Bundesverwaltungsgericht
01.03.2022
L531 2249122-1
L531 2249122-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Anita MAYRHOFER über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA: Türkei, vertreten durch Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes
für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2021, römisch 40 , zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte infolge seiner unrechtmäßigen schlepperunterstützten Einreise in das Bundesgebiet am 18.07.2021 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am folgenden Tag, gab der Beschwerdeführer an, den Namen römisch 40 zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am römisch 40 in römisch 40 geboren, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und bekenne sich zum Islam. Der Beschwerdeführer sei ledig und habe zuletzt in römisch 40 gewohnt. Dessen Vater und zwei Brüder seien alle in der Türkei wohnhaft; die Mutter sei bereits vorverstorben. Er habe zehn Jahre die Grundschule besucht und war zuletzt als Dönerkoch und Bauarbeiter tätig.
Zu seinen Ausreisegründen befragt gab er Folgendes an: "In der Türkei gibt es eine (gemeint wohl: keine) Arbeit, ich bin auf der Suche nach einer Arbeit. Sonst habe ich keine weiteren Fluchtgründe.“
Die Frage nach konkreten Rückkehrbefürchgungen verneinte der Beschwerdeführer.
In Vorlage gebracht wurde ein originaler türkischer Personalausweis, Nr. römisch 40 , gültig bis: römisch 40 2031.
3. In der Folge wurde ein Konsultationsverfahren mit Rumänien gemäß der Dublin III-Verordnung geführt, welches negativ verlief.
4. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 04.11.2021 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden kurz: BFA) im Beisein eines geeigneten Dolmetschers vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter niederschriftlich einvernommen. Zu den Fluchtgründen befragt, gab dieser - im Wesentlichen - an, er sei Kurde und werde als solcher schlecht behandelt. Der Umstand, dass seine Eltern geschieden seien, habe noch mehr Probleme verursacht. Er sei zwar kein Mitglied einer Partei gewesen, wie beispielsweise der HDP, habe aber trotzdem immer wieder Probleme bekommen. Seine Mutter sei krank gewesen und im Krankenhaus schlecht behandelt worden, da sie nur kurdisch gesprochen habe. Man habe sie nicht untersuchen wollen und ihr keine Medikamente gegeben, da sie Kurdin sei. 2017 sei sie verstorben. Der Chef des Restaurants, in dem er beschäftig gewesen sei, habe Kurden gehasst und ihn schlecht behandelt. Er habe seine Meinung nicht äußern dürfen, bis es ihm irgendwann mal zu viel geworden sei und er es getan habe. Er sei zu einem Streit gekommen und er sei gekündigt worden. Nach dem Tod seiner Mutter habe er beschlossen, die Türkei zu verlassen, da er dort keine Zukunft sehe. Im Falle der Rückkehr befürchte er, dass die Polizei ihn nach den Gründen der Ausreise fragen werde. Eigentlich habe er ursprünglich nach Deutschland reisen wollen, sei aber in Wien erwischt worden und hier geblieben.
Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer einen Arbeitsvertrag unter aufschiebender Wirkung des Restaurants " römisch 40 " für eine Vollzeitanstellung als Schankhilfe und Küchenhilfe vom 02.11.2021 vor.
5. Mit Schreiben vom 04.11.2021 wurde das BFA um Berichtigung des Geburtsdatums von römisch 40 auf römisch 40 ersucht.
6. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2021, ZI. 1281001401/210977128, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch eins.), sowie der Antrag gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.). Dem Beschwerdeführer wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem Paragraph 52, Absatz 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch VI.), im Wesentlichen mit der Begründung mangelnder Asylrelevanz des Fluchtvorbringens.
7. Gegen den dem Beschwerdeführer am 16.11.2021 zugestellten Bescheid des BFA richtet sich die im Wege der ihm beigegebenen und von ihm bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In der rechtszeitig eingelangten Beschwerde wird die inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlichen Beurteilung, sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften behauptet und begehrt, den angefochtenen Bescheid – allenfalls nach Verfahrensergänzung – zur Gänze zu beheben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten, oder hilfsweise den des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, sowie festzustellen, dass die erlassene Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig und ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8, EMRK zu erteilen sei. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und begehrt, die ordentliche Revision zuzulassen. Beantragt wird ferner die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Der Beschwerdeführer beanstandete, dass die von der belangten Behörde getroffenen Länderfeststellungen zur derzeitigen Situation der Kurden mangelhaft, da unvollständig seien und werden aus diesem Grund in der Beschwerdeschrift mehrere Auszüge aus weiteren Berichten zitiert. Ferner sei die Beweiswürdigung unzutreffend, zumal die belangte Behörde bei korrekter Auswertung des Vorbringens und der Länderberichte zu dem Schluss gekommen wäre, dass dem Beschwerdeführer als Kurde u.a oppositionelle Gesinnung und Unterstützung des Terrorismus vorgeworden worden sei. In rechtlicher Hinsicht wird vorgebracht, dass das mangelhafte Ermittlungsverfahren zu einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung des Fluchtvorbringens der Beschwerdeführer geführt habe, sodass bei richtiger Betrachtung der Beschwerdeführer in der Türkei sehr wohl asylrelevanter Verfolgung von staatlicher Seite wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden beziehungsweise wegen der unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung in der Türkei ausgesetzt sei. Es wurde aus diversen Berichten, insbesondere dem von der belangten Behörde herangezogenen Länderinformationsbericht zitiert
Im Rückkehrfall sei eine ernsthafte Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens gegeben. Die Rückkehrentscheidung greife schließlich in unberechtigter Weise in den Schutzbereich des Artikel 8, EMRK, zumal der Beschwerdeführer um eine Integration bemüht sei und bereits einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag vorgelegt habe, der ihm eine sofortige Selbsterhaltungsfähigkeit ermöglichen würde.
8. Am 09.12.2021 wurde die Beschwerde unter Anschluss des Verfahrensaktes dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge am 03.01.2022 der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch 40 , er ist Staatsangehöriger der Türkei und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Der Beschwerdeführer ist Moslem und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er spricht Kurdisch/Kurmanji als Muttersprache, ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde am römisch 40 in römisch 40 geboren, wo er zehn Jahre lang die Grundschule besuchte. Zuletzt war er als Oberkellner in einem Restaurant tätig und hat Berufserfahrung als Dönerkoch und Bauarbeiter.
Die Mutter des Beschwerdeführers ist bereits verstorben. Sein Vater und seine zwei Brüder leben nach wie vor in der Türkei.
Vor seiner Ausreise lebte der Beschwerdeführer in seiner Eigentumswohnung in römisch 40 . Seine Familie verfügt über ein familieneigenes Haus und ein Auto.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig, gesund und nimmt keine Medikamente.
Er ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer hat die Türkei aus wirtschaftlichen Gründen und dem Wunsch nach Arbeitsfindung in Deutschland verlassen.
Der Beschwerdeführer gehörte in seinem Herkunftsstaat keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und war vor seiner Ausreise keiner individuellen Verfolgung oder sonstiger Gefährdung durch staatliche Organe oder Privatpersonen aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit, seines islamisch-sunnitischen Religionsbekenntnisses oder einer unterstellten oppositionellen Gesinnung ausgesetzt und wird im Falle einer Rückkehr in seine Herkunftsregion einer solchen auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein.
Auch hatte er vor seiner Ausreise keine Probleme mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.
Er hat auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit einer individuellen Gefährdung aufgrund einer Asylantragstellung oder seines Aufenthaltes in Europa zu rechnen.
Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge oder eine mangelnde existenzielle Lebensgrunlage in der Türkei.
1.3. Zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer hält sich zumindest seit seiner Asylantragstellung am 18.07.2021 im Bundesgebiet auf. Er reiste rechtswidrig in das Bundesgebiet ein und ist seither durchgehend im Bundesgebiet aufhältig. Er verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer bezieht seit der Antragstellung Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und war im Bundesgebiet nicht legal erwerbstätig. Er verfügt über einen Arbeitsvertrag unter aufschiebender Wirkung des Restaurants " römisch 40 " für eine Vollzeitanstellung als Schankhilfe und Küchenhilfe.
Aktuell besucht der Beschwerdeführer einen Deutschkurs im Heim; eine Deutschprüfung hat er nicht absolviert, wenngleich er bereits über Deutschkenntnisse verfügt. Sonstige Kurse oder Ausbildungen hat er ebenso wenig absolviert. Der Beschwerdeführer ist weder ehrenamtlich tätig, noch ist er Mitglied in einem Verein oder ein er Organisation.
Darüber hinaus pflegt der Beschwerdeführer übliche soziale Kontakte zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis. Im Bundesgebiet halten sich keine Verwandten des Beschwerdeführers auf; auch unterhält er keine Beziehung.
1.4. Zur gegenwärtigen Lage im Herkunftsstaat Türkei
Zur aktuellen Lage in der Türkei war unter Heranziehung der gegenüber dem Beschwerdeführer seitens der belangten Behörde im Zuge der Einvernahme am 04.11.2021 offengelegten Quellen nachstehendes festzustellen:
COVID-19
Letzte Änderung: 16.05.2021
Am 11.3.2020 verkündete der türkische Gesundheitsminister, Fahrettin Koca, die Nachricht vom tags zuvor ersten bestätigten Corona-Fall (FNS 16.3.2020; vgl.DS 11.3.2020). Nach den ersten vier Monaten des Jahres 2021 verzeichnete das Land 40.000 Corona-Tote bei offiziell annähernd 4,9 Mio. Infizierten. Bis Jahresende 2020 waren es rund 2,2 Mio Fälle und cirka 21.000 Tote. Das heißt innert der ersten vier Monate des Jahres 2021 haben sich beide Werte fast verdoppelt (JHU 3.5.2021). Mit Stand 5.5.2021 waren laut Angaben des Gesundheitsministeriums 14,25 Mio. Menschen, bei einer Bevölkerung von 85 Mio., mit einer ersten Dosis des Impfstoffs geimpft, während 9,82 Millionen eine zweite Dosis erhalten haben. Somit waren offiziell 25% der Einwohner zumindest einmal geimpft (Ahval 5.5.2021).
Am 25.11.2020 erklärte Gesundheitsminister Koca, dass nunmehr alle positiv auf COVID-19 getesteten Personen in die Statistik aufgenommen werden. Ende Juli 2020 hatte das Gesundheitsministerium nämlich damit begonnen, die CoronaInfektionszahlen anzupassen, indem nur noch diejenigen, die tatsächlich Symptome entwickelten und einer Behandlung bedurften, statistisch gemeldet wurden. Dadurch blieben die offiziellen Zahlen in der Türkei im internationalen Vergleich niedrig. Auf diese Weise seien nach Medienberichten bis Ende Oktober 2020 bis zu 350.000 Corona-Infektionen verschwiegen worden (BAMF 30.11.2020).
Beginnend mit 1.12.2020 war ein Lockdown in Kraft getreten, welcher u.a. unter der Woche eine nächtliche und an den Wochenenden eine totale Ausgangssperre vorsah. Eingeführt wurde der sogenannte HES (Hayat Eve Sigar) - Code, ein behördlich verliehener elektronischer Schlüssel, mittels welchem der momentane Status der jeweiligen Person in Hinblick auf Corona verfolgt und überprüft werden kann. Er dient z.B. als Zutrittsvoraussetzung zu Ämtern oder eben Einkaufszentren (WKO 21.1.2021).
Nachdem es durch strenge Maßnahmen gelang, die zweite Corona-Welle im Jänner etwas unter Kontrolle zu bringen, folgten ab 1.3.2021 Lockerungen, die die Regierung als "Normalisierungsprozess" bezeichnete (DW 3.4.2021). Davon abgesehen, ermächtigte die Regierung die Provinzbehörden, lokale Quarantänen und Ausgangssperren auf der Grundlage von epidemiologischen Daten zu verhängen (Garda World 1.3.2021). Doch seit den Lockerungen stiegen die Corona-Infektionen explosionsartig. Opposition und Ärzte gaben der Regierung die Schuld, wonach letztere mehrfach fahrlässig gehandelt hätte. Besonders der Türkische Ärztebund (TTB) rüttelte stets an der Glaubwürdigkeit der türkischen Regierung und ihrem Corona-Krisenmanagement (DW 3.4.2021). Der TTB verlangte Ende März 2021 angesichts der rasant steigenden Fallzahlen, u.a. die Mobilität auf stark frequentierten Straßen in den Städten ebenso einzuschränken wie Massenkontakte zwischen Menschen in geschlossenen Räumen. Zudem forderte der Ärzteverband von der Regierung mehr Transparenz hinsichtlich der COVID-19-Zahlen, des Impfprogramms sowie der Anwendung der Klassifizierungskritierien für die Provinzen (Reuters 26.3.2021).
Am 13.4.2021 wurde zunächst ein Teil-Lockdown wieder eingeführt, welcher eine verlängerte abendliche Ausgangssperre an Wochentagen, eine Rückkehr zum Online-Unterricht und ein Verbot von unnötigen Überlandfahrten beinhaltete (AP 18.4.2021). Die Bewohner mussten während der Ausgangssperre in ihren Häusern bleiben, außer zwecks Verrichtung einer wichtigen Arbeit oder aus dringenden medizinischen Gründen. Alle Veranstaltungen wie Hochzeiten und persönliche Feiern wurden bis zum 12.5.2021 ausgesetzt (Garda World 13.4.2021). Angesichts von täglichen Fallzahlen von über 60.000 bei über 300 Toten wurde überdies eine Ausgangssperre am Wochenende in Risikostädten, wie Istanbul oder Ankara, verhängt (Ahval 21.4.2021). Zuvor hatte Präsident Erdoğan auch wieder Wochenendsperren verhängt und die Schließung von Restaurants und Cafés während des heiligen muslimischen Monats Ramadan angeordnet (AP 18.4.2021).
Angesichts der steigenden Fall- und Todeszahlen wurde am 26.4.2021 ein fast dreiwöchiger verschärfter Lockdown, beginnend mit 29.4.2021, verkündet (AP 27.4.2021). Bis 17.5.2021 besteht (bestand) landesweit ein generelles Ausgangsverbot. Nebst Mindestabstand gilt an allen Orten, wo sich mehrere Menschen befinden, insbesondere auf Märkten und in Geschäften, Maskenpflicht. Einkäufe dürfen nur montags bis samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr in Gehnähe und zu Fuß, nicht mit dem PKW, durchgeführt werden. Gastronomische Stätten haben nur für Lieferservice geöffnet. Einzelhandel, körpernahe Berufe ebenso wie Kinos, Bäder etc, bleiben geschlossen. Versammlungen und Hochzeiten sind verboten. Schulen und Kindergärten bleiben für den Präsenzunterricht geschlossen (WKÖ 27.4.2021; vergleiche Garda World 27.4.2021). Allerdings wurden Millionen von Menschen von diesem ersten landesweiten Lockddown ausgenommen. Dazu gehörten neben Mitarbeitern des Gesundheitssektors und Vollzugsbeamten auch Fabrik- und Landwirtschaftsarbeiter sowie Mitarbeiter von Lieferketten und Logistikunternehmen. Auch Touristen waren ausgenommen. Schätzungen gingen davon aus, dass bis zu 16 Mio. der 84 Mio. Einwohner während des Lockdowns trotzdem unterwegs sein würden (AP 30.4.2021).
Quellen:
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Ahval (21.4.2021): Turkey registers record COVID-19 death toll of 362, over 60,000 new cases, https://ahvalnews.com/pandemic/turkeyregisters-record-covid-19-death-toll-362-over-60000-new-cases, Zugriff
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AP – Associated Press (30.4.2021): Despite 3-week lockdown, many remain on the move in Turkey, https://apnews.com/article/middle-easteurope-turkey-religion-coronavirus-
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AP – Associated Press (27.4.2021): Full COVID-19 lockdown adds to financial strain in Turkey, https://apnews.com/article/istanbul-receptayyip-erdogan-arts-and-entertainment-lifestyle-health-
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AP – Associated Press (18.4.2021): Turkey reports record daily number of COVID-19 deaths, https://apnews.com/article/general-news-healthreligion-turkey-51616e9efa1032384fa2282efc499261, Zugriff 21.4.2021
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DS – Daily Sabah (11.3.2020): Turkey remains firm, calm as first coronavirus case confirmed, https://www.dailysabah.com/turkey/turkeyremains-firm-calm-as-first-coronavirus-case-confirmed/news, Zugriff
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DW – Deutsche Welle (3.4.2021): Die dritte Corona-Welle überrollt die
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FNS – Friedrich-Naumann-Stiftung (16.3.2020): Türkei Bulletin 52020, http://shop.freiheit.org/download/P2@876/248113/05-2020T%C3%Bcrkei-Bulletin.pdf, Zugriff 30.12.2020
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Garda World (1.3.2021): Turkey: Authorities ease certain COVID-19related domestic restrictions as of March 1 /update
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Politische Lage
Letzte Änderung: 05.05.2021
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Artikel 2, ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten (EC 29.5.2019).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats
(Kabinetts) übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Artikel ,). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9).
Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichenderGarantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, dieEinschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchlicheAuslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZE-Mitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vergleiche HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistischsekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative İyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem İmamoğlu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vergleiche Standard 23.6.2019). İmamoğlu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Yıldırım, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdoğan bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die Großstädte Adana, Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für İmamoğlu betonte (NZZ 23.6.2019).
Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).
Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember
2020), im Falle von Selahattin Demirtaş trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlioğlu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vergleiche AAN 17.3.2021) Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).
PACE beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend Parlamentarier der Opposition sind von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum die Parlamentarier der HDP mehrheitlich betroffen sind. Auf letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der "Kobane-Proteste" im Oktober 2014 rechnen müssen. In der Besorgnis, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Oppositionsmandataren zur Routine wird, forderte PACE daher die türkischen Behörden auf, die gerichtlichen Schikanen gegen Parlamentarier zu beenden und von der Einleitung zahlreicher Verfahren zur unzulässigen Aufhebung ihrer Immunität abzusehen, die die Ausübung ihres politischen Mandats ernsthaft behindern (PACE 22.4.2021, S.2f.).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist(NZZ 18.7.2018; vergleiche ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von "Treuhändern" anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert.
Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der
Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vergleiche bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).
[siehe auch die Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen, Sicherheitsbehörden, Opposition und Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 05.05.2021
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die "Terrorbekämpfung" und die Sicherung "nationaler Interessen" hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vergleiche SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak verstärkt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK-Kämpfern und den Sicherheitskräften (EDA 28.4.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte führen groß angelegte Operationen und Strassencheckpoints durch, bei denen es auch zu Risiken für anwesende Zivilpersonen kommen kann. Auch bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften kann es zu Todesopfern und Verletzten kommen (EDA 28.4.2021). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020). Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (İHD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (İHD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (İHD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (İHD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe über 5.300 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis April 2021. Im Jahr 2020 wurden 366 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wurden 56 Tote gezählt (ICG 4.5.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 28.4.2021). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbakır, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, Şırnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Mardin, Batman, Bitlis, Bingöl, Siirt, Muş, Tunceli, Şırnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mit Ausgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (USDOS 30.3.2021, S.25; vergleiche AA 28.4.2021).
Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbakır und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und Aǧrı (AA 28.4.2021).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).
Quellen:
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SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begannin-suruc-1.3316595, Zugriff 19.10.2020
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USDOS – United States Department of State [USA] (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019 – Chapter 1 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032441.html, Zugriff 19.10.2020
Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Letzte Änderung: 06.05.2021
Fethullah Gülen, muslimischer Prediger und charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war, wird von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung betrachtet (Dohrn 27.2.2017). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wird, der einen toleranten Islam fördert, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt (BBC 21.7.2016), und als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wird, beschreiben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt (Dohrn 27.2.2017). Vor dem Putschversuch vom Juli 2016 schätzten internationale Beobachter die Zahl der Gülen-Mitglieder in der Türkei auf mehrere Millionen (DFAT 10.9.2020).
Erdoğan stand Gülen jahrzehntelang nahe. Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politische Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und welche die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Das Bündnis zwischen Erdoğan und Gülen begann aufzuweichen, als die Gülenisten in Polizei und Justiz zu unabhängig wurden. Das Klima verschärfte sich, als Gülen selbst Erdoğan für seinen Umgang mit den Protesten im Gezi-Park im Jahr 2013 kritisierte. Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Untersuchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016).
Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen an sich unterwandert zu haben (AA 24.8.2020). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspendieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung hat ferner, unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung, Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet (AA 24.8.2020).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Türkische Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die GülenBewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Im Juni 2017 definierte das Oberste Berufungsgericht (auch Appellationsgericht genannt), i.e. das Kassationsgericht (türk. Yargıtay), die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 2.2018; vergleiche Sabah 17.6.2017).
Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als "Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)", "Fetullahistische Terror Organisation", tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung "Devlet Yapılanması (PDY)", die "Parallele Staatsstruktur" bedeutet (UKHO 2.2018; vergleiche AA 24.8.2020). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vergleiche Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016).
Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden - die Zahlen variieren - über 20.300 Armeeangehörige, darunter 150 der 326 Generäle und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte, mehr als 33.000 Polizeibeamte und mehr als 5.000 Akademiker entlassen. Über 540.000
Personen wurden (zeitweise) festgenommen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren geschlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete wurden entlassen (EC 6.10.2020; vergleiche SCF 5.10.2020).
Nach Angaben des türkischen Innenministers, Süleyman Soylu, vom 20.2.2021 wurden seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 gegen 622.646 Personen Ermittlungen durchgeführt. Rund 302.000 Personen wurden verhaftet und 96.000 weitere ins Gefängnis gesteckt. Gegenwärtig (Stand Februar 2021) befänden sich laut Minister noch 25.467 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung im Gefängnis (SCF 4.3.2021).
Laut Staatspräsident Erdoğan sind die staatlichen Institutionen noch nicht vollständig von Mitgliedern der "FETÖ" befreit (Ahval 10.4.2019). Die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung dauert an (ÖB 10.2020; vergleiche AA 24.8.2020, EC 6.10.2020). Zwar wurde der größte Teil der Gülen-Aktivisten verhaftet und verurteilt, doch kommt es weiterhin zu Festnahmen, insbesondere unter Lehrkräften, Soldaten und Polizisten (ÖB 10.2020). Verhaftungen von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern, wie beispielsweise auf der Informationsplattform NewTurkey aufgelistet, finden im Schnitt wöchentlich statt, wobei es mehrere größere Verhaftungswellen gab (NewTurkey 21.10.2020). Mitte Jänner 2020 erließen die Behörden Haftbefehle gegen 237 Personen. Im Zuge von Polizeioperationen in 49 Provinzen wurden mindestens 203 Verdächtige festgenommen (DS 14.1.2020). Anfang März 2020 wurden Haftbefehle gegen 115 Verdächtige in mehreren Städten erlassen. Betroffen waren Lehrer, Geschäftsleute, Anwälte sowie ehemalige Polizisten (TM 4.3.2020). Während mehrtägiger landesweiter Großrazzien wurden in den ersten Juni-Tagen des Jahres 2020 rund 160 Menschen, größtenteils Militärs wegen vermeintlicher Verbindungen zum Putschversuch von 2016 verhaftet (DW 8.6.2020; vergleiche DS 16.6.2020, ZO 9.6.2020). Ende August 2020 vermeldeten die Behörden die Festnahme von über hundert weiteren vermeintlichen Gülen Mitgliedern (DS 1.9.2020). Während in der zweiten September-Hälfte wieder Militärangehörige, diesmal über 90, verhaftet wurden (DS 20.9.2020), nahmen die Sicherheitsorgane Anfang desselben Monats auch 30 Studentinnen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung fest (TM 3.9.2020) sowie zwei Wochen später 47 Rechtsanwälte, weil diese angeblich durch ihre Rechtsberatung Gülen Mitglieder unterstützt hätten (AM 16.9.2020) [hierzu siehe auch Kapitel:
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen]. Der Oktober 2020 verzeichnete mehrere Operationen, bei denen vermeintliche Gülen-Anhänger festgenommen wurden. Die größte war Mitte des Monats. Bei der Suche nach 167 Verdächtigen nahm die Polizei am 13.10.2020 in zwei Operationen in insgesamt 41 Provinzen 142 Personen fest. Betroffen waren insbesondere die Luftwaffe und die Küstenwache (CNN 13.10.2020; vergleiche DS 13.10.2020). Anfang Dezember 2020 wurden landesweit, insbesondere in Izmir, fast 150 Offiziere von Polizei und Armee festgenommen (DS 1.12.2020), eine Woche später gefolgt von mindestens 266 Festnahmen von Armee-Angehörigen auf der Basis von fast 400 Haftbefehlen in 50 Provinzen (Anadolu 8.12.2020). Die zweite JännerHäfte 2021 verzeichnete zwei große Operationen. Am 19.1.2021 wurden im ganzen Land und Nordzypern 210 Verdächtige (DS 19.1.2021) und wenige Tage später 83 weitere vermeintliche Gülen-Mitglieder festgenommen (DS 26.1.2021), darunter waren in beiden Fällen auch wieder zahlreiche Militär- und Polizeioffiziere (DS 19.1.2021; DS 26.1.2021). In der dritten Märzwoche 2021 nahmen türkische Sicherheitskräfte bei Operationen in 53 Provinzen und Nordzypern 203 Soldaten wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung fest (Anadolu 23.3.2021). Am letzten Märztag und Anfang April 2021 wurden gegen 258 Personen wegen Verbindungen zur Gülenbewegung Haftbefehle erlassen, darunter aktive, pensionierte und entlassene Militäroffiziere, ehemalige Militärkadetten und entlassene Polizeibeamte. Am 31.3.2021 waren bereits 54 der Gesuchten festgenommen (SCF 2.4.2021). Auf Veranlassung der Staatsanwaltschaften in Istanbul und Izmir wurden am 26.4.2021 bei Razzien in 62 Provinzen und Nordzypern 400 von 532 Verdächtigten festgenommen, darunter Miliär- und Gendarmarieangehörige aller Ränge (DS 26.4.2021).
Mit Stand 9.4.2021 waren laut einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu insgesamt 4.820 Putschverdächtige verurteilt. 1.626 erhielten eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen, 1.373 weitere müssen eine gewöhnliche lebenslange Haft verbüßen und 1.821 wurden zu unterschiedlich langen Gefängnisstrafen verurteilt (TM 10.4.2021). Ende Juni 2020, beispielsweise, verurteile ein Gericht in Ankara von 245 Angeklagten im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch 86 Angeklagte zu lebenslangen Haftstrafen unter verschärften Haftbedingungen, 35 weitere Angeklagte wurden zu einer regulären lebenslangen Haftstrafe verurteilt (DW 26.6.2020; vergleiche MEE 26.6.2020). Am 26.11.2020 endete einer der bislang größten Prozesse gegen 475 vermeintliche Gülen-Mitglieder, denen eine direkte Teilnahme am Putschversuch vorgeworfen wurde. 337 Angeklagte wurden unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" zu lebenslangen Haftstrafen, in der Mehrheit zu verschärften Bedingungen, verurteilt. Ein kleinerer Teil erhielt kürzere Haftstrafen. 75 Personen wurden freigesprochen (FAZ 26.11.2020; DS 26.11.2020). Am 30.12.2020 erfolgten die Urteile im letzten Massenprozess gegen Gülen-Mitglieder des Jahres 2020. Von 132 Angeklagten wurden 92 zu lebenslangen Haftstrafen, darunter zwölf unter verschärften Bedingungen, wegen ihrer Aktivitäten als Mitglieder der Armee im Zuge des Putschversuches verurteilt. 22 Menschen erhielten wegen Beihilfe zum Umsturzversuch zwischen 12,5 und 19 Jahren Gefängnis. Weitere Urteile ergingen wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und wegen versuchten Mordes. Neun Soldaten sind freigesprochen worden (Anadolu 30.12.2020; vergleiche ZO 30.12.2020). Am 7.4.2021 wurden nach knapp 250 Verhandlungstagen die Urteile gegen 497 Angeklagte verkündet. In 38 Fällen verhängte das Gericht in Ankara lebenslange Haftstrafen, davon 6 unter erschwerten Bedingungen. Hierzu zählten vor allem jene Offiziere, die in der Putschnacht den Staatssender TRT besetzten und die Verlesung einer Erklärung erzwangen. 106 weitere Personen müssen bis zu 16 Jahre ins Gefängnis. 121 wurden freigesprochen und gegen 231 verhängte das Gericht keine Strafen (DW 7.4.2021; vergleiche AP 7.4.2021, DPA 7.4.2021). Somit waren von den 289 Prozessen hernach noch 14 ausständig (DPA 7.4.2021).
Die Kriterien für die Feststellung der Anhänger- bzw. Mitgliedschaft sind hierbei recht vage. Türkische Behörden und Gerichte ordnen Personen nicht nur dann als Terroristen ein, wenn diese tatsächlich aktives Mitglied der Gülen-Bewegung sind, sondern auch dann, wenn diese beispielsweise lediglich persönliche Beziehungen zu Mitgliedern der Bewegung unterhalten, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht haben oder im Besitz von Schriften Gülens sind (AA 24.8.2020). Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöpfende "Liste von sechzehn Kriterien", die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als "Terroristen" bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, "die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden" (JWF 1.2019). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Nutzen der verschlüsselten KommunikationsApp "ByLock"; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten "parallelen Struktur"; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordneten Wohltätigkeitsorganisationen (AA 24.8.2020; vergleiche JWF 1.2019), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes "Kimse Yok Mu" (JWF 1.2019); der Besuch der Gülen-Bewegung zugeordneter Schulen durch die eigenen Kinder; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive
Beschäftigungsverhältnis; Teilnahme an religiösen Versammlungen der GülenBewegung (AA 24.8.2020; vergleiche JWF 1.2019). Weitere Kriterien sind u.a. die Unterstützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.2019). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 24.8.2020). Der Kassationsgerichtshof entschied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten noch seine Einschreibung eines Kindes in einer Gülen-Schule als Beweis dienen kann, dass die Person in terroristische Aktivitäten verwickelt oder Mitglied einer terroristischen Vereinigung war (SCF 6.8.2019). Die Strafverfolgungsbehörden wenden zur Identifizierung vermeintlicher GülenMitglieder eine Überwachungs-Software an, die anhand von 78 Haupt- und 253 Sekondärkriterien Verdächtigte ausfindig macht, der sog. "FETÖ-Meter". Dazu gehören etwa Daten über den Bildungswerdegang, die Verwandtschaft und den Vermögensstand. Verdächtige Kritierien sind beispielsweise der Dienst in einer NATO-Vertretung im Ausland oder ein Doktorat. Bei Militärangehörigen gilt die eigene Hochzeit außerhalb von Gebäuden im Besitz des Militärs als Verdachtsmoment, weil unterstellt wird, dass dies der Verschleierung der Identitäten der Hochzeitsgäste diente (TM 5.3.2021). Das FETÖ-Meter sammelte zu Beginn insbesondere nachrichtendienstliche Daten aus allen Bereichen der Armee sowie aus Ministerien und Behörden, um mögliche, aus der Sicht der Behörden, Infiltratoren aufzuspüren. Die Ermittler untersuchten mit dem Tool auch etwa 1 Million Handynummern, die auf ehemalige und noch dienende Marineoffiziere registriert waren, und fanden angeblich heraus, dass 1.500 von ihnen Nutzer der verschlüsselten Messaging-App "ByLock" waren. Ebenso wurden die Kontoinformationen von Offizieren bei der inzwischen aufgelösten Bank Asya zur Identifizierung verwendet [Zu ByLock und Bank Asya siehe die nächsten Absätze] (DS 12.9.2018). Der FETÖ-Meter inspirierte auch andere staatliche Stellen zu einer ähnlichen Politik, wie die Sozialversicherungsanstalt (SGK), die seit vier Jahren mutmaßliche Gülen-Sympathisanten in ihrer Datenbank mit dem "Code 36" kennzeichnet. Die Kennzeichnung ist automatisch für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar, was zu Befürchtungen bei denjenigen führt, die erwägen, eine dieser Personen einzustellen (TM 5.3.2021).
ByLock
ByLock ist eine Handy-Applikation zur verschlüsselten, sicheren Kommunikation. Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis darstellt, um die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung festzustellen. Im Oktober 2017 urteilte dasselbe Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend mit einer Mitgliedschaft ist, und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Allerdings urteilte der Verfassungsgerichtshof im Juni 2020 anlässlich eines Beschwerdeverfahrens, dass die Benutzung von ByLock als ausreichender Beweis für die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung gilt (Ahval 27.6.2020).
Laut Innenministerium wurden (Stand September 2019) mehr als 95.000 Nutzer identifiziert und zudem 4.676 neue ByLock Nutzer entdeckt (DS 11.9.2019). Auch 2020 kam es diesbezüglich zu Verhaftungen. Im März 2020 wurden aufgrund der Verwendung von ByLock sieben Personen verhaftet (DS 11.3.2020): Anfang Juli 2020 wurden in der Region um Izmir 19 und im Verlaufe desselben Monats auf Anweisung der Staatsanwaltschaft Ankara zwölf weitere wegen Verwendung der App verhaftet (DS 21.7.2020). Am 12.9.2020 wurden 26 Personen infolge eines Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Istanbul gegen 51 Personen wegen der Verwendung von ByLock verhaftet (Anadolu 12.9.2020), und Ende September erließ die Staatsanwaltschaft Ankara Haftbefehle gegen 15 Verdächtige, denen vorgeworfen wurde, ByLock verwendet zu haben (Anadolu 29.9.2020). Anfang Dezember wurden zwölf Personen, aufgrund von Aussagen ehemaliger Mitglieder der Gülen-Bewegung in Ankara unter dem gleichen Vorwand hinhaftiert (DS 1.12.2020). Im Jänner 2021 ordnete die Staatsanwaltschaft von Konya die Festnahme von 17 Verdächtigen in einem Untersuchungsverfahren wegen der Verwendung von ByLock an. 13 bereits Festgenommene sollen via ByLock Anordnungen von höher gestellten Mitgliedern der Gülen-Bewegung an niedere Ränge weitergeleitet haben (DS 26.1.2021).
Die Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen zur willkürlichen Inhaftierung gab im Oktober 2019 eine Stellungnahme ab, wonach die Nutzung von ByLock unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fällt. Solange die türkischen Behörden nicht offen erklären würden, wie die
Verwendung von ByLock einer kriminellen Aktivität gleichkommt, wären Verhaftungen aufgrund der Benutzung von ByLock willkürlich (TM 15.10.2019; vergleiche UN-HRC 18.9.2019). Die Arbeitsgruppe bedauerte zudem, dass ihre Ansichten in vormaligen Stellungnahmen zu Fällen, die nach dem gleichen Muster abgelaufen waren, seitens der türkischen Behörden keine Berücksichtigung gefunden hatten (UN-HRC 18.9.2019).
Asya Bank
Die von Gülen-Anhängern betriebene und getragene "Bank Asya" kam nach dem gescheiterten Putschversuch zunehmend unter Druck und wurde ab 22.7.2016 gänzlich unter Verwaltung des Staates gestellt. Mit dem Bankengesetz Nr. 5411 wurde der Bank die Betriebserlaubnis vollständig entzogen. Eine Kontoeröffnung ist seither nicht mehr möglich. Bis zum 22.7.2016 hatten neben Gülen nahestehenden Beamten vor allem Geschäftsleute und einige Privatpersonen Konten bei der Asya- Bank. In vielen Fällen reichte es, über ein Konto bei dieser Bank zu verfügen, um wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung angeklagt zu werden. Viele Angeklagte wurden jedoch nicht verurteilt, wenn keine weiteren Indizien vorlagen (ÖB 10.2020).
Das Kassationsgericht entschied 2018, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt hatten, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018; vergleiche TP 16.2.2019). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden der Bank Asya waren (TM 30.5.2018). Im September 2019 ordneten Staatsanwälte die Festnahme von 35 Personen an, die beschuldigt wurden, die Messenger-App ByLock verwendet und gleichzeitig Geld in der Asya Katılım Bank deponiert zu haben (DS 18.9.2019). [Mehr zu Verurteilungen siehe Kapitel: Rechtsschutz/Justizwesen.]
Gülen-Schulen
Die Gülen-Bewegung betrieb einst Schulen rund um den Globus (BBC 21.7.2016). Die Schließung der Schulen stellt die Gülen-Bewegung vor große Herausforderungen, da sie eine wichtige Rolle bei der Finanzierung und der Anwerbung neuer Anhänger spielten. Um den Zugang des türkischen Staates zu verhindern, erklärten sich viele Schulen nicht mehr als türkische, sondern als lokale Institutionen. Durch eine Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Anreizen hat die Türkei versucht, die Gastländer davon zu überzeugen, die Gülen-Schulen, Schülerwohnheime und Universitäten an die türkische Maarif-Stiftung zu übergeben (NZZ 14.2.2020), oder auf der Basis von bilateralen Abkommen mit den jeweiligen Ländern zu schließen bzw. anderen Eigentümern zu übertragen (SCF 5.2.2019; vergleiche DS 31.7.2018). Laut dem Leiter der Stiftung, Birol Akgün, wurden bislang 216 Gülen-Schulen in 44 Ländern übernommen (TM 23.3.2021). Wann immer die Interventionen der türkischen Regierung, die Gülen-Schulen zu schließen, sich nicht als erfolgreich erweisen, strebt sie über die Maarif-Stiftung die Eröffnung eigener Schulen an. Bislang hat die Maarif-Stiftung etwa 100 Schulen selbst gegründet (NZZ 14.2.2020).
