Bundesverwaltungsgericht
22.02.2022
W241 2147898-2
W241 2147898-2/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hafner als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geboren am römisch 40 , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.01.2019, Zahl 15-1069178310-150523600, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.02.2022 zu Recht:
A)
römisch eins. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte römisch eins., römisch II., römisch III. und römisch IV. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt römisch II. zu lauten hat:
"Ihr Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, 1. Satz in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG 2005 abgewiesen."
römisch II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch fünf. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2, AsylG 2005 und Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von römisch 40 nach Afghanistan unzulässig ist.
römisch III. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VI. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt zu lauten hat:
"Gemäß Paragraph 55, Absatz 2, FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab dem Zeitpunkt der Enthaftung."
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär in Österreich ein und stellte am 18.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. In seiner Erstbefragung am 19.05.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu im Wesentlichen an, dass er aus Nangarhar stamme, wo sich noch seine Mutter, ein Bruder, seine Frau, vier Söhne und zwei Töchter aufhalten würden. Der Vater sei 2011 an einer Krankheit verstorben, ein Bruder sei ebenfalls bereits tot.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er von 2010 bis 2014 für die Polizei und den Geheimdienst als Informant gearbeitet habe. Aufgrund seiner Informationen wären einige Talibankämpfer durch die Polizei getötet worden. Die Taliban hätten dann erfahren, dass er der Informant sei, woraufhin er mit dem Umbringen bedroht worden wäre.
1.3. Bei seinen Einvernahmen am 08.09.2015 und 13.12.2018 vor dem BFA machte der BF zuerst Angaben zu seinen Familienverhältnissen in Afghanistan, wobei er nunmehr angab, vier Söhne und drei Töchter zu haben.
Bezüglich seiner Fluchtgründe wiederholte der BF sein Vorbringen, dass er von 2010 bis 2014 Informant für einen Sicherheitsoffizier der Regierung gewesen wäre und an diesen Informationen über die Taliban weitergegeben hätte. Als dann das Dorf bombardiert und einige Taliban getötet worden wären, seien Taliban bei ihm zuhause vorbeigekommen, wobei sein Bruder erschossen worden wäre. Da er selbst gerade in Jalalabad gewesen wäre, wäre er den Taliban entkommen. Allerdings hätte er um sein Leben gefürchtet, weshalb er ausgereist sei. Zusätzlich gab der BF am 13.12.2018 an, dass sein ältester Sohn im Jahr 2016 entführt worden wäre und seither als verschollen gelte.
1.4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 04.01.2019 den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt römisch II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus Paragraph 55, FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse – im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen – glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Das Fluchtvorbringen des BF wurde aufgrund mehrerer widersprüchlicher Angaben als unglaubwürdig beurteilt.
In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, dass die Begründung des Antrages keine Deckung in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) finde.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan nicht drohe. Bei einer Rückkehr werde der BF im Herkunftsstaat dazu in der Lage sein, durch Arbeitsaufnahme eine ausreichende Lebensgrundlage zu finden und könne er sein Existenzminimum sichern.
1.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein und beantragte die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
In der Beschwerdebegründung wurden das bisherige Vorbringen des BF im Wesentlichen wiederholt und Ausführungen zur Lage in Afghanistan getätigt.
1.6. Die Beschwerde samt Verwaltungsakt langte am 07.02.2019 beim BVwG ein.
1.7. Am 12.04.2021 wurde der BF wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels und des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel gemäß den Paragraphen 28, Absatz eins, 1. Satz 2. Fall, 28a Absatz eins, 5. Fall und Absatz 4, Ziffer 3, SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
1.8. Mit Bescheid vom 02.08.2021 stellte das BFA fest, dass der BF sein Recht zum Aufenthalt ab dem 29.10.2020 verloren habe.
1.9. Das BVwG führte am 15.02.2022 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF im Beisein seiner gewillkürten Vertretung persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei machte der BF Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen, seiner Verurteilung in Österreich und seinen Fluchtgründen.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
● Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahmen vor dem BFA sowie die Beschwerde
● Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation)
● Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 15.02.2022
● Einsicht in die vom BF vorgelegten Schriftstücke
● Einsicht in die im Akt aufliegende strafrechtliche Verurteilung des BF
● Einsichtnahme in folgende vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 28.01.2022)
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen römisch 40 , geboren am römisch 40 , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch etwas Dari, Urdu und gebrochenes Deutsch.
Der BF ist verheiratet und stammt aus dem Dorf römisch 40 , Distrikt römisch 40 , Provinz Nangarhar, Afghanistan.
Er hat vier Söhne und vier Töchter. Dass einer der Söhne bereits verstorben sei, konnte aufgrund widersprüchlicher Angaben nicht festgestellt werden. Ein anderer Sohn ist dem BF nach Österreich nachgereist und stellte hier ebenfalls einen Asylantrag, allerdings ist er untergetaucht und wahrscheinlich in Frankreich aufhältig.
Teile der Familie des BF sind aktuell in Pakistan wohnhaft.
Der BF hat in Afghanistan drei bis vier Jahre lang die Schule besucht und als Automechaniker gearbeitet sowie mit Fahrzeugen gehandelt.
3.1.2. Der BF ist männlich. Er leidet an Magenproblemen, Hinweise auf lebensbedrohende oder schwerwiegende Krankheiten haben sich keine ergeben.
3.1.3. Der BF wurde in Österreich wegen eines Verbrechens und eines Vergehens strafrechtlich verurteilt.
So wurde der BF am 12.04.2021 wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels und des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel gemäß den Paragraphen 28, Absatz eins, 1. Satz 2. Fall, 28a Absatz eins, 5. Fall und Absatz 4, Ziffer 3, SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
3.1.4. Der BF spricht gebrochenes Deutsch, über ein Zertifikat verfügt er nicht. Er hat geringfügig für eine Gemeinde gearbeitet und verschiedene Integrationskurse besucht. Er hat keine Aus- oder Fortbildungen absolviert und ist auch kein Mitglied in einem Verein. Der BF ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er befindet sich aktuell in Strafhaft und arbeitet in der Gefängniswäscherei. Der BF hat keine Verwandten in Österreich.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF hat sein Vorbringen, dass er aufgrund seiner Tätigkeit als Informant für die Regierung von den Taliban verfolgt und bedroht worden sei, nicht glaubhaft gemacht.
Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist dort nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.
Es wird festgestellt, dass der BF in Afghanistan keiner konkreten und individuellen Gefahr ausgesetzt ist, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus politischen Gründen mit der Anwendung von physischer und/oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.
Grund für die Ausreise des BF aus seinem Herkunftsstaat waren die dortige unsichere persönliche und allgemeine Situation und die Suche nach besseren – auch wirtschaftlichen – Lebensbedingungen im Ausland.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban betroffen. Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechterte sich seit Beginn des Abzuges der internationalen Truppen im Frühjahr 2021 stetig. Es kam vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban. Mit 15.08.2021 fiel die Hauptstadt Kabul an die Taliban. Im Zuge dessen verließ auch der afghanische Präsident das Land und die Taliban übernahmen den Präsidentenpalast. Aktuell kontrollieren die Taliban das gesamte Land und es kommt zu schwerwiegenden Übergriffen von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen sowie Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen und grobe Menschenrechtsverletzungen umfassen.
Dem BF würde daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Wiederansiedelung in seiner Herkunftsprovinz Nangarhar oder einer Neuansiedelung in größeren Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif aufgrund der derzeit herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage und der Machtübernahme der Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr drohen, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.
Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellen würde. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Jedoch ist die diesbezügliche Situation mit der nun erfolgten Machtübernahme durch die Taliban nicht mehr einschätzbar bzw. der Umgang mit der Corona-Pandemie der Taliban ungewiss.
Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Artikel 2, oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958, (in der Folge EMRK).
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Stand 28.01.2022, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…]
COVID-19
Letzte Änderung: 13.01.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://covi d19.who.int/region/emro/country/af oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.m aps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19-Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19-Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vergleiche UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.06.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.08.2021). Mit Stand 01.12.2021 wurden 157.289 COVID-19-Fälle offiziell bestätigt (WHO 01.12.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.01.2021; vergleiche UNOCHA 18.02.2021, RFE/RL 23.02.2021a).
Es gibt aktuelle Befürchtungen, dass es im Zuge des Winters zu einer weiteren Ausbreitung von COVID-19 kommen wird (TN 17.11.2021) und Beamte warnen vor einer möglichen 4. Welle von COVID-19 in Afghanistan (AVA 27.10.2021; vergleiche AN 26.10.2021).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vergleiche WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vergleiche IDW 17.06.2021).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vergleiche TG 02.05.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. USD unterstützt wird (REU 26.01.2021; vergleiche ABC News 27.01.2021).
Mit Stand 01.12.2021 wurden insgesamt 4.396.007 Impfdosen verabreicht (WHO 01.12.2021). Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 03.06.2021).
Mit Stand November 2021 gibt es in Afghanistan keine Restriktionen im Hinblick auf COVID-19 (RA KBL 08.11.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.06.2021; vergleiche UNOCHA 03.06.2021, HRW 13.01.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 03.06.2021; vergleiche TG 25.05.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vergleiche UNOCHA 03.06.2021, USAID 11.06.2021). Nach Angaben der G esundheitsbehörden wurden 34 Krankenhäuser und Zentren, in denen COVID-19-Patienten behandelt wurden, geschlossen, nachdem die internationale Hilfe in Afghanistan eingestellt worden war. Die Mitarbeiter des Afghan-Japan-Hospital gingen mit 17.11.2021 in einen Streik, da diese seit Monaten nicht bezahlt wurden (TN 17.11.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM befragten Rückkehrer, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps (AA 21.10.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.06.2021; vergleiche UNOCHA 03.06.2021).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.09.2020; vergleiche ACCORD 25.05.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.05.2021).
Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November 2020 die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.04.2021; vergleiche ACCORD 25.05.2021), wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.04.2021; vergleiche ACCORD 25.05.2021, UNICEF 04.05.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.03.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.05.2021) und und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.07.2021).
Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.07.2021; vergleiche ACCORD 25.05.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.05.2021; vergleiche AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vergleiche HRW 13.01.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren, und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
[…]
Politische Lage
Letzte Änderung: 14.01.2022
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.01.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vergleiche NPR 06.05.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a).
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.04.2021; vergleiche RFE/RL 19.05.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO- Truppen - bis zum 11.09.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.05.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“ (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 01.05.2021). Am 31.08.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.08.2021).
Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.08.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.08.2021; vergleiche JS 07.09.2021). Als letzte Provinz steht seit dem 05.09.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (AA 21.10.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.08.2021; vergleiche AJ 23.08.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.08.2021).
Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 07.09., 21.09. und 04.10. - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung (AAN 07.10.2021). Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine „inklusive“ Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine TalibanRegierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der so genannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 07.09.2021; vergleiche BBC 08.09.2021a, AA 21.10.2021)
[…]
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 07.09.2021; vergleiche BBC 08.09.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 06.08.2021) der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.08.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 08.09.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 07.09.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.08.2021; vergleiche ICG 24.08.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.08.2021). Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt (AA 21.10.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.08.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 08.09.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.08.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Mrd. USD an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.08.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.08.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt, und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 08.09.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 08.09.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (NYT 01.09.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 08.09.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 08.09.2021).
Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigung einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar, das Regierungshandeln uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 21.10.2021).
Anfang November 2021 kündigte die Taliban-Regierung an, dass u.a. in 17 Provinzen neue Gouverneure eingesetzt worden seien (TN 08.11.2021). Insgesamt sind bis zu 44 Posten neu besetzt worden (REU 07.11.2021; vergleiche TN 08.11.2021).
