrontiert zu sein, kontraindiziert familienbezogene asylrelevante Schwierigkeiten der BF; dies insbesondere auch mit Hinblick auf das Spezifikum der tschetschenischen Kultur und des tschetschenischen Gewohnheitsrechts „Adat“, demnach grundsätzlich der nächste männliche Verwandte einer Person das klassische Ziel etwaiger familienbezogener Verfolgungshandlungen ist, was fallbezogen der zweite Bruder der BF2 gewesen wäre. Gerade dieser hält sich jedoch nach den Darstellungen der BF weiterhin in der Russischen Föderation auf, wo er als Geschäftsmann tätig ist.
Wenn dazu in der Beschwerde von BF1 eingewandt wurde, dass der zweite Bruder von BF2 aufgrund einer Heirat die Staatsangehörigkeit von Kasachstan innehabe und größtenteils auch in Kasachstan lebe, weshalb es auch nachvollziehbar wäre, dass BF1 und ihr Ehemann nunmehr Ziel der tschetschenischen Behörden wären, so ist es einerseits verwunderlich, dass BF2 bei ihrer behördlichen Einvernahme noch angab, dass dieser in Inguschetien aufhältig sei. Andererseits leuchtet es aber auch nicht ein, warum eine neue Staatsbürgerschaft dazu führen sollte, einer Verfolgung zu entkommen; insbesondere, wenn sich der Bruder doch zumindest geschäftlich öfters in Russland aufhalten soll.
Unverständlich ist zudem, warum die obangeführten Probleme der BF erst im September 2016 und somit zwanzig Jahre nachdem der gesuchte Bruder von BF2 verschollen sei, begonnen hätten. Die dazu angeführte Begründung des BF1, dass die Behörden im Spätsommer 2016 von einer ihm unbekannten Person darüber informiert worden wären, dass seine Familie gegenwärtig Kontakt zu seinem Schwager hätte und diesen unterstützen würden, vermochte jedenfalls nicht zu überzeugen, zumal aufgrund bereits dargelegter Überlegungen nicht nachvollziehbar ist, ob und warum die Behörden überhaupt ein nachhaltiges Interesse an dessen Auffinden gehabt hätten. Sonderbar erscheint ferner, warum BF1 nichts von einem zuvor dem Schwager angelasteten Terrorakt berichtete, so wie es seine Ehefrau, BF2, als Begründung für die plötzlich im Jahr 2016 eingetretenen Schwierigkeiten anführte, und BF2 ihrerseits zu keiner Zeit die vom BF1 erwähnten Anschwärzungen ihnen schlechtgesinnter Personen.
Überraschend ist aber auch, dass BF2 im Beschwerdeschriftsatz erstmals vorbrachte, dass das Hauptziel der russischen Sicherheitsbehörden eigentlich der Sohn des verschollenen Bruders von BF2 gewesen wäre und dass die BF den Neffen auch einmal bei sich zuhause versteckt gehalten hätten, woraufhin sogar das Haus der BF durchsucht worden wäre. Davor wurde von BF2 nicht einmal erwähnt, dass ihr verschollener Bruder überhaupt einen Sohn habe, und auch ihr Ehemann erachtete es offenbar zu keiner Zeit von Relevanz, von einem Neffen und/oder einer Hausdurchsuchung zu berichten. Festgehalten wird überdies, dass der (angebliche) Neffe von BF2 nach der behaupteten Hausdurchsuchung nach Inguschetien „geflohen“ sein soll. Zwar würden die BF keinen Kontakt mehr zu diesem haben, Hinweise dafür, dass ihm seither etwas zugestoßen wäre, liegen jedoch genauso wenig vor.
Zu einer ebenfalls erstmals in der Beschwerde behaupteten Verfolgung der BF aufgrund einer von BF1 selbst geübten Systemkritik, ist überdies anzumerken, dass BF1 zwar während seiner behördlichen Einvernahme vor dem BFA erklärte, in der Heimat nie davor zurückgeschreckt zu sein, seine Meinung geäußert, sowie bei der Wahl gegen Putin gestimmt zu haben. Die vom BFA am 15.02.2019 gestellte Frage, ob er wegen seiner politischen Überzeugung auch Probleme gehabt hätte, beantwortete er aber lediglich mit „Nur Kleinigkeiten in der Arbeit. Das ist aber nicht der Rede wert. (…)“. Insofern war die in der Beschwerde geäußerte Kritik, die Behörde hätte näher zur ablehnenden Haltung des BF1 gegenüber dem bestehenden System ermitteln müssen, nicht berechtigt. Aber auch in der Beschwerdeverhandlung wurde eine regimekritische Haltung seinerseits nicht näher dargelegt und es ist jedenfalls auch nicht bekannt, dass es sich bei ihm um einen regimekritischen Journalisten, Blogger oder etwa Demonstranten handeln würde.
Abgesehen davon, dass die Asylrelevanz demnach stark angezweifelt werden muss, hat sich aber auch das Fluchtvorbringen der BF insgesamt als nicht glaubhaft erwiesen; dies aufgrund folgender Umstände:
So ist zur Behauptung von BF1 und BF2, wonach die tschetschenischen Behörden am 10.07.2017 ihr Haus in Brand gesetzt hätten, festzuhalten, dass das Gericht im Zuge einer Google-Suchanfrage zu Brandstiftungen in Tschetschenien zufällig auf ein Foto gestoßen ist, welches mit dem von den BF als „Beweismittel“ für das behauptete Brandereignis vorgelegte Lichtbild (AZ 233) ident ist. Aus der im Internet zum besagten Bild angeführten Beschreibung geht jedoch hervor, dass dieses ein (durch Feuer) zerstörtes Haus einer Familie eines mutmaßlichen Aufständischen im Dorf Yandi in Tschetschenien, im Dezember 2014 abbildet (Brutales Vorgehen gegen Kritiker in der russischen Tschetschenischen Republik | HRW, zuletzt am 07.03.2022).