Verfolgung im Ausland: Auslieferungsanträge und Entführungen
Über 100 mutmaßliche Mitglieder der Gülen-Bewegung wurden laut türkischem Außenminister vom Geheimdienst (MİT) im Ausland entführt und im Rahmen der globalen Fahndung der Regierung in die Türkei zurückgebracht (SCF 16.7.2018) Laut Justizminister Abdülhamit Gül waren es Ende März 2019 107 (Anadolu 27.3.2019). Demnach seien Menschen aus Malaysia, Pakistan, Kasachstan, dem Kosovo, Moldawien, Aserbaidschan, Ukraine, Gabun und Myanmar von der türkischen Regierung entführt worden. Ein weiterer Versuch in der Mongolei sei von der mongolischen Polizei im Juli 2018 verhindert worden (Welt 15.9.2019). Der türkische Nachrichtendienst MİT als Hauptakteur organisierte verdeckte Operationen, um hauptsächlich Personen mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu entführen und in die Türkei zu bringen, manchmal in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden des Landes und in einigen anderen Fällen, ohne sich überhaupt die Mühe zu machen, diese zu informieren. Etliche Regierungen unterstützten die türkische Seite, indem sie selbst die Verfolgung bzw. Auslieferung von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern in ihren jeweiligen Ländern durchführten (AST 9.2020). So lieferte die Ukraine Anfang Jänner 2021 zwei hochrangige Mitglieder der Gülenbewegung, die zuvor im Irak tätig waren, an Ankara aus. Menschenrechtsaktivisten verurteilten den Schritt als illegale Überstellung ohne ordentliches Verfahren (AM 6.1.2021). Mitte Februar 2021 wurden im Rahmen einer Operation des MİT in Usbekistan zwei angebliche Gülen-Mitglieder in die Türkei verbracht (DS 15.2.2021).
Das Amt für Auslands-Türken (YTB) sowie die Türkische Agentur für Kooperation und Koordination (TİKA) sind ebenfalls aktiv an den verdeckten Geheimdienstoperationen in aller Welt beteiligt gewesen. Auch die Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) spielt eine Rolle, unter den Auslandstürken Regierungskritiker ausfindig zu machen. Nicht zuletzt sammeln staatlich finanzierte private Denkfabriken und Organisationen wie die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten (UETD) und die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) Informationen über Regierungskritiker [Anm.: nicht nur über Gülen-Mitglieder] (AST 9.2020).
Die Türkei hat nach dem Putschversuch von 2016 die Auslieferung von insgesamt 807 Putschverdächtigen aus 105 Ländern beantragt, doch keine dieser Nationen ist den Forderungen Ankaras nachgekommen (HDN 15.7.2020). Das Ministerium hat auch bei Interpol die Ausstellung einer sogenannten Red Notice für 555 Verdächtige beantragt (TM 21.2.2020), wobei 2019 keinem der damaligen die Gülen-Bewegung betreffenden 462 Red Notice-Anträge seitens Interpol nachgekommen wurde (DW 7.11.2019).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl- _und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 29.10.2020
Ahval (27.6.2020): Turkey’s top court rules messaging app as evidence for terror links, https://ahvalnews.com/bylock/turkeys-top-court-rulesmessaging-app-evidence-terror-links, Zugriff 30.10.2020
Ahval (10.4.2019): Turkey’s state institutions not fully purged of Gülenists, says Erdoğan, https://ahvalnews.com/gulenmovement/turkeys-state-institutions-not-fully-purged-gulenists-sayserdogan, Zugriff 2.11.2020
AM – Al Monitor (6.1.2021): Ukraine deports suspected Gulen supporters to Turkey, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2021/01/turkeyukraine-deport-suspected-gulen-supporters-fidan-gure.html, Zugriff 11.1.2021
AM – Al Monitor (16.9.2020): Rights advocates decry mass detention of Turkish lawyers, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/09/turkey-human-rights-lawyersmass-detention.html, Zugriff 30.10.2020
Anadolu – Anadolu Agency (23.3.2021): Turkey: 203 soldiers arrested over suspected FETO links, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-203soldiers-arrested-over-suspected-feto-links/2184819, Zugriff 26.3.2021
Anadolu – Anadolu Agency (30.12.2020): Turkey: 132 verdicts in major FETO terrorism case, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-132verdicts-in-major-feto-terrorism-case/2093839, Zugriff 11.1.2020
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Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Letzte Änderung: 07.05.2021
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt (ÖB 10.2020).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2020). Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 7.2020) 2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni
2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2020). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen.
Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren.
Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2020).
Die International Crisis Group verzeichnet mit Stand 25.3.2021 3.265 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 "neutralisierten" PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Besonders stark betroffen waren die südöstlichen Provinzen: Hakkari, Şırnak, Sur, Diyarbakır sowie die zentralöstliche Provinz Tunceli (Dersim) (ICG 25.3.2021).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den GuerillaEinheiten der PKK in den südost-anatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 7.2020; vergleiche ICG 25.3.2021).
Bei einer der größten Anti-Terror-Operationen in 42 Provinzen wurden Ende November 2020 laut Innenministerium mindestens 641 vermeintliche PKKMitglieder festgenommen (Anadolu 28.11.2020). Bis Anfang Dezember hatten 218 PKK-Mitglieder durch die Überzeugungsarbeit der Behörden laut Innenministerium freiwillig ihre Waffen niedergelegt bzw. sich gestellt (Anadolu 3.12.2020).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vergleiche Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 10.2020).
Quellen:
Anadolu – Anadolu Agency (3.12.2020): 218 terrorists surrendered to Turkish forces in 2020, https://www.aa.com.tr/en/turkey/218-terroristssurrendered-to-turkish-forces-in-2020/2064008, Zugriff 3.12.2010
Anadolu – Anadolu Agency (28.11.2020): Suspects rounded up in 42 provinces during 2-day operations, says Interior Ministry, https://www.aa.com.tr/en/turkey/over-640-pkk-terrorsuspects-nabbed-across-turkey/2059291, 3.12.2020
BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (7.2020): Verfassungsschutzbericht 2019, https://www.verfassungsschutz.de/download/vsbericht-2019.pdf, Zugriff 3.11.2020
BMI-D – Bundesministerium des Innern/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/downloadmanager/_vsbericht-2015.pdf, Zugriff 3.11.2020
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/countryinformation-report-turkey.pdf, Zugriff 2.11.2020
Duvar (15.2.2021): Turkey announces sweeping roundup of 718 people, including HDP officials, after Iraq killings, https://www.duvarenglish.com/turkey-announces-sweepingroundup-of-718-people-including-hdp-officials-after-iraq-killings-news56261, Zugriff 19.2.2021
DW – Deutsche Welle (15.2.2021): Türkei nimmt Hunderte wegen angeblicher PKK-Kontakte fest, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkeinimmt-hunderte-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-fest/a-56575099, Zugriff 19.2.2021
ICG – International Crisis Group (25.3.2021): Turkey's PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkkconflict-visual-explainer, Zugriff 23.4.2021
NM – Nordic Monitor (11.4.2020): Over 12,000 killed or wounded during Turkey’s security operations in Kurdish areas in 2015- 2016, https://www.nordicmonitor.com/2020/04/more-than-twelvethousand-people-were-killed-or-wounded-during-turkeys-securityoperations-in-2015-2016/, Zugriff 10.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
Standard – Der Standard (15.2.2021): Türkei ließ in prokurdischen Kreisen über 700 Menschen festnehmen, https://www.derstandard.at/story/2000124178508/tuerkisc he-menschenrechtsanwaeltin-eren-keskin-zu-langer-haft-verurteilt, Zugriff 19.1.2021
Terroristische Gruppierungen: TAK – Teyrêbazên Azadiya Kurdistan
(Freiheitsfalken Kurdistans)
Letzte Änderung: 07.05.2021
Während ihre Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) undurchsichtig bleiben und Gegenstand von Debatten unter Analysten sind, sind die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) am besten als halb-autonome Stellvertreter der PKK zu verstehen, die auf Distanz operieren (CTC 7.2016). Die TAK wurden Berichten zufolge 1999 von PKK-Führern gegründet, nachdem der PKKGründer, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war. Im Jahr 2004 beschuldigten die TAK die PKK jedoch des Pazifismus und spalteten sich öffentlich von der PKK ab. Die TAK sollen aus jungen städtischen Rekruten bestehen. Seit 2004 haben sie mehr als ein Dutzend tödlicher Angriffe im ganzen Land verübt, darunter der Beschuss eines türkischen Militärkonvois im Februar 2016 in Ankara und die Bombenanschläge vom Dezember 2016 vor einem Sportstadion in Istanbul. Die türkische Regierung bestreitet die Trennung von TAK und PKK und behauptet, die TAK seien ein terroristischer Stellvertreter ihrer Mutterorganisation, der PKK. Sicherheitsanalysten zufolge sind die TAK mit der PKK durch die ideologische Doktrin, militärische Ausbildung, Rekrutierung und die Lieferung von Waffen verbunden, allerdings koordinieren und führen sie selbstständig Angriffe durch. Die TAK wurden von den USA, der Türkei und der EU als terroristische Organisation eingestuft (CEP 21.4.2020). Im Juli 2020 wurden drei Mitglieder wegen des Anschlages in Istanbul vom 7.6.2016, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen, zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen verurteilt (DS 13.7.2020).
Die TAK gelten als eine extrem geheime Organisation, deren Mitgliederzahl unbekannt ist. Laut Personen, die der PKK nahestehen, operieren die TAK in isolierten Zwei- bis Drei-Mann-Zellen, die zwar ideologisch der PKK folgen, jedoch unabhängig von dieser handeln (AM 29.2.2016).
Quellen:
CEP – Counter Extremism Project (21.4.2020): Turkey: Extremism & Counter- Extremism, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/coun try_pdf/TR-04212020.pdf, Zugriff 3.11.2020
CTC – Combating Terrorism Center [Gurcan, Metin] (7.2016): The Kurdistan Freedom Falcons: A Profile of the Arm's-Length Proxy of the Kurdistan Workers' Party, https://ctc.usma.edu/the-kurdistan-freedomfalcons-a-profile-of-the-arms-length-proxy-of-the-kurdistan-workersparty/, Zugriff 3.11.2020
DS – Daily Sabah (13.7.2020): 3 PKK terrorists sentenced to life over 2016 Istanbul bombing, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/3pkk-terrorists-sentenced-to-life-over-2016-istanbul-bombing, Zugriff 22.4.2021
AM – Al Monitor (29.2.2016): Who is TAK and why did it attack Ankara? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/02/turkeyoutlawed-tak-will-not-deviate-line-of-ocalan.html, Zugriff 3.11.2020
Terroristische Gruppierungen: MLKP – Marksist Leninist Komünist Parti
(Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei)
Letzte Änderung: 16.05.2021
Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) ist 1994 im Wesentlichen durch die Vereinigung der TKPML-Hareketi und der "Türkischen Kommunistischen Arbeiterbewegung" (TKIH) in der Türkei gegründet worden. Sie bekennt sich ideologisch zum revolutionären Marxismus-Leninismus. Sie strebt in der Türkei die gewaltsame Zerschlagung der staatlichen Ordnung und die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems an. Nach eigenen Angaben versteht sich die MLKP als politische Vorhut des Proletariats der türkischen und kurdischen Nation sowie der nationalen Minderheiten (BMIBH 7.2020). "Die kommunistische Bewegung kämpft", laut MLKP, "für die Freiheit und Vereinigung der vier Teile Kurdistans." Denn die "Revolution des in Vier geteilten Kurdistans ist auch die Revolution der Türkei." Und auch die "Frauenrevolution ist eine Notwendigkeit zur Garantierung des endgültigen Sieges des revolutionären Proletariats" (MLKP 3.2019).
Die MLKP verfügt über einen bewaffneten Arm, die "Bewaffneten Kräfte der Armen und Unterdrückten" (FESK), die unter dem Kommando der syrischkurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien von Kobane bis Deir ez-Zour gemeinsam mit US-Truppen in Syrien gegen den sog. Islamischen Staat kämpften (TNA 17.5.2019), was bei der türkischen Regierung zu Irritationen führte (Anadolu 20.8.2019). In der Türkei selbst kämpfen die Mitglieder der MLKP zumal in den Reihen des bewaffneten Arms der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der Volksverteidigungskräfte (HPG) (TNA 17.5.2019), wovon Berichte der MLKP über ihre Gefallenen zeugen (MLKP 20.7.2019, 1.9.2018). Die MLKP/FESK reklamierte im September 2019 u.a. ein Bombenattentat auf eine Polizeistation in Adana für sich (MLKP 27.9.2019).
Die türkischen Behörden nehmen vereinzelt vermeintliche Mitglieder der MLKP fest. Im September 2020 wurden beispielsweise bei Razzien in sieben Provinzen 14 (Anadolu 8.9.2020) und im Oktober 2020 in Istanbul 24 vermeintliche MLKP-Mitglieder verhaftet (Anadolu 7.10.2020). Auch im Jänner 2021 wurde die Verhaftung von MLKP-Mitgliedern vermeldet, ohne jedoch eine genaue Zahl anzugeben, als bei Razzien in zwölf Provinzen 48 Verdächtigte mehrer verbotener links-extremer Gruppen verhaftet wurden (DS 14.1.2021).
In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP in Untersuchungshaft genommen bzw. vor Gericht gestellt. Bei den MLKP-Fällen handelt es sich um Fälle mit mehreren Angeklagten, bei denen Anwälte, Vertreter politischer Parteien, Gewerkschaftsmitglieder, Studenten und Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zur MLKP gemeinsam vor Gericht stehen. Aussagen von Geheimzeugen werden in diesen Fällen häufig als Beweismittel gegen Journalisten verwendet. Betroffen waren beispielsweise Reporter und Redakteure der Nachrichtenagentur Etkin (ETHA), wobei die Anklageschriften ETHA von vornherein als Nachrichtenagentur, die im Namen der MLKP arbeitet, definierten (IPI/MLSA 3.2020).
Quellen:
Anadolu – Anadolu Agency (7.10.2020): Police in Turkey arrest suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/police-in-turkeyarrest-suspected-leftist-terrorists/1998162, Zugriff 3.11.2020
Anadolu – Anadolu Agency (8.9.2020): Turkey: Police arrest 14 suspected leftist terrorists, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-police-arrest- 14-suspected-leftist-terrorists/1966410, Zugriff 3.11.2020
Anadolu – Anadolu Agency (20.8.2019): US meets with far-left terror group in Syria: minister, https://www.aa.com.tr/en/turkey/us-meetswith-far-left-terror-group-in-syria-minister/1560965, Zugriff 3.11.2020
BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz (7.2020): Verfassungsschutzbericht 2019, https://www.verfassungsschutz.de/download/vsbericht-2019.pdf, Zugriff 3.11.2020
DS – Daily Sabah (14.1.2021): Turkish security forces detain 48 suspects in counterterrorism operation, https://www.dailysabah.com/politics/waron-terror/turkish-security-forces-detain-48-suspects-in-counterterrorismoperation, Zugriff 21.4.2021
IPI/MLSA – International Press Institute / Media and Law Studies Association (3.2020): TURKEY FREE EXPRESSION TRIAL MONITORING REPORT - FINAL REPORT,https://www.mlsaturkey.com/wp content/uploads/2020/06/ENG_TMReport_0623.pdf, Zugriff 3.11.2020 MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (27.9.2019): Bomb Attack By FESK in Adana, http://www.mlkp- info.org/?icerik_id=11372&Bomb_Attack_By_FESK_in_Adana, Zugriff 3.11.2020
MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (20.7.2019): MLKP/FESK Guerrillas Martyred In Turkish Airstrike In Dersim, http://www.mlkp- info.org/?icerik_id=11277&MLKP/FESK_Guerrillas_Martyred_In_Turkish_ Airstrike_In_Dersim_, Zugriff 3.11.2020
MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (3.2019): Programm der MLKP, http://www.mlkp- info.org/index.php?icerik_id=11254&Programm_der_MLKP, Zugriff 21.4.2021
MLKP – Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (1.9.2018): MLKP/FESK Rural Guerilla Units Fighter İrfan Çelik fell martyr, http://www.mlkp- info.org/?icerik_id=10678&MLKP/FESK_Rural_Guerilla_Units_Fighter_%C 4%B0rfan_%C3%87elik_fell_martyr, Zugriff 3.11.2020
TNA – The New Arab (17.5.2019): 'Communist militants' among US partners in Syria, https://www.alaraby.co.uk/english/indepth/2019/5/17/communist -militants-among-us-partners-in-syria, Zugriff 3.11.2020.
Terroristische Gruppierungen: DHKP-C – Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi
(Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)
Letzte Änderung: 16.05.2021
Die marxistisch-leninistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) strebt unverändert die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Türkei an, und zwar ausschließlich mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes. Der "bewaffnete Volkskampf" soll unter der Führung der DHKP-C beziehungsweise ihres militärischen Arms, der "Revolutionären Volksbefreiungsfront" (DHKC) stattfinden. Das Ausmaß ihrer militanten und terroristischen Aktionen war im Jahr 2019 jedoch gering. In erster Linie dürfte dies auf die seit dem gescheiterten Putsch von 2016 fortbestehend verschärfte Sicherheitslage in der Türkei zurückzuführen sein. So war auch die DHKP-C von Festnahmen und Durchsuchungen der türkischen Sicherheitsbehörden betroffen. Als Hauptfeinde betrachtet die DHKP-C die als "faschistisch" und "oligarchisch" bezeichnete Türkei und den "US-Imperialismus", der die Türkei in politischer, wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht dominiere. Die EU listet sie seit 2002 und die USA bereits seit 1997 als terroristische Organisation (BMIBH 7.2020; vergleiche CEP 21.4.2020). In letzter Zeit waren nur vereinzelt kleinere militante Aktionen der sogenannten Milizen der DHKP-C in der Türkei festzustellen, die in einigen sozialen Brennpunkten, insbesondere in Istanbul, über bewaffnete Kräfte verfügen (BMIBH 7.2020).
Im Verlaufe des Jahres 2020 kam es zu mehreren Festnahmen von vermeintlichen DHKP-C-Aktivisten, darunter auch Führungskräften. So im Juni in der Provinz Izmir (HDN 18.6.2020) oder im August in Ankara (DS 13.8.2020) und Istanbul, wo 30 Verdächtigte wegen Verbindungen zur DHKP-C verhaftet wurden (Anadolu 28.8.2020). Am 29.10.2020 gingen Einsatzkräfte gegen mutmaßliche Mitglieder der DHKP-C vor, wobei laut Medienberichten 93 Personen in 12 Provinzen festgenommen wurden. Insgesamt bestünden Haftbefehle gegen 120 Personen. Die Festgenommenen sollen hohe Posten in der Organisation innehaben. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, Anschläge geplant zu haben (BAMF 2.11.2020). Mitte Dezember wurden in Istanbul und vier weiteren Städten 16 Personen festgenommen, die verdächtigt wurden, Kurierdienste zwischen der DHKP-C-Führung und den Mitgliedern in den verschiedenen Landesteilen durchgeführt zu haben (DS 18.12.2020). Auch 2021 erfolgten Festnahmen. Im Februar wurde Caferi Sadık Eroğlu, laut Behörden ein hochrangiges Mitglied der Gruppe, in Istanbul festgenommen (DS 12.2.2021). Am 29.3.2021 wurden zwei weitere operative Kader-Mitglieder in Istanbul verhaftet (HDN 30.3.2021).
Quellen:
Anadolu – Anadolu Agency (28.8.2020): Suspects allegedly preparing attacks in line with orders from far-right terror group, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-30-arrested-forsuspected-terror-ties-to-dhkp-c/1956716, Zugriff 4.11.2020
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (2.11.2020): Briefing Notes KW 45/2020, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Infor mationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw45- 2020.pdf?__blob=publicationFile&v=2, Zugriff 2.11.2020
BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (7.2020): Verfassungsschutzbericht 2019, https://www.verfassungsschutz.de/download/vsbericht-2019.pdf, Zugriff 3.11.2020
CEP – Counter Extremism Project (21.4.2020): Turkey: Extremism & Counter- Extremism, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/coun try_pdf/TR-04212020.pdf, Zugriff 3.11.2020
DS – Daily Sabah (12.2.2021) Turkish police nab wanted DHKP-C terrorist in Istanbul, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/turkishpolice-nab-wanted-dhkp-c-terrorist-in-istanbul, Zugriff 30.3.2021
DS – Daily Sabah (18.12.2020): 16 detained in operations against DHKP-C across Turkey, https://www.dailysabah.com/turkey/investigations/16detained-in-operations-against-dhkp-c-across-turkey, Zugriff 30.3.2021
DS – Daily Sabah (13.8.2020): Turkish police detain 7 DHKP-C terrorists in Ankara, https://www.dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkishpolice-detain-7-dhkp-c-terrorists-in-ankara, Zugriff 3.11.2020
HDN – Hürriyet Daily News (30.3.2021): Turkey nabs senior far-left terror members, https://www.hurriyetdailynews.com/turkey-nabs-senior-farleft-terror-members-163536, Zugriff 30.3.2021
HDN – Hürriyet Daily News (18.6.2020): Wanted DHKP-C terror suspect detained, https://www.hurriyetdailynews.com/wanted-dhkp-c-terrorsuspect-detained-155779, Zugriff 3.11.2020
Terroristische Gruppierungen: sog. IS – Islamischer Staat (alias Daesh)
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die Türkei ist ein Herkunfts- und Transitland für ausländische (terroristische) Kämpfer, sogenannte "Foreign Terrorist Fighters" (FTF), die sich dem sogenannten Islamischen Staat und anderen terroristischen Gruppen anschließen wollen und in Syrien und im Irak kämpfen (USDOS 24.6.2020). Die Türkei hat den sog. Islamischen Staat (IS, ISIS, Daesh) im Jahr 2013 als terroristische Organisation eingestuft, aber die Türkei wird seit langem beschuldigt, als "Dschihad-Highway" zu dienen, da die türkischen Sicherheitskräfte wegschauen, wenn Tausende von ausländischen Kämpfern und türkischen Staatsbürgern illegal über die 911 Kilometer lange, durchlässige Grenze nach Syrien strömen (AM 25.8.2020). Seit 2013 war die Türkei eine führende Quelle von
Rekrutierungen für den sog. IS und eine Drehscheibe für den Schmuggel von Waffen, anderen Lieferungen und Menschen über die türkisch-syrische Grenze (ICG 29.6.2020).
Die Türkei ist ein aktives Mitglied der "Global Coalition to Defeat ISIS". Öffentlichen Daten zufolge umfasste die Einreiseverbotsliste der Türkei im November 2019 etwa 76.000 Personen. Seit 2011 hat die Türkei mehr als 7.800 ausländische Kämpfer aus über 100 Ländern repatriiert. Das türkische Innenministerium berichtete, dass sich mit Stand 9.12.2019 1.174 IS-Mitglieder in türkischem Gewahrsam befanden (USDOS 24.6.2020). Bis April 2017 haben nach offiziellen Zählungen der Regierung etwa 2.100 Türken das Land verlassen, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, meist beim sog. IS (CEP 21.4.2020). Andere, regierungsunabhängige Schätzungen gehen von einer weit höheren Zahl von 5.000 bis 9.000 aus (ICG 29.6.2020). Es wird angenommen, dass inzwischen mehr als 600 Personen in die Türkei zurückgekehrt sind (CEP 21.4.2020).
Das Verständnis der türkischen Behörden für die IS-Gefahr hat sich weiterentwickelt. Zunächst unterschätzten sie die Bedrohung, die von Rückkehrern ausgehen könnte, und blieben 2014-2015 weitgehend zwiespältig gegenüber der Rekrutierung durch den sog. IS. Diese Wahrnehmung begann sich im Laufe des Jahres 2016 zu verlagern, insbesondere nach dem ersten IS-Angriff im Mai 2016 auf eine staatliche Institution, der Polizeizentrale in Gaziantep (ICG 29.6.2020). Laut offiziellen Angaben gab es in der Türkei bislang mindestens zehn Selbstmordattentate, sieben Bombenanschläge und vier bewaffnete Angriffe, bei denen 315 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt wurden (TurkishPress 2.11.2020). Die türkischen Behörden machen den sog. IS seit Mitte 2015 für mehrere große Terroranschläge innerhalb des Landes verantwortlich. Im Juli 2015 starben bei einem Selbstmordattentat in Suruç 32 Menschen, und im Oktober desselben Jahres kamen ebenfalls durch ein Selbstmordattentat bei einer Friedenskundgebung in Ankara 102 Menschen ums Leben. Die türkischen Behörden brachten den sog. IS auch in Verbindung mit einem Selbstmordanschlag vom August 2016 auf eine Hochzeit in Gaziantep, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen. Der sog. IS bekannte sich zum Angriff auf den Istanbuler Nachtclub Reina am Morgen des 1.1.2017, der 39 Tote und Dutzende weitere Verletzte zur Folge hatte (CEP 21.4.2020). Seitdem gab es keine Anschläge des sog. IS mehr in der Türkei (ICG 29.6.2020). Seit 2016 haben die Behörden die Polizeioperationen gegen den sog. IS verstärkt, gefolgt von zahlreichen Verhaftungen (CGRS-CEDOCA 5.10.2020), die bis in die Gegenwart anhalten. So wurden Ende Dezember 2019 in landesweiten
Polizeiaktionen fast 150 vermeintliche Unterstützer des sog. IS festgenommen (Anadolu 30.12.2019). 2020 wurden bereits für die ersten vier Monate des Jahres über 350 Festnahmen von vermeintlichen IS-Anhängern gemeldet, wobei cirka ein Viertel inhaftiert, während die anderen entweder deportiert wurden oder noch auf ihren Prozess warten (Anadolu 4.5.2020). Am 1.9.2020 verkündete Innenminister Süleyman Soylu die Festnahme des sogenannten Emirs des IS in der Türkei, Mahmut Ozden, und die Sicherstellung von Plänen für Anschläge und die Entführung von Politikern (MEE 1.9.2020; vergleiche AJ 1.9.2020). Für den Oktober 2020 wurde eine markante Ausweitung des Vorgehens gegen den sog. IS verzeichnet, wonach hierdurch laut Sicherheitsbehörden im selben Monat nicht nur zahlreiche Anschläge verhindert, sondern 204 IS-Verdächtige festgenommen und eine Vielzahl an Waffen, Munition und Dokumenten beschlagnahmt wurden (TurkishPress 2.11.2020). Ende Jänner 2021 nahmen die türkischen Behörden bei landesweiten Operationen 126 Personen fest, die verdächtigt werden, Verbindungen zum sog. IS zu haben oder die Gruppe zu finanzieren. Dabei wurden auch Waffen, Dokumente, Pläne für Geldüberweisungen sowie größere Geldbeträge konfisziert (Anadolu 27.1.2021).
Was die IS-Rückkehrer, z.B. aus Syrien, anbelangt, so werden diese, wenn überhaupt - weniger als 10% oder etwa 450 türkische Staatsbürger der geschätzten Tausenden Rückkehrer sind inhaftiert - wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung für drei oder vier Jahre ins Gefängnis gesteckt. Hunderte werden demnächst entlassen. Gleichzeitig haben die staatlichen Institutionen der Türkei erst vor kurzem damit begonnen, über sogenannte DeRadikalisierungs-Maßnahmen nachzudenken (ICG 29.6.2020).
Quellen:
AJ – Al Jazeera (1.9.2020): Turkey says it has arrested top ISIL figure in raid, https://www.aljazeera.com/news/2020/9/1/turkey-says-it-hasarrested-top-isil-figure-in-raid, Zugriff 4.11.2020
AM – Al Monitor (25.8.2020): Islamic State operative planning 'sensational' attack nabbed in Istanbul, https://www.almonitor.com/pulse/originals/2020/08/turkey-islamic-state-attackistanbul-syria-gaziantep.html, Zugriff 5.11.2020
Anadolu – Anadolu Agency (27.1.2021): At least 126 Daesh/ISIS suspects nabbed in Turkey, https://www.aa.com.tr/en/turkey/at-least-126-daeshisis-suspects-nabbed-in-turkey/2124900, Zugriff 2.2.2021
Anadolu – Anadolu Agency (4.5.2020): Turkey inflicts heavy blow on Daesh/ISIS in 2020, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-inflictsheavy-blow-on-daesh-isis-in-2020/1828206, Zugriff 4.11.2020
Anadolu – Anadolu Agency (30.12.2019): Turkey: Police arrest 147 suspects over Daesh/ISIS ties, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkeypolice-arrest-147-suspects-over-daesh-isis-ties/1687345, Zugriff 4.11.2020
CGRS-CEDOCA – Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien], COI unit (5.10.2020): Turquie; Situation sécuritaire, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038786/coi_focus_turqu ie._situation_securitaire_20201005.pdf, Zugriff 28.12.2020
CEP – Counter Extremism Project (21.4.2020): Turkey: Extremism & Counter- Extremism, https://www.counterextremism.com/sites/default/files/coun try_pdf/TR-04212020.pdf, Zugriff 4.11.2020
ICG – International Crisis Group (29.6.2020): Calibrating the Response: Turkey's ISIS Returnees, https://www.crisisgroup.org/europe-centralasia/western-europemediterranean/turkey/258-calibrating-responseturkeys-isis-returnees, Zugriff 5.11.2020
MEE – Middle East Eye (1.9.2020): Turkey arrests country's Islamic State 'emir' over 'plans to kidnap politicians', https://www.middleeasteye.net/news/turkey-head-emirislamic-state-is-isis-mahmut-ozden, Zugriff 4.11.2020
TurkishPress (2.11.2020): Turkey dealt major blow to Daesh/ISIS terror in October, https://turkishpress.com/turkey-dealt-major-blow-to-daesh-isisterror-in-october/, Zugriff 4.11.2020
USDOS – United States Department of State [USA] (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019 – Chapter 1 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032441.html, Zugriff 4.11.2020
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und die Grundfreiheiten werden weiter eingeschränkt. Dies markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung, der im Land bereits zuvor im Gange war (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte (EC 6.10.2020; vergleiche PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoECommDH 19.2.2020; vergleiche EC 6.10.2020, USDOS 30.3.2021, S.1;14f.). Seine Besorgnis über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und -freiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere über den anhaltenden Rückschritt der Türkei in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz brachte im Jänner 2021 auch das Europäische Parlament in einer Resolution zum Ausdruck (EP 21.1.2021). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der AntiTerror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020). Hinzukommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten "Rule of Law Index" rangierte die Türkei im Jahr 2020 auf Platz 107 von 128 untersuchten Ländern. Der statistische Indikator verharrte wie 2019 auf dem Messwert von 0,43 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien "Grundrechte" mit 0,32 (Rang 123 von 128) und "Einschränkungen der Macht der Regierung" mit 0,30 sowie bei der Strafjustiz mit 0,38 ab. Gut war der Wert für "Ordnung und Sicherheit" mit 0,69, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 11.3.2020).
Gemäß Artikel 138, der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig. Tatsächlich wird diese Verfassungsbestimmung jedoch durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme (Druck auf Richter und Staatsanwälte) unterlaufen. Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ursache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren (insgesamt 13 im Jahr 2019), obwohl dieses Grundrecht in der
Verfassung verankert ist. Die dem Justizministerium weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften sind nach wie vor für die Organisation der Gerichte zuständig (ÖB 10.2020). Die richterliche Unabhängigkeit ist überdies durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten HSK infrage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen (AA 14.6.2019).
Die Ernennung tausender loyaler Richter, die potenziellen beruflichen Kosten einer richterlichen Entscheidung in einem wichtigen Fall entgegen den Interessen der Regierung sowie die Auswirkungen der Säuberungen nach dem Putsch haben die richterliche Unabhängigkeit in der Türkei stark geschwächt (FH 3.3.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden rund 4.400 Richter und Staatsanwälte entlassen. Bis heute wurden keine Maßnahmen gesetzt, um den Empfehlungen der Venedig Kommission des Europarates vom Dezember 2016 zu entsprechen, wonach jede Entlassung eines Richters individuell begründet und auf verifizierbare Beweise abgestützt sein müsse (ÖB 10.2020). Bedenken bezüglich der Anstellung neuer Richter und Staatsanwälte im Rahmen des derzeitigen Systems bestehen weiterhin, da keine Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Mangel an objektiven, leistungsbezogenen, einheitlichen und im Voraus festgelegten Kriterien für deren Einstellung und Beförderung entgegenzuwirken. Es wurden keine rechtlichen und verfassungsmäßigen Garantien eingeführt, die verhindern, dass Richter und Staatsanwälte gegen ihren Willen versetzt werden (EC 6.10.2020). Nach europäischen Standards sind Versetzungen nur ausnahmsweise aufgrund einer Reorganisation der Gerichte gerechtfertigt. In der justiziellen Reformstrategie 2019-2023 ist zwar für Richter ab einer gewissen Anciennität und auf Basis ihrer Leistungen eine Garantie gegen derartige Versetzungen vorgesehen, doch just am Tag nach Bekanntwerden dieser Garantie erließ der HSK ein Dekret, durch das die Stellen von 3.358 Richtern und Staatsanwälten im Zivil- und Strafrechtsbereich sowie von 364 weiteren Magistraten im Verwaltungsbereich geändert wurden. Insgesamt wurden im Jahr 2019 4.027 Richter und Staatsanwälte versetzt. Abgesehen von Hinweisen auf die Diensterfordernis wurden die Versetzungen nicht begründet (ÖB 10.2020). Folglich ist die abschreckende Wirkung der Entlassungen und Zwangsversetzungen innerhalb der Justiz nach wie vor zu beobachten. Es besteht die Gefahr einer weit verbreiteten Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten. Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, um die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive zu gewährleisten oder die Unabhängigkeit des HSK zu stärken (EC 6.10.2020). Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ist die Mitgliedschaft des HSK als Beobachter im "European Network of Councils for the Judiciary" seit Ende 2016 ruhend gestellt. Selbst über die personelle Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes und des Kassationsgerichtes entscheidet primär der Staatspräsident, der auch 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennt (ÖB 10.2020).
Die Massenentlassungen und häufige Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten haben negative Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und insbesondere die Qualität und Effizienz der Justiz. Für die aufgrund der Entlassungen notwendig gewordenen Nachbesetzungen steht keine ausreichende Zahl entsprechend ausgebildeter Richter und Staatsanwälte zur Verfügung. In vielen Fällen spiegelt sich der Qualitätsverlust in einer schablonenhaften Entscheidungsfindung ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall wider. In massenhaft abgewickelten Verfahren, wie etwa betreffend TerrorismusVorwürfen, leidet die Qualität der Urteile und Beschlüsse häufig unter mangelhaften rechtlichen Begründungen sowie lückenhafter und wenig glaubwürdiger Beweisführung. Zudem wurden in einigen Fällen Beweise der Verteidigung bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt (ÖB 10.2020).
Obwohl die Autonomie der Justiz eingeschränkt ist, entschieden die Richter in wichtigen Fällen manchmal auch gegen die Regierung, beispielsweise bei der Freilassung des prominenten Philantropen Osman Kavala im Februar 2020, der jedoch auf der Basis einer neuen Anklage im Oktober 2020 wieder festgenommen wurde, oder anderer Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft (FH 3.3.2021).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte) und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danıştay) [Anm.: entspricht etwa dem Verwaltungsgerichtshof], der Kassationgerichtshof (Yargitay) [auch als Oberstes Berufungs- bzw.
Appellationsgericht bezeichnet] und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyuşmazlık Mahkemesi) (ÖB 10.2020). Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof (AA 24.8.2020), eingeführt u.a. mit dem Ziel, die Fallzahlen am Europäischen Gericht für Menschenrechte zu verringern. Seit der Einführung im September 2012 machten bis 31.12.2020 300.000 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Über 63% der Individualbeschwerden bezogen sich auf die vermeintliche Verletzung hinsichtlich der Gewährung eines fairen Gerichtsverfahrens (HDN 18.1.2021).
2014 wurden alle Sondergerichte sowie die Friedensgerichte (Sulh Ceza Mahkemleri) abgeschafft. Ihre Jurisdiktion für die Entscheidung wurde im Wesentlichen auf Strafgerichte übertragen. Stattdessen wurde die Institution des Friedensrichters in Strafsachen (Sulh Ceza Hakimliği) eingeführt, der das strafrechtliche Ermittlungsverfahren begleitet und überwacht (ÖB 10.2020). Im Gegensatz zu den abgeschafften Friedensgerichten entscheiden Friedensrichter nicht in der Sache, doch kommen ihnen während des Verfahrens weitreichende Befugnisse zu, wie z.B. die Ausstellung von Durchsuchungsbefehlen, Anhalteanordnungen, Blockierung von Websites sowie die Beschlagnahmung von Vermögen. Neben den weitreichenden Konsequenzen der durch den Friedensrichter anzuordnenden Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache kritisiert, dass Einsprüche gegen Anordnungen nicht von einem Gericht, sondern ebenso von einem Einzelrichter geprüft werden (ÖB 10.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Da die Friedensrichter allesamt als von der
Regierung ausgewählt und ihr unbedingt loyal ergeben gelten, werden sie als das wahrscheinlich wichtigste Instrument der Regierung gesehen, welches die ihr wichtigen Strafsachen bereits in diesem Stadium im Sinne der Regierung beeinflusst. Die Venedig Kommission forderte 2017 die Übertragung der Kompetenzen der Friedensrichter an ordentliche Richter bzw. eine Reform (ÖB 10.2020). Die Urteile der Friedensrichter für Strafsachen weichen zunehmend von der Rechtsprechung des EGMR ab und bieten selten eine ausreichend individualisierte Begründung. Der Zugang von Verteidigern zu den Gerichtsakten ihrer Mandanten für einen bestimmten Katalog von Straftaten ist bis zur Anklageerhebung eingeschränkt. Manchmal dauert das mehr als ein Jahr (EC 29.5.2019).
Infolge der teilweise sehr lang dauernden Verfahren setzt die Justiz vermehrt auf alternative Streitbeilegungsmechanismen, die den Gerichtsverfahren vorgelagert sind, und durch die etwa im Jahr 2019 bereits 213.000 Fälle gelöst werden konnten. Ferner waren bereits 2016 neun regionale Berufungsgerichte (Bölge İdare Mahkemeleri) in Betrieb genommen worden, die insbesondere das Kassationsgericht entlasten. Allerdings liegt der Anteil der Erledigungen der regionalen Berufungsgerichte unter 100%, so dass es nun in dieser Instanz zu einem erheblichen Rückstau kommt. Im Zuge der COVID-19-Krise wurden zwischen März und Mitte Juni 2020 keine Gerichtstermine vergeben und sämtliche Fristenläufe gehemmt, sodass es zu weiteren Arbeitsrückständen und Verfahrensverzögerungen kam (ÖB 10.2020).