Exilpolitische Aktivitäten
Am 28.09.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an (AA 21.10.2021; vergleiche ANI 29.09.2021). Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv (AA 21.10.2021).
Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen (AA 21.10.2021; vergleiche France 24 17.08.2021). Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (AA 21.10.2021).
[…]
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 19.01.2022
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.05.2021; vergleiche SIGAR 30.04.2021, BAMF 31.05.2021, UNGASC 02.09.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.03.2020; vergleiche USDOS 30.03.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 01.07.2021; vergleiche AJ 02.07.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 06.08.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“ (AAN 15.08.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 02.09.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.08.2021). Am 15.08.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland, und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.08.2021; vergleiche TAG 15.08.2021). Zuvor war schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.08.2021; vergleiche BBC 15.08.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.08.2021; vergleiche BBC 13.08.2021, AAN 15.08.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.08.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.08.2021).
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 hat sich die allgemeine Sicherheitslage im Lande verändert. Nach Angaben der UN sind konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen (UNGASC 02.09.2021). Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert (PAJ 15.08.2021; vergleiche PAJ 21.08.2021, DIS 12.2021). Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (NYT 15.09.2021; vergleiche DIS 12.2021)
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anmerkung: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 06.09.2021; vergleiche ANI 06.09.2021). Sowohl die Taliban als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.08.2021; vergleiche WZ 22.08.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.08.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen, und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 06.09.2021; vergleiche ANI 06.09.2021), während die NRF am 06.09.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 06.09.2021). Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vergleiche NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 01.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderen militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 01.09.2021; vergleiche AWM 22.08.2021, ALM 15.08.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 01.09.2021).
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.08.2021; BBC 08.09.2021c, UNGASC 02.09.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.08.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.08.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.08.2021).
Trotz des allgemeinen Rückgangs der Zahl der gewalttätigen Angriffe und sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul (DIS 12.2021; vergleiche AA 21.10.2021). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung. Am 26.08.2021 wurden durch einen Anschlag des ISKP am Flughafen Kabul 170 Personen getötet und zahlreiche weitere verletzt (AA 21.10.2021; vergleiche MEE 27.08.2021, AAN 01.09.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 01.09.2021; vergleiche BBC 30.08.2021) sowie zehn Zivilisten getötet wurden (AAN 01.09.2021; vergleiche NZZ 12.09.2021; BBC 30.08.2021). Am 08. und 15.10.2021 kamen in Kunduz und Kandahar jeweils bei Selbstmordanschlägen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt (AA 01.09.2021). Ein weiterer Anschlag am 03.10.2021 in Kabul zielte auf eine Trauerfeier, an der hochrangige Taliban teilnahmen, und tötete mindestens fünf Personen (AA 21.10.2021; vergleiche AnA 04.10.2021). Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.09.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen (AA 21.10.2021).
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt (FP 29.10.2021; vergleiche TN 28.10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3% der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken im Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. Im Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7% bzw. 70,7% der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z.B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 12.01.2022).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.08.2021; vergleiche AN 04.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.08.2021; vergleiche BBC 31.08.2021, UNGASC 02.09.2021). Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine „Generalamnestie“ für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (AI 9.2021). Es gibt auch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.08.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.09.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 01.09.2021; vergleiche BAMF 06.09.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 06.09.2021; vergleiche NLM 26.08.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 01.09.2021; vergleiche BAMF 06.09.2021).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.08.2021; vergleiche FP 23.08.2021, BBC 31.08.2021, GN 10.09.2021, Times 12.09.2021, ICG 14.08.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.08.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.08.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.08.2021; vergleiche FP 23.08.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.08.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 02.09.2021). Eine Richterin (REU 03.09.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.09.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 03.09.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.09.2021). Weiters wird berichtet, dass die Taliban die Familienangehörigen der Geflüchteten bedrohen, unter anderem mit dem Tod, oder Lösegeld fordern, falls die Geflüchteten nicht zurückkehren (AI 9.2021; vergleiche BBC 31.08.2021).
Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Zwischen dem 01.01.2021 und dem 30.06.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.07.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.01.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindlichen Elementen verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfern durch gezielte Tötungen, durch Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vergleiche ACCORD 06.05.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.01.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.03.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.06.2021; vergleiche VOA 15.06.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.06.2021; vergleiche AJ 16.6.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021).
[...]
High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.05. und dem 31.07.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit 11 im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 02.09.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 02.09.2021; vergleiche USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 02.09.2021).
Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten „green-on-blue-attack“: Der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesemAngriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vergleiche UNGASC 17.03.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 01.07.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.03.2020).
Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.05. und dem 18.08.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 02.09.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vergleiche AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vergleiche AJ 06.03.2020). Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020; vergleiche BBC 25.03.2020, USDOD 01.07.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vergleiche TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vergleiche NYT 26.05.2020, USDOD 01.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.05.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.05.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 01. und 12.06.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 02.09.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.01.2021).
[...]
Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Letzte Änderung: 19.01.2022
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen, solange diese sich ihnen nicht widersetzten und die Autorität der Taliban akzeptieren (AA 21.10.2021), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021; vergleiche DW 20.08.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.08.2021).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.08.2021, BBC 06.09.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und Linkedln derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.08.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.08.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 06.09.2021; vergleiche ROW 20.08.2021, SKN 27.08.2021).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.08.2021, BBC 06.09.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, die sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.08.2021, vergleiche MMM 20.08.2021).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anmerkung: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte] (TIN 18.08.2021; vergleiche HO 08.09.2021, SKN 27.08.2021). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80% der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Mio. Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Mio. Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 08.09.2021; vergleiche SKN 27.08.2021). Berichten zufolge verwenden die Taliban auch Listen ehemaliger Beamter (HRW 30.11.2021; vergleiche FP 29.10.2021) und ziviler Aktivisten, um deren Kinder ausfindig zu machen (FP 29.10.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (TT 04.09.2021).
Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.08.2021).
Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen rund um Ausländer und afghanische Ortskräfte nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anmerkung: US-amerikanische Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt (POL 26.08.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.08.2021).
Einem Bericht des Human Rights Watch nach führen Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, einschließlich nächtlicher Razzien, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen bedrohen und misshandeln die Taliban häufig Familienmitglieder, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen wurden hingerichtet oder in Gewahrsam genommen, ohne dass ihre Inhaftierung bestätigt oder ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben wurde (HRW 30.11.2021).
[...]
Regionen Afghanistans
Letzte Änderung: 14.01.2021
[...]
Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AJ 12.08.2021). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Mio. (NSIA 01.06.2020) bis 40 Mio. Menschen (WoM 26.10.2021). Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; inwieweit die Talibanregierung landesweit über umfassende Kontroll- und Durchgriffsmöglichkeiten verfügt, kann gegenwärtig nicht bewertet werden (AA 21.10.2021).
[…]
Kabul-Stadt
Letzte Änderung: 14.01.2022
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21 (NSIA 01.06.2020). Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten, und Schätzungen reichen von 3,5 Mio. bis zu möglicherweise 6,5 Mio. Einwohnern (AAN 19.03.2019; vergleiche IGC 13.02.2020). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile - auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.03.2019) - zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vergleiche NPS Kabul o.D.)
[...]
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).
In Kabul-Stadt gibt es einen internationalen Flughafen über den, mit Stand November 2021, nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vergleiche RA KBL 08.11.2021), wenn auch im weit geringeren Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 08.11.2021).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Kart-e Se, Kart-e Chahar, Kart-e Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.03.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010).
In den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, ist eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Kart-e Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Kart-e Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vergleiche USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansäßig (Noori 11.2010).
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
Viele Bürger beklagen sich weiterhin über die hohe Kriminalitätsrate in Kabul (BAMF 29.11.2021). Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor (FP 29.10.2021).
Anfang Oktober 2021 wurden mindestens fünf Zivilisten bei einer Bombenexplosion am Eingang einer Moschee im Zentrum Kabuls getötet (VOA 03.10.2021; vergleiche France 24 03.10.2021). Bei einem komplexen Anschlag auf ein Militärkrankenhaus in der afghanischen Hauptstadt Kabul sind im November 2021 mehr als 20 Menschen getötet und mindestens 16 verletzt worden (BBC 03.11.2021; vergleiche AJ 02.11.2021).
Mitte November 2021 explodierte eine Magnetbombe, die an einem Minivan befestigt war, in dem stark schiitisch geprägten Viertel Dasht-e Barchi, wobei unter anderen ein Journalist getötet wurde (AN 14.11.2021; vergleiche NAT 13.11.2021).
Mitte Dezember 2021 kam es zu zwei Bombenanschlägen in hauptsächlich schiitischen Gegenden Kabuls, bei denen mindestens eine Person getötet wurde. Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (RFE/RL 17.11.2021; vergleiche REU 18.11.2021).
Nach einem Sprecher der Taliban wurde am 07.11.2021 Qari Baryal als Gouverneur der Provinz Kabul ernannt (LWJ 09.11.2021; vergleiche REU 07.11.2021), welcher nach früheren Berichten durch das US-Militär als ein „mit Al-Qaida verbundenen Taliban-Führer“ bezeichnet wurde (LWJ 09.11.2021)
[...]
Nordafghanistan
Letzte Änderung: 19.01.2022
[...]
Im Norden Afghanistans beginnt die zentralasiatische Steppe - grasbewachsene Ebenen, die bis nach Russland reichen. Bis zur Fertigstellung des Salang-Tunnels Mitte der 1960er Jahre war diese Region durch den Hindukusch vom übrigen Afghanistan relativ isoliert. Mazar-e Sharif ist die größte Stadt in Nordafghanistan. In der Region leben u. a. viele Usbeken, Tadschiken und Turkmenen (NPS NA o.D.). Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.01.2017).
Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 05.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vergleiche TD 05.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 04.07.2018).
In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen (Mawlana Jalaluddin Mohammad Balkhi International Airport), über den, mit Stand November 2021, nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vergleiche RA KBL 08.11.2021), wenn auch im weit geringeren Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 08.11.2021).
[...]
Distrikte nach Provinz
Badakhshan: Arghanj Khwah, Argo, Baharak, Darayim, Darwaz-e-Bala (Nesay), Darwaz-e-Payin (Mamay), Eshkashim, Faiz Abad, Jurm, Kishm, Khash, Khwahan, Kufab, Kohistan, Kiran wa Menjan, Raghistan, Shar-e-Buzorg, Shignan, Shiki, Shuhada, Tagab, Tashkan, Wakhan, Warduj, Yaftal-e-Sufla, Yamgan (Girwan), Yawan, Zebak.
Baghlan: Andarab, Baghlan-e-Jadeed (auch Baghlan-e-Markazi), Burka, Dahana-e-Ghuri, Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri, Tala Wa Barfak.