Das von BF1 vorgelegte Bild ist somit – entgegen der im Beschwerdeschriftsatz angeführten Argumentation – zweifelsfrei kein Indiz für den behaupteten Brandanschlag im Juli 2017. Vielmehr wurde durch die mutwillige Vorlage eines offensichtlich falschen Beweismittels seine Glaubwürdigkeit insgesamt stark getrübt.
Das Gericht geht demnach nicht davon aus, dass sich der behauptete Brandvorfall tatsächlich ereignet hat und es wird folglich auch das vorgelegte Schriftstück der Nachbarn, welches als Nachweis für den behaupteten Vorfall dienen sollte, als nichtig erklärt; unabhängig davon, dass das vorgelegte Schriftstück ohnehin von jeder Person erstellt und unterzeichnet worden sein konnte, und somit eine Überprüfung der Echtheit und Richtigkeit ohnedies nicht möglich und zweckmäßig gewesen wäre.
Zu den von BF1 vorgelegten Fotos, welche er als Beweis für seine am 24.02.2018 bis 26.02.2018 erfolgte Anhaltung und Folterung vorlegte, ist weiters festzuhalten, dass auf den Bildern zwar klar ersichtlich ist, dass ihm Verletzungen zugefügt wurden. Wann und insbesondere in welchem Zusammenhang er diese erlitten hat, lässt sich daraus aber nicht entnehmen. Auffällig war in diesem Kontext überdies, dass seine Frau, BF2, die ihrem Ehemann zugefügte Folter gänzlich unerwähnt ließ, obwohl ihr Ehemann während seiner behördlichen Einvernahme vor dem BFA anführte, bis zu seiner Einreise nach Österreich mit seiner Familie täglich kommuniziert zu haben.
Unerwähnt ließ BF2 aber auch, dass ihr Ehemann nach der behaupteten Anhaltung im Februar 2018 nach Georgien geflohen wäre, wo er sich, seinen Angaben nach, von 26.02 bis 07.09.2018 aufgehalten hätte. Vielmehr gab sie, vom BFA am 12.03.2018 explizit zum momentanen Aufenthaltsort ihres Mannes befragt, an, dass sich dieser gerade in Tschetschenien aufhalten würde; was folglich im klaren Widerspruch zu seinen Aussagen steht.
Bei den Aussagen zum verstorbenen Bruder von BF1, welcher am 08.03.2018 von Sicherheitsbehörden ermordet worden sei, stimmten BF1 und BF2 zwar wieder überein. Die von BF1 dazu vorgelegten Lichtbilder (auf denen lediglich der Grabstein und der Führerschein seines Bruders abgebildet ist) bieten allerdings wiederum kein Indiz dafür, dass sein Bruder überhaupt ermordet worden sei; und es wird an dieser Stelle erneut auf die Vorlage eines falschen Beweismittels in Zusammenhang mit dem behaupteten Brandereignis hingewiesen.
Zwar schließt das Gericht nicht aus, dass BF2 in Tschetschenien einmal Opfer einer Vergewaltigung wurde. Dass diese – wie von ihr im Rahmen ihrer Einvernahme vor dem BFA behauptet - in einem Zusammenhang mit einer Befragung zum gesuchten Bruder am 01.09.2016 durch vier Schwerverbrecher erfolgte, und ihr Mann am selben Abend nichts davon bemerkt haben soll, mutet jedoch merkwürdig an.
Hingewiesen wird ferner, dass BF2 während ihrer Ersteinvernahme in Österreich am 20.07.2017 noch ausführte, „ständig“ von den tschetschenischen Behörden zum Bruder befragt worden zu sein, während ihrer behördlichen Einvernahme vor dem BFA am 12.03.2018 aber nur von einer einzigen Befragung (jener im Sommer 2016, anlässlich welcher sie vergewaltigt worden sein soll) berichtete und im Beschwerdeschriftsatz und in der Beschwerdeverhandlung am 22.11.2022 jeweils von zwei Befragungen zum Bruder sprach.
Sofern BF1 behauptete, dass ihm im Rahmen einer Befragung zum gesuchten Schwager am 05.07.2017 sein Inländerpass in Ermangelung eines Reisepasses abgenommen worden wäre, um somit zumindest seine Bewegungsfreiheit im Inland einschränken zu können, so erscheint es nach Auffassung des Gerichts auch sonderbar, warum er seinerzeit als einziges Familienmitglied keinen Reisepass gehabt haben soll; wobei seinen Kindern erst am 20.10.2016 deren Reisepässe ausgestellt wurden. Hätten die Behörden die Ausreise der BF durch die Abnahme der Dokumente von BF1 verhindern wollen, hätte man zudem wohl kaum noch zuvor den Kindern entsprechende Reisepapiere ausgestellt, um diesen zu ermöglichen, das Land auf legalem Wege zu verlassen.
Im Übrigen klingt es auch wenig überzeugend, dass der Reisepass von BF1 auf die von ihm beschriebene Art und Weise abhandengekommen sein soll. Dass ihm das wichtige Dokument, welches er in einer kleinen Umhängetasche gemeinsam mit seinem Geld bei sich geführt haben soll, sodann in einem fremden Auto unbeaufsichtigt über Nacht zurückgelassen hätte, woraufhin ihm dieses gestohlen worden sei, ist bereits insofern anzuzweifeln, als eine derart naive Vorgehensweise nicht der allgemeinen Lebenserfahrung entspricht.
In Anbetracht all der genannten Überlegungen, steht somit für das Gericht fest, dass dem Fluchtvorbringen der BF kein Glauben geschenkt werden kann.