Probleme bestehen sowohl hinsichtlich der divergierenden Rechtsprechung von Höchstgerichten als auch infolge der Nicht-Beachtung von Urteilen höherer Gerichtsinstanzen durch untergeordnete Gerichte (USDOS 30.3.2021, S.16; vergleiche IPI 18.11.2019), wobei die Regierung selten die Entscheidungen des EGMR umsetzt, trotz der Verpflichtung als Mitgliedsstaat des Europarates (USDOS 30.3.2021, S.16.). So hat das Verfassungsgericht uneinheitliche Urteile zu Fällen der Meinungsfreiheit gefällt. Wo sich das Höchstgericht im Einklang mit den Standards des EGMR sah, welches etwa eine Untersuchungshaft in Fällen der freien Meinungsäußerung nur bei Hassreden oder dem Aufruf zur Gewalt als gerechtfertigt betrachtet, stießen die Urteile in den unteren Instanzen auf Widerstand und Behinderung (IPI 18.11.2019). Justizminister Abdulhamit Gül nahm das nochmalige Urteil des Verfassungsgerichts - infolge der NichtBeachtung durch ein lokales Gericht - zugunsten des ehemaligen CHPAbgeordneten Berberoğlu zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen des Verfassungsgericht laut Rechtsordnung "verbindlich" sind, und das Gesetz es den lokalen Gerichten zwingend vorschreibt, sich daran zu halten (Duvar 22.1.2021).
Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 24.8.2020).
Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwaltskammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährden (USDOS 30.3.2021, S.17). Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere solche von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 30.3.2021, S.12). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (HRW 13.1.2021). Seit dem Putschversuch 2016 wurden Anwälte wegen angeblicher terroristischer Straftaten inhaftiert, verfolgt und verurteilt. Es wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt und bis September 2019 321 Anwälte wegen ihrer vermeintlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (ALI 1.9.2019). Die Verhaftungen hielten auch 2020 an. Beispielsweise wurden im Rahmen einer strafrechtlichen Untersuchung am
11.9.2020 47 Anwälte in Ankara und 7 weiteren Provinzen aufgrund eines Haftbefehls der Oberstaatsanwaltschaft Ankara festgenommen. 15 Anwälte blieben wegen "Terrorismus"-Anklagen in Untersuchungshaft, der Rest wurde gegen Kaution freigelassen. Ihnen wurde vorgeworfen, angeblich auf Weisung der Gülen-Bewegung gehandelt und die strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihre Klienten (vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung) zugunsten der Gülen- Bewegung beeinflusst zu haben. Da die Ermittlungen einer Geheimhaltungsanordnung unterlagen, war es den Anwälten und ihrenRechtsvertretern nicht gestattet, die Ermittlungsakten einzusehen oder Informationen über den Inhalt der Vorwürfe zu erhalten, bis ihre Mandanten im Sicherheitsdirektorat von Ankara verhört wurden, wodurch ihnen das Recht auf angemessene Zeit zur Vorbereitung einer Verteidigung verweigert wurde (AI 26.10.2020).
Laut aktuellem Anti-Terrorgesetz soll eine in Polizeigewahrsam befindliche Person spätestens nach vier Tagen einem Richter zur Entscheidung über die Verhängung einer Untersuchungshaft oder Verlängerung des Polizeigewahrsams vorgeführt werden. Eine Verlängerung des Polizeigewahrsams ist nur auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft, etwa bei Fortführung weiterer Ermittlungsarbeiten oder Auswertung von Mobiltelefondaten, zulässig. Eine Verlängerung ist zweimal (für je vier Tage) möglich. Der Polizeigewahrsam kann daher maximal zwölf Tage dauern (ÖB 10.2020). Die Regelung verstößt gegen die Spruchpraxis des EGMR, welcher ein Maximum von vier Tagen Polizeihaft vorsieht (EC 6.10.2020).
Die Untersuchungshaft kann gemäß Artikel 102, (1) StPO bei Straftaten, die nicht in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern fallen, für höchstens ein Jahr verhängt werden. Aufgrund besonderer Umstände kann sie um weitere sechs Monate verlängert werden. Nach Artikel 102, (2) StPO beträgt die Dauer der Untersuchungshaft bis zu zwei Jahre, wenn es sich um Straftaten handelt, die in die Zuständigkeit der Großen Strafkammern (Ağır Ceza Mahkemeleri) fallen. Das sind Straftaten, die mindestens eine zehn-jährige Freiheitsstrafe vorsehen. Aufgrund von besonderen Umständen kann diese Dauer um ein weiteres Jahr verlängert werden, insgesamt höchstens drei Jahre. Bei Straftaten, die das AntiTerrorgesetz Nr. 3713 betreffen, beträgt die maximale Dauer der Untersuchungshaft sieben Jahre (zwei Jahre und mögliche Verlängerung um weitere fünf Jahre) (ÖB 10.2020).
Während des seit dem Putschversuch bestehenden Ausnahmezustands bis zum 19.7.2018 wurden insgesamt 36 Dekrete erlassen, die insbesondere eine weitreichende Säuberung staatlicher Einrichtungen von angeblich Gülen-nahen Personen sowie die Schließung privater Einrichtungen mit Gülen-Verbindungen zum Ziel hatten. Der Regierung und Exekutive wurden weitreichende Befugnisse für Festnahmen und Hausdurchsuchungen eingeräumt. Die unter dem Ausnahmezustand erlassenen Dekrete konnten nicht beim Verfassungsgerichtshof angefochten werden. Zudem kam es zur Suspendierung und Entlassung von über 152.000 öffentlich Bediensteten, welche per Dekret unehrenhaft entlassen oder suspendiert wurden, und deren Namen im Amtsblatt veröffentlicht wurden (ÖB 10.2020).
Die mittels Präsidialdekret zur individuellen Überprüfung der Entlassungen und Suspendierungen aus dem Staatsdienst eingerichtete Beschwerdekommission begann im Dezember 2017 mit ihrer Arbeit. Das Durchlaufen des Verfahrens vor der Beschwerdekommission und weiter im innerstaatlichen Weg ist eine der vom EGMR festgelegten Voraussetzungen zur Erhebung einer Klage vor dem EGMR (ÖB 10.2019). Bis zum 31.12.2020 waren 126.630 Anträge gestellt worden. Davon hatte die Untersuchungskommission 112.310 geprüft und nur 13.170 hatten zu einer Wiederaufnahme geführt, während 99.140 Beschwerden abgelehnt wurden. 61 positive Entscheidungen betrafen einst geschlossene Vereine, Stiftungen und Fernsehstationen. Es waren noch 14.320 Anträge anhängig (ICSEM 4.2.2021, S.24). Die Bearbeitungsrate der Anträge gibt laut Europäischer Kommission Anlass zur Sorge, ob jeder Fall einzeln geprüft wird (EC 6.10.2020).
Die Beschwerdekommission stellt keinen wirksamen Rechtsbehelf für die Betroffenen dar, um sich wirksam und zeitnah Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu verschaffen. Der Kommission fehlt die genuine institutionelle Unabhängigkeit, da ihre Mitglieder zum größten Teil von der Regierung ernannt werden und im Falle von Verdachtsmomenten hinsichtlich Kontakten mit verbotenen Gruppierungen ihrer Funktion enthoben werden können. Somit können die Ernennungs- und Entlassungsvorschriften leicht den Entscheidungsprozess beeinflussen. Denn sollten Kommissionsmitglieder nicht die von ihnen erwarteten Urteile fällen, kann sie die Regierung einfach entlassen (AI 25.10.2018; vergleiche ÖB 10.2020). Betroffene haben keine Möglichkeit, Vorwürfe ihrer angeblich illegalen Aktivität zu widerlegen, da sie nicht mündlich aussagen, keine Zeugen benennen dürfen und vor Stellung ihres Antrags an die Kommission keine Einsicht in die gegen sie erhobenen Anschuldigungen bzw. diesbezüglich namhaft gemachten Beweise erhalten. In Fällen, in denen die erfolgte Entlassung aufrecht erhalten wird, stützt sich die Beschwerdekommission oftmals auf schwache Beweise und zieht an sich rechtmäßige Handlungen zum Beweis für angeblich rechtswidrige Aktivitäten heran (ÖB 10.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Die Beweislast für eine Widerlegung von Verbindungen zu verbotenen Gruppen liegt beim Antragsteller (Beweislastumkehr). Zudem bleibt in der Entscheidungsfindung unberücksichtigt, dass die getätigten Handlungen im Zeitpunkt ihrer Vornahme rechtmäßig waren. Schließlich wird auch das langwierige Berufungsverfahren mit Wartezeiten von zehn Monaten bei den bereits entschiedenen Fällen (einige warten nach über einem Jahr immer noch auf eine Entscheidung) kritisiert (ÖB 10.2020).
Quellen:
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Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die nationale Polizei, die unter der Kontrolle des Innenministeriums steht, ist für die Sicherheit in großen Stadtgebieten verantwortlich (AA 24.8.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.1). Die Jandarma, eine paramilitärische Truppe, die sich teils aus Wehrpflichtigen rekrutiert, ist für ländliche Gebiete und spezifische Grenzgebiete zuständig (AA 24.8.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.1, ÖB 10.2020), obwohl das Militär die Gesamtverantwortung für die Grenzkontrolle und die allgemeine Außensicherheit trägt (USDOS 30.3.2021, S.1). Die Jandarma mit einer Stärke von 180.000 Bediensteten wurde nach dem
Putschversuch 2016 dem Innenministerium unterstellt, zuvor war diese dem Verteidigungsministerium unterstellt (ÖB 10.2020). Es gab Berichte, dass Jandarma-Kräfte, die zeitweise eine paramilitärische Rolle spielen und manchmal als Grenzschutz fungieren, auf Asylsuchende syrischer und anderer Nationalitäten schossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, was zu Tötungen oder Verletzungen von Zivilisten führte (USDOS 11.3.2020). Die Jandarma beaufsichtigt auch die sog. "Sicherheitskräfte" [Güvenlik Köy Korucuları], die vormaligen "Dorfschützer", eine zivile Miliz, die zusätzlich für die lokale Sicherheit im Südosten sorgen soll, vor allem als Reaktion auf die terroristische Bedrohung durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (USDOS 13.3.2019). Die Polizei und mehr noch der Nationale Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı - MİT) haben unter der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an Einfluss gewonnen. Seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung ist die Polizei aber auch selbst zum Objekt umfangreicher Säuberungen geworden (AA 24.8.2020).
Die 2008 abgeschaffte Nachtwache (Bekçi) wurde 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch wiedereingeführt. Seitdem wurden mehr als 29.000 junge Männer (TM 28.11.2020) mit nur kurzer Ausbildung als Nachtwache eingestellt. Angehörige der Nachtwache trugen ehemals nur Schlagstöcke und Pfeifen, mit denen sie Einbrecher und Kleinkriminelle anhielten (BI 10.6.2020). Mit einer Gesetzesänderung im Juni 2020 wurden ihre Befugnisse, u.a. Waffeneinsatz und Personenkontrollen, gegen Kritik der Opposition erweitert (AA 24.8.2020; vergleiche BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Festnahmen und Verhöre sind ihnen jedoch nicht erlaubt (TRT 11.6.2020). Sie sollen für öffentliche Sicherheit in ihren eigenen Stadtteilen sorgen, werden von Regierungskritikern aber als "AKPMiliz" kritisiert (AA 24.8.2020; vergleiche BI 10.6.2020, Spiegel 9.6.2020). Den
Einsatz im eigenen Wohnvierteln sehen Kritiker als Beleg dafür, dass die Hilfspolizei der Bekçi die eigene Nachbarschaft nicht schützen, sondern viel mehr bespitzeln soll (Spiegel 9.6.2020). Human Rights Watch kritisierte, dass angesichts der weit verbreiteten Kultur der polizeilichen Straffreiheit die Aufsicht über die Beamten der Nachtwache noch unklarer und vager als bei der regulären Polizei sei (Guardian 8.6.2020). So hätte es glaubwürdige Beweise gegeben, dass die türkische Polizei und Beamte der Nachtwächter bei sechs Vorfällen im Sommer 2020 in Diyarbakır und Istanbul mindestens vierzehn Menschen schwer misshandelten. In vier der Fälle hätten die Behörden die Missbrauchsvorwürfe zurückgewiesen oder bestritten, anstatt sich zu einer Untersuchung der Vorwürfe zu entschließen (HRW 29.7.2020).
Nachrichtendienstliche Belange werden bei der Türkischen Nationalpolizei (TNP) durch den polizeilichen Nachrichtendienst (İstihbarat Dairesi Başkanlığı - IDB) abgedeckt. Dessen Schwerpunkt liegt auf Terrorbekämpfung, Kampf gegen organisierte Kriminalität und Zusammenarbeit mit anderen türkischen Nachrichtendienststellen. Ebenso unterhält die Jandarma einen auf militärische Belange ausgerichteten Nachrichtendienst. Ferner existiert der Nationale Nachrichtendienst MİT, der seit September 2017 direkt dem Staatspräsidenten unterstellt ist (zuvor dem Amt des Premierministers) und dessen Aufgabengebiete der Schutz des Territoriums, des Volkes, der Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, der Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung sind. Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MİT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MİT-Agenten besitzen eine erweiterte Immunität gegenüber dem Gesetz. Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren sind für Personen, die Geheiminformation veröffentlichen, vorgesehen. Auch Personen, die dem MİT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft (ÖB 10.2020).
Der Polizei wurden im Zuge der Abänderung des Sicherheitsgesetzes im März 2015 weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht seitdem den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen (NZZ 27.3.2015; vergleiche FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Leiters der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Die Transparenz und Rechenschaftspflicht von Militär, Polizei und Geheimdiensten gegenüber dem Parlament sind jedoch nach wie vor begrenzt. Das Sicherheitspersonal genießt weiterhin einen weitreichenden Rechtsschutz. Die Erfolgsbilanz bei der gerichtlichen und administrativen Prüfung von Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte ist weiterhin schlecht. Die parlamentarische Aufsichtskommission für die Strafverfolgung ist wirkungslos geblieben (EC 6.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020).
Seit dem 6.1.2021 können die Nationalpolizei (EGM) und der Nationale Nachrichtendienst (MİT) im Falle von Terroranschlägen und zivilen Unruhen Waffen und Ausrüstung der türkischen Streitkräfte (TSK) nutzen. Gemäß der Verordnung dürfen die TSK, EGM, MİT, das Gendarmeriekommando und das Kommando der Küstenwache in Fällen von Terrorismus und zivilen Unruhen alle Arten von Waffen und Ausrüstungen untereinander übertragen (SCF 8.1.2021; vergleiche Ahval 7.1.2021).
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9.11.2020
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die Türkei ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987 (AA 24.8.2020). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2011 ratifiziert (ÖB 10.2020).
Glaubwürdige Vorwürfe von Folter und Misshandlung werden weiterhin berichtet. Folter und Misshandlung kommen nach wie vor in Haftanstalten und Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen und auf der Straße vor (EC 6.10.2020; vergleiche İHD 18.5.2020a). Davon abgesehen kommt es laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) zu extremen und unverhältnismäßigen Interventionen der Strafverfolgungsbehörden bei Versammlungen und Demonstrationen, die dem Ausmaß der Folter entsprechen (İHD 18.5.2020a). Die Zunahme von Vorwürfen über Folter, Misshandlung und grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen in den letzten vier Jahren hat die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich zurückgeworfen. Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind. Die Staatsanwaltschaft führt keine adäquaten Untersuchungen zu solchen Anschuldigungen durch. Zudem herrscht eine weit verbreitete Kultur der Straflosigkeit für Mitglieder der Sicherheitskräfte und betroffene Beamte (HRW 13.1.2021). Solche Vorwürfe gab es seit Ende des offiziellen Besuchs des UNSonderberichterstatters zu Folter im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, Geständnisse zu erzwingen oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (OHCHR 27.2.2018; vergleiche OHCHR 3.2018).
Im Zuge von Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellten die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen blieben ergebnislos. Hierduch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S.30). Die Regierungsstellen haben keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Artikel 9, des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018; vergleiche EC 29.5.2019).
Anlässlich eines Besuchs des Anti-Folter-Komitees des Europarats (CPT) im Mai 2019 erhielt dieses wie bereits während des CPT-Besuchs 2017 eine beträchtliche Anzahl von Vorwürfen über exzessive Gewaltanwendung und/oder körperliche Misshandlung durch Polizei-/Gendarmeriebeamte von Personen, die kürzlich in Gewahrsam genommen worden waren, darunter Frauen und Jugendliche. Ein erheblicher Teil der Vorwürfe bezog sich auf Schläge während des Transports oder innerhalb von Strafverfolgungseinrichtungen, offenbar mit dem Ziel, Geständnisse zu erpressen oder andere Informationen zu erlangen, oder schlicht als Strafe. In einer Reihe von Fällen wurden die Behauptungen über körperliche Misshandlungen durch medizinische Beweise belegt. Insgesamt hatte das CPT den Eindruck gewonnen, dass die Schwere der angeblichen polizeilichen Misshandlungen im Vergleich zu 2017 abgenommen hat. Die Häufigkeit der Vorwürfe bleibt jedoch gemäß CPT auf einem besorgniserregenden Niveau (CoE-CPT 5.8.2020).
Die Institution für Menschenrechte und Gleichberechtigung der Türkei (HREI), die als nationaler Präventionsmechanismus fungieren sollte, erfüllt nicht die zentralen Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN CAT) und bearbeitet die an sie verwiesenen Fälle noch nicht effektiv genug (EC 6.10.2020).
Glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren gibt es weiterhin. Der Europarat konnte jedoch die Existenz informeller Anhaltezentren nicht bestätigen. Von systematischer Anwendung der Folter kann nach Wissensstand der Österreichischen Botschaft Ankara dennoch nicht die Rede sein. Nach Angaben des Justizministeriums wurden im Jahr 2019 gegen 1.618 Beamte Untersuchungen wegen Misshandlungsvorwürfen eingeleitet. Lediglich 320 von ihnen wurden verurteilt (ÖB 10.2020).
Gemeinsame Recherchen des ZDF-Magazins Frontal 21 und acht internationaler Medien, koordiniert von dem gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Überwachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben, dass ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern, meist Gülen-Anhängern, sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und gefoltert werden, um etwa belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vergleiche Correctiv 11.12.2018, Ha'aretz 11.12.2018).
Nach Angaben der İHD wurden 2019 1.497 Menschen in offiziellen oder informellen Hafteinrichtungen gefoltert oder misshandelt und 495 weitere in den Gefängnissen. Über 3.900 Demonstranten wurden während Interventionen von Sicherheitskräften geschlagen oder verwundet (İHD 18.5.2020a). Sezgin Tanrıkulu, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen Republikanischen
Volkspartei (CHP) zählt in seinem Jahresbericht für 2020 3.534 Vorfälle von Folter oder Misshandlung, von denen 1.855 in Gefängnissen stattfanden (TM 16.1.2021). Laut einer Statistik der türkischen Civil Society in the Penal System Association aus dem Jahr 2019 waren überwiegend politische Gefangene Opfer von Folter und Gewalt - 92 von 150. In der Mehrheit waren die Täter Gefängnisaufseher (308 von 471), aber auch Angehörige des Verwaltungspersonals (114 von 471) (CİSST 26.3.2021, S.26).
Infolge bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und der PKK in Urfa wurden 47 Personen verhaftet. Nach Angaben ihrer Anwälte und ausgehend von vorliegenden Fotografien wurden einige der Inhaftierten in der dortigen Gendarmerie-Wache von Bozova Yaylak gefoltert oder anderweitig misshandelt (AI 13.6.2019). Die Rechtsanwaltsvereinigung Ankara berichtete auf der Basis von Interviews mit einigen der 249 ehemaligen türkischen Diplomaten, die wegen Terroranschuldigungen verhaftet wurden, dass diese gefoltert oder misshandelt wurden (ABA/HRD 26.5.2019; vergleiche WE 3.6.2019). Die Anwaltsvereinigung Diyarbakır berichtete nach Interviews mit Betroffenen, dass vermeintlich 20 Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt in Elazığ durch das Wachpersonal systematisch gefoltert wurden (SCF 19.8.2019). Laut Human Rights Watch bestünden glaubwürdige Beweise, dass im Sommer 2020 die Polizei sowie Mitglieder der sog. Nachtwache bei sechs Vorfällen in Diyarbakır und Istanbul schwere Misshandlungen an mindestens vierzehn Personen begangen haben (HRW 29.7.2020). Ebenfalls in Diyarbakır wurde Ende Juni 2020 die Frauenaktivistin und ehemalige Bürgermeisterin der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Edremit, Rojbin Sevil Çetin, im Zuge der Erstürmung ihres Hauses angeblich physischer und sexueller Folter, verbunden mit Todesdrohungen ausgesetzt. Nachdem Cetins Anwalt Fotos von ihren Verletzungen der Presse übermittelte, wurde gegen ihn, den Anwalt, eine Untersuchung eingeleitet (AM 8.7.2020).
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Korruption
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die Türkei ist ein Vertragsstaat der UN-Konvention gegen Korruption, der OECD-Konvention gegen Bestechung, des Strafrechtsübereinkommens und des Zivilrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption. Der Rechtsrahmen zur Korruptionsbekämpfung ist in mehreren nationalen Gesetzen enthalten (DFAT 10.9.2020).
Nichtsdestotrotz ist Korruption im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet. Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption. Häufig werden Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch (BACP 6.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020, FH 3.3.2021). Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen. Unternehmen müssen mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen (USDOS 13.3.2019).
Die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze ist inkonsistent. Die türkischen Anti-Korruptionsbehörden sind im Allgemeinen ineffektiv und tragen zu einer Kultur der Straflosigkeit bei (FH 3.3.2021; vergleiche BACP 6.2020, USDOS
30.3.2021, S.1;57). Offizielle Aufsichtsorgane wie der Rechnungshof und der Ombudsmann veröffentlichen Berichte oft verspätet und decken nur selten Korruptionsvorwürfe ab (DFAT 10.9.2020).
Sorge besteht hinsichtlich der Unparteilichkeit der Justiz in der Handhabe von Korruptionsfällen (USDOS 30.3.2021, S.57; vergleiche BACP 6.2020). Zudem gibt es ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der Justiz selbst. Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den seitens des Business Anti-Corruption Portals (BACP) befragten Unternehmen als recht häufig eingeschätzt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung empfinden Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einflussnahme, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko (BACP 6.2020). Laut dem Global Competitiveness Report 2019 des Weltwirtschaftsforums genoss die türkische Polizei ein durchschnittliches Vertrauen. Mit einem Wert von 4,3 (Bestwert=7) und einem Punktescore von 55,8 belegte das Land 2019 Platz 70 von 141 Ländern (WEF 4.11.2019).
Laut Europäischer Kommission macht die Korruptionsbekämpfung keine Fortschritte. Dem Land fehle es nach wie vor an präventiv agierenden Antikorruptionsbehörden. Die Mängel des gesetzlichen Rahmens und der institutionellen Architektur ermöglichten eine ungebührliche politische Einflussnahme in der Ermittlungs- und Verfolgungsphase von Korruptionsfällen. Rechenschaftspflicht und Transparenz der öffentlichen Institutionen müssen, so die Kommission, verbessert werden. Das Fehlen einer Antikorruptionsstrategie und eines Aktionsplans deute auf den mangelnden politischen Willen hin, Korruption entschieden zu bekämpfen. Insgesamt ist Korruption weit verbreitet.
Die meisten Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarates wurden noch nicht umgesetzt (EC 6.10.2020). GRECO bemängelte insbesondere, dass innert zehn Jahren nur eine von neun Empfehlungen in Bezug auf die Transparenz der politischen Finanzierung, auch im Zusammenhang mit Wahlen umgesetzt wurde (CoE-GRECO 18.3.2021).
Die seit dem Putschversuch 2016 durchgeführten Säuberungen haben die Möglichkeiten für Korruption angesichts der massiven Enteignung von betroffenen Unternehmen und NGOs stark erhöht. Milliarden von Dollar an beschlagnahmten Vermögenswerten werden von staatlich bestellten Treuhändern verwaltet, was die engen Beziehungen zwischen der Regierung und befreundeten Unternehmen weiter stärkt (FH 3.3.2021).
Die Regierung sanktioniert Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Fälle gegen Regierungsbeamte eingeleitet haben, und behauptet, dass die Angeklagten dies auf Veranlassung der Gülen-Bewegung taten. Journalisten, denen vorgeworfen wird, die Korruptionsvorwürfe veröffentlicht zu haben, werden ebenfalls strafrechtlich verfolgt. Gerichte und der Oberste Radio- und Fernsehenrat (RTUK) blockierten regelmäßig den Zugang zu Presseberichten über Korruptionsvorwürfe (USDOS 30.3.2021, S.57f.).
Transparency International reiht die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2020 mit einem Punktewert von 40 von 100 (bester Wert) auf Platz 86 von 180 untersuchten Ländern und Territorien ein (TI 28.1.2021).
Quellen:
BACP – GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2020): Turkey Country Profile, Business Corruption in
Turkey, https://www.ganintegrity.com/portal/country-profiles/turkey/, Zugriff 5.11.2020
CoE-GRECO – Council of Europe – Group of States Against Corruption
(18.3.2021): Third Evaluation Round, Second Addendum to the Second
Compliance Report on Turkey - ”Incriminations (ETS 173 and 191, GPC
2)”, ”Transparency of Party Funding” [GrecoRC3
(2020)5], https://rm.coe.int/third-evaluation-round-second-addendumto-the-second-compliance-report/1680a1cac1, Zugriff 29.3.2021
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020):
DFAT Country Information Report
Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-
information-report-turkey.pdf, Zugriff 5.11.2020
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-
enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 5.11.2020 FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html, Zugriff 11.3.2021
TI – Transparency International (28.1.2021): Corruption Perceptions Index
2020, https://www.transparency.org/country/TUR, Zugriff 28.1.2021
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 –
Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-
2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 2.4.2021
USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 –
Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff
5.11.2020
WEF – World Economic Forum (4.11.2019): The Global Competitiveness
Report
2019, http://www3.weforum.org/docs/WEF_TheGlobalCompetitivenessR eport2019.pdf, Zugriff 25.1.2021
Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Letzte Änderung: 17.05.2021
Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen im Mittelpunkt des Demokratisierungsprozesses in der Türkei. Mit Stand September 2020 gab es über 126.750 Vereine und 5.352 neue Stiftungen (nach Gründung der Republik 1923) sowie zahlreiche informelle Organisationen wie Plattformen, Initiativen und Gruppen. Ihre Arbeitsbereiche konzentrieren sich vor allem auf gesellschaftliche Solidarität, soziale Dienste, Bildung, Gesundheit und verschiedene Rechtsthemen (ICNL 20.10.2020).
Infolge des Ausnahmezustands und der Anti-Terror-Maßnahmen der türkischen Regierung gerieten mehrere Aktivisten jedoch zunehmend unter Druck, unter anderem wurden sie festgenommen und inhaftiert. Vor allem jene NGOs, die ausländische Gelder erhalten, laufen Gefahr, der Spionage und Kollaboration mit ausländischen Feinden beschuldigt zu werden (BS 29.4.2020; vergleiche AA 24.8.2020). Im Juli 2020, beispielsweise, verurteilte ein Gericht vier
Menschenrechtsverteidiger, darunter den ehemaligen Vorsitzenden von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation (FH 3.3.2021). Durch Notverordnungen wurden rund 1.400 bis 1.500 Vereinigungen ohne jeden Rechtsbehelf geschlossen (BS 29.4.2020; vergleiche AA 24.8.2020, FH 3.3.2021) und deren Vermögen beschlagnahmt. Die NGOs arbeiten zu Themen wie Folter, häusliche Gewalt und Hilfe für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. NGO-Führungskräfte sehen sich regelmäßig Schikanen,
Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ausgesetzt (FH 3.3.2021). Im kurdisch geprägten Südosten des Landes sind die Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen durch vermehrt ausgeübten Druck staatlicher Stellen noch wesentlich stärker eingeschränkt als im Rest des Landes (AA 24.8.2020).
Trotz dieses gravierenden Rückschritts sind zivilgesellschaftliche Organisationen nach wie vor aktiv. Es ist jedoch offensichtlich, dass regierungsnahe Organisationen eine größere Rolle übernehmen und sichtbarer sind. Im zunehmend repressiven politischen Umfeld verhindern die rechtlichen, politischen, finanziellen und administrativen Belastungen, die den zivilgesellschaftlichen Organisationen auferlegt werden, die Entwicklung einer lebendigen Zivilgesellschaft (BS 29.4.2020). Laut offiziellen Zahlen waren mit Stand September 2020 von allen eingetragenen Vereinigungen nur 1,23% (1.494 Vereinigungen) in den Bereichen Menschenrechte und Anwaltschaft aktiv (ICNL 20.10.2020).
Obwohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) übereinstimmen, weist der Rechtsrahmen noch zahlreiche Unvereinbarkeiten mit internationalen Standards auf. Darüber hinaus bestehen trotz der verbesserten Gesetzgebung zu Vereinen und Stiftungen in den Jahren 2004 bzw. 2008 weiterhin Herausforderungen und Zwänge, insbesondere im Hinblick auf die Sekundärgesetzgebung und deren Umsetzung. Tatsächlich wurden seit den Reformen 2004 und 2008 keine weitreichenden durchgeführt, welche die Rahmenbedingungen für die Zivilgesellschaft verbessert hätten. Eine Gesetzesänderung vom März 2020 verlangt die Registrierung aller Mitglieder einer Vereinigung unter Angabe des Geburtsnamens, des Geburtsortes und der ID-Nummer. Dieses gesetzliche Erfordernis kann für viele Vereine bürokratische Hürden mit sich bringen, und sich negativ auf die Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie den Schutz personenbezogener Daten auswirken (ICNL 20.10.2020).
Menschenrechtsorganisationen können wie andere Vereinigungen gegründet und betrieben werden, unterliegen jedoch wie alle Vereine nach Maßgabe des Vereinsgesetzes der rechtlichen Aufsicht durch das Innenministerium. Ihre Aktivitäten werden von Sicherheitsbehörden und Staatsanwaltschaften beobachtet (AA 24.8.2020). Allgemein fehlen transparente und objektive Kriterien und Verfahren in Bezug auf die öffentliche Finanzierung, die Konsultation von und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie für deren Inspektion und Überprüfung (CoE-CommDH 19.2.2020).
Am 27.12.2020 wurde ein Gesetz verabschiedet, das angeblich der Bekämpfung der Terrorfinanzierung dienen soll. Dieses erlaubt dem Innenministerium ohne Gerichtsbeschluss NGOs jährlich zu inspizieren und Mitglieder von Vereinen zu ersetzen, wenn gegen sie wegen Terrorismus ermittelt wird. Per Gerichtsbeschluss können Aktivitäten eines Vereins suspendiert und der Zugang zu Online-Spendenaktionen, so keine Genehmigung vorliegt, gesperrt werden. Fast 680 zivilgesellschaftliche Gruppen unterzeichneten eine Erklärung gegen das Gesetz, besagend, dass es ihre Möglichkeiten, Geld zu sammeln und sich zu organisieren, einschränken und sie unter Druck des Ministeriums setzen würde (AP 27.12.2020, vergleiche DW 27.12.2020, NZZ 30.12.2020). Das Strafausmaß gegen Gesetzesverstöße wurde drastisch von maximal 700 auf bis zu 200.000 Lira erhöht (Independent 27.12.2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
AP – Associated Press (27.12.2020):Turkish lawmakers pass bill monitoring civil society groups, https://apnews.com/article/turkey-receptayyip-erdogan-terrorism-bills-europe-
d4e48ebdbba76911dc6fb2a94b201ffd, Zugriff 2.2.2021
BS – Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report
Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028926/country_report_202 0_TUR.pdf Zugriff 11.3.2021
CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights:
Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović
(19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019
[CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommD H%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 18.11.2020
DW – Deutsche Welle (27.12.2020): Umstrittenes NGO-Gesetz in der Türkei beschlossen, https://www.dw.com/de/umstrittenes-ngo-gesetz-inder-t%C3%BCrkei-beschlossen/a-56068756, Zugriff 2.2.2020
FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046544.html, Zugriff
11.3.2021
ICNL – The International Center for Not-for-Profit-Law (20.10.2020): Civic Freedom Monitor: Turkey, https://www.icnl.org/resources/civicfreedom-monitor/turkey, Zugriff 18.11.2020
Independent (27.12.2020): Turkish human rights groups face being shut down as Erdogan passes law stifling
NGOs, https://www.independent.co.uk/news/world/europe/turkeyoversight-law-ngos-b1779231.html, Zugriff 2.2.2021
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (30.12.2020): Neues Gesetz alarmiert türkische Zivilgesellschaft, https://www.nzz.ch/international/tuerkeineues-gesetz-alarmiert-die-zivilgesellschaft-ld.1594276, Zugriff 2.2.2021
Ombudsperson und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung
Letzte Änderung: 17.05.2021
Seit 2012 verfügt die Türkei auch über das Amt einer Ombudsperson mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden (AA 24.8.2020). Die Ombudsperson hat ihre Erfolgsbilanz durch ein aktiveres Engagement bei der Sensibilisierung für ihre Rolle verbessert. Die Institution schwieg jedoch zu politisch kritischen Fragen im Zusammenhang mit den Grundrechten. Der Ombudsperson fehlen nach wie vor die Befugnisse, von Amts wegen Untersuchungen einzuleiten und in anhängigen Fällen Rechtsmittel einzulegen. Die Ombudsperson behandelt lediglich Beschwerden hinsichtlich des Vorgehens der öffentlichen Verwaltung (EC 6.10.2020), insbesondere bei Menschenrechtsproblemen und Personalfragen. Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten fallen allerdings nicht in ihren Zuständigkeitsbereich (USDOS 30.3.2021, S.60).
Die 2012 gegründete Menschenrechts-Institution der Türkei (Insan Hakları Kurumu) wurde 2016 durch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Human Rights and Equality Institution of Turkey - HREI; Insan Hakları ve Eşitlik Kurumu) ersetzt. Die Institution besteht aus elf Mitgliedern, die vom Staatspräsidenten bestimmt werden. Ihr kommt die Rolle des "Nationalen Präventionsmechanismus" gemäß OPCAT zu. Menschenrechtsorganisationen werfen der Institution fehlende Unabhängigkeit vor (AA 24.8.2020).
Weder die Ombudsperson noch die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder sind nicht nach den Pariser Prinzipien akkreditiert. Bislang hat die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung keine Akkreditierung bei der globalen Allianz für nationale Menschenrechtsinstitutionen beantragt (EC 6.10.2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-
enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 –
Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-
2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 2.4.2021
Wehrdienst
Letzte Änderung: 17.05.2021
In den Artikeln 2, 25 und 26 des türkischen Wehrdienstgesetzes heißt es, dass jeder Mann in der Türkei zur Einberufung verpflichtet ist und sich ab dem 1. Jänner des Jahres, in dem er zwanzig Jahre alt wird, anmelden muss. Der Militärdienst gilt nicht für Frauen. Wehrpflichtiger bleibt man bis zum 1. Jänner des Jahres, in dem man 41 wird. Im Falle einer Mobilmachung können Männer bis zu ihrem 65. Lebensjahr zum Militärdienst einberufen werden. Türkische Staatsbürger, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Ausland haben, sind ab dem
Jahr, in dem sie 19 Jahre alt werden, bis zum Ende des Jahres, in dem sie 38 Jahre alt werden, verpflichtet, der Einberufung zu folgen. Männer, die sich freiwillig zur Teilnahme an den Streitkräften melden, können dies ab dem Alter von 18 Jahren tun. Die türkischen Gesetze und Verordnungen sehen nur für Kranke oder Behinderte und für Einberufungspflichtige, deren Bruder während des Militärdienstes im Kampf gestorben ist, eine Ausnahme vom Militärdienst vor. Darüber hinaus ist es in der Praxis möglich, eine Ausnahmeregelung zu erhalten, indem man erklärt, dass man homosexuell ist. Die Verschiebung des Militärdienstes kann auf Grundlage des Gesetzes 1111, Artikel 35, erfolgen: Ein diesbezüglicher Antrag kann aus Gründen der Unentbehrlichkeit für jemanden eingereicht werden, der für die Regierung, die (Verteidigungs-)Industrie oder als Berufssportler arbeitet; wenn die Person noch studiert (Universitäten übermitteln eine standardisierte Aufschiebung für ihre Studenten); wenn die Person im Ausland arbeitet; und bei schlechter Gesundheit (mit ärztlicher Bestätigung). Eine Verschiebung des Militärdienstes kann auch wegen Inhaftierung beantragt werden. In der Regel wird eine Verschiebung um ein Jahr gewährt. Diese kann bei Vorlage der richtigen Unterlagen um ein Jahr verlängert werden. Das türkische Wehrgesetz erlaubt es Studenten, die zum Militärdienst einberufen werden, zunächst ihre Universitätsausbildung (bis zu dem Jahr, in dem sie 30 Jahre alt werden) oder ihre Postdoc-Ausbildung und Forschung (bis zu dem Jahr, in dem sie 36 Jahre alt werden) abzuschließen (MFA-NL 11.7.2019). Der Einsatzort für den Wehrdienst wird durch das Los bestimmt (ÖB 10.2020). Die Armee hat vor einigen Jahren den Einsatz von Wehrpflichtigen im Kampf eingestellt (MFA-NL 11.7.2019).
Mit dem Gesetz 7179 vom Juni 2019 wurde der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt, und die Möglichkeit des Freikaufs vom Wehrdienst permanent geregelt. Bis dahin gab es nur befristete Regelungen (ÖB 10.2020). Dem Staatspräsidenten obliegt es, die Dauer festzulegen. Allerdings dürfen die sechs Monate nicht unterschritten werden (HDN 25.6.2019). Nach dem Freikauf aus dem Wehrdienst muss lediglich eine Grundausbildung von 21 Tagen abgeleistet werden. Wehrpflichtige Auslandstürken absolvieren statt dieser verkürzten Grundausbildung einen Fernkurs gemäß den Vorgaben des Verteidigungsministeriums und müssen nicht mehr einrücken. Die Höhe der im Hinblick auf den Freikauf zu bezahlende Summe beläuft sich mit Stand Oktober
2020 auf rund € 5.560 (ÖB 10.2020). Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gilt als Voraussetzung, dass sie seit mindestens drei Jahre arbeiten, exklusive der Zeit, die sie im Inland verbracht haben. Dies gilt auch für Doppelstaatsbürger - für sie gilt ebenfalls die türkische Wehrpflicht - jedoch auch ohne Arbeitsverhältnis als Bedingung (ÖB 10.2020). Nebst Personen, die sich dem Militärdienst entziehen, und Deserteuren (Connection e.V. 11.7.2019; vergleiche DFAT 10.9.2020) sind u.a. auch jene im Ausland lebenden Staatsbürger von der Freikaufsoption ausgeschlossen, die eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis infolge eines Asylantrages erhalten haben (ÖB 10.2020).