Balkh: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa, Zari
Faryab: Almar, Andkhoy, Bilchiragh, Dawlat Abad, Gurziwan, Khani Charbagh, Khwaja Sabz Posh-i Wali, Kohistan, Maimana, Pashtun Kot, Qaram Qul, Qaisar, Qurghan, Shirin Tagab
Jawzjan: Aqchah, Darzab, Faizabad, Khamyab, Khanaqa, Khwaja Dukoh, Mardyan, Mingajik, Qarqin, Qush Tepa, Sheberghan
Kunduz: Ali Abad, Chahar Darah (Chardarah), Dasht-e-Archi, (Hazrati) Imam Sahib, Khan Abad, Kunduz, Qala-e-Zal sowie die temporären Distrikte Aqtash, Calbad (Gulbad) und Gultipa
Nuristan: Bargi Matal, Duab, Kamdesh, Mandol, Noor Gram, Paroon, Wama, Waygal
Panjsher: Bazarak, Darah (auch Hes-e-Duwumi), Hissa-e-Awal (auch Khinj), Unaba (auch Anawa), Paryan, Rukha und Shutul sowie der temporäre Distrikt Ab Shar
Samangan: Aybak, Dara-e-Soof-e-Payin [Unter-Dara-e-Soof], Dara-e-Soof-e-Bala [Ober-Dara-e-Soof], Feroz Nakhcheer, Hazrat-e-Sultan, Khuram Wa Sarbagh, Rui-Do-Ab
Sar-e Pul: Balkhab, Gosfandi, Kohistanat, Sancharak, Sar-e Pul, Sayyad, Sozma Qala
Takhar: Baharak, Bangi, Chahab, Chal, Darqad, Dasht-e-Qala, Eshkamesh, Farkhar, Hazar Sumuch, Kalafgan, Khwaja Bahawuddin, Khwaja Ghar, NamakAb, Rustaq, Taluqan (Taloqan), Warsaj, Yangi Qala
[Anmerkung: Quellen für Distrikte nach Provinz: NSIA 01.06.2020; IEC 2019]
[...]
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
Letzte Änderung: 19.01.2022
Die Widerstandsfront in Panjshir hat sich in die unwegsamen Seitentäler des Panjshir-Tals zurückgezogen und verübt von dort gezielte Angriffe auf Kämpfer der Taliban. Ähnliches gilt für weitere angrenzende Gebiete im Norden (AA 21.10.2021). Ende August 2021 gaben Anti-Taliban-Kräfte an, drei Distrikte in Baghlan, an der Grenze zu Panjshir eingenommen zu haben (REU 21.08.2021; vergleiche VOA 20.08.2021). Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten von Anti-Talibangruppierungen in Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vergleiche NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 01.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderen militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).
Bei einem Selbstmordattentat auf eine Moschee in der Stadt Kunduz sind Anfang Oktober 2021 nach offiziellen Angaben mindestens 50 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt wurden worden. Der ISKP übernahm die Verantwortung für den Anschlag (BBC 09.10.2021; vergleiche TG 08.10.2021).
Im Oktober berichtet Human Rights Watch von Vertreibungen von Hazarafamilien durch Angehörige der Taliban in Balkh (HRW 22.10.2021).
Anfang November wurden bis zu vier Frauen in Mazar-e Sharif getötet, darunter eine Frauenrechtsaktivistin (France 24 06.11.2021; vergleiche TG 05.11.2021)
Am 15.11.2021 äußerte der russische Präsident Vladimir Putin mit Verweis auf die russischen Geheimdienste, dass der „Islamischer Staat“ (IS) über ca. 2.000 Kämpfer im Norden Afghanistans verfügen würde, die als Flüchtlinge getarnt in die Länder der ehemaligen Sowjetunion und Zentralasiens einreisen könnten (RFE/RL 15.11.2021; vergleiche DW 20.11.2021).
Berichten zufolge sind in Mazar-e Sharif die weiterführenden Schulen auch für Mädchen geöffnet, wenn auch strenge Bekleidungsvorschriften vorliegen, nach denen ein Hijab und Handschuhe getragen werden müssen und nur die Augen frei bleiben dürfen (REU 12.10.2021; vergleiche RA KBL 11.11.2021).
[...]
West-Afghanistan
Letzte Änderung: 19.01.2022
[...]
Die Provinz Herat liegt im Westen Afghanistans an der Grenze zwischen Afghanistan und dem Iran. Herat grenzt im Süden an die afghanischen Provinzen Farah, im Norden an Badghis und im Osten an Ghor und grenzt im Norden teilweise an Turkmenistan (NSP Herat o.D.). Herat City ist das größte und bedeutendste Stadtgebiet im Westen Afghanistans, in dem schätzungsweise 400.000 Heratis leben. Die Stadt ist mit Kandahar City und Kabul über den Highway 1 verbunden, der auch als Ring Road bezeichnet wird. Während Landwirtschaft und Viehzucht die Haupterwerbszweige in den ländlichen Distrikten der Provinz Herat sind, dominieren städtische Handels- und Industrieunternehmen die Wirtschaft von Herat-Stadt. Der Handel ist eng mit dem Iran verbunden (NPS Herat o.D.).
[...]
Distrikte nach Provinz
Badghis: Ab Kamari, Bala Murghab (Murghab), Ghormach, Jawand, Muqur, Qadis, Qala-i-Naw
Farah: Anar Dara, Bakwa, Bala Buluk, Farah, Gulistan, Khak-i-Safed, Lash-i-Juwayn, Pur Chaman, Pushtrud, Qala-i-Kah (auch: Pusht-e Koh Qala Ka), Shibkoh (auch: Sheb Koh Qala Ka)
Herat: Adraskan, Chishti Sharif, Enjil, Fersi, Ghoryan, Gulran, Guzera (Nizam-i-Shahid), Herat, Karrukh, Kohsan, Kushk (Rubat-i-Sangi), Kushk-i-Kuhna, Obe, Pashtun Zarghun, Zendahjan und die „temporären“ Distrikte Poshtko, Koh-e-Zore (Koh-e Zawar, Kozeor), Zawol, Zerko
Nimroz: Asl-e-Chakhansur, Char Burjak, Kang, Khashrod, Zaranj sowie der temporäre Distrikt Dularam
[...]
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
Letzte Änderung: 19.01.2022
Die Klimakrise hat unter anderem auch auf die Provinzen Badghis (AJ 26.10.2021; vergleiche France 24 25.10.2021) und Farah (RFE/RL 02.11.2021) große Auswirkungen. Hirten sind aufgrund der vorherrschenden Dürre gezwungen, ihr Vieh zu verkaufen, Bauern fliehen aus ihren Dörfern, und Töchter werden von ihren Eltern zwangsverheiratet und verkauft, um die Familie zu ernähren (AJ 26.10.2021; vergleiche France 24 25.10.2021). In Farah warten Tagelöhner auf den Straßen der Stadt auf die seltenen Arbeitsangebote, und die Vertriebenen berichten, dass es kaum Soforthilfe gibt (RFE/RL 02.11.2021). In Herat beobachtet Ärzte ohne Grenzen (MSF) eine besorgniserregende Zunahme der Unterernährung. Die Gesundheitseinrichtungen in der Region werden entweder geschlossen oder bieten nur noch ein Minimum an Leistungen mit den verbleibenden Mitteln an (MSF 10.11.2021).