Ungeachtet dessen, wäre die BF betreffend aber jedenfalls von keiner gesamtstaatlichen Verfolgung auszugehen, zumal sie doch alle im Stande waren, ihr Heimatland auf legalem Wege, nämlich unter Verwendung russischer Reisepässe und der entsprechenden Einreiseberechtigungen, zu verlassen.
Auch wenn BF1 – wie später behauptet - seinen Reisepass nur mittels Bestechung und über einen Mittelsmann habe beschaffen können, wodurch die Ausstellung seines Passes von den russischen Behörden unbemerkt hätte bleiben können, so gelang es ihm jedenfalls, damit unbeschwert auszureisen, obwohl er – seinen Angaben zufolge - an der Grenze von russischen Grenzbeamten kontrolliert worden sei. Aber auch der Umstand, dass es BF1 gelang, vor seiner endgültigen Ausreise nach Russland friktionsfrei nach Georgien ein- und auszureisen und sich im Inland scheinbar unbeschwert zu bewegen, deutet auf keine gesamtstaatliche Verfolgung hin.
Von der Behörde damit konfrontiert, dass es merkwürdig anmutet, dass sämtliche BF unbeschwert aus Russland ausreisen hätten können, gab BF1 überdies auch im Widerspruch zu seiner früheren Behauptung, nämlich vom Geheimdienst Russlands (FSB) verfolgt zu werden, an, tatsächlich nur von einzelnen Beamten, nicht jedoch vom Staat verfolgt zu werden. Gerade dies würde aber ebenso dafürsprechen, dass sich BF1 und seine Familie in einem Landesteil Russlands niederlassen könnten, welcher außerhalb des Einflussbereiches von Kadyrow liegt; wie beispielsweise in Inguschetien, wo sich nach wie vor zahlreiche Familienmitglieder der BF aufhalten.
Sollten sie sich im Falle ihrer Rückkehr in ihre Heimat Tschetschenien somit dennoch vor – wie auch immer gearteten – Bedrohungen fürchten, so ist aufgrund soeben dargelegter Umstände jedenfalls anzunehmen, dass es ihnen alternativ möglich wäre, in anderen Teilen Russlands Schutz vor Verfolgung zu suchen.
Mit einer Niederlassung außerhalb Tschetscheniens könnten die BF überdies auch die im Beschwerdeschriftsatz von BF2 geäußerten Befürchtungen, eine sie betreffende Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen durch die Familie oder durch die tschetschenische Gemeinschaft aufgrund des allfällig erfolgten Übergriffes auf ihre sexuelle Integrität vermeiden; unabhängig davon, dass damit einhergehende Schwierigkeiten zu keiner Zeit substantiiert geltend gemacht worden wären.
2.3. Zu einer möglichen Rückkehr in den Herkunftsstaat:
Wie soeben dargelegt, haben die BF in der Russischen Föderation, respektive Tschetschenien, keine Verfolgung zu befürchten. Sonstige Gründe, die einer Rückkehr, entgegenstehen, wurden von ihnen nicht substantiiert vorgebracht und sind auch anhand der Länderfeststellungen (siehe 1.5.) nicht objektivierbar. Da sich die Kampfhandlungen in Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine derzeit auf das Gebiet der Ukraine beschränken, ist auch in diesem Kontext kein Rückkehrhindernis erkennbar.
Die Feststellung, wonach die Existenz der BF im Falle ihrer Rückkehr gesichert ist, erschließt sich aus ihren individuellen Umständen. BF1 und BF2 sind beide im erwerbsfähigem Alter und körperlich und mental soweit gesund, um einer Beschäftigung nachgehen zu können. Sie sprechen ferner die Landes- bzw. Amtssprachen, sie verfügen über gute Schuldbildung (BF1 sogar über zwei akademische Abschlüsse) und sie haben jeweils Berufserfahrung in unterschiedlichen Bereichen; was für die Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses zudem erleichternd ist. Ihre minderjährigen Kinder, BF3 bis BF5, sind auch keine Kleinkinder mehr und somit nicht auf die ständige Betreuung der Mutter angewiesen; vielmehr könnten die älteren beiden Söhne bald selbst zum (familiären) Unterhalt beitragen.
Abgesehen davon ist auf die zahlreichen nach wie vor im Heimatland aufhältigen Verwandten der BF zu verweisen, auf deren Hilfe die BF im Falle ihrer Rückkehr zurückgreifen könnten, bis sie für ihr Fortkommen (wieder) eigenständig aufzukommen vermögen. Den BF wäre demnach eine Rückkehr in ihr Herkunftsland möglich, wobei abgesehen von Tschetschenien, vor allem auch die Teilrepublik Inguschetien für eine Niederlassung in Betracht käme. Dort könnten sie sogar (vorübergehend) bei den Eltern von BF1 Unterkunft nehmen und es wird zudem auf die zahlreichen weiteren dort aufhältigen Familienmitglieder verwiesen. Letztlich wäre aber auch eine Niederlassung in den Großstädten Moskau oder St. Petersburg denkbar.
Dass die BF im Herkunftsstaat zudem Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung haben, ergibt sich weiters aus den Länderfeststellungen (siehe 1.5.).
Wenn auch in Russland eine wirtschaftlich schwierigere Situation als in Österreich besteht, so ist in einer Gesamtbetrachtung, unter Berücksichtigung der individuellen Situation der BF festzuhalten, dass von einer lebensbedrohenden Notlage im Herkunftsstaat, welche bei einer Rückkehr die reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung iSd Artikel 3, EMRK indizieren würde, aus Sicht des erkennenden Gerichtes jedenfalls nicht gesprochen werden kann.