Gemäß Bestimmungen der Disziplinarordnung sowie der Gesundheitsrichtlinie des türkischen Militärs fällt Homosexualität immer noch unter "fortgeschrittene psychosexuelle Störungen". Angehörige sexueller Minderheiten gelten als untauglich bzw. werden bei Bekanntwerden ihrer Orientierung aus der Armee entfernt. Ein Gesetz vom Januar 2018 über Disziplinarmaßnahmen für Sicherheitskräfte sah vor, dass "abnormale bzw. perverse" Handlungen für das gesamte Sicherheitspersonal ein Grund zur Entlassung sind (ÖB 10.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Die Homosexualität oder Transsexualität muss dabei durch psychologische Tests und Behandlungen sowie manchmal durch visuelle "Beweismittel" nachgewiesen werden (ÖB 10.2020; vergleiche AA 24.8.2020).
Berichten zufolge erlitten einige Rekruten, die ihren Wehrdienst ableisteten, schwere Schikanen, körperliche Misshandlungen und Folterungen, die manchmal zu Selbstmord führten. Menschenrechtsgruppen berichten, dass verdächtige Todesfälle im Militär weit verbreitet sind. Die Regierung untersuchte sie nicht systematisch und gibt keine Informationen hierzu frei. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) und Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) meldeten mindestens 18 verdächtige Todesfälle im Jahr 2020 (USDOS 30.3.2021, S.7).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 19.11.2020
Connection e.V. (11.7.2019): Freikaufsregelung, Ausbürgerung,
Ausmusterung und Asyl, https://de.connection-ev.org/article-1609, Zugriff 19.11.2020
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020):
DFAT Country Information Report
Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/countryinformation-report-turkey.pdf, Zugriff 19.11.2020
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-
enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 19.11.2020
HDN – Hürriyet Daily News (25.6.2019): Parliament adopts bill reducing conscription, making paid military service exemption permanent, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-parliamentratifies-new-military-service-law-144475, Zugriff 19.11.2020
MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten /ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplichtturkije-juli-
2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+b ronnen.pdf, Zugriff 19.11.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 19.11.2020
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 –
Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 2.4.2021
Kurdisch-stämmige Rekruten in der Armee
Letzte Änderung: 26.01.2021
Das Gesetz in der Türkei macht keinen Unterschied zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dies gilt auch für die Vorschriften über den Militärdienst und die Rekrutierung (MFA-NL 11.7.2019). Es gibt keine Hinweise darauf, dass kurdisch-stämmige Rekruten alleine wegen ihrer Abstammung anders behandelt werden (VB 4.6.2019). Daher ist es möglich, dass ein türkischer Wehrpflichtiger kurdischer Herkunft in einer Provinz eingesetzt wird, in der die Mehrheit der Bevölkerung kurdisch ist. Es gibt keine politische Intention, türkisch-kurdische Wehrpflichtige gegen türkisch-kurdische Kämpfer einzusetzen(MFA-NL 11.7.2019).
Nach vorliegenden Information besteht keine Systematik in der Diskriminierung von Minderheiten im Militär. Es gibt aber Einzelfälle. Zudem ist ein Aufstieg im System für Angehörige von Minderheiten schwierig (ÖB 10.2020). Während der Direktor der türkischen Menschenrechtsorganisation Hafiza Merkez in einem Interview mit dem UK Home Office meinte, dass der Militärdienst im Allgemeinen schon nicht schön, aber für Kurden noch schwieriger sei, sah ein Menschenrechtsanwalt den Militärdienst als Erniedrigung für Kurden, da der kurdische Alltag von vielen Zwischenfällen mit der Armee und der Polizei geprägt sei. Im Unterschied zu den Türken ist der Militärdienst für die Kurden nicht mit Stolz verbunden (UKHO 1.10.2019). Auch laut Kontaktpersonen der NGO Schweizerische Flüchtlingshilfe sei es schwierig zu sagen, ob Minderheiten im Militärdienst systematisch misshandelt würden, jedoch gebe es zahlreiche Beispiele von Misshandlungen an Angehörigen von Minderheiten in der Armee. Der Militärdienst sei jedenfalls ein gefährliches Umfeld für Angehörige von Minderheiten (SFH 16.9.2020). So wurde ein kurdischsprachiger Wehrpflichtiger von seinen Vorgesetzten in der Provinz Van im Mai 2018 schwer misshandelt, nachdem er auf Kurdisch gesungen hatte. Er erlitt schwere Verletzungen an seinem Gesicht und seinen inneren Organen. In einem weiteren Vorfall in der Provinz Gaziantep wurde ein Soldat von anderen Soldaten angegriffen, weil er ein Foto von Selahattin Demirtaş auf seinem Smartphone hatte, dem inhaftierten Führer der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) (MFA-NL 11.7.2019). Mitte August 2020 wurde ein kurdisch-stämmiger Rekrut von seinen türkischen Kameraden zusammengeschlagen und als Terrorist beschimpft, nachdem dieser zuerst Kurdisch sprach und hernach die Verwendung des Kurdischen im Bildungssystem propagierte (Meszopotamya 14.9.2020). In einer Anfrage an den türkischen Verteidigungsminister anlässlich der Misshandlungsfälle erklärte der HDP-Parlamentarier Lezgin Botan, dass Wehrpflichtige Gefahr laufen, festgenommen, inhaftiert, Gewalt ausgesetzt, schikaniert, beleidigt oder diskriminiert zu werden, nur weil sie kurdische Musik hören, auf Kurdisch singen oder sprechen oder mit Familienmitgliedern telefonieren, die kein Türkisch sprechen (MFA-NL 11.7.2019; vergleiche K24 10.5.2018).
Quellen:
K24 – Kurdistan 24 (10.5.2018): Middle East Conscript in Turkish army
'lynched' for singing in Kurdish, MPs
say, https://www.kurdistan24.net/en/culture/e9b13521-081d-402b-
9ea4-20f41eea9bb5, Zugriff 19.11.2020
Mezopotamya (14.9.2020): Kurdish soldier attacked at military post: römisch eins have no life
safety, http://mezopotamyaajansi25.com/en/search/content/view/10937
8?page=1&key=d424c33fdbca667ae286c2fd5f8bd557, Zugriff 19.11.2020 MFA-NL – The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten /ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplichtturkije-juli-
2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+b ronnen.pdf, Zugriff 19.11.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 19.11.2020
SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (16.9.2020): Türkei: Situation von kurdischen Personen im
Militärdienst, https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Pu blikationen/Herkunftslaenderberichte/Europa/Tuerkei/200915_TUR_Kur den_im_Militaerdienst.pdf, Zugriff 19.11.2020
UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (1.10.2010): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June
2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPOR T_2019.odt, Zugriff am 19.11.2020
VB – Verbindungsbeamter des BM.I für die Türkei [Österreich] (4.6.2019): Auskunft des VB, per Mail
Wehrersatzdienst / Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 26.01.2021
Das türkische Recht sieht die Möglichkeit eines Ersatzdienstes für Wehrdienstverweigerer nicht vor (MFA-NL 11.7.2019; vergleiche AA 24.8.2020, DFAT 10.9.2020). Eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist nicht möglich und wird mit einer Haftstrafe geahndet. Danach muss der Wehrdienst nachgeholt werden (ÖB 10.2020; vergleiche AA 24.8.2020). Strafen werden solange ausgesprochen, solange sich der Wehrpflichtige der Ableistung des
Militärdienstes entzieht. Die Strafe steigt, je länger man sich dem Dienst entzieht (DFAT 10.9.2020). Das Gesetz unterscheidet zwischen drei Arten der Umgehung des Militärdienstes: Umgehung der Registrierung/Sichtung (yoklama kaçakçılığı), Nichtmeldung für den tatsächlichen Dienst (bakaya) und Desertion (firar) (MFA-NL 11.7.2019). Seit Änderung von Artikel 63, des türkischen Militärstrafgesetzbuches ist nunmehr bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine
Verwaltungsstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich (AA 24.8.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020). Die Nichtzahlung von Geldstrafen kann theoretisch zur Beschlagnahme von Vermögenswerten und zur Einbehaltung von Gehältern und Renten führen. In der Praxis gibt es sehr viele Wehrpflichtige, welche der Wehrpflicht entfliehen, und der Staat ist in den meisten Fällen nicht in der Lage, diese weiterzuverfolgen (DFAT 10.9.2020). Die Verjährungsfrist beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit
Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtige werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen, jedoch meldet das Verteidigungsministerium nach Artikel 26, dem Innenministerium, wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, damit diese festgenommen werden können (AA 24.8.2020).
Der EGMR hat die Türkei bereits in einigen Fällen im Zusammenhang mit der Nichtanerkennung von Gewissensgründen für Wehrdienstverweigerung verurteilt (ÖB 10.2020). Zuletzt äußerte sich das Ministerkomittee des Europarates im Juni 2020 zur Situation der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei. Darin wurde die Türkei aufgefordert, die Strafverfolgung gegen drei namentlich angeführte Wehrdienstverweigerer einzustellen und desweiteren bis 21.6.2021 einen Aktionsplan mit konkreten Vorschlägen zu Maßnahmen vorzulegen, um die Feststellung des Gerichtshofes zu dieser Gruppe von Fällen zu berücksichtigen (CoE-CoM 4.6.2020).
Das türkische Gesetz zu Desertion definiert in Artikel 66 die Strafe für Desertion. Militärpersonal wird mit einer Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren belegt: wenn die betreffende Person sich von ihrer Einheit oder ihrem Einsatzort ohne Urlaub für mehr als sechs Tage entfernt hat; oder wenn die betreffende Person nach einem absolvierten Urlaub nicht innerhalb von sechs Tagen zum Dienst zurückkehrt und keine Entschuldigung dafür hat. Die Strafe beläuft sich auf mindestens zwei Jahre Gefängnis, wenn die Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn die Person während des Dienstes desertiert oder wenn die Person die Übertretung wiederholt. Artikel 67 definiert, dass Militärpersonal, das ins Ausland geflohen ist, mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann, und zwar nach einer Absenz von drei Tagen, falls die betreffende Person das Land ohne Erlaubnis verlässt. Die Strafe soll mindestens fünf Jahre betragen und auf bis zu zehn Jahre erhöht werden: wenn die ins Ausland geflohene Person Waffen, Munition oder weitere der Armee gehörende Gegenstände, Ausrüstung, Tiere oder Transportmittel entwendet; wenn sie während des Dienstes desertiert; wenn sie die Übertretung wiederholt; oder wenn sie während einer Mobilisierung (im Falle eines Krieges) desertiert. Schließlich können desertierte Militärangehörige für Befehlsverweigerung angeklagt und bestraft werden. Für andauernden Ungehorsam in der Öffentlichkeit drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Wer andere Soldaten zum Ungehorsam anstiftet, kann mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden (SFH 22.3.2018).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 19.11.2020
CoE-CoM - Council of Europe-Committee of Ministers (4.6.2020): H46-40 Ülke group v. Turkey (Application no 39437/98), 13377th meeting,
CM/Del/Dec(2020)1377/H46-
40, https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=09000 016809e8f6e, Zugriff 19.11.2020
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020):
DFAT Country Information Report
Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/countryinformation-report-turkey.pdf, Zugriff 19.11.2020
MFA-NL - The Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands (11.7.2019): Thematic Country of Origin Information Report Turkey: Military service, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten /ambtsberichten/2019/07/11/thematisch-ambtsbericht-dienstplichtturkije-juli-
2019/EN+Tab+Turkije+dienstplicht+4+juli+2019+zonder+vertrouwelijke+b ronnen.pdf, Zugriff 19.11.2020
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, per E-mail, Zugriff 19.11.2020
SFH – Schweizerische Flüchtlingshilfe (22.3.2018): Türkei: Desertion und Sicherheits-operationen im Südosten (August 2015 bis Mai 2016) –
Auskunft der SFH-
Länderanalyse, https://www.ecoi.net/en/file/local/1438152/1226_15314
73548_180322-tur-desertion-anonym.pdf, Zugriff am 19.11.2020
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 17.05.2021
Der durch den Ausnahmezustand verursachte Schaden in Bezug auf die Grundrechte und die damit zusammenhängenden, verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde nicht behoben. Es kam zu weiteren Rückschritten, vor allem in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und die Verfahrensrechte, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, den Schutz von Menschenrechtsverteidigern sowie die Freiheit von Misshandlung und Folter, insbesondere in Gefängnissen (EC 6.10.2020). Der Aktionsraum für die Zivilgesellschaft wird eingeschränkt (EP 21.1.2021).
Der Rechtsrahmen umfasst zwar allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Gesetzgebung und die Praxis müssen noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) inEinklang gebracht werden (EC 6.10.2020), denn die Konvention und die Rechtsprechung des EGMR werden bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht vollumfänglich berücksichtigt (AA 24.8.2020). Denn mehrere gesetzliche Bestimmungen verhindern nach wie vor den umfassenden Zugang zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in der Verfassung und in den internationalen Verpflichtungen des Landes verankert sind (EC 6.10.2020).
Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands fortgesetzt. Tausende Menschen werden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung gelten – vor allem Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger – werden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Die Behörden verbieten auch weiterhin willkürlich Demonstrationen und wenden bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen (AI 7.4.2021; vergleiche EC 6.10.2020).
Eine Reihe negativer Entwicklungen, insbesondere die während und nach dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen, haben einen abschreckenden Effekt erzeugt und zu einem zunehmend feindseligen Umfeld für Menschenrechtsverteidiger beigetragen. Besorgniserregend ist laut Menschenrechtskommissarin des Europarates der zunehmend virulente und negative politische Diskurs, Menschenrechtsverteidiger als Terroristen ins Visier zu nehmen und als solche zu bezeichnen, was häufig zu voreingenommenen Maßnahmen der Verwaltungsbehörden und der Justiz führt (CoE-CommDH 19.2.2020).
Zentrale Rechtfertigung für die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte bleibt der Kampf gegen den Terrorismus. In der Praxis sind die meisten Einschränkungen der Grundrechte auf den weit ausgelegten Terrorismusbegriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen StGB (z.B. Artikel 301, – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Artikel 299, – Beleidigung des Staatsoberhauptes) zurückzuführen. Diese Bestimmungen werden extensiv herangezogen (ÖB 10.2020, S.26) und die missbräuchliche Verwendung von Terrorismusvorwürfen in großem Umfang hält an. Neben tausenden Personen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, da sie vermeintlich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen [siehe Kapitel Gülen- oder Hizmet-Bewegung], befinden sich, nachdem keine neuen Zahlen veröffentlicht wurden, schätzungsweise mindestens 8.500 Personen - darunter gewählte Politiker und Journalisten - wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) entweder in Untersuchungshaft oder nach einer Verurteilung in Haft (HRW 13.1.2021).
Das Europaparlament sieht die Anti-Terror-Maßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Anti-Terror-Maßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen (EP 13.3.2019).
Auch das Verfassungsgericht ist in letzter Zeit in Einzelfällen von seiner menschenrechtsfreundlichen Urteilspraxis abgewichen. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats aufgrund nicht umgesetzter Urteile mit der Türkei. Zuletzt sorgte der Umgang der Türkei mit den EGMR-Urteilen in den
Fällen Selahattin Demirtaş (November 2018) und Osman Kavala (Dezember 2019) für Kritik. In beiden Fällen wurde ein Verstoß gegen Artikel 18, EMRK festgestellt und die Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert. Die Türkei entzieht sich der Umsetzung dieser Urteile entweder durch Verurteilung in einem anderen Verfahren (Demirtaş) oder durch Aufnahme eines weiteren Verfahrens (Kavala) (AA 24.8.2020).
Im Jahr 2019 stellte der EGMR in 97 Fällen (von 113) Verletzungen der EMRK fest, die hauptsächlich die Meinungsfreiheit (35), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (16), den Schutz des Eigentums (14), das Recht auf ein faires Verfahren (13), unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (12), die Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Leben (5) betrafen (EC 6.10.2020). Mit Stand 31.10.2020 waren 10.150 Verfahren aus der Türkei, das waren 16,6% aller am EGMR anhängigen Fälle (ECHR 31.10.2020). Dies bedeutet im
Vergleich zu den Werten von Ende November 2019 - 8.700 Verfahren und 14,5% aller Fälle - eine nennenswerte Steigerung (ECHR 30.11.2019).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschaland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 20.11.2020
AI – Amnesty International (7.4.2021): Türkei
2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048610.html, Zugriff
12.4.2021
CoE-CommDH – Council of Europe – Commissioner for Human Rights:
Commissioner for human rights of the Council of Europe Dunja Mijatović
(19.2.2020): Report following her visit to Turkey from 1 to 5 July 2019
[CommDH(2020)1], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024837/CommD H%282020%291+-++Report+on+Turkey_EN.docx.pdf, Zugriff 20.11.2020
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-
enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 20.11.2020
ECHR – European Court of Human Rights (31.10.2020): Pending
Applications Allocated To A Judicial Formation
30/10/2020, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_mont h_2020_BIL.PDF, Zugriff 20.11.2020
ECHR – European Court of Human Rights (30.11.2019): Pending
Applications Allocated To A Judicial Formation
30/11/2019, https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_mont h_2019_BIL.pdf, Zugriff 20.11.2020
EP - European Parliament (21.1.2021): Human rights situation in Turkey, in particular the case of Selahattin Demirtaş and other prisoners of conscience
[(2021/2506(RSP)], https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/T A-9-2021-0028_EN.pdf, Zugriff 17.2.2021
EP – European Parliament (13.3.2019): 2018 Report on Turkey – European Parliament resolution of 13 March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey
(2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubR ef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff
20.11.2020
HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043511.html, Zugriff
28.1.2021
ÖB – Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich] (10.2020):
Asylländerbericht
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
Meinungs- und Pressefreiheit / Internet
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die gesamte traditionelle Medienlandschaft, vom Fernsehen über das Radio bis hin zu den Printmedien, steht unter mehr oder weniger direkter Kontrolle der türkischen Regierung (EJO 5.8.2020; vlg. ÖB 10.2020). Die Mitglieder des Hohen Rundfunkrates (RTÜK) werden vom Parlament ernannt und sind fast ausschließlich Mitglieder der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) oder ihres politischen Verbündeten, der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) (FH 3.3.2021). In den letzten zehn Jahren haben Präsident Erdoğans Familie und Verbündete aus der Privatwirtschaft mehr als 90% der türkischen Nachrichtensender und Zeitungen erworben und kontrolliert (MDC 15.6.2020; vergleiche ÖB 10.2020). Diese Kontrolle verschafft Erdoğan einen entscheidenden Vorteil bei der Gestaltung des öffentlichen Diskurses zu seinen Gunsten. Die beiden meistverkauften Zeitungen, Sabah und Hürriyet, sind mittlerweile im Besitz von regierungsfreundlichen Medien-Mogulen (MDC 15.6.2020). Die wichtigsten Printmedien und Fernsehsender werden weitgehend von staatlichen Holdinggesellschaften kontrolliert, die wiederum unter massivem Einfluss der regierenden AKP stehen (USDOS 30.3.2021, S.30). Die Mainstream-Medien, insbesondere die Fernsehsender, spiegeln die Positionen der Regierung wider und bringen routinemäßig identische Schlagzeilen. Obwohl einige unabhängige Zeitungen und Websites weiterhin tätig sind, stehen sie unter enormem politischen Druck und werden routinemäßig strafrechtlich verfolgt (FH 3.3.2021; vergleiche HRW 13.1.2021, BS 29.4.2020). Human Rights Watch zählte Anfang 2021 87 Journalisten und Medienmitarbeiter, welche wegen ihrer journalistischen Arbeit in Untersuchungshaft waren oder Strafen wegen Terrorismusdelikten verbüßten (HRW 13.1.2021).
Während die Regierung 90% der nationalen Medien mit Hilfe von Regulierungsbehörden wie dem RTÜK kontrolliert, wenden der Pressewerberat (BIK), der staatliche Werbeaufträge vergibt, und die Präsidialdirektion für Kommunikation (CIB), die Presseausweise ausstellt, eindeutig diskriminierende Praktiken an, um die Medienkritiker des Regimes zu marginalisieren und zu kriminalisieren (RSF 4.2021).
Tiefgreifende Verschiebungen in den Mediennutzungsmustern haben die Fragmentierung der türkischen Medienlandschaft verschärft und die parteipolitischen und generationsbedingten Unterschiede in der Art und Weise, wie Türken Informationen über die Politik erhalten, vergrößert. In einer Umfrage von Mitte 2018 tritt das weitverbreitete Misstrauen gegenüber den Medien in der türkischen Öffentlichkeit zutage. 70% der Befragten waren der Meinung, dass die Medien "voreingenommene und nicht vertrauenswürdige Informationen präsentieren" (CAP 10.6.2020).
In vielen Fällen können Einzelpersonen den Staat oder die Regierung nicht öffentlich kritisieren, ohne das Risiko zivil- oder strafrechtlicher Klagen bzw. Ermittlungen in Kauf zu nehmen. Die Regierung schränkt die Meinungsfreiheit von Personen ein, die bestimmten religiösen, politischen oder kulturellen Standpunkten wohlwollend gegenüberstehen. Sich zu heiklen Themen oder in regierungskritischer Weise zu äußern, zieht mitunter Ermittlungen, Geldstrafen, strafrechtliche Anklagen, Arbeitsplatzverlust und Haftstrafen nach sich. Auf regierungskritische Äußerungen reagierte die Regierung häufig mit Strafanzeigen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, Terrorismus oder sonstiger Gefährdung des Staates. Die Regierung hat Hunderte von Personen wegen der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verurteilt und bestraft. Laut einer Umfrage von MetroPOLL im Juli 2020 betrachteten 62% die Medien des Landes als "nicht frei" (USDOS 30.3.2021, S.28f.).
Die Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit sind Ausfluss des weit ausgelegten Terrorismusbegriffs in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelner Artikel des türkischen Strafgesetzbuches. Diese Bestimmungen werden in den letzten Jahren häufiger herangezogen, um gegen kritische Stimmen vorzugehen (ÖB 10.2020; vergleiche PACE 22.4.2021, S.3, EC 6.10.2020). Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates (PACE) gab es keine Fortschritte bei der Auslegung der AntiTerrorismus-Gesetzgebung, welche nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) übereinstimmt (PACE 22.4.2021, S.3).
Politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen Journalisten und Medienschaffende, wie z. B. der Fall der Journalistin Melis Alphan, die wegen Verbreitung terroristischer Propaganda angeklagt wurde und mit bis zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis rechnen muss, halten an (EP 21.1.2021). Die unverhältnismäßige Umsetzung der restriktiven Maßnahmen wirkt sich weiterhin negativ auf die freie Meinungsäußerung und die Verbreitung der Stimmen der Opposition aus. Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen nach wie vor gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere internationale Standards und weichen von der Rechtsprechung des EGMR ab. Strafverfahren und Verurteilungen von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Anwälten, Schriftstellern und Nutzern sozialer Medien finden nach wie vor statt (EC 6.10.2020; vergleiche PACE 3.1.2020).
Der EGMR hat am 13.4.2021 im Sinne zweier prominenter Journalisten, Ahmet Altan und Murat Aksoy, entschieden, dass deren Inhaftierung unter anderem einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, Freiheit und Sicherheit darstelle, und die Türkei beiden Männern eine Entschädigung zahlen müsse, denn in beiden Fällen habe es keine konkreten Beweise für die zur Last gelegten Straftaten gegeben (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Das Gericht stellte im Falle Aksoy, der nach dem Putschversuch wegen angeblicher Verbindung zur Gülen-Bewegung bis 2017 - bzw. neuerlich bis Jänner 2019 - in Haft saß, fest, dass es keine plausiblen Gründe für die Inhaftierung gegeben hätte. Altan wurde hingegen wegen Unterstützung des Putschversuches zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einem Freispruch durch das Oberste Berufungsgericht (Kassationsgericht) wurde er 2019 wegen "Unterstützung einer Terrorgruppe" zu zehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (DW 13.4.2021; vergleiche bianet 13.4.2021). Der EGMR stellte in seinem Urteil fest, dass kein "hinreichender Verdacht" vorlag, dass Altan vom Putschversuch im Vorhinein wusste, weshalb dessen Inhaftierung unbegründet war (DW 13.4.2021; vergleiche ECHR 13.4.2021). Bereits tagsdarauf, am 14.4.2021 wurde Altan freigelassen, da das Kassationsgericht die bestehende Verurteilung mit der Begründung aufhob, dass Artikel 220/7 des Strafgesetzbuches, der eine Strafminderung vorsieht, ignoriert wurde bzw. die bereits verbüßte Haft ausreiche (Duvar 14.4.2021; vergleiche SDZ 14.4.2021). Zudem hätte es für die Altan zur Last gelegten Straftaten wie Terrorunterstützung keine Beweise gegeben (DW 14.4.2021).
Im Oktober 2019 führte die Justizreformstrategie zu einer geringfügigen Einengung der Definition terroristischer Propaganda und zu einer Ausweitung des Rechts auf Berufung für diejenigen, die zu einer Haftstrafe von weniger als fünf Jahren verurteilt wurden. Trotzdem wird die überarbeitete Definition von terroristischer Propaganda weiterhin zur Kriminalisierung und strafrechtlichen Verfolgung von Journalisten verwendet. Entgegen klarer Bestimmungen hinsichtlich der Dauer einer Untersuchungshaft werden Journalisten weiterhin willkürlich verhaftet und monatelang eingesperrt (IPI 30.11.2020).
Aufgrund ihrer Berichterstattung werden Journalisten, meist aus den prokurdischen Medien, der Beleidigung des Präsidenten und der Nation, der Gefährdung der nationalen Sicherheit und in den letzten Jahren mehr denn je der Propaganda, der Kollaboration mit oder der Zugehörigkeit zu terroristischen Organisationen beschuldigt (EJO 5.8.2020). Selbstzensur ist weit verbreitet aus Angst, dass die Kritik an der Regierung zu Vergeltungsmaßnahmen führen könnte (USDOS 30.3.2021, S.28; vergleiche EJO 5.8.2020). Journalisten und Medienmitarbeiter befinden sich in Untersuchungshaft oder verbüßen Strafen, da deren journalistische Tätigkeiten als Terrorismus-bezogene Vergehen gewertet wurden (HRW 13.1.2021; vergleiche IPI 30.11.2020). Hinzukommt meist ein Reiseverbot (IPI 30.11.2020). Journalisten, die für kurdische Medien in der Türkei arbeiten, werden weiterhin unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Eine kritische Berichterstattung aus dem Südosten des Landes ist stark eingeschränkt (HRW 14.1.2020). Mehr als ein Jahr vor dem Prozess im Gefängnis zu verbringen, ist die neue Norm, und lange Gefängnisstrafen sind üblich, in einigen Fällen bis zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Begnadigung (RSF 2020). Beweise zur Rechtfertigung von Untersuchungshaft und terroristischer Anschuldigungen bestehen in erster Linie aus Produkten journalistischer Arbeit, einschließlich veröffentlichter Artikel und Fotos, Kontakten zu Quellen und Social Media-Posts (IPI 18.11.2019).
Im Allgemeinen kann öffentliche Kritik an Themen, die für die Regierung sensibel sind, strafrechtlich verfolgt werden. Journalisten, die z.B. über die militärischen Aktivitäten der Türkei in Syrien oder Libyen berichten, wurden einer Reihe von Verbrechen angeklagt, darunter Verstöße gegen das Geheimhaltungsgesetz oder das Schüren von Hass. Beispielsweise wurden im März 2020 sechs Journalisten wegen der Nennung des Namens eines Geheimdienstmitarbeiters, der in Libyen ums Leben kam, verhaftet, obgleich dessen Identität im Parlament publik gemacht worden war. Erst nach gut einem halben Jahr wurden fünf von ihnen nach einem Schuldspruch entlassen, wobei ein Berufungsverfahren läuft (IPI 30.11.2020).
Die Zahl der inhaftierten Journalisten ist von einem Höchststand von 170 im Jahr 2017 deutlich zurückgegangen. Das Internationale Presseinstitut (IPI) zählte 77 Journalisten, die Anfang Oktober 2020 hinter Gittern waren. Nichtsdestotrotz bleibt die Türkei laut IPI im Spitzenfeld jener Länder, welche die meisten inhaftierten Journalisten weltweit verzeichnen (IPI 30.11.2020). Die Türkei verbesserte sich lediglich um einen Rang im World Press Freedom Index 2021 im Vergleich zum Vorjahr [1. Rang = bester Rang] den Platz 153 von 180 Ländern belegend (RSF 4.2021).
Die weitverbreitete Anwendung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die sehr weite Auslegung des Terrorismusbegriffs und der allgemeine Rechtsrahmen ermöglichen es der Exekutive, Online-Inhalte ohne Gerichtsbeschluss aus einer Vielzahl von Gründen zu blockieren. Die derzeitige Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung, zum Internet, zu den Nachrichtendiensten sowie das Strafgesetzbuch behindern die Meinungsfreiheit und stehen im Widerspruch zu europäischen Standards (EC 6.10.2020). Das Europäische Parlament brachte im Jänner 2021 seine ernste Besorgnis über die Überwachung von Social-Media- Plattformen zum Ausdruck und verurteilte die Schließung von Social-MediaKonten durch die türkischen Behörden. Es betrachtete dies als eine weitere Einschränkung der Meinungsfreiheit und als ein Instrument zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft (EP 21.1.2021).
Am 1.10.2020 trat in der Türkei das Gesetz über die Beschränkung von sozialen Medien in Kraft. Es zwingt Betreiber von Plattformen, mit mehr als einer Million Nutzer täglich, von gerichtlicher Seite als verboten eingestufte Inhalte binnen 48 Stunden zu löschen oder zu sperren. Dabei werden erhebliche Strafandrohungen, einschließlich Geldstrafen bis zu ca. fünf Millionen Dollar, die Drosselung der Internet-Geschwindigkeit (bis zu 90%) oder ein Werbeverbot für die Dienste der besagten Plattform angedroht (BAMF 5.10.2020; vergleiche FNS 25.11.2020, FH 14.10.2020, ÖB 10.2020). Als Verstoß gegen das Gesetz zählen zum Beispiel die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern (FNS 25.11.2020). Soziale-Medien-Plattformen mit mehr als einer Million Zugriffen pro Tag aus der Türkei müssen mindestens einen Repräsentanten in der Türkei ernennen. Dieser muss türkischer Staatsangehöriger sein. Seine Kontaktdaten müssen auf der Webseite direkt sichtbar sein (ÖB 10.2020). Die betroffenen Online-Plattformen sind gezwungen, Berichte an die türkische Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) über ihre Reaktion auf Anfragen von Verwaltungs- oder Justizbehörden hinsichtlich Zensur oder Sperrung des Zugangs zu Online-Inhalten zu senden. Auf Anordnung eines Richters oder der BTK wird die Union der Zugangsanbieter (ESB) auch verpflichtet sein, InternetHosts oder Suchmaschinen anzuweisen, Entscheidungen über Zugangssperren innerhalb von vier Stunden unter Androhung einer Verwaltungsstrafe zu vollstrecken. Empfindliche Geldstrafen drohen auch, wenn die InternetPlattformen Benutzerdaten nicht speichern (RSF 1.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020). Trotz durchaus begrüßenswerter Bestimmungen zum Schutz persönlicher Rechte ist zu befürchten, dass - vor allem angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz - durch das neue Gesetz die Regierung die Kontrolle über die Medienlandschaft weiter ausbauen und die Möglichkeiten zur Meinungsäußerung reduzieren wird. Kritik in sozialen Medien soll eingeschränkt und die Identität von anonymen Nutzern schnell ausfindig gemacht werden können (ÖB 10.2020). Bereits einen Monat nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen wurden jeweils
10 Millionen Lira (1,17 Mio. US-Dollar) an Bußgeldern gegen Social-MediaGiganten wie Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und YouTube verhängt, weil sie gegen das Gesetz verstoßen hatten (TM 4.11.2020), gefolgt von einer erneuten Strafe im Ausmaß von 30 Mio. Lira, weil die Firmen immer noch keinen offiziellen Representanten, wie vom Gesetz verlangt, ernannt hatten (BI 11.12.2020). Zunächst haben nur Institutionen das Recht, die Sperrung oder Löschung von Inhalten zu verlangen. Den Bürgerinnen und Bürgern soll diese Möglichkeit ab Mitte 2021 zustehen (FNS 25.11.2020).
Am 8.4.2021 hob das türkische Verfassungsgericht einen Artikel eines Regierungsdekrets auf, das nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 erlassen wurde und zur Schließung von Dutzenden von Medienhäusern führte. Die Begründung hierfür und die anschließende Beschlagnahmung des Eigentums war die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" (PACE 22.4.2021, S.4; vergleiche TM 8.4.2021). Das Urteil könnte laut Aussagen von Juristen für mehr als zehn Medien positive rechtliche Konsequenzen haben, nicht jedoch für jene Medienhäuser, denen meist ein Naheverhältnis zur Gülen-Bewegung unterstellt wurde, die namentlich im Dekret genannt werden (TM 8.4.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Anlässlich der Corona-Krise hat die Regierung versucht, die öffentliche Debatte über das Virus zu kontrollieren. Dies ging so weit, dass Personen wegen kritischer, laut Regierung "grundloser und provokativer" Beiträge in den sozialen Medien verhaftet wurden (AM 24.3.2020). Innerhalb der ersten 42 Tage der Corona-Krise wurden laut Innenminister 402 Personen nach Durchsuchung von6.000 Accounts wegen angeblicher Verbreitung "falscher und provokativer"Posts in sozialen Medien festgenommen. Begründet wurde dies damit, dass die
Beiträge u.a. einen Versuch zur Verbreitung von Panik in Bezug auf den Coronavirus darstellten, oder die Anschuldigung in Richtung Regierung zu wenig gegen die Eindämmung des Virus getan und hinsichtlich der Todes- und Infektionszahlen gelogen zu haben, darstellten (France24 27.4.2020; vergleiche FNS 16.3.2020). Zu den Betroffenen gehörten auch Mediziner, die in ihren Beiträgen die Bürger über grundlegende Gesundheitsvorkehrungen informierten, und vor der Unzulänglichkeit staatlich empfohlener Maßnahmen warnten (POMED 17.4.2020).
Der Ausbruch des Coronavirus in der Türkei veranschaulichte den Anstieg des öffentlichen Misstrauens gegenüber den Medien als auch die Fragmentierung hinsichtlich des Weges, wie die Bürger ihre Informationen beziehen. Viele Türken, die an der Integrität der traditionellen Medien zweifeln, haben die rosige Berichterstattung über die Reaktion der Türkei auf die Pandemie mit Skepsis betrachtet und sich stattdessen den sozialen Medien zugewandt (CAP 10.6.2020).
Im Herbst 2020 standen medizinische Vereinigungen, wie die Türkische Ärztekammer (TTB) im Schussfeld der Kritik seitens der Staatsspitze, da sie die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung der Corona-Krise ebenso kritisierten wie die mangelnde Daten-Transparenz des Gesundheitsministeriums. Mitte Oktober 2020 verlangte Staatspräsident Erdoğan den Einfluss der Ärztekammer und anderer Berufsverbände gesetzlich einzuschränken, da diese seiner Meinung nach in einem unerträglichen Ausmaß gegen die Verfassung handelten. Überdies warf der Staatspräsident der Spitze der Ärztekammer die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Der Vorsitzende der ultra-nationalistischen Partei der
Nationalistischen Bewegung (MHP), Regierungspartner der AKP, Davlet Bahçeli, beschuldigte die Ärztekammer, "den Terrorismus zu preisen" (AM 15.10.2020; vergleiche BI 14.10.2020).
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Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die Verfassung enthält umfassende Garantien grundlegender Menschenrechte, einschließlich der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Allerdings bestehen für viele verfassungsmäßige Rechte Ausnahmen, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit (DFAT 10.9.2020; vergleiche AA 24.8.2020), der öffentlichen Moral oder der Verbrechensverhütung Versammlungen zu verbieten, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen nachzuweisen. Restriktive und vage formulierte Gesetze erlauben es den Behörden, unverhältnismäßige Maßnahmen zur
Einschränkung der Versammlungsfreiheit zu verhängen und sogar die legitime Ausübung dieses Rechts durch einen Diskurs zu stigmatisieren, der Demonstranten immer wieder mit Extremismus und gewalttätigen Gruppen in Verbindung bringt (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
Seit 2015 gab es im Bereich der Versammlungsfreiheit Rückschritte, insbesondere durch die während des Ausnahmezustands erfolgte Ausweitung der Befugnisse der Gouverneure, öffentliche Versammlungen untersagen zu können.
Der breite Ermessensspielraum der Gouverneure wird für weitere Einschränkungen genutzt. Zahlreiche Demonstrationen und Zusammenkünfte werden entweder mit einem Blanko-Bann von vornherein untersagt bzw. unter Anwendung von Polizeigewalt aufgelöst (ÖB 10.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Die seit langem bestehenden Versammlungsverbote im Südosten des Landes blieben auch 2020 in Kraft. Das ganze Jahr 2020 über haben die Gouverneure von Van, Tunceli, Muş, Hâkkari und mehreren anderen Provinzen öffentliche Proteste, Demonstrationen, Versammlungen jeglicher Art und die Verteilung von Broschüren verboten (USDOS 30.3.2021, S.42).