Kurz nach der Eroberung der Stadt Herat durch die Taliban im August 2021 wurde berichtet, dass viele Frauen von ihrem Arbeitsplatz ausgeschlossen wurden (AI 9.2021). Am 02.09.2021 protestierten Dutzende von Frauen in Herat gegen die Frauenpolitik der Taliban, unter anderem für das Recht auf Arbeit (AI 9.2021; vergleiche AJ 02.09.2021).
Im September erschossen die Taliban nach eigenen Angaben vier mutmaßliche Entführer. Im Anschluss wurden ihre Leichen auf öffentlichen Plätzen in der Stadt Herat als „Abschreckung“ aufgehängt (BBC 25.09.2021; vergleiche TG 25.10.2021).
Ende Oktober kam es zu einem Konflikt zwischen Taliban-Mitgliedern und bewaffneten Gruppen in Herat, wobei mehr als ein Dutzend Zivilisten getötet wurden. Nach Angaben der Taliban-Regierung geschah dies im Zuge einer Sonderoperation, die sich gegen lokale Kriminelle richtete, die an Entführungen beteiligt sind. Drei der Täter aus der Gruppe der bewaffneten Männer in Herat wurden während der Operation erschossen (ANI 25.10.2021; vergleiche TN 26.10.2021).
Die Sicherheitskräfte der Taliban haben im November in Herat einen jungen Arzt getötet, wie lokale Quellen bestätigten, nachdem er an einem Sicherheitskontrollpunkt der Polizei nicht angehalten hatte, wie Familienmitglieder berichteten (KP 27.11.2021).
Im Oktober gab der Grenzkommandant von Nimroz an, dass die Zahl der Menschen, die versuchen, die Grenze zu überqueren, auf 3.000 bis 4.000 pro Tag angestiegen ist, wobei die wenigsten die für die Überquerung der Grenze notwendigen Papiere hätten (France 24 09.10.2021).
[...]
Zentral-Afghanistan
Letzte Änderung: 19.01.2022
[...]
Das zentrale Hochland Afghanistans ist eine Bergregion zwischen den Koh-i-Baba-Bergen an den westlichen Enden des Hindukusch, die auch Hazarajat genannt wird. Es ist die Heimat der Hazara, die den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. Hazarajat bezeichnet eher eine ethnische und religiöse als eine geografische Zone. Die Region umfasst hauptsächlich die Provinzen Bamyan, Daikundi, Ghor und große Teile von Ghazni, Uruzgan, Parwan und Maidan Wardak. Die bevölkerungsreichsten Städte im Hazarajat sind Bamyan, Yakawlang, Nili, Lal wa Sarjangal und Ghazni (DBpedia o.D.).
[...]
Distrikte nach Provinz
Bamyan: Bamyan, Kahmard, Panjab, Saighan, Shebar, Waras, Yakawlang sowie der „temporäre“ Distrikt Yakawlang zwei
Daikundi: Ishterlai, Pato, Kejran, Khedir, Kiti, Miramor, Sang-e-Takht (Sang Takht), Shahristan
Ghazni: Ab Band, Ajristan, Andar (auch Shelgar (AAN 22.05.2018)), Deh Yak, Gelan, Giro, Jaghatu, Jaghuri, Khwaja Omari, Malistan, Muqur, Nawa, Nawur, Qara Bagh, Rashidan, Waghaz, Wali Muhammad Shahid (Khugyani), Zanakhan
Ghor: Chighcheran (Firuzkoh), Char Sada, Dawlatyar, Duleena, Lal Wa Sarjangal, Pasaband, Saghar, Shahrak, Taywara, Tulak, Murghab
Maidan Wardak: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad
Parwan: Bagram, Charikar, Syahgird (auch Ghurband), Jabulussaraj, Koh-e-Safi, Salang, Sayy-id Khel, ShaykhAli, Shinwari, Surkhi Parsa
Uruzgan (auch Rozgan): Chora, Dehraoud, Gizab, Khas Urozgan, Shahidhassas, Tirinkot/Tarinkot [Anmerkung: Quellen für Distrikte nach Provinz: NSIA 01.06.2020; IEC 2019]
[...]
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
Letzte Änderung: 19.01.2022
Im August 2021 wurden, nach Angaben von Amnesty International, in der Provinz Daikundi 12 ethnische Hazara, unter ihnen ehemalige Mitglieder der Sicherheitskräfte, die sich ergeben hatten, durch die Taliban getötet. Ebenso getötet wurde ein 17-jähriges Mädchen, welches ins Kreuzfeuer geriet (AI 05.10.2021; vergleiche ANI 08.10.2021)
Im September wurde berichtet, dass in Ghor bereits mehr als ein Dutzend Kinder verhungert wären (PAJ 28.09.2021; vergleiche römisch XI 27.09.2021). Wie auch in anderen Provinzen des Landes sind Familien gezwungen, ihre minderjährigen Töchter zu verkaufen, um die Familie zu ernähren (AnA 31.10.2021)
Im September wurde in Ghor eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet. Beschuldigt werden die Taliban (BBC 05.09.2021; vergleiche CNN 06.09.2021).
Ohne genaue Zahlen zu nennen, sagte ein Taliban-Sprecher, dass bei einer Razzia in einem IS-Versteck in der Stadt Charikar in Parwan mehrere Kämpfer des Islamischen Staates getötet und festgenommen worden seien (HAT 01.10.2021; vergleiche KP 02.10.2021).