2.4. Zum Privat- und Familienleben in Österreich:
Die Feststellungen hinsichtlich des Privat- und Familienlebens der BF in Österreich ergeben sich aus der Aktenlage, dem Beschwerdevorbringen, den vorgelegten Integrationsunterlagen und den im Rahmen der Beschwerdeverhandlung getätigten Angaben der BF. Des Weiteren wurde eine Abfrage des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters und des Zentralen Fremdenregisters durchgeführt.
Im Hinblick auf die Interessensabwägung zwischen ihren privaten und den öffentlichen Interessen wird insbesondere auf die nachfolgenden rechtlichen Ausführungen zu Spruchpunkt römisch III. – römisch IV. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl verwiesen.
2.5. Zur maßgeblichen Lage im Herkunftsstaat:
Die zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen Feststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts des bereits Ausgeführten im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der BF dar. Hinsichtlich der Feststellungen älteren Datums ist anzumerken, dass sich in Bezug auf gegenständliches Beschwerdevorbringen keine entscheidungswesentlichen Änderungen ergeben haben und sich die Lage in Russland in diesen Zusammenhängen im Wesentlichen unverändert darstellt.
Im Übrigen wird auf die beigefügte Kurzinformation der Staatendokumentation über die wichtigsten Ereignisse in der Russischen Föderation aufgrund des Angriffs auf die Ukraine vom 03.03.2022 verwiesen; sowie auf die Beobachtung unbedenklicher Medienberichte und Informationen.
a.) Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt römisch eins. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl – Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten
3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG, in der Fassung BGBL. römisch eins Nr. 87/2012, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention definiert, dass als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins,) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind (Paragraph 11, Absatz eins, AsylG).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen vergleiche VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472, mwN).
Unter „Verfolgung“ im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005 umschreibt „Verfolgung“ als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Artikel 9, Statusrichtlinie (RL 2011/95/EU). Darunter fallen einerseits Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15, Absatz 2, EMRK keine Abweichung zulässig ist (dazu gehören insbesondere das durch Artikel 2, EMRK geschützte Recht auf Leben und das in Artikel 3, EMRK niedergelegte Verbot der Folter; vergleiche z.B. VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/018, mwN) und andererseits Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 19.10.2000, 98/20/0233). Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein vergleiche VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche etwa VwGH 12.06.2018, Ra 2018/20/0177; 19.10.2017, Ra 2017/20/0069). Die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden ist grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden muss, ob der Asylwerber unter Berücksichtigung seiner besonderen Umstände in der Lage ist, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben vergleiche VwGH 30.08.2017, Ra 2017/18/0119).
Die Gefahr der Verfolgung im Sinne des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe vergleiche VwGH vom 10.12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der "Glaubhaft-machung" im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften im Sinne der ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der Beschwerdeführer die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, das heißt er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, Paragraph 45,, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden Verwaltungsgerichtes vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom Verwaltungsgericht nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2016, Ra 2018/19/0262; vergleiche auch VwGH 18.11.2015, Ra 2015/18/0237-0240, mwN). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
3.1.2. Wie beweiswürdigend dargelegt, war das Fluchtvorbringen von BF1 und BF2 gänzlich unglaubwürdig. Das Gericht geht demnach nicht davon aus, dass ihnen aufgrund ihres Angehörigenverhältnisses zum verschollenen Bruder von BF2, welcher sich im ersten Tschetschenienkrieg als Widerstandskämpfer beteiligt hatte, sowie der damit einhergehenden unterstellten politischen Gesinnung in der Heimat eine staatliche bzw. staatlich geduldete Verfolgung droht.
BF3 bis BF5 betreffend wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.
Den BF ist es demnach nicht gelungen eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in ihrem Herkunftsstaat darzulegen, weshalb die Beschwerde gegen die Spruchpunkte römisch eins. der gegenständlichen Bescheide als unbegründet abzuweisen ist.
3.2. Zu Spruchpunkt römisch II. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl – Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten
3.2.1.1. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Nach Paragraph 8, Absatz 2, AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, leg. cit. mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, leg. cit. zu verbinden.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Artikel 2, oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Artikel 2, oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat vergleiche etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0053, mwN).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen vergleiche VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, mwN insbesondere zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes).
Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Artikel 3, EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Artikel 3, EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen vergleiche VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht für sich betrachtet jedenfalls nicht aus, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können (VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309).
Es obliegt grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Artikel 3, EMRK widersprechende Behandlung drohen würde. Es reicht für den Asylwerber nicht aus, sich bloß auf eine allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu berufen (VwGH 25.04.2017, Ra 2017/01/0016; VwGH 25.04.2017, Ra 2016/01/0307; VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134).
3.2.1.2. Wie bereits in der rechtlichen Begründung zu Spruchpunkt römisch eins. erklärt, wurde das Fluchtvorbringen der BF gänzlich als unglaubwürdig erachtet. Das Gericht geht folglich nicht davon aus, dass ihnen in der Heimat Tschetschenien eine – wie auch immer geartete – Verfolgung droht und das Vorliegen einer sonstigen realen Gefahr einer Folter oder unmenschlichen Behandlung wurde von ihnen nicht substiiert vorgebracht.
Aber auch sonst haben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die BF nach ihrer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat einen erheblichen Schaden erleiden oder einer maßgeblichen Gefährdungssituation ausgesetzt sein könnten. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln in der Russischen Föderation, respektive Tschetschenien, ist ebenso gewährleistet wie die medizinische Grundversorgung und es sind auch keine Umstände amtsbekannt, wonach dort aktuell eine solche extreme Gefährdungslage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung iSd Artikel 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre, oder die Rückkehr für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. Die Kampfhandlungen in Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg beschränken sich derzeit auf das ukrainische Staatsgebiet und eine besorgniserregende Versorgungslage der russischen Bevölkerung etwa aufgrund wirtschaftlicher Sanktionen des Westens haben sich bis dato (noch) nicht bemerkbar gemacht.