Die Europäische Kommission sah 2020 weitere Rückschritte hinsichtlich der
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, wobei die Gesetzgebung und ihre Umsetzung nicht im Einklang mit europäischen Normen stehen und sich nicht an die türkische Verfassung halten. Wiederkehrende Verbote, unverhältnismäßige Interventionen und übermäßige Gewaltanwendung bei friedlichen
Demonstrationen, Ermittlungen, Verwaltungsstrafen und strafrechtliche
Verfolgung von Demonstranten unter dem Vorwurf Terrorismus-bezogener Aktivitäten wurden weiterhin gemeldet (EC 6.10.2020). Infolgedessen haben heute viele Menschen in der Türkei Angst davor, den öffentlichen Raum für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu beanspruchen (FIDH/OMCT/İHD 7.2020).
In der Praxis werden bei regierungskritischen politischen Versammlungen regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen (AA 24.8.2020). Während regierungsfreundliche Kundgebungen stattfinden dürfen, wurden Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und gewerkschaftlichen Gruppen, Proteste von Opfern staatlicher Säuberungen, Parteiversammlungen der Opposition ebenso verboten wie Demonstrationen oder
Festivitäten von Kurden (FH 3.3.2021; vergleiche BS 29.4.2020). Einschränkungen der Versammlungsfreiheit betreffen nicht selten Frauen und besonders vulnerable Gruppen wie LGBTI und Minderheiten (ÖB 10.2020). Auch Demonstrationen von Umweltaktivisten oder solche, welche die militärischen Interventionen der Türkei in Syrien zum Thema hatten, sowie Proteste gegen die Absetzung von Bürgermeistern meist der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) bzw. die Ernennung von Regierungssachwaltern an deren Stelle, wurden von den Behörden aus Sicherheitsgründen verboten (EC 6.10.2020).
Nach den vom Justizministerium veröffentlichten offiziellen Zahlen wurden 2018 Ermittlungen gegen 8.728 Personen wegen Verstoßes gegen das Gesetz Nr. 2911 über Versammlungen und Kundgebungen eingeleitet, während gegen 4.837 dieser Personen Strafanzeige erstattet wurde (İHD 18.5.2020b). Unabhängigen Beobachtungen zufolge haben die Sicherheitskräfte zwischen April 2019 und Dezember 2019 bei mindestens 1.138 friedlichen Zusammenkünften und Demonstrationen interveniert, bei denen mindestens 2.851 Personen festgenommen wurden (EC 6.10.2020). Die türkische
Menschenrechtsvereinigung İHD zählte hingegen für das gesamte Jahr 2019 1.344 Interventionen und 3.741 Festnahmen. Laut İHD wurden 3.935 Personen während Versammlungen oder Protesten von Sicherheitskräften geschlagen und verletzt, der höchste Wert in den vergangenen fünf Jahren (İHD 18.5.2020b).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN
27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Das Gesetz erlaubt es der Polizei auch, Personen ohne Genehmigung eines Staatsanwalts in "Schutzhaft" zu nehmen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine Bedrohung für sich selbst oder die öffentliche Ordnung darstellen (USDOS 30.3.2021, S.40).
Im Jahr 2019 fällte das Verfassungsgericht in 37 Einzelanträgen Urteile zur Versammlungsfreiheit, wobei es in 19 dieser Anträge eine Verletzung und in 7 davon keine Verletzung feststellte. Im September 2019 kam das Verfassungsgericht in seinem Urteil zur Demonstration am 1.5.2009 zu dem Schluss, dass die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt wurde. Dies ist das erste innerstaatliche Urteil des Gerichtshofs zur willkürlichen Verhinderung der Gedenkfeiern zum 1. Mai (EC 6.10.2020).
[Anm.: Zum Thema Versammlungsfreiheit siehe auch die Kapitel "Frauen, Kinder und Minderjährige" sowie "Sexuelle Minderheiten"]
Vereinigungsfreiheit
Das Gesetz sieht zwar die Vereinigungsfreiheit vor, doch die Regierung schränkt dieses Recht weiterhin ein. Die Regierung nutzt Bestimmungen des Anti-TerrorGesetzes, um die Wiedereröffnung von Vereinen und Stiftungen zu verhindern, die sie zuvor wegen angeblicher Bedrohung der nationalen Sicherheit geschlossen hatte (USDOS 30.3.2021, S.42).
Die Verordnung von 2018 und das geänderte Gesetz, das im März 2020 im
Rahmen eines Omnibus-Gesetzes verabschiedet wurde, machen es für alle
Vereinigungen zur Pflicht, alle ihre Mitglieder und nicht nur ihre Vorstandsmitglieder im Informationssystem des Innenministeriums zu registrieren. Diese gesetzliche Verpflichtung steht nicht im Einklang mit den Richtlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hinsichtlich der Vereinigungsfreiheit (EC 6.10.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.44). Diese Gesetzesänderung verpflichtet die Vereine die lokalen Verwaltungsbehörden innerhalb von 30 Tagen über Änderungen in der Mitgliedschaft zu informieren, sonst drohen Strafen (USDOS
30.3.2021, S.44). Ein Antrag des Vereins für Menschenrechte auf Aufhebung der Bestimmung scheiterte und wurde vom Staatsrat [Anm.: entspricht in etwa dem hiesigen Verwaltungsgerichtshof] abgewiesen. Das Berufungsverfahren läuft (Stand Oktober 2020) (ÖB 10.2020).
Die Kommissarin für Menschenrechte des Europarates stellte in ihrem 2020 veröffentlichten Bericht zu ihrem Besuch der Türkei 2019 fest, dass ein besonderes Vermächtnis des Ausnahmezustands die völlige Schließung einer großen Zahl von NGOs sowie die Liquidation ihres Vermögens durch Notverordnungen war, und zwar durch eine einfache Entscheidung der Exekutive ohne jegliche gerichtliche Entscheidung oder Kontrolle. Trotz des dringenden Aufrufs bereits des vormaligen Kommissars gleich zu Beginn des
Ausnahmezustands, diese Praxis unverzüglich zu beenden, schlossen die
Behörden, ohne Erklärung oder Begründung, 1.410 Vereine, 109 Stiftungen und
19 Gewerkschaften (CoE-CommDH 19.2.2020). Laut Bericht der Berufungskommission zum Ausnahmezustand waren mit Jahresende 2020 von 1.598 Vereinigungen, welche durch die Notstandsdekrete aufgelöst wurden, 188 wieder zugelassen worden. Von den 129 aufgelösten Stiftungen waren 20 rehabilitiert, während keine der 19 Gewerkschaften und 23 Föderationen bzw. Konföderationen wieder zugelassen wurden (ICSEM 4.2.2021, S.9 Tab.). Berufungsverfahren von Einrichtungen, die Rechtsmittel gegen die Schließung einlegten, verlaufen intransparent und bleiben unwirksam (USDOS 30.3.2021, S.42).
Gewerkschaftsaktivitäten, einschließlich des Streikrechts, sind gesetzlich und in der Praxis eingeschränkt. Gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten der Arbeitgeber sind weit verbreitet, und der gesetzliche Schutz wird nur unzureichend durchgesetzt. Gewerkschaften und Berufsverbände haben unter Massenverhaftungen und Entlassungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand 2016-18 und dem allgemeinen Zusammenbruch der
Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gelitten (FH 3.3.2021).
Laut Gesetz müssen Personen, die eine Vereinigung organisieren, die Behörden nicht vorher benachrichtigen, aber eine Vereinigung muss die Behörden verständigen, bevor sie mit internationalen Organisationen in Kontakt tritt oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhält, und sie muss detaillierte Dokumente über solche Aktivitäten vorlegen (USDOS 30.3.2021, S.42).
Auswirkungen der COVID-19 Pandemie
Pandemie-bedingte Regeln zur sozialen Abstandsregelung sind oft selektiv angewandt worden, um die Auflösung von nicht genehmigten Demonstrationen im Jahr 2020 zu rechtfertigen (FH 3.3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.41). So haben, unter dem Vorwand von Covid-19, Provinzgouverneure friedliche Proteste von Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Beschäftigten im Gesundheitswesen, Anwälten und politischen Oppositionsparteien verboten (HRW 13.1.2021).
Quellen:
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Opposition
Letzte Änderung: 07.05.2021
Obwohl Verfassung und Gesetze den Bürgern die Möglichkeit bieten, ihre Regierung durch Wahlen zu wechseln, schränkt die Regierung den fairen politischen Wettbewerb ein, auch durch die Begrenzungen der grundlegenden Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die Behörden schränken die Aktivitäten oppositioneller politischer Parteien, deren Anführer und Funktionäre ein, unter anderem durch Verhaftungen. Mehrere Parlamentarier sind nach der Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität im Jahr 2016 weiterhin der Gefahr einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt. Restriktive Verordnungen der Regierung beeinträchtigen die Möglichkeit vieler Oppositioneller, politische Aktivitäten durchzuführen, wie z.B. die Organisation von Protesten oder Veranstaltungen für politische Kampagnen und die Verbreitung kritischer Botschaften in den sozialen Medien. Die Regierung hat die Suspendierungen demokratisch gewählter Bürgermeister, basierend auf deren angeblicher Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen, fortgesetzt, und diese durch staatliche "Treuhänder" ersetzt. Dieses
Vorgehen richtet sich am häufigsten gegen Politiker, die der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihrer lokalen Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), angehören (USDOS 30.3.2021, S.53). Laut Innenminister Soylu wurden seit 2014 151 Bürgermeister, fast alle aus den Reihen der HDP, wegen Terrorismus-Verbindungen entlassen und durch Treuhänder ersetzt. 73 der 151 ehemaligen Bürgermeister wurden in Summe zu 778 Jahren Gefängnis verurteilt (TM 26.11.2020).
Angesichts des Wiederaufflammens des Konflikts mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begannen 2016 Staatspräsident Erdoğan und seine Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vermehrt die HDP zu bezichtigen, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei als Terrororganisation gilt (NZZ 7.1.2016). Beispielsweise bezeichnete Erdoğan im November 2020 den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 aufgrund politisch motivierter Vorwürfe hinter Gittern sitzt, als Terrorist, und leugnete nebenbei die Existenz eines Kurdenproblems in der Türkei (TM 25.11.2020). Innenminister Süleyman Soylu bezichtigte die HDP, dass sie ihre Parteibüros als Rekrutierungsstellen für die PKK nütze und mit dieser in stetem Kontakt stünde (DS 30.12.2019). Hinzukam, dass sich Vertreter der HDP sowohl gegen das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Kurdenregionen der Türkei als auch gegen die ersten militärischen Interventionen in Syrien 2016 (Operation Euphratschild) und später 2018 (Operation Olivenzweig) äußerten. Die Behörden leiteten infolgedessen Ermittlungen gegen HDP-Politiker ein und begannen erstere systematisch aus ihren politischen Ämtern zu entfernen (MEI 3.2.2020).
Der permanente Druck auf die HDP beschränkt sich nicht auf Strafverfolgung und Inhaftierung. Die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder sind einer systematischen Kampagne der Verleumdung und des Hasses ausgesetzt. Sie werden als Terroristen, Verräter und Spielfiguren ausländischer Regierungen dargestellt (SCF 1.2018). Regierungsnahe Medien, wie beispielsweise die Tageszeitung "Daily Sabah", stellen, auch unter Berufung auf
Regierungsvertreter, die HDP und ihre gewählten Gemeindevertreter als Unterstützer der PKK und terroristischer Aktivitäten dar (DS 24.1.2021; vergleiche DS 15.5.2020). Während des Wahlkampfes zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 präsentierten nationale Fernsehsender die HDP und ihren inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Demirtaş überwiegend in einem negativen Ton, wobei sie oft beide mit einer terroristischen Organisation gleichgesetzt wurden (OSCE 21.9.2018). Wenn die HDP im Fernsehen erwähnt wird, dann in Bezug auf Kriminalität oder die PKK (UKHO 1.10.2019).
Laut Angaben der HDP sind (Stand September 2020) zwischen Juni 2015 und September 2020 22.321 Parteimitglieder festgenommen worden. Allein in den ersten beiden Jahren landeten 3.647 im Gefängnis. So sollen sich von den rund 22.000 noch 10.000 Mitglieder in Haft befinden (HDP 5.11.2020). Andere Quellen sprechen von lediglich 5.000 inhaftierten Parteifunktionären und Mitgliedern (Stand März 2020) (AA 24.8.2020). Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, hält an. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (seit vier Jahren) sowie sieben weitere gewählte HDP-Abgeordnete sind weiterhin im Gefängnis (Stand Oktober 2020). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) forderte nach 2018 in einem Urteil im Dezeber 2020 neuerlich die sofortige Freilassung von Demirtaş. Die Große Kammer des EGMR entschied, unter anderem seien sein Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt worden. Die Türkei wurde zu einer Entschädigungszahlung von 60.400 Euro an Demirtaş verurteilt (ZO 22.12.2020). Während ein Gericht in Ankara das Urteil mit der Begründung zurückwies, dass keine türkische Übersetzung vorliege, bezeichnete Staatspräsident Erdoğan die Entscheidung des EGMR als politisch motiviert, wobei sich das Gericht somit hinter Terroristen stelle (Standard 26.12.2020). Während umgekehrt der EGMR die lange und unrechtmäßige Untersuchungshaft gegen Demirtaş als politisch motiviert sah, forderte das Europäische Parlament im Jänner 2021 auf Basis des EGMRUrteils das Fallenlassen aller Anklagepunkte und die sofortige Freilassung sowohl von Demirtaş als auch von Yüksekdağ sowie auch anderer HDPMitglieder, die sich in Haft befinden, betonend, dass die türkischen Behörden ihnen die Ausübung ihrer demokratischen Mandate unabhängig und frei von Drohungen und Behinderungen garantieren müssen (EP 21.1.2021).
Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, wurden unterdessen nicht behoben. Anfang Juni 2020 wurde ein Parlamentsabgeordneter der Republikanischen Volkspartei (CHP) und zwei der
HDP aufgrund gerichtlicher Verurteilungen aus dem Parlament ausgeschlossen (AP 4.6.2020; vergleiche EC 6.10.2020). Gegen die aktuellen HDP-Ko-Vorsitzenden und andere Abgeordnete sowohl der HDP als auch der CHP wurden aufgrund ihrer Äußerungen zur Militäroperation "Friedensquelle" (2019) im Nordosten Syriens gerichtliche Untersuchungen eingeleitet (EC 6.10.2020). Am 17.3.2021 entzog das türkische Parlament dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Immunität und das Mandat. Gergerlioğlu war am 19.2.2021 vom
Obersten Kassationsgericht wegen Terrorismus-Propaganda infolge eines ReTweets eines, bis dato nicht inkriminierten, Interviews mit einem PKKKommandanten zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden (ÖB 18.3.2021; vergleiche BAMF 22.3.2021). Hier handelte es sich um die Bestätigung eines Urteils vom Februar 2018. Der Grund für die Strafe wegen Verbreitung terroristischer Propaganda war, dass Gergerlioğlu im August 2016 in einem Tweet den türkischen Staat u.a. ermutigte, eine friedliche Lösung für die anhaltenden Auseinandersetzungen mit der PKK zu suchen (AM 17.3.2021). Das Verfassungsgericht lehnte letztlich am 31.3.2021 eine Beschwerde Gergerlioğlus ab (ZO 31.3.2021).
Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der CHP in Istanbul, wurde im September 2019 mit einer Gefängnisstrafe von fast zehn Jahren bestraft, nachdem sie wegen Beleidigung des Präsidenten, Verbreitung terroristischer Propaganda (FH 3.3.2021), Herabwürdigung des türkischen Staates, Beamtenbeleidigung und Volksverhetzung verurteilt worden war. Die Anklage stützte sich auf TwitterNachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017. In der zweiten Juni-Hälfte 2020 wurde das Urteil von einem Berufungsgericht bestätigt. Die CHP-Politikerin kann während ihres zweiten Berufungsverfahrens auf freiem Fuß bleiben (ZO 23.6.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Allerdings wurde gegen sie im Dezember 2020 eine weitere Anklage wegen "Anstiftung zu einer Straftat" und wegen des "Lobens einer Straftat und eines Verbrechers" erhoben (Duvar 14.12.2020). Das Europäische Parlament zeigte sich ob der politischen und gerichtlichen Schikanen gegen Canan Kaftancıoğlu besorgt und sah die Anklagen als politisch motiviert an (EP 21.1.2021)
Schon in der Periode vor den letzten Lokalwahlen vom März 2019 waren im Zuge der Notstandsdekrete bis Ende 2017 insgesamt über 90 gewählte Gemeindeverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, vereinzelt Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden (AA 14.6.2019; vergleiche PACE 24.1.2019, TM 3.9.2019, DS 4.9.2019). Bei den jüngsten Lokalwahlen am 31.3.2019 wurden im ersten Fall Kandidaten, die aufgrund eines Notstandsdekretes zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden, nachträglich als nicht wählbar betrachtet, obwohl ihre Kandidatur für die eigentliche Wahl als gültig erklärt worden war (CoE 19.6.2020). Dies betraf auch schon vor der Wahl 2019 abgesetzte Bürgermeister, die zugelassen und dann wiedergewählt wurden. Die lokalen Wahlräte verweigerten einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister und ernannten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten, meist der AKP, zu Bürgermeistern (AA 24.8.2020). Nebst den sechs siegreichen HDPBürgermeisterkandidaten wurde 88 gewählten Gemeinderatsmitgliedern der HDP vom Innenministerium die Akkreditierung verweigert, angeblich wegen anhängiger strafrechtlicher Ermittlungen (HDP 18.11.2019). Im zweiten Fall wurden nach der Wahl Bürgermeister auf der Grundlage von Gesetzesänderungen, die durch das Gesetz über Notstandsverordnungen eingeführt wurden, wegen Terrorismus-bedingter Anschuldigungen suspendiert, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahlen als wählbar galten, als viele der Ermittlungen oder Anklagen gegen sie bereits eingeleitet worden waren (CoE 19.6.2020; vergleiche AA 14.6.2019, HDP 18.11.2019).
Die ersten prominenten, gewählten HDP-Bürgermeister waren jene von Mardin und Van sowie der Millionenstadt Diyarbakır im Südosten des Landes. Sie wurden am 19.8.2019 ihrer Ämter enthoben. Gegen die drei Bürgermeister wurde wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (ZO 19.8.2019; vergleiche DW 20.8.2019). Der Bürgermeister von Diyarbakır, Selçuk Mızraklı, wurde im Frühjahr 2020 zu neun Jahren und vier Monaten Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt (bianet 9.3.2020). Die entlassenen Bürgermeister wurden alle durch staatlich ernannte Treuhänder ersetzt (MEE 19.8.2019). Die Entlassung der Bürgermeister hat Kritik seitens der EU und des Europarates ausgelöst, da ihre Entlassung die Ergebnisse der Wahlen vom März 2019 infrage stellt (Ahval 20.8.2019; vergleiche CoE 20.8.2019, EU 19.8.2019). Zudem wurde die Absetzung der kurdischen Ortsvorsteher von einer großangelegten Polizeirazzia gegen HDP-Mitglieder in den drei besagten und 26 weiteren Provinzen begleitet, bei der mindestens 418 Personen festgenommen wurden (FR 21.8.2019). Als es Anfang 2020 zu mehrtägigen Protesten gegen die Entlassung von kurdischen Bürgermeistern kam, ging die Bereitschaftspolizei in Diyarbakır gegen die Demonstranten mit Plastikgeschossen, Tränengas und Knüppeln vor. Mehrere Journalisten, die über die Vorkommnisse berichteten, wurden von der Polizei misshandelt (AM 21.1.2020).
2020 setzten sich die Festnahmen und Amtsenthebungen von gewählten HDPBürgermeistern ebenso fort wie die Verhaftungen und Anklagen gegen andere Vertreter der HDP. Im März 2020 haben die türkischen Behörden beispielsweise acht Bürgermeister der HDP wegen Terrorvorwürfen abgesetzt. Betroffen waren die Bezirke der Provinzen Batman, Diyarbakır, Bitlis, Siirt und Iğdir (ZO 24.3.2020). Als fünf Bürgermeister der HDP, denen die Regierung Verbindungen zur PKK vorwarf, Mitte Mai 2020 festgenommen, ihres Amtes enthoben und durch Treuhänder der Regierung ersetzt wurden, nannte Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, dies einen scheinbar politisch motivierten Schritt. Er forderte in einer Erklärung die Türkei auf, Maßnahmen aufzuheben, die das Funktionieren der lokalen Demokratie behindern (Duvar 19.5.2020).
Mehr als 50 Personen wurden am 14.7.2020 in den Provinzen Diyarbakır und Gaziantep festgenommen, darunter auch die Ko-Vorsitzende der HDP in der Provinz Gaziantep. Den Verdächtigen, bei denen es sich zumeist um Frauen handelte, darunter die Sprecherin der Freien Frauenbewegung (TJA) wurde vorgeworfen, Verbindungen zur PKK zu haben. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die HDP-Ko-Bürgermeisterin für Diyadin im türkischen AgriDistrikt, festgenommen und durch einen staatlichen Treuhänder ersetzt worden war (AM 14.7.2020). Ende September 2020 hat der Generalstaatsanwalt von Ankara Haftbefehle gegen 82 Politiker der HDP ausgestellt und danach angekündigt, die Aufhebung der Immunität von sieben HDP Abgeordneten zu beantragen. Unter den Festgenommenen befanden sich prominente Politiker wie der Ko-Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, und der frühere Parlamentarier Süreyya Önder, der im Auftrag der türkischen Regierung über Jahre hinweg zwischen dem türkischen Staat und dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan vermittelt hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft begründet die Festnahmen und das Vorgehen gegen die Abgeordneten mit den Protesten vom Oktober 2014, die sie rückwirkend, sechs Jahre nach den Ereignissen als "Terrorakte" einstuft. Damals drohte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die umzingelte syrisch-kurdische Stadt Kobane einzunehmen. Die HDP hatte dem türkischen Staat vorgeworfen, nichts zur Rettung von Kobane zu unternehmen und den IS zu unterstützen, und rief daher zu Solidaritätskundgebungen auf. Vom 6. bis 8.10.2014 wurden bei blutigen Zusammenstößen rund 40 Menschen getötet. Mehrmalige parlamentarische Anträge der HDP die Vorfälle zu untersuchen, wurden damals von der AKP und der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) abgelehnt (FAZ 27.9.2020; vergleiche HRW 2.10.2020). Ein Gericht in Ankara bestätigte am 7.1.2021 die Anklage gegen 108 Personen, darunter gegen die inhaftierten ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ (für die dies eine erneute Anklage darstellt), im Zusammenhang mit den Kobane-Protesten 2014. Die Anklageschrift beschuldigt die 108 Personen des Mordes und der Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates. Das geforderte Strafausmaß für die Angeklagten beträgt 38 Mal lebenslänglich für jeden von ihnen (Duvar 7.1.2021; vergleiche SDZ 7.1.2021).
Mit der Festnahme bzw. Amtsenthebung der beiden Ko-Bürgermeister von Kars Anfang Oktober 2020 (bianet 2.10.2020) waren (Stand Ende November 2020) in 59 der insgesamt 65 Gemeinden, die die HDP bei den Lokalwahlen im März 2019 gewonnen hatte, die Bürgermeister abgesetzt und die meisten durch staatliche Treuhänder ersetzt (Duvar 25.11.2020). 18 der ursprünglich 37 KoBürgermeister standen im September 2020 noch unter Arrest (HDP 5.11.2020). Kritik kam u.a. von seiten des Europarates. Der Präsident des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, Anders Knape, zeigte sich zutiefst besorgt über die anhaltenden Verhaftungen von demokratisch gewählten Vertretern der Opposition. Die jüngste Entscheidung der Behörden, den Bürgermeister von Kars, Ayhan Bilgen, wegen angeblicher terroristischer Verbindungen aus seinem Amt zu verdrängen, sei ein weiterer Versuch, die lokale Selbstverwaltung des Landes zu untergraben und Millionen von Wählern das Recht zu verwehren, ihrem Wählerwillen gerecht zu werden (CoE 1.10.2020). Mitte Februar wurden als Reaktion auf die vermeintliche Exekution von 13 PKKGeiseln während einer Operation der türkischen Armee im Nordirak über 700, darunter führende Vertreter der HDP festgenommen (DW 15.2.2021; vergleiche Duvar 15.2.2021). Laut Angaben der HDP wurden mindestens 139 ihrer Funktionäre und Mitglieder in diversen Provinzen festgenommen (HDP 17.2.2021). Vertreter der Regierung stellten hierbei die HDP als Unterstützerin der PKK dar. Der Kommunikationsdirektor der Regierung, Fahrettin Altun, etwa bezeichnete die HDP als politischen Arm der PKK, welcher die PKK-Gewalt loben und billigen würde (National 15.2.2021). Im Februar 2021 wurde die 2019 aus ihrem Amt enthobene Bürgermeisterin von Sur in der Provinz Diyarbakır zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verhalftet (Ahval 22.2.2021). Die EU zeigte sich in einer Stellungnahme vom 23.2.2021 zutiefst besorgt ob des anhaltenden Drucks gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, dem Ersetzen gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat. Hinzukommt die Weigerung dem Urteil des EGMR zur Freilassung von Selahattin Demirtaş nachzukommen (EU 23.2.2021).
Am 17.3.2021 gab der Generalstaatsanwalt des Obersten Kassationsgerichts, Bekir Şahin, bekannt, dass er beim Verfassungsgericht ex officio den Antrag auf ein Verbot und die Auflösung der HDP gestellt habe (ÖB 18.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). In der Anklageschrift werden Parteiführung und -mitglieder u.a. beschuldigt, durch ihre Handlungen gegen Gesetzte zu verstoßen, das Ziel verfolgend, die staatliche und nationale Integrität zu unterminieren und dabei mit der verbotenen PKK zu konspirieren (BAMF 22.3.2021; vergleiche DS 18.3.2021). In ihrem umstrittensten Aspekt kriminalisiert die Anklageschrift jedoch den zweijährigen Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der 2015 zusammenbrach. An den Gesprächen waren der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan, die in den Qandil-Bergen im Nordirak ansässige PKKFührung, Regierungsbeamte und HDP-Mitglieder beteiligt, die meist als Vermittler auftraten. Anhand von Protokollen der Treffen zwischen HDPMitgliedern und Öcalan stellte die Anklage die Bemühungen der HDP-Mitglieder als kriminelle Handlungen dar, für die die Partei verboten werden sollte, obwohl die Friedensinitiative von der regierenden AKP gestartet und unterstützt wurde (AM 9.4.2021). Der Generalstaatsanwalt beantragte den Ausschluss von jeglicher staatlicher finanzieller Unterstützung (DS 18.3.2021) und die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens der HDP, um die Gründung einer Nachfolgepartei zu verhindern. Darüber hinaus forderte er ein dauerhaftes Politikverbot für 687 HDP-Mitglieder. Darunter befinden sich Abgeordnete und Mitglieder des Vorstands (DW 20.3.2021; vergleiche Duvar 18.3.2021). In der ersten Reaktion der Regierung auf die Anklageschrift sagte Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun, dass es eine unbestreitbare Tatsache sei, dass die HDP organische Verbindungen zur PKK habe (Reuters 18.3.2021). Die Vorgabe des Narrativs von höchster staatlicher Stelle möchte den Ausgang des Verfahrens weitgehend vorwegnehmen und bezeugt neuerlich, dass die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei nicht mehr gewährleistet ist (ÖB 18.3.2021). Die EU erklärte, dass die Schließung der zweitgrößten Oppositionspartei die Rechte von Millionen von Wählern in der Türkei verletzen würde. Zudem verstärke dies die Besorgnis der EU über den Rückschritt bei den Grundrechten in der Türkei und untergrübe die Glaubwürdigkeit des erklärten Engagements der türkischen Behörden für Reformen (EU 18.3.2021). Der Verfassungsgerichtshof wies am 31.3.2021 die Anklageschrift wegen Formalfehler zur Überarbeitung an die Generalstaatsanwaltschaft zurück (ZO 31.3.2021; vergleiche AM 9.4.2021).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Die Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition während der COVID-19-Krise sind deutlicher geworden. Die bürgerlichen Freiheiten wurden weiter beschnitten (IDEA 6.4.2021). Spannungen zwischen Erdoğan und dem oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, von der CHP wurden im Frühjahr 2020 evident. Entgegen Erdoğans Weisungen hatte der Bürgermeister eine Abriegelung Istanbuls befürwortet und eine eigene Spendenkampagne gestartet (Reuters 1.4.2020). Im weiteren Verlauf nutzte die türkische Regierung die Corona-Krise, um noch stärker gegen die Opposition vorzugehen. Sie verbot mehrere kommunale Spendenkampagnen der Opposition und leitete Ermittlungen gegen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara ein, die Spenden für Pandemie-Opfer sammelten (AI 7.4.2021). Die Regierung hat auch unter Hinweis auf die COVID-19-Pandemie regierungskritische Demonstrationen und Versammlungen, vor allem der HDP, verboten, regierungsfreundliche Veranstaltungen hingegen erlaubt (USDOS 30.3.2021, S.41).
Quellen:
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3.2.2021
ZO – Zeit Online (23.6.2020): Türkisches Gericht bestätigt Urteil gegen Oppositionspolitikerin, https://www.zeit.de/politik/ausland/202006/canan-kaftancioglu-tuerkei-oppositionspolitikerin-chp-haststrafegericht-bestaetigung-urteil, Zugriff 27.11.2020
ZO – Zeit Online (24.3.2020): Acht Bürgermeister der prokurdischen HDP abgesetzt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/tuerkeibuergermeister-hdp-pro-kurdisch-terrorvorwuerfe-razzien, Zugriff 30.11.2020
ZO – Zeit Online (19.8.2019): Recep Tayyip Erdoğan setzt drei prokurdische Bürgermeister ab, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/tuerkeibuergermeister-hdp-amtsenthebung-kurden-opposition, Zugriff
24.2.2021
Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im Ausland
Letzte Änderung: 17.05.2021
Der UN-Menschenrechtsrat veröffentlichte Mitte September 2020 einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, wonach letztere Informationen erhielt, die darauf hindeuten, dass syrische Staatsangehörige, darunter auch Frauen, die von der (protürkischen) Syrischen Nationalarmee (SNA) in der Region Ra's al-Ayn festgenommen wurden, anschließend von türkischen Streitkräften in die Türkei überstellt, und dort nach türkischem Strafrecht wegen vermeintlicher Verbrechen in der syrischen Region Ra's al-Ayn angeklagt wurden, unter anderem wegen Mordes oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Kommission stellte ferner fest, dass die Überstellung von Syrern, die von der SNA inhaftiert wurden, auf türkisches Hoheitsgebiet dem Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation geschützter Personen gleichkommen kann (UNHRC 14.8.2020). Sowohl Araber als auch Kurden wurden zwischen Oktober und Dezember 2019 im Nordosten Syriens festgenommen, nachdem die Türkei nach ihrem Einmarsch in Nordsyrien die effektive Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte (HRW 3.2.2021) Die Verhaftungen erfolgten hauptsächlich in den Vororten von Tell Abiad und Ra's al-Ayn. Bei den Betroffenen handelte es sich auch um Personen, die für die Institutionen der Autonomieverwaltung arbeiteten, und andere, die keinerlei militärische oder politische Verbindungen zu dieser hatten. Unter den in die Türkei Überstellten befanden sich auch Kämpfer der Volksschutzeinheiten (YPG) und der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) (SfDJ 10.7.2020; vergleiche AM 14.5.2020). Die Gefangenen wurden in das Hochsicherheitsgefängnis in Hilvan in der türkischen Provinz Şanlıurfa transferiert (AM 14.5.2020; vergleiche HRW 3.2.2021). Bereits Ende April 2020, anlässlich der Überstellung von 90 festgenommenen Syrern in die Türkei, richteten 41 Organisationen einen Appell an den UN Generalsekretär und an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, u.a. willkürliche Gerichtsverfahren zu verhindern und die Freilassung bzw. Rückkehr der Gefangenen zu erwirken (SfDJ 10.7.2020). Human Rights Watch geht davon aus, dass (Stand Jahresbeginn 2021) bis zu 200 Syrer in Syrien festgenommen und in die Türkei verbracht wurden (HRW 3.2.2021). Im Oktober wurden 63 Syrer vom Schwurgericht in Şanlıurfa verurteilt, fünf von ihnen zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit auf Begnadigung (HRW 3.2.2021).
Quellen:
AM – Al Monitor (14.5.2020): Syrians held in Turkish prison 'in breach of international law,' advocates say, https://www.al-
monitor.com/pulse/originals/2020/05/syria-turkey-detainees-prisonbreach-international-law.html, Zugriff 4.2.2021
SfTJ – Syrians for Truth and Justice (10.7.2020): https://stjsy.org/en/illegal-transfer-of-dozens-of-syrian-detainees-into-turkeyfollowing-operation-peace-spring/#_ftnref11, Zugriff 4.2.2021
UN-HRC – United Nations Human Rights Council (14.8.2020): Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab
Republic
[A/HRC/45/31], https://www.ecoi.net/en/file/local/2037646/A_HRC_45_ 31_E.pdf, Zugriff 4.2.2021
HRW – Human Rights Watch (3.2.2021): Illegal Transfers of Syrians to Turkey, https://www.hrw.org/news/2021/02/03/illegal-transfers-syriansturkey, Zugriff 4.2.2021
Haftbedingungen
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt (ÖB 10.2020). In türkischen Haftanstalten können Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich eingehalten werden. Es gibt insbesondere eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen (AA 24.8.2020). Während sich die Hafteinrichtungen im Allgemeinen in einem guten Zustand befinden, weisen etliche Einrichtungen bauliche Mängel auf, die sie für eine, über ein paar Tage hinaus gehende, Inhaftierung ungeeignet machen (USDOS 30.3.2021). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von UN-Einrichtungen sowie dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) besucht (ÖB 10.2020). Die Regierung gestattete es NGOs nicht, Gefängnisse zu kontrollieren (USDOS 30.3.2021, S.10).
In der Türkei gibt es drei Kategorien von Häftlingen: verurteilte Häftlinge, Untersuchungshäftlinge und Häftlinge, die noch kein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, aber mit der Verbüßung einer Haftstrafe im Voraus begonnen haben (CoE 30.3.2021, S.38). Die Zahlen hinsichtlich der Gefängnisinsassen bzw. der Haftplätze variieren je nach Quelle. Die Civil Society in the Penal System Association (CİSST), eine türkische auf Gefängnisse spezialisierte NGO, zählte mit April 2021 282.703 Gefängnisinsassen, inklusiver jener in offenen Vollzugsanstalten, bei einer Gesamtkapazität von 200.230. Darunter befanden sich rund 3.000 Kinder unter 18 Jahren. 743 Kinder lebten bei ihren Müttern im Gefängnis (CİSST 27.4.2021). Nach Angaben des Justizministeriums befinden sich 13% der gesamten Gefängnispopulation wegen Terror-Vorwürfen in Haft, darunter viele Journalisten, politische Aktivisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger (EC 6.10.2020). Das Justizministerium lässt weitere 26 Gefängnisse bauen, während 17 Haftanstalten 2020 renoviert wurden, um die steigende Anzahl von Insassen bewältigen zu können, die sich laut Ministerium von 120.000 im Jahr 2010 auf fast 251.000 Ende 2020 mehr als verdoppelt hat (Ahval 3.4.2021). Die Türkei hat (Stand Mai 2020) mit 344 Gefängnisinsassen auf 100.000 Einwohner die zweithöchste Inhaftierungsrate aller OECD-Länder (OECD 30.3.2021). Unter den Mitgliedern des Europarates führt die Türkei die Gefängnisstatistik sowohl hinsichtlich der Inhaftierungsrate als auch bezüglich der Belegungsdichte an (CoE 30.3.2021 S.4f.; S.32 Tab.), wobei sich erstere in den letzten zehn Jahren mit einem Anstieg um 115% mehr als verdoppelte (CoE 30.3.2021, S.34 Tab.)
Mit Stand vom 10.3.2021 gibt es in der Türkei 374 Gefängnisse, darunter 267 geschlossene Gefängnisse, 80 abgetrennte offene Gefängnisse, 9 geschlossene Gefängnisse für Frauen, 7 offene Gefängnisse für Frauen, 4 Erziehungshäuser für Kinder und 7 geschlossene Gefängnisse für Kinder. Geschlossene Gefängnisse und Hochsicherheitsgefängnisse sind weiter in Typen unterteilt, z. B. geschlossene Gefängnisse vom Typ A oder Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F (DIS 31.3.2021, S.1).
Die Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen geben laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis. Es gab weiterhin Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte der Häftlinge, Verweigerung des Zugangs zu medizinischer Versorgung, die Anwendung von Folter und Misshandlung, die Verhinderung offener Besuche und Isolationshaft (EC 6.10.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020). Disziplinarstrafen, einschließlich Einzelhaft, werden exzessiv und unverhältnismäßig eingesetzt. NGOs bestätigten, dass bestimmte Gruppen von Gefangenen diskriminiert werden, darunter Kurden, religiöse Minderheiten, politische Gefangene, Frauen, Jugendliche, LGBTPersonen, kranke Gefangene und Ausländer (DIS 31.3.2021, S.1).
Die Überbelegung der Gefängnisse ist nicht nur problematisch in Hinblick auf den persönlichen Bewegungsfreiraum, sondern auch in Bezug auf die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene. Darüber hinaus haben sich viele Gefangene über die Ernährung beschwert sowie über den Umstand, dass das Taggeld für die Gefangenen nicht ausreicht, um selbst eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Im Allgemeinen haben die Gefangenen Kontakt zu ihren Familien und Anwälten, allerdings besteht die Tendenz, Personen weit entfernt von ihren Herkunftsregionen und in abgelegenen Gegenden zu inhaftieren, was den unmittelbaren Kontakt mit der Familie oder den Anwälten erschwert (DIS 31.3.2021, S.1).