Im Oktober berichtet Human Rights Watch von Vertreibungen von Hazarafamilien durch Angehörige der Taliban in Daikundi (HRW 22.10.2021; vergleiche RFE/RL 06.10.2021) und Uruzgan (HRW 22.10.2021). Auch aus Uruzgan gibt es ähnliche Berichte (WSJ 30.09.2021).
Im November wurden in Ghazni fünf ethnische Hazara durch Unbekannte getötet (AN 31.10.2021).
[...]
Ost-Afghanistan
Letzte Änderung: 19.01.2022
[...]
Der Osten Afghanistans grenzt an Pakistan und ist ein wichtiger Teil des paschtunischen Heimatlandes, dessen Stammeseinfluss sich bis nach Westpakistan erstreckt. Jalalabad, die Hauptstadt der Provinz Nangarhar, liegt auf halbem Weg zwischen Torkham (Ende des Khyber-Passes und Kabul/Grenze zu Pakistan) und ist die wichtigste afghanische Stadt im Osten und gilt als das Tor nach Afghanistan vom Khyber-Pass aus. Berge und Täler (oft sehr abgelegen) dominieren die Region (NPS EA o.D.).
In Kabul gibt es einen internationalen Flughafen über den, mit Stand November 2021, nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vergleiche RA KBL 08.11.2021), wenn auch im weit geringeren Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 08.11.2021).
[...]
Distrikte nach Provinz
Kandahar: Arghandab, Arghistan, Daman, Ghorak, Kandahar, Khakrez, Maruf, Maiwand, Miyanishin, Nesh, Panjwayee, Reg (Shiga), Shah Wali Kot, Shorabak, Spin Boldak, Zhire
Kabul: Bagrami, ChaharAsyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara, Surubi/Surobi/Sarobi
Khost: Ali Sher (Tirzayee), Baak, Gurbuz, Jaji Maidan, Khost (Matun), Manduzay (Esmayel Khil), Muza Khel, Nadir Shah Kot, Qalandar, Sabari (Yaqubi), Shamul, Spera, Tanay.
Kunar: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor sowie der temporäre Distrikt Sheltan
Laghman: Alingar, Alishing, Dawlat Shah, Mehtarlam, Qarghayi, Bad Pash (also Bad Pakh)
Logar: Azra, Baraki Barak, Charkh, Khar War, Khushi, Mohammad Agha, Pul-e-Alam
Nangarhar: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena (TBIJ 13.11.2019; vergleiche VoA 28.06.2019), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar, Surkh Rud
Paktia: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (auch Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (auch Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran, Zurmat sowie die vier temporären Distrikte Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba
Paktika: Barmal, Dila Wa Khushamand, Gomal, Giyan, Jani Khel, Mata Khan, Nika (Naka), Omna, Surobi, Sar Rawzah, Sharan, Turwo, Urgoon, Wazakhwah, Wormamay, Yahya Khel, Yosuf Khel, Zarghun Shahr (auch Khairkot), Ziruk sowie die vier temporären Distrikte Shakeen, Bak Khil, Charbaran, Shakhil Abad
[Anmerkung: Quellen für Distrikte nach Provinz: NSIA 01.06.2020; IEC 2019]
[...]
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
Letzte Änderung: 19.01.2022
ISKP ist mit Anschlägen gegen Taliban-Kämpfer, die teilweise auch die Zivilbevölkerung treffen, vor allem in den östlichen Provinzen Kunar und Nangarhar aktiv (AA 21.10.2021; vergleiche SP 12.11.2021).
Bewaffnete, die sich als Taliban zu erkennen gaben, griffen eine Hochzeit in Nangarhar an, um die Wiedergabe von Musik zu stoppen. Dabei wurden mindestens zwei Menschen getötet und zehn Weitere verletzt (BBC 31.10.2021). Ein Sprecher der Taliban erklärte, die Bewaffneten gehörten nicht zum „Islamischen Emirat“, und fügte hinzu, der Vorfall sei auf einen persönlichen Streit zurückzuführen. Zwei Verdächtige wurden verhaftet (TN 30.10.2021; vergleiche PAJ 31.10.2021).
Im Oktober 2021 gab es Berichte, wonach in Nangarhar in Jalalabad Leichen entdeckt wurden, einige mit handgeschriebenen Notizen in ihren Taschen, auf denen sie beschuldigt wurden, Mitglieder der ISKP zu sein. Die Taliban werden beschuldigt, für diese Tötungen verantwortlich zu sein (BBC 29.10.2021).
Im Oktober 2021 wurden mindestens sieben Personen getötet und 15 weitere verletzt, als in Khost ein Sprengsatz explodierte (römisch XI 07.10.2021; vergleiche ANI 07.10.2021). Ebenso kam es im selben Monat in Asadabad der Hauptstadt von Kunar zu einer Explosion (römisch XI 14.10.2021) bei der der Polizeichef der Taliban der Provinz getötet wurde und elf weitere Personen verletzt wurden (RFE/RL 14.10.2021; vergleiche TNI 15.10.2021).
Bei einer Explosion in einer Moschee in der Region Spin Ghar in der Provinz Nangarhar während des Freitagsgebets im November 2021 wurden nach Angaben von Anwohnern und Taliban-Beamten mindestens drei Menschen getötet und 15 weitere verletzt (AJ 12.11.2021; vergleiche VOA 12.11.2021, SP 12.11.2021).
Im November 2021 wurden hochrangige Mitglieder des Haqqani-Netzwerkes durch die Taliban-Regierung zu Gouverneuren von Logar und Khost ernannt (LWJ 10.11.2021).
[...]
Süd-Afghanistan
Letzte Änderung: 19.01.2022
[...]