Aufgrund der persönlichen Umstände der BF, gibt es auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sie in Russland, respektive Tschetschenien, in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (zb. Nahrung, Unterkunft) einer lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt wären. BF1 und BF2 wäre es somit sowohl in Tschetschenien, aber auch in anderen Teilen Russlands, möglich und zumutbar, den familiären Lebensunterhalt für sich und ihre drei minderjährigen Söhne ohne unbillige Härten zu erwirtschaften; und sie könnten im Bedarfsfall auch auf Unterstützungsleistungen ihrer Verwandtschaft, sowie auf staatliche Hilfsgelder zurückgreifen. Zudem können die BF durch die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe zumindest übergangsweise das Auslangen finden. Es ist daher nicht zu befürchten, dass sie bereits unmittelbar nach einer Rückkehr, noch bevor sie in der Lage wären, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten könnten.
3.2.2.1. Es hat auch kein Fremder das Recht in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden. Dies selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt, ist es unerheblich, ob die Behandlung dort nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Artikel 3, EMRK.
Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt vergleiche etwa VwGH vom 21. Februar 2017, Ra 2017/18/0008 bis 0009, unter Verweis auf das Urteil des EGMR vom 13. Dezember 2016, Nr. 41738/10, Paposhvili gegen Belgien).
3.2.2.2. Gegenständlich liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die BF an schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Krankheiten leiden würden und es ist im Hinblick auf die Erkenntnisquellen zur Lage im Herkunftsstaat und dem Amtswissen nach davon auszugehen, dass ihre medizinische Versorgung im Bedarfsfall auch in Russland, respektive Tschetschenien gewährleistet wäre. Eine Rückführung der BF in die Russische Föderation stellt folglich auch unter diesem Aspekt keine Verletzung nach Artikel 3, EMRK dar; dies auch im Hinblick auf die noch vorherrschende Covid-Pandemie.
Überdies ist festzuhalten, dass die österreichische Fremdenpolizeibehörde bei der Durchführung einer Abschiebung im Falle von bekannten Erkrankungen des Fremden durch geeignete Maßnahmen dem jeweiligen Gesundheitszustand Rechnung zu tragen hat. Insbesondere erhalten kranke Personen eine entsprechende Menge der benötigten verordneten Medikamente. Anlässlich einer Abschiebung werden von der Fremdenpolizeibehörde auch der aktuelle Gesundheitszustand und insbesondere die Transportfähigkeit beurteilt sowie gegebenenfalls bei gesundheitlichen Problemen entsprechende Maßnahmen gesetzt. Bei Vorliegen schwerer psychischer Erkrankungen und insbesondere bei Selbstmorddrohungen werden geeignete Vorkehrungen zur Verhinderung einer Gesundheitsschädigung getroffen vergleiche in diesem Sinne zuletzt VwGH 18.05.2018, Ra 2018/01/0189-7, mit Hinweis auf EuGH 16.02.2017, C.K. u.a./Slowenien, C-578/16 PPU).
3.2.3. In einer Gesamtbetrachtung ist folglich nicht zu erkennen, dass die BF im Fall ihrer Abschiebung nach Russland, respektive Tschetschenien in eine ausweglose Lebenssituation geraten und real Gefahr laufen würden, eine Verletzung ihrer durch Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.
Im Ergebnis ist daher auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch II. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
3.3. Zu den Spruchpunkten römisch III. bis römisch IV. der angefochtenen Bescheide – Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung:
3.3.1. Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 145 aus 2017,, ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und in den Fällen der Ziffer eins und 3 bis 5 des Paragraph 10, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt wird.
Gemäß Paragraph 57, Absatz eins, AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Absatz eins a, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht (Ziffer eins,), zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel (Ziffer 2,) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Ziffer 3,).
Die BF2 bis BF5 befinden sich seit Juli 2017 in Österreich. BF1 seit Oktober 2018. Ihr Aufenthalt ist nicht geduldet. Sie sind nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt geworden. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde auch nur behauptet wurde.
3.3.2. Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, FPG, hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und keine begünstigten Drittstaatsangehörigen. Es kommt ihnen auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher war gegenständlich gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 4, FPG grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung vorgesehen.
3.3.3.1 Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist (Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG).
Gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG ist bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Gemäß Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.
Gemäß Artikel 8, Absatz eins, EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs. Gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung - nunmehr Rückkehrentscheidung - nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Bei dieser Interessenabwägung sind - wie in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen vergleiche VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).
3.3.3.1.1. Was einen allfälligen Eingriff in das Familienleben der BF betrifft, lässt sich das Bundesverwaltungsgericht von nachstehenden Erwägungen leiten:
Vom Prüfungsumfang des Begriffs des „Familienlebens“ in Artikel 8, EMRK ist nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern umfasst, sondern zB auch Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben iSd Artikel 8, EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig.
Der Begriff des „Familienlebens“ in Artikel 8, EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus; die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind vergleiche etwa VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423; 08.06.2006, 2003/01/0600; 26.01.2006, 2002/20/0235).
Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Artikel 8, Absatz eins, EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt. Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden. Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und volljährigen Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinn von Artikel 8, Absatz eins, EMRK, solange nicht jede Bindung gelöst ist (EGMR 24.04.1996, Boughanemi, Appl. 22070/93 [Z33 und 35]). Für das Bestehen eines Familienlebens zwischen Eltern und Kindern im Sinn der Rechtsprechung des EGMR kommt es also nicht darauf an, dass ein „qualifiziertes und hinreichend stark ausgeprägtes Nahverhältnis“ besteht, sondern darauf, ob jede Verbindung gelöst wurde vergleiche VfGH 12.03.2014, U 1904/2013).