Häftlinge erklärten, dass auf die meisten ihrer Beschwerden nicht eingegangen wurde und dass sich die Lebensbedingungen nicht verbessert haben. Die für die Gefängnisse vorgesehenen Monitoring-Institutionen sind nach wie vor weitgehend wirkungslos. Auch die Institution für Menschenrechte und Gleichbehandlung (HREI), die als Nationaler Präventionsmechanismus (gemäß Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter) fungieren soll, ist nicht voll funktionsfähig, wodurch es keine Aufsicht über Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen gibt. Im September 2019 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die Überstellung von Häftlingen in weit von ihrem Wohnort entfernte Gefängnisse eine Verletzung der "Verpflichtung zur Achtung des Schutzes des Privat- und Familienlebens" darstellt (EC 6.10.2020).
An Orten, an denen es keine speziellen Gefängnisse gibt, werden Minderjährige in getrennten Abteilungen innerhalb der Gefängnisse für männliche und weibliche Erwachsene untergebracht. Kinder unter sechs Jahren können bei ihren inhaftierten Müttern bleiben. Untersuchungshäftlinge und Verurteilte befinden sich oft in denselben Zellen und Blöcken (USDOS 30.3.2021, S.8; vergleiche DFAT 10.9.2020). Die Gefangenen werden nach der Art der Straftat getrennt: Diejenigen, die wegen terroristischer Straftaten angeklagt oder verurteilt wurden, werden von anderen Insassen separiert. Es besteht eine strikte Trennung zwischen denjenigen, die wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert sind, und Mitgliedern anderer Organisationen, wie z.B. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In jüngster Zeit gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Gefangene, die wegen Verbindungen zur PKK oder der Gülen-Bewegung inhaftiert sind, schlechter behandelt werden als andere (DFAT 10.9.2020). Es gab jedoch Fälle von politischen Gefangenen, denen die medizinische Behandlung von Ärzten in Kleinstädten verwehrt wurde, weil aus ihren Krankenakten die Verurteilung wegen PKK-Mitgliedschaft hervorging (DIS 31.3.2021, S.29). Das Stockholm Center for Freedom hat insbesondere seit Oktober 2020 über eine Reihe von Fällen berichtet, in denen Gefangene mit angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung unzureichend behandelt wurden, was manchmal zum Tod oder zur Verschlechterung ihres Zustands führte (DIS 31.3.2021, S.19), zuletzt z.B. auch Anfang April 2021 (SCF 5.4.2021). LGBTI-Häftlinge werden in der Regel von heterosexuellen Häftlingen getrennt, obwohl es immer noch Berichte über Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Erniedrigung gibt, insbesondere von transsexuellen Häftlingen (DFAT 10.9.2020). Laut der türkischen NGO Civil Society in the Penal System Association (CİSST), gehören Mitglieder von sexuellen Minderheiten zu jenen, die in Gefängnissen am häufigsten Gewalt, Diskriminierung, Demütigung und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Neben der Tatsache, dass es keine spezifischen Regelungen für die Bedürfnisse dieser Personengruppen gibt, sind auch die Programme zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, Vollzugsbeamten und Sozialarbeitern in Bezug auf die Arbeit mit LGBTI-Personen unzureichend. Beschwerden von Angehörigen sexueller Minderheiten über Rechtsverletzungen und Übergriffe, die sie erleben, bleiben aufgrund homophober Positionen und verwurzelter Vorurteile ergebnislos (CİSST 26.3.2021, S.48).
Einige Personen, die wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert waren, litten unter speziellen Einschränkungen, darunter lange Einzelhaft, starke Einschränkungen bei der Bewegung im Freien und bei Aktivitäten außerhalb der Zelle, Verweigerung des Zugangs zur Bibliothek und zu Medien, schleppende medizinische Versorgung und in einigen Fällen die Verweigerung medizinischer Behandlung (USDOS 30.3.2021, S.21; vergleiche PI 2.2018). In Medienberichten wurde auch behauptet, dass Besucher von Häftlingen mit Terrorbezug Übergriffen, und Insassen Leibesvisitationen und erniedrigender Behandlung durch Gefängniswärter ausgesetzt waren. Zudem wäre der Zugang zur Familie eingeschränkt gewesen (USDOS 30.3.2021, S.21). Das türkische Strafgesetzbuch sieht außerdem vor, dass Haftstrafen zwar für Mütter mit Kindern unter sechs Monaten ausgesetzt werden, nicht jedoch, wenn Personen wegen Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt werden (DW 23.6.2019).
Aus Berichten von Menschenrechtsorganisationen geht hervor, dass einige Ärzte aus Angst vor Repressalien ihre Unterschrift nicht unter medizinische Berichte setzen, in denen Folter behauptet wird. Infolgedessen sind die Opfer oft nicht in der Lage, medizinische Unterlagen zu erhalten, die ihre Behauptungen beweisen könnten (USDOS 30.3.2021, S.9). Das System der obligatorischen medizinischen Kontrollen ist laut dem CPT nach wie vor grundlegend fehlerhaft. Die Vertraulichkeit solcher Kontrollen ist bei weitem noch nicht gewährleistet. Entgegen den Anforderungen der Inhaftierungsverordnung waren Vollzugsbeamte in der überwiegenden Mehrheit der Fälle bei den medizinischen Kontrollen weiterhin anwesend, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Gelegenheit haben, mit dem Arzt unter vier Augen zu sprechen. Von der Delegation des CPT befragte Häftlinge gaben an, infolgedessen den Ärzten nicht von den Misshandlungen berichtet zu haben. Darüber hinaus gaben mehrere Personen an, dass sie von bei der medizinischen Kontrolle anwesenden Polizeibeamten bedroht worden seien, ihre Verletzungen nicht zu zeigen. Einige Häftlinge behaupteten, überhaupt keiner medizinischen Kontrolle unterzogen worden seien (CoE-CPT 5.8.2020).
Kurdische Häftlinge
Mit Beginn des Ausnahmezustands wurden insbesondere kurdische Gefangene in weit entfernte Städte zwangsverlegt, wo sie häufiger Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren. Neben den Gefangenen waren auch deren Angehörige aufgrund ihrer ethnischen Identität in diesen Städten Diskriminierungen ausgesetzt, und es gibt einige Fälle, in denen sie nicht einmal eine Unterkunft finden konnten und somit die Stadt ohne Besuchsmöglichkeit verlassen mussten (CİSST 26.3.2021, S.16). Kurdische Gefängnisinsassen haben behauptet, dass sie von den Gefängnisverwaltungen diskriminiert werden. So sei der Briefverkehr aus und in das Gefängnis unterbunden worden, weil die Briefe auf Kurdisch verfasst waren, und es kein Gefängnispersonal gab, das Kurdisch versteht, um die Briefe für die Gefängnisleitung zu übersetzen (DIS 31.3.2021, S.30;68). In manchen Gefängnissen ist der Briefverkehr erlaubt, so die Insassen für die Übersetzungskosten, zwischen 300 und 400 Lira pro Seite, aufkämen (Ahval 25.10.2020). Die Gefangenen beschwerten sich auch darüber, dass die Wärter Drohungen und Beleidigungen ihnen gegenüber äußerten, weil sie Kurden seien, etwa auch mit der Unterstellung Terroristen zu sein. Verboten wurde ebenfalls die Verwendung von Notizbüchern, so diese kurdische Texte beinhalteten (DIS 31.3.2021, S.30;68), sowie der Erwerb bzw. das Lesen von kurdischen Büchern, selbst wenn diese legal waren, und Zeitungen (DIS 31.3.2021, S.30;68; vergleiche İHD 23.10.2020, S.7, SCF 26.11.2020). Beispielsweise beschwerten sich 13 Insassen des Frauengefängnisses in Van in einem Brief an einen Parlamentsabgeordneten der pro-kurdischen HDP, dass ihre Notizbücher - nebenbei auch kurdische Novelen und Gedichtsammlungen - mit dem Argument beschlagnahmt wurden, dass die Gefängnisverwaltung keinen KurdischTürkisch-Dolmetscher habe (Duvar 23.11.2020). Kurden, die im Westen inhaftiert sind, können sowohl von anderen Gefangenen als auch von der Verwaltung diskriminiert werden. Wenn ein Gefangener beispielsweise in den Schlafsälen Kurdisch spricht, kann er oder sie eine negative Behandlung erfahren (DIS 31.3.2021, S.55).
Hochsicherheitsgefängnisse
In den Hochsicherheitsgefängnissen, einschließlich der F-Typ-, D-Typ- und TTyp-Gefängnisse, sind Personen untergebracht, die wegen Verbrechen im Rahmen des türkischen Anti-Terror-Gesetzes verurteilt oder angeklagt wurden, Personen, die zu einer schweren lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und Personen, die wegen der Gründung oder Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt oder angeklagt wurden oder im Rahmen einer solchen Organisation aufgrund eines der folgenden Abschnitte des türkischen Strafgesetzbuches verurteilt oder angeklagt wurden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Drogenherstellung und -handel, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates und Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und deren Funktionieren. Frauen werden entweder in Frauengefängnissen oder in den Frauenabteilungen der Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F oder D untergebracht. Darüber hinaus können Gefangene, die eine Gefahr für die Sicherheit darstellen, gegen die Ordnung verstoßen oder sich Rehabilitationsmaßnahmen widersetzen, in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden (DIS 31.3.2021, S.11-13). Die seit dem Jahr 2000 eingeführte Praxis, Häftlinge in kleinen Gruppen zu halten oder einen einzelnen Häftling in Isolationshaft zu halten - eine Praxis, die insbesondere in F-Typ-Gefängnissen zu beobachten ist - hat rasant zugenommen, was die physische und psychische Integrität der Häftlinge ernsthaft beeinträchtigt (TOHAV 7.2019, S.4). Bei Anklage oder Verurteilung wegen organisierter Kriminalität oder Terrorismus wird der Zugang zu Nachrichten und Büchern verwehrt (UKHO 10.2019, S.70). Viele HDP- oder hochrangige Personen befinden sich in der Türkei in Gefängnissen der F-Kategorie, in denen die Menschen entweder in Isolation oder mit maximal zwei anderen Personen interniert sind. Sie dürfen nur andere HDPMitglieder oder Unterstützer sehen (UKHO 10.2019, Sitzung 36).
Isolationshaft
Die Einzelhaft wird durch das Strafvollzugsgesetz geregelt, das eine Vielzahl von Handlungen festlegt, die mit Einzelhaft disziplinarisch geahndet werden können. Das Gesetz legt außerdem eine Obergrenze von 20 Tagen Einzelhaft fest. Das
CPT betonte allerdings, dass diese Höchstdauer überhöht ist und nicht mehr als 14 Tage für ein bestimmtes Vergehen betragen sollte (DIS 31.3.2021, S.26). Im Einjahreszeitraum von 27.4.2020 bis 27.4.2021 zählte die NGO CİSST 1316 Menschenrechtsverletzungen an Gefangenen, wobei 12,5% hiervon auf die Verhängung der Isolationshaft zurückzuführen waren (CİSST 27.4.2021). Auch bei der türkischen Menschenrechtsvereinigung (İHD) machten 2020 die Beschwerden hinsichtlich der Verhängung der Einzelhaft rund 11% aller Gefängnisbeschwerden aus. Laut CİSST gibt es Fälle, in denen die Isolationshaft die gesetzlichen 20 Tage überschritten hat. Die İHD merkte an, dass Isolationshaft über Monate hinweg gegen Untersuchungshäftlinge verhängt werden kann, wenn gegen sie ein Verfahren wegen schwerer lebenslänglicher Haftstrafen läuft. Darüber hinaus betrachtet es die İHD als Isolation, wenn Gefangene, einschließlich der zu schwerer lebenslanger Haft Verurteilten, in Hochsicherheitsgefängnissen des Typs F keine Gemeinschaftsräume nutzen dürfen bzw. nur für eine Stunde pro Woche (DIS 31.3.2021, S.26). In einigen Gefängnissen wurden verschiedene Gruppen von Gefangenen ohne rechtliche Begründung in Einzelzellen verlegt. In einigen Fällen wurden sogar Gefangene mit einem ärztlichen Gutachten, dem gemäß sie nicht in Einzelhaft untergebracht werden können, in Ein-Personen-Zellen gesperrt (CİSST 26.3.2021, S.25.) Betroffen von der Isolationshaft sind auch Mitglieder sexueller Minderheiten. Es ist möglich, dass LGBT-Häftlinge aufgrund ihrer Identität unabhängig von ihrer Verurteilung jahrelang in Isolation gehalten werden. In einigen Gefängnissen werden Mitglieder sexueller Minderheiten, entgegen ihrer Forderungen, in Einzelzellen untergebracht (CİSST 26.3.2021, S.48). Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Häftlinge sich in der Türkei in Isolationshaft befinden oder wie viele sich das Leben genommen haben, doch nach Schätzungen der Experten sollen etwa 3000 Personen von Isolationshaft betroffen sein (DW 7.5.2019).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Angesichts des hohen Risikos der Ausbreitung von COVID-19 in überfüllten Gefängnissen verabschiedete das Parlament Mitte April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Über 65.000 Personen waren von dieser neuen Bestimmung betroffen. Sie schloss jedoch nebst Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und DrogenDelinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen aus, die nach Prozessen im Rahmen der allzu weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen (EC 6.10.2020; vergleiche AA 24.8.2020, DFAT 10.9.2020). Der ständige Berichterstatter des Europäischen Parlaments zur Türkei kritisierte den Ausschluss von Untersuchungshäftlingen und jenen, die wegen ihrer politischen Aktivitäten inhaftiert sind, von der neuen Gesetzeslage. Stattdessen hätten die türkischen Regierungsparteien beschlossen, das Leben von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und denjenigen, die sie als politische Gegner betrachten, bewusst dem Risiko einer tödlichen Erkrankung an COVID-19 auszusetzen (EP 15.4.2020).
Die in den Gefängnissen Verbliebenen erleben durch die Corona-bedingten Quarantänemaßnahmen erschwerte Haftbedingungen und Einschränkungen ihrer Rechte. Erschwerend komme laut Menschenrechtsverteidigern hinzu, dass wegen der Pandemie keine externen Kontrollen, etwa des Wachpersonals, in den Gefängnissen durchgeführt werden können. Die türkische Menschenrechtsvereinigung (İHD) berichtet von gravierenden Beschwerden über verschiedenste Verstöße und Missbrauch erhalten zu haben. Zudem wurde infolge der Lage Insassen über mehrere Monate hinweg der Besuch durch ihre Anwälte verwehrt. Nicht zuletzt wächst auch die Not kranker Häftlinge, da ihre Behandlung häufig wegen Corona unterbrochen worden ist (DW 17.3.2021).
NGOs bezeichneten die COVID-Situation in den Haftanstalten bereits im Frühjahr 2020 als alarmierend. Gefangene können Reinigungs- und Hygieneprodukte nur gegen eine Gebühr in der Kantine erhalten. Häftlinge wurden nur in Notfällen ins Krankenhaus eingeliefert, und die 14-tägige Quarantänezeit nach einem Krankenhausbesuch konnte aufgrund des Ärztemangels in den Gefängnissen nicht eingehalten werden. Das Personal, das außerhalb der Gefängnisse arbeitet, trägt angeblich keine Schutzbekleidung, und an den Eingängen und in den Warteräumen der Anwälte in den Gefängnissen sind keine Desinfektionsmittel erhältlich (EPO 15.5.2020). Die türkische NGO CİSST berichtet, dass die engen Verhältnisse, auch infolge der Überbelegung, sowohl in den Zellen als auch in den Speisesälen ein grundlegendes Problem hinsichtlich der COVID-19-Epedemie darstellen. Was die Hygienemaßnahmen anlangt, so wurden zu Beginn der Epidemie die Gefängnisse regelmäßig desinfiziert. Die diesbezügliche Frequenz hat jedoch abgenommen. In einigen Gefängnissen wurden einige Stationen in Quarantänestationen umgewandelt, während andere immer mehr überfüllt sind, sodass dort keine Frischluft zirkulieren kann. Mancherorts ist dies überdies den kleinen Fenstern geschuldet. In einigen Gefängnissen führen die Gefängnisbeamten Leibesvisitationen und Inspektionen durch, ohne die Regeln des Social Distancing einzuhalten bzw. ohne Masken zu tragen. Während der Zelleninspektionen werden die Gefangenen nicht mit Masken ausgestattet. Seifen, Bleich- und Desinfektionsmittel werden nur in einigen Gefängnissen kostenlos verteilt. Obwohl einige Gefangene glaubten, die Symptome von Covid-19 zu haben, wurden ihre Bitten, getestet zu werden, nicht erfüllt. Aufgrund der Maßnahmen gegen Covid-19 mussten einige weibliche Gefangene ihre Kinder im Alter von 0-6 Jahren dem anderen Elternteil überlassen, sodass sowohl die Frauen als auch ihre Kinder negativ betroffen waren (CİSST 1.3.2021). Nach Angaben der Gefängnisbehörde gab es (Stand 18.2.2021) in 55 der 372 türkischen Gefängnisse positive Covid-19-Fälle. Insgesamt seien 240 Häftlinge infiziert und seit Beginn der Pandemie 19 Menschen in Haft an Covid-19 gestorben. Die Zahlen stoßen bei türkischen NGOs jedoch auf Skepsis, da es viele Beschwerden gab, wonach Gefangene mit Covid-19-Symptomen nicht getestet worden waren. Zudem bestünde eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Zahlen und den Angaben von Familienangehörigen, Anwälten und Abgeordneten (DW 17.3.2021).
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Todesstrafe
Letzte Änderung: 26.01.2021
Die Türkei schaffte 2004 die Todesstrafe für alle Straftaten ab. Die letzte Hinrichtung erfolgte 1984 (AI 7.2018).
Obwohl die Türkei dem Protokoll 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beigetreten ist, werden weiterhin von Regierungsvertretern, einschließlich des Präsidenten, Erklärungen zur Möglichkeit der Wiedereinführung der Todesstrafe abgegeben (EC 29.5.2019). Der türkische Präsident schlug mehr als einmal vor, dass die Türkei die Todesstrafe wieder einführen sollte. Im August 2018 gab es vermehrt Berichte, wonach die Todesstrafe für terroristische Straftaten und die Ermordung von Frauen und Kindern wieder eingeführt werden sollte. Im März 2019 kam diese Debatte nach den Anschlägen auf zwei neuseeländische Moscheen in Christchurch, bei denen 50 Menschen getötet wurden, wieder auf. Der Präsident gelobte, einem Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe zuzustimmen, falls das Parlament es verabschiedet, wobei er sein Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe zum Ausdruck brachte (OSCE 17.9.2019). Ende September 2020 sprach sich Parlamentspräsident Mustafa Şentop für die Wiedereinführung der Todesstrafe für bestimmte Delikte aus, nämlich für vorsätzlichen Mord und sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Frauen (Duvar 29.9.2020).
Quellen:
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Countries as of July
2018, https://www.amnesty.org/download/Documents/ACT5066652017 ENGLISH.pdf, Zugriff 17.10.2019
Duvar (29.9.2020): Turkish Parliament speaker announces support for return of death penalty, https://www.duvarenglish.com/politics/2020/09/29/turkishparliament-speaker-announces-support-for-return-of-death-penalty/, Zugriff 5.11.2020
EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD(2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkeyreport.pdf, Zugriff 17.10.2019
OSCE – Organization for Security and Co-operation in Europe (17.9.2019): The Death Penalty in the OSCE Area: Background Paper
2019, https://www.osce.org/files/f/documents/a/9/430268_0.pdf, Zugriff
5.11.2020
Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die Türkei definiert sich zwar als säkularer Staat, dessen Verfassung die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Religionsausübung garantiert und Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet (USDOS 10.6.2020), de facto besteht jedoch keine Trennung von Religion und Staat (BMZ 10.2020). Das Land ist von der jahrzehntelangen kemalistischen Tradition geprägt mit der Vision einer homogenen türkischen Gesellschaft sunnitischen Glaubens, wo der Existenz religiöser Minderheiten praktisch kein Platz eingeräumt wurde (ÖB 10.2020; vergleiche BMZ 10.2020). Um die von Minderheiten möglicherweise ausgehende Bedrohung gering zu halten, sollten nach dieser Denkweise Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen (ÖB 10.2020). Der Staat beansprucht das Monopol auf die Gestaltung und Kontrolle des religiösen Lebens (BMZ 10.2020).
Die Regierung schränkt weiterhin die Rechte nicht-muslimischer religiöser Minderheiten ein, insbesondere derjenigen, die nach der Auslegung des Lausanner Vertrags von 1923 durch die Regierung nicht anerkannt werden. Anerkannt sind nur armenisch-apostolisch-orthodoxe Christen, Juden und griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 10.6.2020). Andere religiöse Minderheiten, wie zum Beispiel Aleviten, Baha'is, Protestanten, römische Katholiken oder Syrisch-Orthodoxe, sind ohne Status. Davon unabhängig kommt zudem im türkischen Recht keiner nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft als solcher Rechtspersönlichkeit zu (ÖB 10.2020). Religionsgemeinschaften können nur indirekt im Wege von Stiftungen (vakıf), die von Privatpersonen gegründet werden, rechtlich tätig werden. Da die Regierung seit 2013 keine neue Wahlregelung für diese Stiftungen erlässt, können die Mitglieder des Stiftungsrates nicht bestellt werden. In der Praxis wird dadurch das Tätigwerden der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften massiv erschwert (ÖB 10.2020; vergleiche DFAT 10.9.2020). Nach türkischer Lesart können sich nur die vom Lausanner Vertrag erfassten drei ethno-religiösen Gemeinschaften auf ihre religiösen Stiftungen (vakıf) stützen. Die restlichen Religionsgemeinschaften dürfen keine Stiftungen gründen. Seit 2004 dürfen sie sich allerdings legal als Vereine organisieren (AA 24.8.2020).
Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) sowie Logen (Cemaats), obgleich die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht vollstreckt (USDOS 10.6.2020).
Es gibt kein eigenes Blasphemiegesetz. Das Strafgesetzbuch sieht Strafen für Taten im Zusammenhang mit der "Provozierung von Hass und Feindseligkeit" vor, einschließlich öffentlicher Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen. Das Strafgesetzbuch verbietet es religiösen Führern, wie Imamen, Priestern und Rabbinern, die Regierung oder die Gesetze des Staates "zu tadeln oder zu verunglimpfen". Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Religion als heilig betrachtet werden, oder die Störung von religiösen Veranstaltungen (z.B. Gottesdienste) einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beschädigung deren Eigentums. Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert (USDOS 10.6.2020). Nach einer Flut von Strafverfolgungen zwischen 2014 und 2016 - darunter Journalisten, die 2016 französische CharlieHebdo-Karikaturen des Propheten Mohammad nachgedruckt haben - ist in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang der Beschwerden, Strafverfolgungen und Verurteilungen zu verzeichnen (DFAT 10.9.2020).
Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine staatliche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die moralischen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten. Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der
Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird (USDOS 10.6.2020). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 10.9.2020).
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, geschätzte 77,5% davon sind Sunniten der hanafitischen Rechtsschule.
Vertreter anderer, nicht-muslimischer Religionsgruppen schätzen ihren Anteil auf 0,2% der Bevölkerung. Die Aleviten-Stiftung geht davon aus, dass 25 bis 31% der Bevölkerung Aleviten sind, während andere Quellen davon ausgehen, dass die Aleviten nur 5% aller Muslime ausmachen. 4% der Muslime sind schiitische Dschafari (USDOS 10.6.2020; vergleiche BMZ10.2020). Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen gibt es hierzu nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römisch-katholische Christen und 16.000 Juden. Darüber hinaus gibt es 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'is. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000-10.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.000 sind griechisch-orthodoxe Christen (USDOS 10.6.2020).
Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservatismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend marginalisiert (NL-MFA 31.10.2019). Laut einer aktuellen Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda gibt es in der Türkei immer mehr Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen - in den vergangenen zehn Jahren habe sich ihre Zahl verdreifacht (DW 9.1.2019). 3% bezeichnen sich mittlerweile als Atheisten - 2008 waren es nur 1% - und 2% als nicht gläubig (AM 9.1.2019; vergleiche USDOS 10.6.2020). Der Prozentsatz derjenigen, die sich als Muslime verstehen, sank dagegen von 55% auf 51%, was im Widerspruch zu den offiziell kolportierten 99% steht. Allerdings sehen sich viele soziologisch und kulturell als Muslime, ohne religiös zu sein. Schätzungen zu Folge gelten 60% als praktizierende Muslime (DW 9.1.2019).
Kritiker behaupten, dass die AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u.a. die Vergrößerung des Diyanet und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 3.3.2021). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpassung der Lehrpläne, um Themen wie die Darwin'sche Evolutionstheorie auszuschließen. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. "nationale und spirituelle Werte" durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (NLMFA 31.10.2019).
Im Jahr 2020 hat sich die Lage der Religionsfreiheit in der Türkei weiterhin besorgniserregend entwickelt. Die Regierung unternahm wenig bis gar keine Anstrengungen, um viele seit langem bestehende Probleme im Bereich der Religionsfreiheit anzugehen, und sie ignorierte die anhaltenden Angriffe auf und die Zerstörung von Eigentum religiöser Minderheiten im ganzen Land. Trotz wiederholter Bitten seitens der Gemeinden religiöser Minderheiten um die Erlaubnis, interne Vorstandswahlen für nicht-muslimische Stiftungen abzuhalten, hat die Regierung diese Wahlen 2020 nicht zugelassen. Viele religiöse Minderheiten fühlten sich weiterhin im Zusammenhang mit Vorfällen bedroht, die von nicht-staatlichen Akteuren oder aufgrund von direktem Druck seitens des Staates verübt wurden. Alevitische, armenische und protestantische Gemeinden und Organisationen berichteten, dass sie Morddrohungen erhalten haben. Die Behörden erhoben politisch motivierte Anklagen wegen Blasphemie gegen Einzelpersonen und Gruppen, während offizielle Vertreter des Staates durch
Hassreden und die Verunglimpfung nicht-religiöser Personen auffielen. Religiöse Stätten - einschließlich Gotteshäuser und Friedhöfe - waren Vandalismus, Beschädigung und in einigen Fällen Zerstörung ausgesetzt, was die Regierung regelmäßig nicht verhinderte oder bestrafte (USCIRF 4.2021, S.82). Hassreden und Hassverbrechen gegen Christen und Juden (EC 6.10.2020; vergleiche BMZ 10.2020), inklusive solcher Äußerungen seitens Regierungsvertreter und Politiker, auch der Opposition (USCIRF 4.2020; vergleiche BMZ 10.2020), sowie Angriffe oder Vandalenakte auf Kultstätten von Minderheiten werden weiterhin verübt. Um alle diskriminierenden Elemente gegen Religionen und Glaubensgruppen zu beseitigen, benötigen auch die Schulbücher eine Überarbeitung (EC 6.10.2020). Die antisemitische Rhetorik in Printmedien und in sozialen Medien hält an, wobei diese nun auch Verschwörungstheorien hinsichtlich der Ausbreitung von COVID-19 beinhaltet (USDOS
30.3.2021, S.68; vergleiche USCIRF 4.2021, S.82). In TV-Shows und Interviews werden Juden und dem Staat Israel die absichtliche Verbreitung des Virus unterstellt. Laut einem Bericht der armenischen Hrant Dink Foundation über Hassreden gab es mehrere Hundert Fälle anti-semitischer Rhetorik in der Presse, in denen Juden als gewalttätig, verschwörerisch und als Feinde des Landes dargestellt wurden (USDOS 30.3.2021, S.68).
Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (NL-MFA 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religionsunterricht (USDOS 10.6.2020). Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist ausschließlich sunnitisch-hanafitisch. Das Erziehungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, vorausgesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandregister eingetragen. - Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr in dem Personalausweis, wird aber weiterhin im Personenstandregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung und die Polizei einsehbar. - Die Freistellung von alevitischen Kindern vom obligatorischen Religionsunterricht muss in der Regel auf dem Klageweg erstritten werden, da sie im Register als Muslime erfasst werden. Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung (BMZ 10.2020). Somit sind Atheisten, Agnostiker, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime, Baha'i, Jesiden oder diejenigen, die den Abschnitt "Religion" auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, nicht vom Unterricht befreit (USDOS 10.6.2020).
Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von NichtSunniten bei der Anstellung im öffentlichen Dienst (AA 24.8.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Mit Ausnahme wissenschaftlicher Einrichtungen sind Angehörige nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften weder im öffentlichen Dienst noch in der Armee zu finden. Früher bestehende Bestimmungen, welche die Aufnahme von Minderheitenangehörigen in den Staatsdienst auch rechtlich eingeschränkt hatten, wurden in der Zwischenzeit zwar aufgehoben, doch werden sie als gelebte Praxis weiterhin beachtet. Im Wissen, dass eine Bewerbung aussichtslos wäre, bemühen sich Angehörige, etwa der christlichen Minderheiten, inzwischen meist gar nicht mehr um eine Aufnahme. Im türkischen Parlament zählt lediglich die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht-muslimische Abgeordnete in ihren Reihen (ÖB 10.2020). Mitglieder von Minderheiten werden in der Arbeitswelt diskriminiert, insbesondere wenn der Arbeitgeber Verbindungen zur Regierung hat. Zudem ist die Religion auf den Identitätsausweisen vermerkt, wodurch die Diskriminierung bei einer Stellenbewerbung erleichtert wird (OD 15.1.2020).
Rechtliche Hindernisse hinsichtlich der Konversion, etwa ein Übertritt zum Christentum, bestehen nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft von ihren Familien bzw. ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt (BMZ 10.2020; vgl.
USDOS 10.6.2020, OD 15.1.2020) oder am Arbeitsplatz gemieden (USDOS 10.6.2020). Den Islam zu verlassen gilt als Verrat an der türkischen Identität und innerhalb der Familie als Schande, denn die vorherrschende Ansicht angesichts der Verknüpfung von Religion und Nationalismus ist, dass ein "wahrer" Türke Muslim ist (OD 15.1.2020). Religiöse Missionstätigkeit ist seit 1991 nicht mehr verboten (BMZ 10.2020). Nach wie vor begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen (AA 24.8.2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
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AM – Al Monitor (9.1.2019): Turks losing trust in religion under AKP, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/01/turkeybecoming-less-religious-under-akp.html, Zugriff 1.12.2020
BMZ – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der
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DW – Deutsche Welle (9.1.2019): Zahl der Atheisten in Erdogans Türkei steigt, https://www.dw.com/de/zahl-der-atheisten-in-erdoganst%C3%BCrkei-steigt/a-46992921, Zugriff 1.12.2020
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
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enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 1.12.2020 FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2043511.html, Zugriff
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NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande]
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Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten
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2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 1.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020):
Asylländerbericht
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, 1.12.2020
OD – Open Doors (15.1.2020): World Watch List –
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USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2021): United States Commission on International Religious
Freedom 2021 Annual Report; USCIRF – Recommended for Special Watch
List: Turkey, ,https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2021-
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USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 –
Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-
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USDOS – United States Department of State [USA] (10.6.2020): 2019 Report on International Religious Freedom –
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Ethnische Minderheiten
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei - primär über die Religion definierten, nichtmuslimischen Gruppen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen (USDOS 30.3.2021, S.70; vergleiche GIZ
12.2020). Daneben gibt es aber auch noch andere christliche Religionsgruppen,
z.B. aramäische Christen, die vom Sonderstatus nicht profitieren (GIZ 12.2020). Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Aseris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 30.3.2021, S.70).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Roma (zwischen 2 und 5 Mio.), Tscherkessen (rund 2 Mio.), Bosniaken (bis zu 2 Mio.), Krim-Tataren (1 Mio.),
Araber (vor dem Syrienkrieg 800.000 bis 1 Mio.), Lasen (zwischen 50.000 und 500.000), Georgier (100.000) sowie Uiguren, Syriaken und andere Gruppen in kleiner und schwer zu bestimmender Anzahl (AA 24.8.2020). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (weniger als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018b).
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter", "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom
Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihren Wahlkampf zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis wird dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 30.3.2021, S.71).
Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten bleiben ein ernsthaftes Problem. Dazu gehören auch Hass-Kommentare in den Medien, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten (EC 6.10.2020). Laut einem Bericht der Hrant Dink Stiftung zu Hassreden in der Presse wurden den Minderheiten konspirative, feindliche Gesinnung und Handlungen sowie andere negative Merkmale zugeschrieben. 2019 beobachtete die Stiftung alle nationalen sowie 500 lokale Zeitungen. 80 verschiedene ethnische und religiöse Gruppen waren Ziele von über 5.500 Hassreden und diskriminierenden Kommentaren in 4.364 Artikeln und Kolumnen. Die meisten betrafen Armenier (803), Syrer (760), Griechen (747) bzw. (als eigene Kategorie) Griechen der Türkei und/oder Zyperns (603) sowie Juden (676) (HDF 3.11.2020).
Nicht-Muslime wurden im Jahr 2020 zunehmend mit Hassreden bedacht, wobei insbesondere Armenier öffentlichen Verunglimpfungen ausgesetzt waren, da die türkische Regierung das aserbaidschanische Militär bei seiner Offensive gegen ethnische armenische Kräfte in Berg-Karabach unterstützte (FH 3.3.2021). Vertreter der armenischen Minderheit berichten über eine Zunahme von
Hassreden und verbalen Anspielungen, die sich gegen die armenische
Gemeinschaft richteten, auch von hochrangigen Regierungsvertretern. Nach dem
Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan Ende September 2020 verstärkte sich die anti-armenische Rhetorik, sowohl in traditionellen als auch in sozialen Medien. Allerdings verurteilten Regierungsvertreter wiederum die Einschüchterung ethnischer Armenier scharf (USDOS 30.3.2021, S.73).
Schulbücher müssten laut Europäischer Kommission überarbeitet werden, um Überreste diskriminierender Referenzen zu den Minderheiten zu eliminieren. Auch die staatlichen Subventionen für Minderheitenschulen sind gesunken und ergehen nur unregelmäßig. Gesetzliche Einschränkungen für muttersprachlichen Unterricht in Grund- und Mittelschulen bleiben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch werden jedoch an öffentlichen staatlichen Schulen fortgesetzt, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki. Die uneingeschränkte Achtung und der Schutz von Sprache, Religion, Kultur und Grundrechten der Minderheiten gemäß den europäischen Normen ist noch nicht vollständig erreicht. Die Regierung hat die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen in anderen Sprachen als Türkisch nicht legalisiert. Allerdings beschloss die Behörde für Pressewerbung (BİK), die derzeitige Finanzierung für Zeitungen, die von Mitgliedern der armenischen, griechischen und jüdischen Gemeinden betrieben werden, zu erhöhen (EC 6.10.2020). Mit dem 4.
Justizreformpaket wurde 2013 per Gesetz die Verwendung anderer Sprachen als
Türkisch (vor allem Kurdisch) vor Gericht und in öffentlichen Ämtern (Krankenhäusern, Postämtern, Banken, Steuerämtern etc.) ermöglicht (ÖB 10.2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 2.12.2020
bpb – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (17.2.2018):
Die Türkei im Jahr
2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/ die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12, Zugriff 2.12.2020
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-
enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 2.12.2020 FH – Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2043511.html, Zugriff
12.4.2021
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (12.2020): Gesellschaft - Ethnische Gruppen und
Minderheiten, https://www.liportal.de/tuerkei/gesellschaft/, Zugriff
12.4.2021
HDF – Hrant Dink Foundation (3.11.2020): Hate Speech and
Discriminatory Discourse in Media 2019
Report, https://hrantdink.org/attachments/article/2728/Hate-Speechand-Discriminatory-Discourse-in-Media-2019.pdf, Zugriff 2.12.2020
MRGI – Minority Rights Group International (6.2018b): World Directory of
Minorities and Indigenous Peoples,
Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/, Zugriff 12.4.2021 ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020):
Asylländerbericht
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 2.12.2020
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 –
Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 12.4.2021
Kurden
Letzte Änderung: 17.05.2021
Obwohl offizielle Zahlen nicht verfügbar sind, schätzen internationale Beobachter, dass sich rund 15 Millionen türkische Bürger als Kurden identifizieren. Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf SüdostAnatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. Ein signifikanter kurdischer Bevölkerungsanteil ist in Istanbul und anderen Großstädten anzutreffen. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozioökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020).
Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) (ÖB 10.2020). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen Konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP, besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - Hüda-Par), die für die Einführung der Schari'a eintritt. Zwar unterstützt sie wie die HDP die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident
Erdoğan, wie beispielsweise bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Das
Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobane-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (NL-MFA 31.10.2019).
Die kurdischen Gemeinden sind überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen, mehrheitlich kurdischen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt (USDOS 30.3.2021, S.70), auch 2019, wenn auch von kürzerer Dauer und im kleineren Umfang (İHD 18.5.2020b). Die Situation im Südosten ist trotz eines verbesserten Sicherheitsumfelds nach wie vor schwierig. Die Regierung setzte ihre Sicherheitsoperationen vor dem Hintergrund der wiederholten Gewaltakte der PKK fort (EC 6.10.2020).
[Anm.: für weiterführende Informationen siehe Kapitel "Sicherheitslage"]
Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien sind weiterhin bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt. Hunderte von kurdischen zivil-gesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 und 2017 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 30.3.2021, S.71) und blieben es auch (EC 6.10.2020).
Der Druck auf kurdische Medien und auf die Berichterstattung über kurdische
Themen hält an (EC 6.10.2020). Journalisten, die für kurdische Medien arbeiten, werden unverhältnismäßig oft ins Visier genommen (HRW 14.1.2020). Veranstaltungen oder Demonstrationen mit Bezug zur Kurden-Problematik werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage verboten (EC 6.10.2020). Diejenigen, die abweichende Meinungen zu den Themen äußern, die das kurdische Volk betreffen, werden in der Türkei seit langem strafrechtlich verfolgt (AI 26.4.2019). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südost-Türkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 24.8.2020).
Kurden in der Türkei sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowohl offiziellen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020).
Kinder mit kurdischer Muttersprache können Kurdisch im staatlichen Schulsystem nicht als Hauptsprache erlernen. Nur 18% der kurdischen Bevölkerung beherrschen ihre Muttersprache in Wort und Schrift (ÖB 10.2020). Optionale Kurse in Kurdisch werden an öffentlichen staatlichen Schulen weiterhin angeboten, ebenso wie Universitätsprogramme in Kurdisch und Zazaki. Gesetzliche Einschränkungen des muttersprachlichen Unterrichts in Grund- und Sekundarschulen bleiben allerdings bestehen (EC 6.10.2020; vergleiche ÖB 10.2020).
In diesem Zusammenhang problematisch ist die geringe Zahl an KurdischLehrern sowie deren Verteilung - oft nicht in den Gebieten, in denen sie benötigt werden. Zu hören ist auch von administrativen Problemen an den Schulen. Zudem wurden staatliche Subventionen für Minderheitenschulen wesentlich gekürzt (ÖB 10.2020).
Die erweiterten Befugnisse der Gouverneure, die die willkürliche Zensur verschärften, haben negative Auswirkungen auf den Kunst- und Kulturbereich. Nach einer zweiten Runde der Ernennung von staatlichen Treuhändern in vormals von der HDP regierten Gemeinden, wurden die Bemühungen zur Förderung der Schaffung von Sprach- und Kulturinstitutionen in diesen Provinzen weiter untergraben. Die Schließung kurdischer Kultur- und Sprachinstitutionen und kurdischer Medien sowie zahlreicher Kunsträume nach dem Putschversuch von 2016 führte zu einer weiteren Schmälerung der kulturellen Rechte (EC 6.10.2020).
Seit 2009 gibt es im staatlichen Fernsehen einen Kanal mit einem 24-StundenProgramm in kurdischer Sprache. 2010 wurde einem neuen Radiosender in Diyarbakir, Cağrı FM, die Genehmigung zur Ausstrahlung von Sendungen in den kurdischen Dialekten Kurmanci und Zaza/Zazaki erteilt. Insgesamt gibt es acht Fernsehkanäle, die ausschließlich auf Kurdisch ausstrahlen, sowie 27 Radiosender, die entweder ausschließlich auf Kurdisch senden oder kurdische Programme anbieten (ÖB 10.2020).
Geänderte Gesetze haben die ursprünglichen kurdischen Ortsnamen von Dörfern und Stadtteilen wieder eingeführt. In einigen Fällen, in denen von der Regierung ernannte Treuhänder demokratisch gewählte kurdische HDP-Bürgermeister ersetzt haben, wurden diese jedoch wieder entfernt (DFAT 10.9.2020; vergleiche TM 17.9.2020).
Der private Gebrauch der kurdischen Sprache ist seit Anfang der 2000er Jahre keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 24.8.2020). Einige Universitäten bieten Kurse in kurdischer Sprache an. Vier Universitäten hatten Abteilungen für die Kurdische Sprache. Jedoch wurden zahlreiche Dozenten in diesen Instituten, sowie Tausende weitere Universitätsangehörige aufgrund von behördlichen Verfügungen entlassen, sodass die Programme nicht weiterlaufen konnten. Im Juli 2020 untersagte das Bildungsministerium die Abfassung von Diplomarbeiten und Dissertationen auf
Kurdisch (USDOS 30.3.2021, S.71). Obgleich von offizieller Seite die Verwendung des Kurdischen im privaten Bereicht vollständig (AA 24.8.2020) und im öffentlichen Bereich teilweise gestattet wird, berichteten die Medien auch im Jahr 2020 immer wieder von Gewaltakten, einschließlich Mord und Totschlag, gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden (ÖB 10.2020; vergleiche TM 17.9.2020, IRB 7.1.2020). Nebst der (spontanen) Gewalt von Einzelpersonen kommt es auch zu organisierten gewalttätigen Angriffen türkisch-nationalistischer Milizen gegen kurdische Gruppen. Erstere sind überall in der Türkei zu finden, aber besonders im Westen und in Großstädten wie Istanbul und Ankara (UKHO 1.10.2019).
[Anm.: siehe auch Kapitel "Opposition"]
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 3.12.2020
AI – Amnesty International: Weathering the storm (26.4.2019): Defending human rights in Turkey's climate of fear [EUR
44/8200/2018], https://www.ecoi.net/en/file/local/1430738/1226_1524
726749_eur4482002018english.PDF, Zugriff 3.12.2020
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020):
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EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-
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3.12.2020
İHD – İnsan Hakları Derneği – Human Rights Association (18.5.2020b): İHD 2019 Report on Human Rights Violations in
Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/05/I%CC%87HD-
2019-VIOLATIONS-REPORT.pdf, Zugriff 3.12.2020
IRB – Immigration and Refugee Board of Canada [Kanada] (7.1.2020): Turkey: Situation of Kurds, including in Istanbul, Ankara, and Izmir; situation of supporters or perceived supporters of the Peoples' Democratic Party (Halkların Demokratik Partisi, HDP); situation of Alevi
Kurds (July 2018-December 2019)
[TUR106385.E], https://www.ecoi.net/de/dokument/2025617.html, Zugriff 3.12.2020
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande]
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Report Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/docu menten/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkijeoktober-2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 3.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020):
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Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 3.12.2020
TM – Turkish Minute (17.9.2020): Turkey removes signs in Kurdish as racist attacks on Kurds
surge, https://www.turkishminute.com/2020/09/17/turkey-removessigns-in-kurdish-as-racist-attacks-on-kurds-surge/, Zugriff 3.12.2020
UKHO – United Kingdom Home Office [Großbritannien] (1.10.2020): Report of a Home Office Fact-Finding Mission Turkey: Kurds, the HDP and the PKK; Conducted 17 June to 21 June
2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020297/TURKEY_FFM_REPOR T_2019.odt, Zugriff am 3.12.2020
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 –
Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 12.4.2021
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 17.05.2021
Artikel 23, der Verfassung garantiert die Bewegungsfreiheit im Land, das Recht zur Ausreise sowie das für türkische Staatsangehörige uneingeschränkte Recht zur Einreise. Die Bewegungsfreiheit kann nach dieser Bestimmung jedoch begrenzt werden, um Verbrechen zu verhindern. Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden (ÖB 10.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45). Die Regierung beschränkte Auslandsreisen von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das galt auch für deren Familienangehörige. Die Behörden haben auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran gehindert, das Land zu verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 30.3.2021, S.45f.).
Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vergleiche USDOS 13.3.2019, TM 25.7.2018). Trotz der Rücknahme der Annullierung konnten etliche Personen keine gültigen Pässe erlangen. Die Behörden blieben eine diesbezügliche Erklärung schuldig. Am 1.3.2019 hoben die Behörden die Passsperre von weiteren 51.171 Personen auf (TM 1.3.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45), gefolgt von weiteren 28.075 im Juni 2020 (TM 22.6.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021, S.45).
Das türkische Verfassungsgericht hat Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung aufgehoben, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik gestoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen (AA 24.8.2020).
Die Behörden sind befugt, die Bewegungsfreiheit Einzelner innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Personen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Tagen verbieten (ÖB 10.2020).
Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
Der Innenminister und die Provinzbehörden schränkten den Reiseverkehr zwischen den Provinzen zwischen März und Mai 2020 ein, gefolgt von begrenzten Bewegungseinschränkungen in und aus den Großstädten als Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Einige Gouverneure, insbesondere im Nordwesten und Südosten, verhängten weitere Reiseverbote als
Maßnahmen gegen COVID-19 während des ganzen Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021, S.45).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 11.12.2020
HDN – Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350
passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministryreinstates-155-350-passports-135000, Zugriff 16.10.2019
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020):
Asylländerbericht
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 11.12.2020
TM – Turkish Minute (22.6.2020): Turkey removes passport restrictions for 28,000 more citizens, https://www.turkishminute.com/2020/06/22/turkey-removespassport-restrictions-for-28000-more-citizens/, Zugriff 11.12.2020
TM – Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects' spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancelsregulation-used-to-revoke-passports-of-suspects-spouses/, Zugriff
16.10.2019
TM – Turkish Minute (1.3.2019): Turkey lifts restrictions on more than 50,000 passports, https://www.turkishminute.com/2019/03/01/turkeylifts-restrictions-on-more-than-50000-passports/, Zugriff 16.10.2019 TM – Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkeyremoves-restrictions-from-155350-passports/, Zugriff 16.10.2019
USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 –
Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-
2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 12.4.2021
USDOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 –
Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/2004277.html, Zugriff
16.10.2019
Binnenflüchtlinge (IDPs)
Letzte Änderung: 26.01.2021
Nach Angaben des Internal Displacement Monitoring Center (IDMC) waren in der Türkei mit Ende 2019 insgesamt 1.099.000 Menschen aufgrund von Konflikten und Gewalt Binnenflüchtlinge (IDPs) (IDMC 31.12.2019). Laut offiziellen Angaben wurden während der Auseinandersetzungen 2015/2016 25.000 Wohneinheiten vor allem in Diyarbakır-Sur, Şırnakcentre, Cizre, Silopi, Idil, Mardin Nusaybin, Hakkâri und Yüksekova schwer beschädigt. Andere Quellen gehen von bis zu 70.000 zerstörten oder schwer beschädigten Unterkünften aus. Es sind nur sehr wenige Informationen verfügbar, auch zu den Lebensbedingungen in diesen Gebieten. Nach Angaben des Ministeriums für Wohnungsbauverwaltung (TOKI) werden zerstörte Häuser in den Städten Silopi und Şırnak sowie in Mardin, Idil und Cizre wieder aufgebaut. Unabhängige Beobachter haben jedoch keinen Zugang zu den Gebieten und in Ermangelung von Grundlagenermittlungen ist es schwierig, das aktuelle Ausmaß der Vertreibung, die Rückkehranstrengungen sowie die Bedürfnisse der Binnenvertriebenen abzuschätzen (IDMC 5.2019). Jedenfalls ermöglichte die Abnahme der gewaltsamen Zusammenstöße in den Städten und die Wiederaufbauarbeiten der Regierung im Laufe des Jahres 2018 einigen Binnenflüchtlingen, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Gesamtzahlen bleiben jedoch unklar (USDOS 11.3.2020). Die Situation der Binnenvertriebenen, die durch die Gewalt im Südosten in den 1990er Jahren und in den letzten Jahren entstanden ist, hat sich nur begrenzt verbessert. Nur wenige Binnenflüchtlinge haben eine Entschädigung erhalten. Offiziellen Angaben zufolge wurden seit 2017 ca. 125 Mio. Euro als
Entschädigung an mehr als 50.000 Binnenvertriebene gezahlt (Stand: Juli 2019) (EC 6.10.2020). Relativ wenige Binnenvertriebene haben von den türkischen Behörden neue Wohnungen angeboten bekommen. Der Entschädigungsprozess und die Kriterien für die Zuteilung von Wohnraum an Binnenflüchtlinge sind nicht transparent (EC 29.5.2019). Die COVID-19-Pandemie hat die wirtschaftliche Ausgrenzung und die Verschlechterung der Lebensbedingungen der IDPs verschärft (EC 6.10.2020).
Quellen:
EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020)
355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-
enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf, Zugriff 16.12.2020
EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD (2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkeyreport.pdf, Zugriff 16.12.2020
IDMC – Internal Displacement Monitoring Centre (31.12.2019): Turkey Country Information, https://www.internal-
displacement.org/countries/turkey, Zugriff 16.12.2020
IDMC – Internal Displacement Monitoring Centre (5.2019): Turkey: Figure Analysis – Displacement Related to Conflict and
Violence, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008301/GRID+2019+-
+Conflict+Figure+Analysis+-+TURKEY.pdf, Zugriff 16.12.2020
USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 –
Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026346.html, Zugriff
16.12.2020
Grundversorgung / Wirtschaft
Letzte Änderung: 17.05.2021
Das reale Bruttoinlandsprodukt wuchs im vierten Quartal 2020 um 5,9% im Vergleich zum Vorjahr und schloss damit eine bemerkenswerte Erholung in der zweiten Jahreshälfte ab, die zu einem Wachstum von 1,8% für das Gesamtjahr führte, trotz der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (WB 6.4.2021; vergleiche GTAI 15.4.2021). Dieses Wachstum wurde allerdings erkauft mit Zinsen unter der Inflationsrate und einer starken Kreditexpansion (+35%) (GTAI 15.4.2021), die auch die Inlandsnachfrage ankurbelte (WB 6.4.2021). Eine Konsequenz war die starke Abwertung der türkischen Lira um rund 30%. Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren mahnen bereits seit Längerem strukturelle Reformen an. Die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken. Die ausufernde expansive Wirtschaftspolitik der letzten Jahre begrenzt den Handlungsspielraum für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Konjunktur. Außenpolitische Spannungen verstärken die Unsicherheiten (GTAI 15.4.2021). Die Behörden lockerten die Geldpolitik und gaben ein Konjunkturprogramm in Höhe von insgesamt 13% des BIP heraus, wovon der größte Teil auf die Unterstützung des Bankensektors in Form von teilweisen Kreditgarantien und Kreditstundungen entfiel. Andere fiskalische Unterstützung beinhaltete soziale Unterstützungszahlungen an Haushalte, Hilfe für beurlaubte Arbeiter, Steuerstundungen und andere Unterstützung für Firmen. Das durch diese Maßnahmen erzielte Wachstum ging auf Kosten steigender Preise und makroökonomischer Anfälligkeiten. Die Inflation erreichte im Februar 2021 15,6%. Von einem Überschuss im Jahr 2019 bewegte sich die Leistungsbilanz zurück ins Defizit, da die Einnahmen aus dem Tourismus schwanden, die Warenexporte sanken und die Goldimporte stiegen. Analysen deuten darauf hin, dass die Armut im Jahr 2020 um bis zu 2,1 Prozentpunkte gestiegen sein könnte - was 1,6 Millionen neuen Armen entspricht. Für das Jahr 2021 wird für die Türkei die höchste Armutsquote seit 2012 prognostiziert (WB 6.4.2021).
Unter den OECD-Staaten hat die Türkei eine der höchsten Werte hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und gleichzeitig eines der niedrigsten Haushaltseinkommen. Während im OECD-Durchschnitt die Staaten 20% des
Brutto-Sozialproduktes für Sozialausgaben aufbringen, liegt der Wert in der Türkei unter 13%. Die Türkei hat u.a. auch eine der höchsten Kinderarmutsraten innerhalb der OECD. Jedes fünfte Kind lebt in Armut (OECD 2019).
In der Türkei sorgen in vielen Fällen großfamiliäre Strukturen für die Sicherung der Grundversorgung. NGOs, die Bedürftigen helfen, finden sich vereinzelt nur in Großstädten. Die Ausgaben für Sozialleistungen betragen lediglich 12,1% des BIP (ÖB 10.2020).
Quellen:
GTAI – Germany Trade and Invest (15.4.2021): Türkische Wirtschaft wächst trotz Coronakrise, https://www.gtai.de/gtaide/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsausblick/tuerkei/tuerkischewirtschaft-waechst-trotz-coronakrise-247908, Zugriff 22.4.2021 OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (2019): Society at a Glance 2019: OECD Social
Indicators, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/soc_glance-2019en.pdf?expires=1573813322&id=id&accname=guest&checksum=2EE7422
8759055A97295ED4460FC22E0, Zugriff 16.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020):
Asylländerbericht
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 16.12.2020
WB – World Bank (6.4.2021): The World Bank in Turkey - Overview -
Recent Economic
Developments, https://www.worldbank.org/en/country/turkey/overview #3, Zugriff 22.4.2021
Sozialbeihilfen / -versicherung
Letzte Änderung: 26.01.2021
Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294, über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263, zur Organisation und den Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und
Solidarität, gewährt (AA 24.8.2020). Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftung für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind (AA 14.6.2019). Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können (AA 24.8.2020). Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt.
Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben. Auch Ausländer, die im Sinne des Gesetzes internationalen Schutz beantragt haben oder erhalten, haben einen Anspruch auf Gewährung von Sozialleistungen. Welche konkreten Leistungen dies sein sollen, führt das Gesetz nicht auf (AA 14.6.2019). Sozialhilfe im österreichischen Sinne gibt es keine. Auf Initiative des
Ministeriums für Familie und Sozialpolitik gibt es aber 43 Sozialprogramme (2019), welche an bestimmte Bedingungen gekoppelt sind, die nicht immer erfüllt werden können, wie z.B. Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet und 300 TL für das erste, 400 TL für das zweite, 600 TL für das dritte Kind beträgt; finanzielle Unterstützung für Schwangere: sog. "Milchgeld" in einmaliger Höhe von 202 TL (bei geleisteten Sozialversicherungsabgaben durch den Ehepartner oder vorherige Erwerbstätigkeit der Mutter selbst); Wohnprogramme; Einkommen für Behinderte und Altersschwache zwischen 567 TL und 854 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in der Höhe von 1.544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern (Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag). Witwenunterstützung: Jede Witwe hat 2020 alle zwei Monate Anspruch auf 587 TL (zweimonatlich) aus dem Budget des Familienministeriums. Zudem gibt es die Witwenrente, die sich nach dem Monatseinkommen des verstorbenen Ehepartners richtet (maximal 75% des Bruttomonatsgehalts des verstorbenen Ehepartners, jedoch maximal 4.500 TL) (ÖB 10.2020).
Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub) (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Für die arbeitsplatzbezogene Unfall- und Krankenversicherung inklusive Mutterschaft bezahlt der unselbständig Erwerbstätige nichts, der Arbeitgeber 2%; für die Invaliditäts- und Pensionsversicherung beläuft sich der Arbeitnehmeranteil auf 9% und der Arbeitgeberanteil auf 11%. Der Beitrag zur allgemeinen Krankenversicherung beträgt für die Arbeitnehmer 5% und für die Arbeitgeber 7,5% (vom Bruttogehalt). Bei der Arbeitslosenversicherung zahlen die Beschäftigten 1% vom Bruttolohn (bis zu einem Maximum) und die Arbeitgeber 2%, ergänzt um einen Beitrag des Staates in der Höhe von 1% des Bruttolohnes (bis zu einem Maximumwert) (SGK 2016b; vergleiche SSA 9.2018).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 16.12.2020
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011504/Ausw%C3%A4rtiges_
Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%Bcrkei_%28 Stand_Mai_2019%29%2C_14.06.2019.pdf, Zugriff 16.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, per E-Mail, Zugriff 16.12.2020
SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016a): Das Türkische Soziale
Sicherheitssystem, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/de/detail/das_ turkische, Zugriff 16.12.2020
SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016b): Financing of Social
Security, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/social_security
_system/social_security_system, Zugriff 16.12.2020
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018:
Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/20182019/europe/turkey.html, Zugriff 16.12.2020
Arbeitslosenunterstützung
Letzte Änderung: 26.01.2021
Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es für alle Arbeiter und Arbeiterinnen in der Türkei Unterstützung, auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, in staatlichen und in privaten Sektoren tätig sind (IOM 2019). Arbeitslosengeld wird maximal zehn Monate lang ausbezahlt, wenn zuvor eine ununterbrochene, angemeldete Beschäftigung von mindestens drei Monaten bestanden hat und nachgewiesen werden kann. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Durchschnittsverdienst der letzten vier Monate und beträgt 40% des Durchschnittslohns, maximal jedoch 80% des Bruttomindestlohns. Nach Erhöhung des Mindestlohns im Jänner 2020 beträgt der Mindestarbeitslosenbetrag derzeit 1177 TL, der Maximalbetrag 2.853 TL. Die Leistungsdauer richtet sich danach, wie viele Tage lang der Arbeitnehmer in den letzten drei Jahren Beiträge entrichtet hat (ÖB 10.2020). Personen, die 600 Tage lang Zahlungen geleistet haben, haben Anspruch auf 180 Tage Arbeitslosengeld. Bei 900 Tagen beträgt der Anspruch 240 Tage, und bei 1080 Beitragstagen macht der Anspruch 300 Tage aus (IOM 2020; vergleiche ÖB 10.2020).
COVID-19-Pandemie
Wegen der Corona-Krise hat die Regierung die Regelung zur Kurzarbeit zugunsten der Arbeitnehmer geändert. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde ein neuer Übergangsartikel geschaffen (Übergangsartikel 23). Dieser bestimmt, dass bei Kurzarbeitergeldanträgen aufgrund der Corona-Krise bis zum 20.6.2020 die Leistungsvoraussetzungen gelockert werden: Damit genügt es, dass der Versicherte in den vergangenen drei Jahren für 450 Tage (statt 600 Tage) Beiträge entrichtet hat. Auch muss er vor dem Leistungsanspruch lediglich 60 (statt 120) Tage ununterbrochen beschäftigt gewesen sein. Weiterhin wurde der Präsident ermächtigt, die Geltungsfrist dieser Bestimmung bis zum 31.12.2020 zu verlängern sowie die Maßstäbe für die Berechnung des Kurzarbeitergelds zu ändern. Mit der am 16.4.2020 verfügten Übergangsbestimmung des Gesetzes 7244 gilt ein Kündigungsverbot für alle Arbeitsverhältnisse für eine Dauer von drei Monaten. Dabei ist nicht von Belang, ob der Arbeitnehmer unter den Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes fällt oder nicht. Eine Ausnahme besteht lediglich im Fall einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung (MPI-SR 20.6.2020).
Quellen:
IOM – International Organization for Migration (2020):
Länderinformationsblatt Türkei
2020, https://files.returningfromgermany.de/files/Country%20Fact%20Sh eet%20T%C3%BCrkei%202020%20DE.pdf, Zugriff 16.12.2020
IOM – International Organization for Migration (Autor), veröffentlicht von
ZIRF – Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung
(2019): Länderinformationsblatt Türkei
2019, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2019_Turkey_DE. pdf, Zugriff 16.12.2020
MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April
2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialre cht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C 3%BCrkei__final.pdf, Zugriff 16.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 16.12.2020
Pension
Letzte Änderung: 26.01.2021
Pensionen gibt es für den öffentlichen und den privaten Sektor. Kosten: Eigenbeteiligungen werden an die Anstalt für Soziale Sicherheit (SGK) entrichtet, weitere Kosten entstehen nicht. Wenn der Begünstigte die Anforderungen erfüllt, erhält er eine monatliche Pension entsprechend der Höhe der Prämienzahlung.
Berechtigung:
• Staatsbürger über 18 Jahre
• Türken, die ihre Arbeit im Ausland nachweisen können (bis zu einem Jahr Arbeitslosigkeit ist anrechenbar)
• Ehepartner und Bürger ohne Beruf über 18 Jahren können eine Rente erhalten, wenn sie ihre Prämien für den gesamten oder einen Teil ihres Auslandsaufenthaltes in einer Fremdwährung an SGK, Bağkur [Selbständige] oder Emekli Sandığı [Beamte] gezahlt haben.
Voraussetzungen:
• Anmelden bei der Sozialversicherung SGK
• Hausfrauen müssen sich bei Bağkur anmelden
• Antrag an die Sozialversicherung, an welche sie ihre Beiträge gezahlt haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Rückkehr
Personen älter als 65 Jahre, Behinderte über 18 und Personen, mit Vormundschaft über Behinderte unter 18, erhalten eine monatliche Zahlung. Unmittelbare Familienangehörige des Versicherten, der verstorben ist oder mindestens zehn Jahre gearbeitet hat, haben Zugang zu Witwen- bzw. Waisenhilfe. Hat der Verstorbene mindestens fünf Jahre gearbeitet, erhalten seine Kinder unter 18, sowie Kinder in der Sekundarschule unter 20 und Kinder in höherer Bildung unter 25 Waisenhilfe (IOM 2020).
Die Alterspension (Yaşlılık aylığı) ist der durchschnittliche Monatsverdienst des Versicherten multipliziert mit dem Rückstellungssatz. Der durchschnittliche Monatsverdienst ist der gesamte Lebensverdienst des Versicherten dividiert durch die Summe der Tage der gezahlten Beiträge, multipliziert mit 30. Der Rückstellungssatz beträgt 2% für jede 360-Tage-Beitragsperiode (aliquot reduziert für Zeiträume von weniger als 360 Tagen), bis zu 90%. Eine Sonderberechnung gilt, wenn die Erstversicherung vor dem 1.10.2008 erfolgte (SSA 9.2018). 2019 wurde eine Mindestrente eingeführt. Durch Gesetz Nr. 7226 vom 25.3.2020 wurde die Mindestrente auf 1.500 TL (200 Euro) angehoben. Wie viele Versicherte nun eine Mindestrente erhalten, lässt sich aus den Statistiken des Versicherungsträgers weiterhin nicht ablesen. Jedoch steht fest, dass auch dieser höhere Betrag nicht ausreichen wird, um die Grundbedürfnisse zu decken. Nach Angaben der TÜRK-İŞ – der Dachorganisation der Gewerkschaften – liegt (Stand März 2020) bei einer vierköpfigen Familie die Armutsgrenze bei 7.639,22 TL (1018,56 Euro) und die Hungergrenze bei 2.345,24 TL (312,69 Euro) (MPISR 20.6.2020).
Quellen:
IOM – International Organization for Migration (2020):
Länderinformationsblatt Türkei
2020, https://files.returningfromgermany.de/files/Country%20Fact%20Sh
eet%20T%C3%BCrkei%202020%20DE.pdf, Zugriff 16.12.2020
MPI-SR - Max-Planck-Institut for Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April
2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialre cht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C
3%BCrkei__final.pdf, Zugriff 16.12.2020
SSA – Social Security Administration (9.2018): Social Security Programs Throughout the World: Europe, 2018:
Turkey, https://www.ssa.gov/policy/docs/progdesc/ssptw/2018-
2019/europe/turkey.html, Zugriff 16.12.2020
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 26.01.2021
Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde das staatlich zentralisierte Gesundheitssystem umstrukturiert und eine Kombination der "Nationalen Gesundheitsfürsorge" und der "Sozialen Krankenkasse" etabliert. Eine universelle Gesundheitsversicherung wurde eingeführt. Diese vereinheitlichte die verschiedenen Versicherungssysteme für Pensionisten, Selbstständige, Unselbstständige etc. Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Bei Arzneimitteln muss jeder Versicherte (Rentner ausgenommen) grundsätzlich einen Selbstbehalt von 10% tragen. Viele medizinische Leistungen, wie etwa teure Medikamente und moderne Untersuchungsverfahren, sind von der Sozialversicherung jedoch nicht abgedeckt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Zudem sank infolge der Reform die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um Zwei-Drittel.
Sofern kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt beträgt der freiwillige
Mindestbetrag für die allgemeine Krankenversicherung 3% des Bruttomindestlohnes der Türkei. Personen ohne reguläres Einkommen müssen ca. € 10 pro Monat einzahlen. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens (weniger als € 150/Monat) (ÖB 10.2020).
Überdies sind folgende Personen und Fälle von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit: Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, Opfer von Verkehrsunfällen und Notfällen, Situationen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, ansteckende Krankheiten mit Meldepflicht, Schutz- und präventive Gesundheitsdienste gegen Substanz-Missbrauch und Drogenabhängigkeit (SGK 2016c).
Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Mit der Inbetriebnahme der Krankenhäuser ergibt sich ein großer Bedarf an Krankenhausausstattung, Medizintechnik und Krankenhausmanagement. Dies gilt auch für medizinische Verbrauchsmaterialien. Die Regierung und die Projektträger bemühen sich zwar, einen möglichst großen Teil des Bedarfs von lokalen Produzenten zu beziehen, dennoch wird die Türkei zum Teil auf internationale Hersteller angewiesen sein (MPI-SR 20.6.2020).
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und post-operationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2019). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (AA 24.8.2020). Zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wird allerdings nicht Methadon, sondern entweder eine Kombination aus Buphrenorphin+Naloxan oder Morphin angewandt (MedCOI 18.2.2020)
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Zusätzlich gibt es noch sieben weitere sog. Behandlungszentren für Drogenabhängigkeit von Kindern und Jugendlichen (ÇEMATEM) mit insgesamt 100 Betten. Die aktuelle Kapazität wird mit Blick auf die wachsenden Patientenzahlen als noch unzureichend eingeschätzt, weshalb die Regierung einen Ausbau plant. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren. Eine AIDSBehandlung kann in 93 staatlichen Krankenhäusern wie auch in 68 Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen zudem drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 24.8.2020).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden.
Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Versicherte der SGK erhalten folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts- und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig und fangen bei 88,29 TL an (IOM 2020).
Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (IOM 2020).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 16.12.2020 IOM – International Organization for Migration (2020):
Länderinformationsblatt Türkei
2020, https://files.returningfromgermany.de/files/Country%20Fact%20Sh
eet%20T%C3%BCrkei%202020%20DE.pdf, Zugriff 16.12.2020
MedCOI (18.2.2020): BMA 13335, Zugriff 16.12.2020
MPI-SR - Max-Planck-Institut für Sozialrecht [Hekimler, Alpay] (20.6.2020): Entwicklungen der Sozialpolitik und Sozialgesetzgebung in der Türkei Berichtszeitraum: Januar 2019 – April
2020, https://www.mpisoc.mpg.de/fileadmin/user_upload/data/Sozialre cht/Publikationen/Schriftenreihen/Social_Law_Reports/SLR_5_2020_T%C
3%BCrkei__final.pdf, Zugriff 16.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 16.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara (10.2019): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Ber icht_2019_10.pdf, Zugriff 16.12.2020
SGK – Sosyal Güvenlik Kurumu – Anstalt für Soziale Sicherheit [Türkei] (2016c): Universal Health
Insurance, http://www.sgk.gov.tr/wps/portal/sgk/en/detail/universal_he alth_ins, Zugriff 16.12.2020
Behandlung nach Rückkehr
Letzte Änderung: 17.05.2021
Die türkischen Behörden unterhalten eine Reihe von Datenbanken, die Informationen für Einwanderungs- und Strafverfolgungsbeamte bereitstellen. Das Allgemeine Informationssammlungssystem, das Informationen über Haftbefehle, frühere Verhaftungen, Reisebeschränkungen, Wehrdienstaufzeichnungen und den Steuerstatus liefert, ist in den meisten Flug- und Seehäfen des Landes verfügbar. Ein separates Grenzkontroll-Informationssystem, das von der Polizei genutzt wird, sammelt Informationen über frühere Ankünfte und Abreisen. Das Direktorat, zuständig für die Registrierung von Justizakten, führt Aufzeichnungen über bereits verbüßte Strafen. Das Zentrale Melderegistersystem (MERNIS) verwaltet Informationen über den Personenstand (DFAT 10.9.2020).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Im anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert. In der Regel wird ein Anwalt hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise ebenfalls festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt (AA 24.8.2020).
Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das gleiche gilt auch für die Tätigkeit in/für andere Terrororganisationen wie die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front
(DHKP-C), türkische Hisbollah, Al-Qaida, den sogenannten Islamischen Staat (IS) etc. Seit dem Putschversuch 2016 werden Personen, die mit dem GülenNetzwerk in Verbindung stehen, in der Türkei als Terroristen eingestuft. Nach Mitgliedern von der Gülen-Bewegung, die im Ausland leben, wird zumindest national in der Türkei gefahndet; über Sympathisanten werden (eventuell nach Vernehmungen bei der versuchten Einreise) oft Einreiseverbote verhängt (ÖB 10.2020). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische
Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK (TR-MFA o.D.).
Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsannoncen oder artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen reicht hierfür ggf. bereits die Mitgliedschaft in bestimmten deutschen Vereinen oder die Teilnahme an oben aufgeführten Arten von Veranstaltungen aus (AA 24.8.2020). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet oder unter Hausarrest gestellt wurden, bzw. über sie ein Reiseverbot verhängt wurde (NL-MFA 31.10.2020). Laut Angaben von Seyit Sönmez von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer sollen an den Flughäfen gar Tausende Personen, Doppelstaatsbürger oder Menschen mit türkischen Wurzeln, verhaftet oder ausgewiesen worden sein, und zwar wegen "Terrorismuspropaganda", "Beleidigung des Präsidenten" und "Aufstachelung zum Hass in der Öffentlichkeit". Hierbei wurden in einigen Fällen die Mobiltelefone und die Konten in den Sozialen Medien an den Grenzübergängen behördlich geprüft. So etwas Problematisches vorgefunden wird, werden in der Regel Personen ohne türkischen Pass unter dem Vorwand der Bedrohung der Sicherheit zurückgewiesen, türkische Staatsbürger verhaftet und mit einem Ausreiseverbot belegt (SCF 7.1.2021; vergleiche Independent 5.1.2021). Auch Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt festgenommen werden (AA 27.4.2021).
Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im
Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (AA 27.4.2021).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die in einem Naheverhältnis zu einer im Ausland befindlichen, in der Türkei insbesondere aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation bekanntlich gesuchten Person stehen, selbst zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden. Dies betrifft auch Personen mit Auslandsbezug, darunter Österreicher und EU-Bürger, sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz im Ausland, die bei der Einreise in die Türkei überraschend angehalten und entweder in Untersuchungshaft verbracht oder mit einer Ausreisesperre belegt werden. Generell ist dabei jedoch nicht eindeutig feststellbar, ob diese Personen tatsächlich lediglich aufgrund ihres Naheverhältnisses mit einer bekanntlich gesuchten Person gleichsam in "Sippenhaft" genommen werden, oder ob sie aufgrund eigener Aktivitäten im Ausland (etwa in Verbindung mit der PKK oder der Gülen-Bewegung) ins Visier der türkischen Strafjustiz geraten sind. Allein 2020 wurden über ein Dutzend aus Österreich einreisende Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Türkei angehalten und, sofern sie nicht in Untersuchungshaft kamen, mit einer Ausreisesperre belegt (ÖB 10.2020).
Abgeschobene türkische Staatsangehörige werden von der Türkei rückübernommen. Das Verfahren ist jedoch oft langwierig (ÖB 10.2020). Probleme von Rückkehrern infolge einer Asylantragstellung im Ausland sind nicht bekannt (DFAT 10.9.2020; vergleiche ÖB 10.2019). Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. §3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2019). Die ausgefeilten Informationsdatenbanken der Türkei bedeuten, dass abgelehnte Asylbewerber wahrscheinlich die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich ziehen, wenn sie eine Vorstrafe haben oder Mitglied einer Gruppe von besonderem Interesse sind, einschließlich der Gülen-Bewegung, kurdischer oder oppositioneller politischer Aktivisten, oder sie Menschenrechtsaktivisten, Wehrdienstverweigerer oder Deserteure sind (DFAT 10.9.2020).
Die Pässe türkischer Staatsangehöriger im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt, mit dem sie in die Türkei zurückkehren können, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, sowie kritische Journalisten und, darüber hinaus, Kurden (UKHO 2.2018).
Eine Reihe von Vereinen (oft von Rückkehrern selbst gegründet) bieten spezielle
Programme an, die Rückkehrern bei diversen Fragen wie etwa der Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen sollen. Zu diesen Vereinen gehören unter anderem:
• Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çiğdem Akkaya, LinkTurkey, EMail: info@link-turkey.com
• Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@brueckeistanbul.org, http://bruecke-istanbul.com/
• TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-
Mail: almankulturadana@yahoo.de, www.takid.org (ÖB 10.2020).
Strafbarkeit von im Ausland gesetzten Handlungen/ Doppelbestrafung
Hinsichtlich der Bestimmungen zur Doppelbestrafung hat die Türkei im Mai 2016 das Protokoll 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert. Artikel 4, des Protokolls besagt, dass niemand in einem Strafverfahren unter der Gerichtsbarkeit desselben Staates wegen einer Straftat, für die er bereits nach dem Recht und dem Strafverfahren des Staates rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Artikel 9, des Strafgesetzbuches besagt, dass eine Person, die in einem anderen Land für eine in der Türkei begangene Straftat verurteilt wurde, in der Türkei erneut vor Gericht gestellt werden kann. Artikel 16, sieht vor, dass die im Ausland verbüßte Haftzeit von der endgültigen Strafe abgezogen wird, die für dieselbe Straftat in der Türkei verhängt wird. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen türkische Behörden die Auslieferung von Personen beantragt haben, die aufgrund von Bedenken wegen doppelter Strafverfolgung abgelehnt wurden. Nach Einschätzung des DFAT wendet die Türkei die Bestimmungen zur doppelten Strafverfolgung auf einer Ad-hoc-Basis an (DFAT 10.9.2020).
Gemäß Artikel 8, des türkischen Strafgesetzbuches sind türkische Gerichte nur für Straftaten zuständig, die in der Türkei begangen wurden (Territorialitätsprinzip) oder deren Ergebnis in der Türkei wirksam wurde. Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip sehen die Artikel 10 bis 13 des Strafgesetzbuches vor (ÖB 10.2020). So werden etwa öffentlich Bedienstete und Personen, die für die Türkei im Ausland Dienst versehen und im Zuge dieser Tätigkeit eine Straftat begehen, trotz Verurteilung im Ausland in der Türkei einem neuerlichen Verfahren unterworfen (Artikel 9,) (ÖB 10.2020). Wenn türkische Beamte entscheiden, dass Artikel 9, Anwendung findet, kann es parallele Ermittlungen und Urteile geben
(DFAT 10.9.2020). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland eine auch in der Türkei strafbare Handlung begehen, die mit einer mehr als einjährigen Haftstrafe bedroht ist, können in der Türkei verfolgt und bestraft werden, wenn sie sich in der Türkei aufhalten und nicht schon im Ausland für diese Tat verurteilt wurden (Artikel 11, (1)). Artikel 13, des türkischen Strafgesetzbuchs enthält eine Aufzählung von Straftaten, auf die unabhängig vom Ort der Tat und der Staatsangehörigkeit des Täters türkisches Recht angewandt wird. Dazu zählen vor allem Folter, Umweltverschmutzung, Drogenherstellung, Drogenhandel, Prostitution, Entführung von Verkehrsmitteln oder Beschädigung derselben (ÖB 10.2020).
Eine weitere Ausnahme vom Prinzip "ne bis in idem", d.h. der Vermeidung einer Doppelbestrafung, findet sich im Artikel 19, des Strafgesetzbuches. Während eines Strafverfahrens in der Türkei darf zwar die nach türkischem Recht gegen eine Person, die wegen einer außerhalb des Hoheitsgebiets der Türkei begangenen
Straftat verurteilt wird, verhängte Strafe nicht mehr als die in den Gesetzen des Landes, in dem die Straftat begangen wurde, vorgesehene Höchstgrenze der Strafe betragen, doch diese Bestimmungen finden keine Anwendung, wenn die Straftat entweder begangen wird: gegen die Sicherheit von oder zum Schaden der Türkei; oder gegen einen türkischen Staatsbürger oder zum Schaden einer nach türkischem Recht gegründeten privaten juristischen Person (CoE 15.2.2016).