Durch die gemeinsame Ausweisung bzw. Rückkehrentscheidung betreffend eine Familie wird nicht in das Familienleben der Fremden eingegriffen (VwGH 18.03.2010, 2010/22/0013; 19.09.2012, 2012/220143; 19.12.2012, 2012/22/0221; vergleiche EGMR 09.10.2003, Fall Slivenko, NL 2003, 263).
BF1 und BF2 sind die Eltern der minderjährigen BF2 bis BF5. Das im Herkunftsstaat bestandene Familienleben wurde im Bundesgebiet fortgeführt. Es ist daher ein Familienleben iSd. Artikel 8, EMRK zwischen den BF zu bejahen. Die BF sind jedoch allesamt im gleichen Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen, sodass im Fall der gemeinsamen Rückkehr kein Eingriff in das zwischen ihnen bestehende Familienleben zu erkennen ist. Da die BF auch sonst keine schützenswerten familiären Verbindungen im Bundesgebiet haben, stellen die ihnen gegenüber ergehenden Rückkehrentscheidungen keinen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens dar.
Zur in Österreich aufhältigen (volljährigen) Cousine von BF2 wird angemerkt, dass BF2 erklärte, erst seit ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet mit dieser Kontakt zu pflegen. Ein gemeinsamer Haushalt oder wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis liegt ferner nicht vor. Es ist somit nicht anzunehmen, dass das Verhältnis zur Cousine das übliche Maß verwandtschaftlicher Beziehungen überschreitet.
3.3.3.1.2. Die aufenthaltsbeendende Maßnahme greift daher lediglich in das Privatleben der Beschwerdeführer ein:
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (Sisojeva u.a. v. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, in ÖJZ 2007, 852ff). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil – abseits familiärer Umstände – eine von Artikel 8, EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (Thym, EuGRZ 2006, 541). Der Verwaltungsgerichtshof geht in seinem Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/01/0479, davon aus, dass „der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren […] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte“. Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichthof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Artikel 8, EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt vergleiche etwa VwGH 25.4.2018, Ra 2018/18/0187; 6.9.2017, Ra 2017/20/0209; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072; 20.6.2017, Ra 2017/22/0037, jeweils mwN).
Außerdem ist nach der bisherigen Rechtsprechung auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist vergleiche VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216, mwH).
Die persönlichen Interessen nehmen zwar mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu, die bloße Aufenthaltsdauer allein ist jedoch nicht maßgeblich, sondern ist vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (VwGH 28.09.2020, Ra 2020/20/0348).
Bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, sind im Rahmen der Abwägung gemäß Paragraph 9, BFA-VG „die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder“, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden vergleiche VwGH 10.09.2021, Ra 2021/18/0158 bis 0163; VwGH 21.06.2021, Ra 2021/14/0096 bis 0100; VwGH 16.06.2021, Ra 2020/18/0457 bis 0460; VwGH 07.06.2021, Ra 2021/18/0176 bis 0180; VwGH 05.05.2021, Ra 2021/18/0050 bis 0053; VwGH 24.09.2019, Ra 2019/20/0274; VwGH 25.04.2019, Ra 2018/22/0251; VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt dem Umstand der Anpassungsfähigkeit sowohl Relevanz für die Interessenabwägung bzw. das dabei zu berücksichtigende Kindeswohl zu, er spielt allerdings auch bei der Beurteilung eine Rolle, ob Minderjährige einen Eingriff in ihr Privatleben durch eine gemeinsame Ausreise mit dem Obsorgeberechtigten hinzunehmen haben, weil dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Obsorgeberechtigten eine überragende Bedeutung zukommt vergleiche VwGH 25.04.2019, Ra 2018/22/0251).
Um von einem - für die Abwägungsentscheidung relevanten - Grad an Integration (Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 4, BFA-VG 2014) ausgehen zu können, muss sich die Minderjährige während ihrer Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet bereits soweit integriert haben, dass aus dem Blickwinkel des Kindeswohles mehr für den Verbleib im Bundesgebiet als für die Rückkehr in den Herkunftsstaat spricht, und dieses private Interesse mit dem öffentlichen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und damit des Zusammenhalts der Gesellschaft in Österreich korreliert. Aus der Sicht der Minderjährigen bedeutet dies vor allem, dass sie sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, ihre Aus- und/oder Weiterbildung entsprechend dem vorhandenen Bildungsangebot wahrnehmen und sich mit dem sozialen und kulturellen Leben in Österreich vertraut machen, um - je nach Alter fortschreitend - am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich teilnehmen zu können vergleiche VwGH 25.04.2019, Ra 2018/22/0251).
Unter dem Kriterium des Kindeswohls ist auch zu berücksichtigen, dass Kinder die gesamte bisherige Schullaufbahn (in der Dauer von mehr als acht bzw. neun Jahren) in Österreich absolvierten vergleiche VwGH 05.03.2021, Ra 2020/21/0428 bis 0431, und VfGH 10.03.2011, B 1565/10 ua). Der mehrjährige erfolgreiche Besuch einer höhen Schule ist nicht „neutral“ (also weder zu Gunsten noch zu Lasten des Minderjährigen) zu bewerten, sondern vielmehr im Kontext der Integrationsleistung zu sehen vergleiche VfGH 07.10.2014, U2459/2012).
Bei der Interessenabwägung nach Artikel 8, EMRK bzw Paragraph 9, BFA-VG 2014 ist das Kindeswohl zu berücksichtigen vergleiche VwGH 23.09.2020, Ra 2020/14/0175; 26.02.2020, Ra 2019/18/0456; 23.02.2017, Ra 2016/21/0235) und es ist eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl erforderlich vergleiche VwGH 10.09.2021, Ra 2021/18/0158 bis 0163; 11.01.2021, Ra 2020/01/0295; 18.11.2020, Ra 2020/14/0113; 06.10.2020, Ra 2019/19/0332; 19.06.2020, Ra 2019/19/0475; 28.11.2019, Ra 2019/19/0359 und 0360; 24.09.2019, Ra 2019/20/0274; 22.08.2019, Ra 2019/21/0128; sowie VfGH 24.11.2020, E 473/2020; 09.12.2020, E 2473/2020; 21.09.2020, E 738/2020; 03.10.2019, E 3456/2019; 12.06.2019, E 47/2019; 24.09.2018, E 1416/2018; 22.09.2014, U 2082/2013 ua).