Quellen:
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (27.4.2021): Türkei: Reise- und
Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-
amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962, 27.4.2021
AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Aus w%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-
_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28 Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf, Zugriff 17.12.2020
CoE – Council of Europe – Venice Commission (15.2.2016): Penal Code of Turkey, Law no 5237, 26. September 2004, in der Fassung vom 27. März 2015 [inoffizielle
Übersetzung], https://www.ecoi.net/en/file/local/1201150/1226_148007
0563_turkey-cc-2004-am2016-en.pdf, Zugriff 17.12.2020
DFAT – Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (10.9.2020):
DFAT Country Information Report
Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/countryinformation-report-turkey.pdf, Zugriff 17.12.2020
Independent [türkische Ausgabe] (5.1.2021): Yurtdışında yaşayan binlerce kişiye Türkiye girişlerinde sosyal medya paylaşımları nedeniyle işlem yapıldığı iddia edildi [Gegen Tausende von Menschen, die im Ausland leben, wurde angeblich wegen Social-Media-Postings an den Grenzübergängen in die Türkei vorgegangen], https://www.indyturk.com/node/295631/yurtd%C4%B1% C5%9F%C4%B1nda-ya%C5%9Fayan-binlerce-ki%C5%9Fiye-t%C3%BCrkiyegiri%C5%9Flerinde-sosyal-medya-payla%C5%9F%C4%B1mlar%C4%B1, Zugriff 2.2.2021 (Übersetzung mittels webtran.de)
NL-MFA – Netherlands Ministry of Foreign Affairs [Niederlande]
(31.10.2019): General Country of Origin Information Report
Turkey, https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten
/ambtsberichten/2019/10/31/algemeen-ambtsbericht-turkije-oktober-
2019/Turkije++October+2019.pdf, Zugriff 17.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020):
Asylländerbericht
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+As yll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf, Zugriff 17.12.2020
ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2019):
Asylländerbericht
Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2019349/TUER_%C3%96B+Ber icht_2019_10.pdf, Zugriff 17.12.2020
SCF – Stockholm Center for Freedom (7.1.2021): Thousands detained or deported at Turkish airports for their social media posts, https://stockholmcf.org/thousands-detained-or-deported-atturkish-airports-for-their-social-media-posts/, Zugriff 2.2.2021
TR-MFA – Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs [Türkei] (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa, Zugriff 17.12.2020
UKHO – United Kindom Home Office [Großbritannien] (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads
/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-
_CPIN_-_v2.0.pdf, Zugriff 17.12.2020
2. Beweiswürdigung:
Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes.
Der eingangs angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verfahrensakts des belangten Bundesamtes, das ein mängelfreies und ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat.
2.1 Zur Identität des Beschwerdeführers
Die positiven Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Abstammung und seinen persönlichen und familiären Lebensumständen im Herkunftsstaat bis zur Ausreise, sowie seinen Familienverhältnissen beruhen auf den stringenten Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem belangten Bundesamt (AS 82f) und ist kein Grund ersichtlich, warum der Beschwerdeführer etwa in Bezug auf seine privaten und familiären Verhältnisse oder seine beruflich ausgeübte Tätigkeit in der Türkei vor seiner Ausreise falsche Angaben hätte machen sollen. Aufgrund des in Vorlage gebrachten türkischen Personalausweises steht die Identität des Beschwerdeführers zweifelsohne fest.
Dass der Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten ist, ergibt sich aus einer vom erkennenden Gericht durchgeführten Abfrage im Strafregister. Allfällige Verwaltungsübertretungen sind nicht aktenkundig.
Im Hinblick auf seinen gesundheitlichen Zustand legte der Beschwerdeführer vor dem BFA dar, er sei in der Lage psychisch und physisch in der Lage Angaben im Verfahren zu machen. Auch nehme er keine Medikamente (AS 81). In Anbetracht des festgestellten Gesundheitszustandes konnten auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer allfälligen Arbeitsunfähigkeit festgestellt werden.
2.2 Zum asylrelevanten Vorbringen des Beschwerdeführers
Die belangte Behörde hat den entscheidungswesentlichen Sachverhalt im Rahmen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens erhoben, sich mit den Ergebnissen des Verfahrens beweiswürdigend auseinandergesetzt und diese einer abschließenden rechtlichen Beurteilung zugeführt. Das BFA gelangt dabei zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat keiner asylrelevanten Verfolgungshandlung ausgesetzt war und im Fall seiner Rückkehr keine solche zu befürchten hat und er die Türkei nur aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hat. Das erkennende Gericht schließt sich der Argumentation des BFA an; dies aus nachstehenden Erwägungen:
Vorweg ist festzuhalten, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers wie bereits von der belangten Behörde festgehalten grundsätzlich nicht geeignet war, die Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Dass der Beschwerdeführer die Türkei aufgrund des Wunsches nach einer Arbeitsaufnahme in Deutschland verlassen hat, hat der Beschwerdeführer bereits bei der ersten sich bietenden Gelegenheit – nämlich im Zuge der polizeilichen Erstbefragung -dargelegt, indem er folgendes angab: "In der Türkei gibt es eine (richtigerweise wohl: keine) Arbeit, ich bin auf der Suche nach einer Arbeit. Sonst habe ich keine weiteren Fluchtgründe." (AS 31). In dieses Bild fügt sich auch die Aussage, er habe nach dem Tod seiner Mutter beschlossen, die Türkei zu verlassen, da er dort "keine Zukunft" sehe. Dabei sei sein primäres Ziel Deutschland gewesen, da er jedoch in Wien erwischt worden sei, sei er hier geblieben (AS 85).
Grundsätzlich als glaubhaft anzusehen sind die Angaben des Beschwerdeführers dahingehend, dass er als Angehöriger der kurdischen Volksgruppe Diskriminierungen im Alltag ausgesetzt gewesen ist, zumal dies mit den vom BFA herangezogenen Länderquellen kongruent ist. Nach Angaben des Beschwerdeführers manifestierten sich diese darin, dass er am Arbeitsplatz "schlecht behandelt" worden sei und seine persönliche Meinung nicht äußern durfte (AS 85); schließlich habe seine vorverstorbene Mutter aus diesem Grund keine angemessene medizinische Behandlung erhalten. Etwaige gegen ihn persönlich gerichtete Verfolgungshandlungen hat er jedoch nicht dargetan. Zudem hat er selbst jegliche Verfolgung aufgrund politischer Gesinnung, Rasse oder Religionszugehörigkeit dezidiert verneint (AS 87), sodass der in der Beschwerde behaupteten mangelhaften Beweiswürdigung, wonach bei ordnungsgemäßer Durchführung die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe bzw. der unterstellten oppositionellen Gesinnung festgestellt werden müsste (AS 309), jede Grundlage entzogen ist. Letzteres stützt sich offenbar auf die Aussage des Beschwerdeführers vor dem BFA, wonach er zwar kein Parteimitglied gewesen sei, jedoch so behandelt worden sei, als wäre er Mitglied einer Partei, wie beispielsweise der HDP (AS 85, 86). In Ermangelung eines konkreten dahingehenden Vorbringens war der Schluss zu ziehen, dass der Beschwerdeführer mit dieser Aussage weniger Tatsächliches, als vielmehr die Schwere der geschilderten Diskriminierungshandlungen plakativ zum Ausdruck bringen wollte. Dafür spricht auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer – nach eigenen Aussagen – keine Schwierigkeiten mit Behörde und der Polizei hatte (AS 87), was im Falle einer ihm unterstellten oppositionspolitischem Tätigkeit mit Sicherheit der Fall wäre.
Zum Vorwurf der mangelnden Beweiswürdigung sei abschließend festzuhalten, dass aus der Beschwerde keineswegs ersichtlich ist, inwiefern die belangte Behörde konkret "eine ganzheitliche und objektive Beweiswürdigung" unterlassen habe. Ein unsubstantiiertes Bestreiten der Richtigkeit ist allerdings nicht geeignet, die - aus Sicht des erkennenden Gerichtes - schlüssige und im Einklang mit den Gesetzen der Logik stehende beweiswürdigenden Ausführungen des BFA in Zweifel zu ziehen.
Schließlich ist dem Beschwerdeführer nicht gelungen, konkrete Rückkehrbefürchtungen darzulegen, zumal dieser auf entsprechende Nachfrage lediglich die mangelnde – nicht näher definierte – "Sicherheit" anführte. Eine konkrete individuelle Gefährdung aus diesem Vorbringen konnte jedoch nicht abgeleitet werden, ebenso wenig aus der behaupteten Befürchtung, die Polizei und die Behörden könnten ihn im Fall der Rückkehr nach dem Grund seiner Ausreise "fragen" (AS 87). Korrespondierend dazu ist hervorzuheben, dass ausgehend von den getroffenen Länderfeststellungen keine Erkenntnisse vorliegen, die auf eine systematische Diskriminierung oder eine Verfolgung zurückgeführter oder freiwillig zurückgekehrter türkischer Staatsbürger ohne jegliche Exponiertheit – wie der Beschwerdeführer einer ist - schließen lassen.
2.4 Zum Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zum Zeitpunkt der Asylantragstellung, seiner bisherigen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet ergibt sich aus dem Akteninhalt, ebenso wie der Umstand, dass der er über keine weiteren Aufenthaltstitel verfügt.
Dass der Beschwerdeführer in Österreich keine nennenswerten sozialen Anknüpfungspunkte hat, ist den eigenen Angaben des Bescherdeführers entnommen. So hat er selbst eingeräumt, dass er in Österreich keine Verwandte oder Familienangehörige hat und auch sonst keine Freunde oder Bekannte, die er bereits aus seinem Heimatland kenne (AS 88f). Dass der Beschwerdeführer während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet gewisse freundschaftliche Kontakte oder Bekanntschaften geknüpft hat, wird wohl anzunehmen sein; eine gewisse Intensität derselben wurde jedoch vom Beschwerdeführer weder behauptet, noch ist es sonst im Verfahren hervorgekommen. Sonstige privaten Interessen machte der Beschwerdeführer nicht geltend.
Dass der Beschwerdeführer über einen Arbeitsvertrag unter aufschiebender Wirkung des Restaurants " römisch 40 " für die Verwendung als Schankhilfe oder Küchenhilfe verfügt, ist durch die Vorlage des vorumschriebenen Arbeitsvertrages verifiziert (AS 91).
Schließlich konnte den eigenen Aussagen des Beschwerdeführers in der Einvernahme vor dem BFA entnommen werden, dass dieser zwar aktuell einen Deutschkurs im Heim besucht, jedoch bislang keine Deutschprüfung absolviert hat. Sonstige Kurse oder Ausbildungen hat er ebenso wenig absolviert. Ein ehrenamtliches Engagement, genauso wie die Mitgliedschaft in einem Verein oder einer Organisation wurde vom Beschwerdeführer ausdrücklich verneint (AS 88).
Die Feststellungen hinsichtlich der vom Beschwerdeführer in Anspruch genommenen Leistungen der Grundversorgung für Asylwerber ergeben sich schließlich zweifelsfrei aus den angefertigten Auszügen aus dem Betreuungsinformationssystem.
Ausweislich des amtswegig eingeholten Strafregisterauszuges ist der Beschwerdeführer strafgerichtlich unbescholten.
2.5. Zu den getroffenen Länderfeststellungen
Die von der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Verfahren getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Dem Beschwerdeführer wurde im Anschluss an die Einvernahme vor dem BFA die Möglichkeit eingeräumt, eine Abschrift der obengenannten Länderquellen zu erhalten und hierzu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen, was der Beschwerdeführer jedoch ausschlug (AS 87).
Angesichts der erst kürzlich ergangenen Entscheidung der belangten Behörde, weisen die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit auf, sodass diese bedenkenlos der gegenständlichen Entscheidung zugrungegelegt werden können.
Was die gegenständlichen Länderinformationsblätter im konkreten anlangt, so besteht in Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Soweit der Beschwerdeführer in der Beschwerde mangelhafte Ermittlungen zur Situation der Kurden in der Türkei moniert (AS 364ff), ist dem entgegenzuhalten, dass dieser Themenkomplex sehr wohl weitreichende Berücksichtigung in den herangezogenen Länderinformationen findet und dort auch eingehend behandelt wird. Dass die herangezogenen Quellen nicht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben, liegt in der Natur der Sache und wird von der Rechtsprechung auch nicht für notwendig erachtet. Vielmehr bedarf es eines repräsentativen Querschnitts des vorhandenen Quellenmaterials, der zur Entscheidungsfindung herangezogen wird vergleiche VwGH 11.11.2008, 2007/19/0279). Aus Sicht des erkennenden Gerichtes genügen die von der belangten Behörde herangezogenen länderspezifischen Quellen diesen Anforderungen insofern, als eine abschließende Beurteilung der individuellen Situation des Beschwerdeführers im Lichte der allgemeinen Situation im Herkunftsstaat qualifiziert erfolgen kann und der Sachverhalt somit als hinreichend geklärt erscheint. Eine weitere Ermittlungspflicht – wie in der Beschwerde verlangt - ist somit zu verneinen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die in der Beschwerde herangezogenen Berichte vergleiche zur Situation der Kurden aus dem Jahr 2017) schon großteils mangels Aktualität nicht besonders zu berücksichtigen waren. Schon die belangte Behörde hat ausgeführt, dass zwar die teilweise allgemein schwierige Lage der Kurden in der Türkei auch in den herangezogenen Länderberichten aufscheint, jedoch gerade die bP keine persönlichen Verfolgungshandlungen dargelegt hat und die Allgemeinsituation nicht ein derariges Ausmaß erreicht, dass allen Kurden Schutz zu gewähren wäre.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
Paragraph 3, Asylgesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet:
"Status des Asylberechtigten
Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.
(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.
(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (Paragraph 5, BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.
(4b) In einem Familienverfahren gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer eins, gilt Absatz 4, mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt."
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde vergleiche zuletzt VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413)
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen vergleiche jüngst VwGH 12.03.2020, Ra 2019/01/0472)
Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 10.08.2018 Ra 2018/20/0314).
Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in seinem Heimatstaat Verfolgung zu befürchten habe vergleiche zuletzt VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).
Eine Verfolgung, d.h. ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen, kann weiters nur dann asylrelevant sein, wenn sie aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) erfolgt, und zwar sowohl bei einer unmittelbar von staatlichen Organen ausgehenden Verfolgung als auch bei einer solchen, die von Privatpersonen ausgeht vergleiche etwa VwGH 29.01.2020, Ra 2019/18/0228, ua.)
Wie im Zuge der Beweiswürdigung dargelegt, schließt sich das erkennende Gericht den Ausführungen der belangten Behörde vollinhaltlich an, wonach der Beschwerdeführer keine Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen glaubhaft machen konnte. Der Beschwerdeführer hat vielmehr glaubhaft vorgebracht, dass er sein Heimatland aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und beabsichtigt habe, in Europa eine Arbeit aufzunehmen, was keine Asylrelevanz im Sinne des Paragraph 3, AsylG zu begründen vermag.
Eine Verfolgung des Beschwerdeführers im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A Ziffer 2 Genfer Flüchtlingskonvention liegt somit nicht vor, weshalb auf die Frage der Schutzwilligkeit und -fähigkeit der staatlichen Organe, sowie des Vorliegens einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr eingegangen werden musste.
Zur behauteten Verfolgung beziehungsweise Diskriminierung aufgrund der kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit sei festgehalten, dass nach herrschender Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person als "Verfolgung" iSd GFK anzusehen ist, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen vergleiche jüngst VwGH 14.08.2020, Ra 2020/14/0002) respektive wenn die konkret behaupteten Maßnahmen eine solche Intensität erreicht haben, dass von einer Verfolgung iSd GFK gesprochen werden kann, wobei bei der Beurteilung dieser Frage ein objektiver Maßstab anzulegen ist (VwGH 16.12.1992, 92/01/0600; VwGH 22.06.1994, Ziffer 93 /, 01 /, 0443,). Das erkennende Gericht streitet nicht ab, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit Nachteilen in der türkischen Gesellschaft aussetzt war. Der Verlust des Arbeitsplatzes ohne massive Bedrohung der Lebensgrundlage - was ausweislich der nachstehenden unter Punkt 3.2 getroffenen Ausführungen zu verneinen ist - und daher umso weniger eine Schlechterstellung am Arbeitsplatz stellt jedoch nach Ansicht des Höchstgerichtes an sich keinen derart gravierenden Eingriff in die Grundrechte dar, um dem in der Flüchtlingskonvention angesprochenen Sachverhalt zugrunde gelegt werden zu können vergleiche VwGH 22.06.1994, 93/01/0443). Eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden – wie in der Beschwerde vorgebracht – liegt somit nicht vor.
Hinsichtlich des bloßen Umstands der kurdischen Abstammung des Beschwerdeführers ist weiter auszuführen, dass sich entsprechend der herangezogenen Länderberichte und aktuellen Medienberichten die Situation für Kurden - abgesehen von den Berichten betreffend das Vorgehen des türkischen Staates gegen Anhänger und Mitglieder der als Terrororganisation eingestuften PKK und deren Nebenorganisationen - nicht derart gestaltet, dass von Amts wegen aufzugreifende Anhaltspunkte dafür existieren, dass gegenwärtig Personen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei generell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit einer asylrelevanten - sohin auch einer maßgeblichen Intensität erreichenden - Verfolgung ausgesetzt bzw. staatlichen Repressionen unterworfen sein würden. Gründe, warum die türkischen Behörden ein nachhaltiges Interesse gerade an der Person des Beschwerdeführers haben sollten, wurden von diesem nicht glaubhaft vorgebracht und erreichten die von Privatpersonen ausgehenden Schikanen kein relevantes Ausmaß.
3.2. Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat
Paragraph 8, AsylG 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet:
"Status des subsidiär Schutzberechtigten
Paragraph 8, (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,
1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder
2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,
wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, ist mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, zu verbinden.
(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht.
(3a) Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Absatz eins, oder aus den Gründen des Absatz 3, oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß Paragraph 9, Absatz 2, vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
(4) Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
(5) In einem Familienverfahren gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer 2, gilt Absatz 4, mit der Maßgabe, dass die zu erteilende Aufenthaltsberechtigung gleichzeitig mit der des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, endet.
(6) Kann der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden, ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen. Diesfalls ist eine Rückkehrentscheidung zu verfügen, wenn diese gemäß Paragraph 9, Absatz eins und 2 BFA-VG nicht unzulässig ist.
(7) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten erlischt, wenn dem Fremden der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird."
Artikel 2, Europäische Menschenrechtskonvention lautet:
"Artikel 2 – Recht auf Leben
(1) Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden.
(2) Die Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt:
a) um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen;
b) um eine ordnungsgemäße Festnahme durchzuführen oder das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern
c) um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken."
Während das 6. ZPEMRK die Todesstrafe weitestgehend abgeschafft wurde, erklärt das 13. ZPEMRK die Todesstrafe als vollständig abgeschafft.
Artikel 3, Europäische Menschenrechtskonvention lautet:
"Artikel 3 – Verbot der Folter
Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."
Im Rahmen der Prüfung der Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein „real risk“ einer gegen Artikel 3, EMRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen vergleiche etwa VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet vergleiche jüngst VwGH 21.05.2019, Ro 2019/19/0006).
Nach der ständigen Judikatur des EGMR und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es grundsätzlich dem Beschwerdeführer, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Artikel 3, EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, römisch eins. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 26.04.2017, Ra 2017/19/0016). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr ("real risk") mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86).
Dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte, konnte fallgegenständlich nicht festgestellt werden.
Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind ebenso wenig hervorgekommen und in Anbetracht der Feststellungen zur Sicherheitslage nicht zu befürchten.
Das erkennende Gericht verkennt zwar nicht, dass die allgemeine Sicherheitslage in der Türkei als angespannt zu bezeichnen ist, was nicht zuletzt auf den wieder aufgeflammten Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak, sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure zurückzuführen ist. Die zahlreichen Anschläge der PKK sind jedoch hauptsächlich gezielt gegen Sicherheitskräfte gerichtet. Besonders von den kämpferischen Auseinandersetzungen betroffen sind die Grenzgebiete der Türkei zu Syrien und Irak.
Der Beschwerdeführer gehört nicht staatlichen oder privaten Sicherheitskräften an, hatte und hat kein politisches oder gesellschaftliches Amt inne und ist auch nicht wegen von ihm gesetzten politischen oder zivilgesellschaftlichen Aktivitäten exponiert.
In Anbetracht des persönlichen Profils des Beschwerdeführers und des Umstandes, dass der Beschwerdeführer in römisch 40 beheimatet ist, und damit nicht im unmittelbarer Nähe zu den von den Spannungen betroffenen Grenzgebieten, ist nicht davon auszugehen, dass er allein aufgrund seiner bloßen Präsenz in seinem Heimatort einer individuellen Gefährdung durch terroristische Anschläge, organisierte Kriminalität oder bürgerkriegsähnliche Zustände ausgesetzt wäre.
Weitere, in der Person des Beschwerdeführers begründete Rückkehrhindernisse können bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt werden.
Dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr ins Herkunftsland der existentiellen Lebensgrundlage entzogen wäre, konnte ebenso nicht festgestellt werden. Der Beschwerdeführer ist ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der über ein soziales und familiäres Netz in der Türkei verfügt, sodass er – zumindest in der Anfangszeit - mit sozialer bzw. finanzieller Unterstützung und Versorgung Rechnen darf. Der Beschwerdeführer ist mit der Sprache und den lokalen Gebräuchen vertraut und war vor seiner Ausreise jahrelang in der Gastronomie beschäftigt. Aus diesem Grund geht das erkennende Gericht davon aus, dass der Beschwerdeführer in der Türkei – auch ohne familiäre Unterstützung - grundsätzlich in der Lage sein wird, sich mit seinen bislang ausgeübten Tätigkeiten oder gegebenenfalls mit anderen Tätigkeiten – wie etwa durch Gelegenheitsjobs oder Aushilfstätigkeiten - ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhaltes zu erwirtschaften. Schließlich ist – mangels gegenteiliger Anhaltpunkte - davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nach wie vor im Besitz der von ihm vor der Ausreise bewohnten Eigentumswohnung ist, die ihm entweder weiterhin als unentgeltliche Wohnmöglichkeit dienen könnte oder zumindest eine finanzielle Absicherung garantiert (etwa durch Einnahmen aus Vermietung oder Veräußerung).
Darüber hinaus stehen dem Beschwerdeführer – als türkischem Staatsbürger - die in der Türkei vorhandenen Systeme der sozialen Sicherheit, darunter Sozialleistungen für Bedürftige durch die Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität als Anspruchsberechtigter offen. Ausweislich der Feststellungen zu Sozialbeihilfen in der Türkei sind nach Artikel 2, des Gesetzes Nr. 3294 bedürftige Staatsangehörige anspruchsberechtigt, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Gesamtbetrachtet ist somit jedenfalls von einer Existenzsicherung des Beschwerdeführers in seiner Heimatprovinz oder auch in anderen Landesteilen auszugehen.
Der Beschwerdeführer ist überdies gesund und gehört bei Berücksichtigung aller bekannten Umstände auch nicht der Risikogruppe für einen schweren Verlauf der COVID-19-Erkrankung an vergleiche dazu die Bestimmungen der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Definition der allgemeinen COVID-19-Risikogruppe vom 6.5.2020, Bundesgesetzblatt Teil 2, Nr. 203 aus 2020,). Zum Entscheidungszeitpunkt gab es in der Türkei bisher insgesamt 11.939.804 bestätigte COVID-19-Fälle sowie 88.064 Todesfälle vergleiche WHO Dashboard zu COVID-19, Stand: 04.02.2022, abgerufen am 06.02.2022). In einer Gesamtbetrachtung ergeben sich vor dem Hintergrund dieser Zahlen – insbesondere in Anbetracht der Einwohnerzahl von 84 Millionen – und der individuellen Situation des Beschwerdeführers - keine Hinweise auf eine unzumutbare, schon mit der Rückverbringung des Beschwerdeführers in die Türkei einhergehende Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im Sinne der zitierten Bestimmungen der EMRK. Derartiges wurde auch nicht vorgebracht.
Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage (allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse) liegen nicht vor, weshalb hieraus aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Hinweis auf das Vorliegen eines Sachverhalts gem. Artikel 2, und/ oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.
Dem Beschwerdeführer droht – im Lichte der vorangeführten Ausführungen - keine Gefahr im Sinne des Paragraph 8, AsylG, weshalb die Gewährung von subsidiärem Schutz zu verneinen ist.
3.3. Nichterteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz
Paragraph 57, Asylgesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet:
"Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz"
Paragraph 57, (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht,
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Absatz eins, Ziffer 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Absatz 3 und Paragraph 73, AVG gehemmt.
(3) Ein Antrag gemäß Absatz eins, Ziffer 2, ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.
(4) Ein Antrag gemäß Absatz eins, Ziffer 3, ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können."
Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet war ausweislich der Feststellungen nie nach Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Absatz eins a, FPG 2005 geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde schließlich nicht Opfer von Gewalt im Sinn der Paragraphen 382 b, oder 382e EO. Dem Beschwerdeführer ist daher kein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu erteilen.
3.4. Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8, EMRK und Erlassung einer Rückkehrentscheidung
§10 Asylgesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet:
"Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme
Paragraph 10, (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß Paragraphen 4, oder 4a zurückgewiesen wird,
2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 5, zurückgewiesen wird,
3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und in den Fällen der Ziffer eins und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Ziffer eins bis 5 kein Fall der Paragraphen 8, Absatz 3 a, oder 9 Absatz 2, vorliegt.
(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.
(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des Paragraph 58, Absatz 9, Ziffer eins bis 3 vorliegt.
§55 Asylgesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet:
Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8, EMRK
Paragraph 55, (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn
1. dies gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 14 a, NAG erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (Paragraph 5, Absatz 2, Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 189 aus 1955,) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Absatz eins, Ziffer eins, vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.
Paragraph 9, BFA-Verfahrensgesetz, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012, in der geltenden Fassung lautet:
"Schutz des Privat- und Familienlebens
Paragraph 9, (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn
1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß Paragraph 10, Absatz eins, des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), Bundesgesetzblatt Nr. 311, verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbotes von mehr als fünf Jahren gemäß Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer 6,, 7 oder 8 FPG liegt vor, oder
2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraphen 52, Absatz 4, in Verbindung mit 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 4, FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG vorliegen. Paragraph 73, Strafgesetzbuch (StGB), Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974, gilt."
Artikel 8, Europäische Menschenrechtskonvention lautet:
"Artikel 8 - Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden im Sinne des Artikel 8, Absatz eins, EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt. Da der Beschwerdeführer – ausweislich der getroffenen Feststellungen - über keine Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich verfügt und auch nicht in einer Lebensgemeinschaft lebt, scheidet ein möglicher Eingriff in das Recht auf Familienleben aus. Zu prüfen bleibt, ob allenfalls ein solcher in das Privatleben vorliegt.
Anhand des in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG aufgestellten Kriterienkataloges, lässt sich folgendes Bild des Beschwerdeführers zeichnen:
● Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war:
Der Beschwerdeführer reiste spätestens im Juli 2021 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 18.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Aufenthalt im Bundesgebiet im Ausmaß von mindestens sieben Monaten konnte er lediglich nur durch Stellung eines Asylantrags vorübergehend legalisieren.
● Das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Privatlebens):
Ausweislich der getroffenen Feststellungen, verfügt der Beschwerdeführer über keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich. Der Beschwerdeführer geht keiner Beschäftigung nach, hat keine nennenswerten Kontakte zu Österreichern. Der Beschwerdeführer besuch zwar aktuell einen "hauseigenen" Deutschkurs in seiner Unterkunft; seine Deutschkenntnisse sind – angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer – allerdings wenig ausgeprägt. Er hat werde eine Deutschprüfung absolviert, noch ist er in Vereinen oder Vereinigungen aktiv. Der Beschwerdeführer ist unbescholten; von ihm begangene Verwaltungsübertretungen sind nicht aktenkundig.
● Die Schutzwürdigkeit des Privatlebens:
Soweit der Beschwerdeführer über private Bindungen in Österreich verfügt, ist darauf hinzuweisen, dass diese zwar durch eine Rückkehr in die Türkei gelockert werden, er jedoch hierdurch nicht gezwungen wird, den Kontakt zu Personen, die ihm in Österreich nahe stehen, gänzlich abzubrechen. Vielmehr besteht die Möglichkeit, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch kurzfristige Urlaubsaufenthalte) aufrecht zu erhalten.
● Bindungen zum Herkunftsstaat:
Der Beschwerdeführer verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei, wo seine engsten Familienangehörigen, Bekannten und Freunde leben. In Anbetracht der relativ kurzen Abwesenheit (jedenfalls unter einem Jahr) aus seinem Heimatland Türkei kann nicht davon ausgegangen werden, dass bereits eine völlige Entwurzelung vom Herkunftsland stattgefunden hat. Der Beschwerdeführer hat die überwiegende Zeit in seinem Heimatland verbracht, spricht Kurdisch als Muttersprache und war dort zuletzt in der Gastronomie tätig. Es deutet nichts darauf hin, dass es dem Beschwerdeführer nicht möglich wäre, sich bei seiner Rückkehr in die dortige Gesellschaft zu integrieren und wieder Kontakt zu seiner Familie herzustellen.
● Strafrechtliche Unbescholtenheit:
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
● Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen illegal in das Bundesgebiet ein. Vom Beschwerdeführer begangene Verwaltungsübertretungen sind nicht aktenkundig.
● Die Frage, ob das Privatleben zu einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltes bewusst waren:
Dem Beschwerdeführer musste nach Ansicht des erkennenden Gerichtes bereits bei der Einreise bewusst gewesen sein, dass sein Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Asylantrages nur ein vorübergehender sein wird.
● Mögliches Organisationsverschulden durch die handelnden Behörden in Bezug auf die Verfahrensdauer:
Ein solches Verschulden ergibt sich aufgrund der Aktenlage nicht. Zwischen der Antragstellung durch den Beschwerdeführer und der gegenständlichen Entscheidung durch die belangte Behörde liegt rund vier Monate. Von der Vorlage der Beschwerde bis zur Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vergingen etwa zwei Monate. Es kann daher von einer langen Verfahrensdauer nicht gesprochen werden.
Im Rahmen der Interessensabwägung kommt das erkennende Gericht somit zu folgendem Ergebnis:
Der Beschwerdeführer reise auf illegalem Wege spätestens im Juli 2021 in das Bundesgebiet ein und stellte am 18.07.2021 einen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der Beschwerdeführer hält sich seit ca. sieben Monaten im Bundesgebiet auf, was gegenständlich kaum Berücksichtigung finden kann, da nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs einem inländischen Aufenthalt von wenigen Monaten ohne das Hinzutreten weiterer Umstände keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zukommt (VwGH 03.12.2020, Ra 2020/20/0392 mwN).
Der Beschwerdeführer hat hierorts keine wirtschaftlichen Anknüpfungspunkte in Gestalt einer legalen Erwerbstätigkeit und ist zur Sicherstellung seines Auskommens auf Leistungen der staatlichen Grundversorgung angewiesen. Dass der Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit im Fall eines Arbeitsmarktzuganges absehbar ist, beweist der im Verfahren vorgelegter arbeitsrechtlicher Vorvertag für eine unbefristete Anstellung als Schankhilfe und Küchenhilfe im Ausmaß von 42 Stunden zu einem monatlichen Entgelt von 1.750 brutto, der lediglich unter der aufschiebenden Bedingung des Arbeitsmarktzuganges steht, was jedenfalls zugunsten des Beschwerdeführers zu berücksichtigen ist.
Der Beschwerdeführer besucht aktuell einen Deutschkurs in seiner Unterkunft, eine Deutschprüfung hat dieser jedoch nicht absolviert, sodass von einer berücksichtigungswürdigen Integration in sprachlicher Hinsicht noch nicht die Rede sein. Der Beschwerdeführer machte keine sozialen oder freundschaftlichen Kontakte in Österreich geltend und konnte nicht festgestellt werden, dass er Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation ist. Hinweise auf ein soziales, z.B. ehrenamtliches Engagement des Beschwerdeführers bestehen nicht. Die Absolvierung einer (Berufs-)Ausbildung wurde ebenso wenig dargetan. Weitere Anhaltspunkte für eine soziale Integration des Beschwerdeführers in die österreichische Gesellschaft liegen nicht vor.
Dass der Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten ist und keine von ihm begangenen Verwaltungsübertretungen aktenkundig sind, bewirkt keine Erhöhung des Gewichts der Schutzwürdigkeit von persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich, da das Fehlen ausreichender Unterhaltsmittel und die Begehung von Straftaten eigene Gründe für die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen darstellen (VwGH 24.07.2002, 2002/18/0112).
Merkmale einer besonderen Integration in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht kamen - gesamtbetrachtet - nicht zu Tage.
Hingegen hat der Beschwerdeführer den Großteil seines Lebens in der Türkei verbracht und ist mit den dortigen Gebräuchen und dem dortigen Leben vertraut. Er wurde dort sozialisiert und spricht die Mehrheitssprache seiner Herkunftsregion auf muttersprachlichem Niveau. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass es dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, in der dortige Gesellschaft Fuß zu fassen. Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise in der Gastronomie beschäftig. Aufgrund der Präsenz von nahen Angehörigen im Herkunftsstaat ist auch gegenwärtig von starken Bindungen zu diesem auszugehen; eine Existenzgrundlage des Beschwerdeführers wurde bereits vorstehend bejaht (siehe Punkt 3.2.)
Soweit der Beschwerdeführer über private Bindungen in Österreich verfügt, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass diese durch eine Rückkehr in die Türkei nur gelockert werden und stünde es ihm frei, die Kontakte anderweitig (telefonisch, elektronisch, brieflich, durch gemeinsame Urlaubsaufenthalte, gegebenenfalls auch in einem Drittstaat, etc.) aufrecht zu erhalten.
Angesichts der – in ihrem Gewicht erheblich geminderten - Gesamtinteressen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet, überwiegen nach Ansicht des erkennenden Gerichtes die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung, und zwar in Form der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften und des damit einhergehenden geordneten Zuwanderungswesens, sowie nicht zuletzt des wirtschaftlichen Wohles des Landes. An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber angeführt, dass es dem Beschwerdeführer – trotz der asylrechtlichen Ausweisung - weiterhin unbenommen bleibt, bei Erfüllung der allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Regelungen wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren.
Im Rahmen einer Abwägung der vorgenannten Aspekte nach Maßgabe der im Sinne des Paragraph 9, BFA-VG angeführten Kriterien gelangt das erkennende Gericht – wie bereits auch das belangte Bundesamt – zum Ergebnis, dass die individuellen Interessen des Beschwerdeführers nicht so ausgeprägt sind, dass sie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung stellt im Ergebnis keine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens dar.
3.5. Zulässigkeit der Abschiebung und Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise
Paragraph 50, Fremdenpolizeigesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet:
"Verbot der Abschiebung
Paragraph 50, (1) Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
(2) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33, Ziffer eins, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974,), es sei denn, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005).
(3) Die Abschiebung in einen Staat ist unzulässig, solange der Abschiebung die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entgegensteht."
Paragraph 52, Fremdenpolizeigesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet auszugsweise:
"Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige
Rückkehrentscheidung
Paragraph 52, (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und kein Fall der Paragraphen 8, Absatz 3 a, oder 9 Absatz 2, AsylG 2005 vorliegt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
[....]
(9) Das Bundesamt hat mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei."
[...]
Paragraph 55, Fremdenpolizeigesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, in der geltenden Fassung lautet:
"Frist für die freiwillige Ausreise
§ 55. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. Paragraph 37, AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Absatz eins, ist mit Mandatsbescheid (Paragraph 57, AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht."
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde das Bestehen einer aktuellen, also im Fall der Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des Paragraph 50, Absatz eins, oder Absatz 2, FPG 2005 – diese Bestimmungen stellen auf dieselben Gründe ab, wie sie in Paragraphen 3 und 8 AsylG 2005 enthalten sind – glaubhaft zu machen. Es ist die konkrete Einzelsituation des Fremden in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen; für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob allenfalls gehäufte Verstöße im Sinn des Paragraph 50, Absatz eins, FPG 2005 durch den betroffenen Staat bekannt geworden sind vergleiche VwGH 10.08.2018, Ra 2018/20/0314).
Aus Sicht des erkennenden Gerichtes ist die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat insofern gegeben, als nach den die Abweisung des gegenständlichen Asylantrages tragenden Feststellungen keine Gründe vorliegen, aus denen sich eine Unzulässigkeit der Abschiebung im Sinne des Paragraph 50, FPG ergeben würde.
Gründe, die gegen die Rechtmäßigkeit der mit vierzehn Tagen festgesetzten Frist sprechen, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.
Die Beschwerde war daher als unbegründet abzuweisen.
3.6. Absehen von der mündlichen Verhandlung
Paragraph 24, Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 33 aus 2013, in der geltenden Fassung lautet:
"Verhandlung
Paragraph 24, (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn
1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder
2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist.
(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Artikel 6, Absatz eins, der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, noch Artikel 47, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 Sitzung 389 entgegenstehen.
(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden."
Das erkennende Gericht hat keine ergänzende Beweiswürdigung vorgenommen, sondern stützt sich die gegenständliche Entscheidung auf die von der belangten Behörde vorgenommene tragende Beweiswürdigung.
Was das Vorbringen des Beschwerdeführers in der Beschwerde betrifft, so findet sich in diesen kein neues bzw. kein ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen hinsichtlich allfälliger sonstiger Fluchtgründe. Auch tritt der Beschwerdeführer in der Beschwerde den seitens der belangten Behörde getätigten beweiswürdigenden Ausführungen, wie auch der rechtlichen Würdigung nicht substantiiert entgegen.
Der entscheidungswesentliche Sachverhalt stand somit fest und hätte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zu keinem anderen Verfahrensausgang geführt.
Das erkennende Gericht teilt die Beweiswürdigung der belangten Behörde, wonach der Beschwerdeführer keine relevante Verfolgung oder Gründe für eine Schutzgewährung glaubhaft machen konnte.
Aufgrund der vorgenannten Ausführungen, konnte von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung Abstand genommen werden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts-hofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
ECLI:AT:BVWG:2022:L531.2249122.1.00