Das „Kindeswohl“ ist ein Rechtsbegriff, der letztlich von den Behörden und Gerichten zu beurteilen ist. Paragraph 138, ABGB enthält eine nicht abschließende Aufzählung von für das Wohl des Kindes bedeutenden Aspekten, um in allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten unter anderem den Behörden und Gerichten Anhaltspunkte für die Beurteilung dieses Rechtsbegriffs zu bieten vergleiche VwGH 15.05.2019, Ra 2018/01/0076)
Paragraph 138, ABGB dient auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, als Orientierungsmaßstab vergleiche VwGH 29.09.2021, Ra 2021/01/0294 bis 0295; 14.12.2020, Ra 2020/20/0408; 23.09.2020, Ra 2020/14/0175; 30.04.2020, Ra 2019/21/0362 bis 0365; 24.09.2019, Ra 2019/20/0274). Insbesondere ist der Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder (Ziffer eins,), der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten (Ziffer 4,) sowie allgemein um die Frage ihrer Lebensverhältnisse (Ziffer 12,) nachzugehen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich überdies, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen ist (Ziffer 5,) und dass Beeinträchtigungen zu vermeiden sind, die Kinder durch die Um- und - 44 - Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten (Ziffer 6,). Ein weiteres Kriterium ist die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen (Ziffer 9,) vergleiche VwGH 30.04.2020, Ra 2019/21/0362 bis 0365). Die Berücksichtigung des Kindeswohls stellt im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen lediglich einen Aspekt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dar; das Kindeswohl ist daher bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen von Fremden nicht das einzig ausschlaggebende Kriterium. Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach Paragraph 9, BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab vergleiche VwGH 29.09.2021, Ra 2021/01/0294 bis 0295; 08.09.2021, Ra 2021/20/0166 bis 0170).
Allfällige ungünstigere Entwicklungsmöglichkeiten im Ausland begründen für sich allein noch keine Gefährdung des Kindeswohls, vor allem dann, wenn die Familie von dort stammt (OGH - 08.07.2003, Zl. 4 Ob 146/03d). Zudem gehören die Eltern und deren sozioökonomischen Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes (ibid.).
BF2 und die minderjährigen Kinder BF3 bis BF5 halten sich seit ihrer illegalen Einreise im Juli 2017 durchgehend in Österreich auf.
BF1 befindet sich seit Oktober 2018 im Bundesgebiet. Er reiste zwar legal mit einem tschechischen Visum in den Schengenraum ein. Nachdem dieses am 02.10.2018 seine Gültigkeit verlor, stellte er aber am selben Tag den letztlich unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz.
BF2 bis BF5 befinden sich demnach seit vier Jahren und 8 Monaten in Österreich und BF1 seit drei Jahren und 5 Monaten. Dass abgesehen von der Kernfamilie der BF sonstige Familienangehörigen oder Verwandte, zu welchen eine besonders enge Beziehung bestünde, im Bundesgebiet leben, wurde verneint, und ihrer Aufenthaltsdauer allein wird keine maßgebliche Bedeutung zugemessen.
Zwar ist den BF zugute zu halten, offensichtlich im guten Einvernehmen mit ihren Mitmenschen in Österreich zu leben und BF1 und BF2 haben sich auch bereits (wiederholt) ehrenamtlich engagiert. Eine tiefgreifende soziale Verankerung kann dadurch aber noch nicht erkannt werden und es ist überdies anzumerken, dass BF1 und BF2 jeweils nur über elementare Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen; dies obwohl es sich bei ihnen jeweils um Personen mit guter Schul- bzw. Berufsausbildung handelt, und es ihnen somit durchwegs zumutbar wäre, die deutsche Sprache bereits auf einem höheren Level zu beherrschen. Die BF leben ferner in einer Bundesbetreuungsstelle und sie beziehen Leistungen der Grundversorgung. BF1 und BF2 waren in Österreich auch zu keiner Zeit erwerbsfähig.
Von einer entscheidungsrelevanten im besonderen Maße erfolgten Integration in die österreichische Gesellschaft kann im gegenständlichen Fall somit nicht ausgegangen werden.
Abgesehen davon ist die Schutzwürdigkeit ihres Privatlebens in Österreich aufgrund des Umstandes, dass sie ihren Aufenthalt nur auf einen im Ergebnis nicht berechtigten Asylantrag gestützt haben, nur in sehr geringem Maße gegeben und dieser Umstand vermindert zusätzlich das Gewicht ihrer Integrationsschritte. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang auch nochmals das von BF1 vorgelegte falsche Beweismittel zum behaupteten Brandereignis.
Demgegenüber verfügen BF1 und BF2 nach wie vor über sehr starke Bindungen zum Herkunftsstaat, wo sie den überwiegenden Teil ihres Lebens verbracht haben. Sowohl BF1 als auch BF2 sind in Tschetschenien geboren und aufgewachsen. Sie haben dort die Schule bzw. BF1 sogar die Universität besucht und Berufserfahrung in unterschiedlichen Bereichen. Ihre Muttersprache ist Tschetschenisch und sie sprechen zudem auch Russisch. Sie sind demnach zweifelsfrei mit den kulturellen Gepflogenheiten ihres Herkunftslandes vertraut und es besteht somit auch kein Grund daran zu zweifeln, dass sie sich in die Gesellschaft des Herkunftsstaates wieder eingliedern werden können. In Inguschetien befinden sich überdies zahlreiche Verwandte.
Eine Rückkehr in den Herkunftsstaat wäre BF1 und BF2 demnach zumutbar und die erlassene Rückkehrentscheidung würde somit auch keinen unzulässigen Eingriff in ihr Privatleben darstellen.
Da BF3 bis BF5 noch Kinder bzw. Jugendliche sind, ist auf deren Wohlergehen gesondert einzugehen, wobei obzitierte Kriterien das Kindeswohl betreffend entsprechend zu berücksichtigen sind.
BF3 bis BF5 halten sich, ebenso wie ihre Mutter, BF2, seit vier Jahren und acht Monaten in Österreich auf. Sie sprechen gut deutsch, besuchen jeweils die Schule und in ihrer Freizeit den Ringerverein römisch 40 . Sie sind somit gut in Österreich integriert.
Da sie im gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern leben, besteht aber kein Zweifel daran, dass auch sie mit den kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten Tschetscheniens vertraut sind und es wird angemerkt, dass auch BF3 bis BF5 den Großteil ihres Lebens im Herkunftsland verbracht haben; zumal sie zum Zeitpunkt ihrer Einreise nach Österreich bereits dreizehn, elf und sieben Jahre alt gewesen sind.
Auch wenn nicht verkannt wird, dass ihr Aufenthalt im Bundesgebiet bei ihrem jungen Alter eine lange Zeit darstellt, die zudem in einem durchaus prägenden Lebensabschnitt stattgefunden hat, so ist in Anbetracht obiger Ausführungen aber nicht davon auszugehen, dass sie im Fall ihrer Rückkehr mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert wären.
Wenngleich minderjährigen Kindern der unsichere Aufenthaltsstatus nicht vorzuwerfen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (VwGH 28.2.2020, Ra 2019/14/0545; VwGH 7.3.2019, Ra 2019/21/0044, VfGH 10.3.2011, B1565/10). Die Existenz der minderjährigen BF3 bis BF5 ist aber durch ihre Eltern, BF1 und BF2, gesichert und eine Rückkehr in ihren Herkunftsstaat steht in Anbetracht der aufgezeigten Umstände, sowie insbesondere des weiteren Zusammenlebens im Familienverband, auch nicht ihrem Kindeswohl entscheidungsmaßgeblich entgegen. Dass die Lebensverhältnisse für minderjährige Kinder in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien allgemein unzumutbar wären, wurde im Übrigen von den BF nicht substantiiert behauptet und es kann dies vor dem Hintergrund der zitierten Länderberichte und auch aktueller medialer Beobachtungen nicht objektiviert werden.
Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8, Absatz 2, EMRK) ein hoher Stellenwert zu (zB VwGH 16.01.2001, 2000/18/0251).
Die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften manifestieren, sowie darin, dass das Asylrecht (und die mit der Einbringung eines Asylantrags verbundene vorläufige Aufenthaltsberechtigung) nicht zur Umgehung der allgemeinen Regelungen eines geordneten Zuwanderungswesens dienen darf, wiegen – unter Berücksichtigung der soeben dargelegten Gründe - schwerer als die Interessen der BF am Verbleib in Österreich.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass es den BF bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen des FPG bzw. NAG auch nicht verwehrt wäre, wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren (so auch VfSlg. 19.086/2010 unter Hinweis auf Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, in ÖJZ 2007, 861);
Nach Maßgabe einer Interessenabwägung im Sinne des Paragraph 9, BFA-VG ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl somit zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes der BF im Bundesgebiet ihr persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Artikel 8, EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
Im Ergebnis ist daher auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch III. und römisch IV der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
3.4. Zu Spruchpunkt römisch fünf. der angefochtenen Bescheide:
Mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung ist gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG 2005 gleichzeitig festzustellen, dass die Abschiebung gemäß Paragraph 46, leg.cit. in einen bestimmten Staat zulässig ist.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß Paragraph 50, Absatz eins, FPG 2005 unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 EMRK oder das 6. bzw. 13. ZPEMRK verletzt würden oder für den Betroffenen als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes verbunden wäre. Dies entspricht dem Tatbestand des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wird mit der vorliegenden Entscheidung verneint.
Die Abschiebung in einen Staat ist gemäß Paragraph 50, Absatz 2, FPG 2005 unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort das Leben des Betroffenen oder seine Freiheit aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder persönlichen Ansichten bedroht wäre, es sei denn, es bestünde eine innerstaatliche Fluchtalternative. Dies entspricht dem Tatbestand des Paragraph 3, AsylG 2005. Das Vorliegen eines dementsprechenden Sachverhaltes wird mit der vorliegenden Entscheidung ebenso verneint.
Die Abschiebung ist schließlich nach Paragraph 50, Absatz 3, FPG 2005 unzulässig, solange ihr die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht. Eine derartige Empfehlung besteht für die die Russische Föderation (derzeit) nicht.
Die Abschiebung der BF in die Russische Föderation ist daher zulässig.
Somit waren auch die Beschwerden gegen die Spruchpunkte römisch fünf. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
3.5. Zu Spruchpunkt römisch VI. der angefochtenen Bescheide:
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, leg. cit. zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, leg. cit. 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, jene Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist zur freiwilligen Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden (Paragraph 55, Absatz 3, leg. cit.).
Da derartige Umstände von den BF nicht behauptet wurden und auch im Ermittlungsverfahren nicht hervorgekommen sind, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt.
Im Ergebnis waren somit auch die Beschwerden gegen Spruchpunkt römisch VI. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung. Des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.
ECLI:AT:BVWG:2022:W196.2195656.1.00