Kandahar - die zweitgrößte Stadt Afghanistans - beherrscht den Süden Afghanistans, der als „Geburtsort“ der Taliban gilt. Die Stadt ist eine wichtige paschtunische Hochburg und war in den letzten 15 Jahren, bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021, Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen den Taliban und den ehemaligen nationalen Sicherheitskräften Afghanistans sowie der USA und der NATO. Eine weitere wichtige Stadt im Süden ist Lashkargah, die Hauptstadt der Provinz Helmand (wo der größte Teil des afghanischen Opiums angebaut wird) (NPS SA o.D.).
In Kandahar gibt es einen internationalen Flughafen, über den, mit Stand November 2021, nationale und internationale Flüge abgefertigt werden (F 24 o.D.; vergleiche RA KBL 08.11.2021), wenn auch im weit geringeren Ausmaß als vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (RA KBL 08.11.2021).
[...]
Helmand: Baghran, Dishu, Garm Ser, Kajaki, Lashkargah, Musa Qala, Nad Ali, Marja (ehemals Teil von Nad Ali), Nahr-e-Saraj, Nawa-e-Barikzayi, Nawamish, Nawzad, Reg-e-Khan Nishin, Sangin, Washer
Kandahar: Arghandab, Arghistan, Daman, Ghorak, Kandahar, Khakrez, Maruf, Maiwand, Mi- yanishin, Nesh, Panjwayee, Reg (Shiga), Shah Wali Kot, Shorabak, Spin Boldak, Zhire sowie die temporären Distrikte Dand, Takhta Pul
Zabul: Arghandab, Atghar, Daichopan, Kakar (auch Khak-e Afghan), Qalat, Mizan, Naw Bahar, Shah Joi, Shinkay, Shemel Zayi (auch Shomulzay), Tarang Wa Jaldak (auch Shahr Safa)
[Anmerkung: Quellen für Distrikte nach Provinz: NSIA 01.06.2020; IEC 2019]
[...]
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
Letzte Änderung: 19.01.2022
Am 15.10.2021 wurden bei einem Selbstmordanschlag auf eine schiitische Moschee im Polizeibezirk 1 der Stadt Kandahar zahlreiche Zivilisten in einer schiitischen Moschee getötet (UNOCHA 21.10.2021; vergleiche WP 15.10.2021). Im Oktober 2021 wurde berichtet, dass Zivilisten durch aufgegebene improvisierte Sprengkörper (IEDs) und nicht explodierte Kampfmittel (UXOs) in ländlichen Gebieten der Provinz Kandahar verletzt wurden (UNOCHA 29.10.2021; UNOCHA 21.10.2021).
Lokale Medien berichten im September, dass Taliban-Beamte in Helmand ein Verbot des Rasierens von Bärten erlassen haben (BBC 26.09.2021; vergleiche NPR 27.09.2021).
UNOCHA berichtet, dass Anfang Oktober 2021 14.000 vormals vertriebene Familien in ihre Herkunftregionen in Helmand zurückkehrten (UNOCHA 14.10.2021).
Im Oktober 2021 berichtet Human Rights Watch von Vertreibungen von Hazarafamilien durch Angehörige der Taliban in Helmand und Kandahar (HRW 22.10.2021).
[...]
Erreichbarkeit
Letzte Änderung: 19.01.2022
Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen (TD 05.12.2017). Seit dem Fall der ersten Talibanregierung wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die [beinahe] Vollendung der „Ring Road“, die Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet (TD 26.01.2018). Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.) (STDOK 4.2018; vergleiche TD 05.12.2017), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (STDOK 4.2018; vergleiche USAID o.D.a, WB 17.01.2020).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Treibstoffpreise um 20% gestiegen. Zuvor kostete ein Liter Benzin 64 AFN, jetzt sind es 76 AFN (RA KBL 08.11.2021).
Jährlich sterben Hunderte von Menschen bei Verkehrsunfällen auf Straßen im ganzen Land - vor allem durch unbefestigte Straßen, überhöhte Geschwindigkeit und Unachtsamkeit (GIZ 7.2019; vergleiche AT 23.11.2019, PAJ 12.12.2019, ABC News 01.10.2020).
Ring Road
[...]
Die Ring Road, auch bekannt als Highway One, ist eine Straße, die das Landesinnere ringförmig umgibt (HP 09.10.2015; vergleiche FES 2015) und Teil des 3.360 Kilometer langen Hauptverkehrsstraßenprojekts ist, das 16 Provinzen und Großstädte wie Kabul, Mazar, Herat, Ghazni und Jalalabad miteinander verbindet (STDOK 4.201; vergleiche TN 09.12.2017, USAID o.D.a).
Trotz der Ankündigung des damaligen Präsidenten Ghani aus dem Jahr 2015, die Ring Road in neun Monaten fertigzustellen, ist ein ein ca. 150 km langes Teilstück zwischen Badghis und Faryab weiterhin unvollständig (SIGAR 15.07.2018). Die fehlenden 150 Kilometer sollen künftig den Distrikt Qaisar [Anmerkung: Provinz Faryab] mit Dar-e Bum [Anmerkung: Provinz Badghis] verbinden; dieses Straßenstück ist der letzte unbefestigte Teil der 2.200 km langen Straße. Im November 2020 sind die Arbeiten an diesem Teil der Ring Road noch im Gange, wenn auch nur zögerlich, weil Hindernisse wie Unsicherheit, mangelnde Kooperation der lokalen Bevölkerung, mangelnde Leistung der zuständigen Behörden und Unterauftragnehmer es schwierig machen, den Zeitpunkt der Fertigstellung des Projekts abzuschätzen (RA KBL 20.11.2020).
Abschnitt Kandahar - Kabul - Herat
Die Ring Road verbindet wichtige afghanische Städte wie Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif (TD 12.04.2018). Sie erstreckt sich südlich von Kabul und ist die Hauptverbindung zwischen der Hauptstadt und der großen südlichen Stadt Kandahar (REU 13.10.2015). Der Kandahar-Kabul-Teil der Ring Road erstreckt sich vom östlichen und südöstlichen Teil Kandahars über die Provinz Zabul nach Ghazni in Richtung Kabul, während die Ring Road westlich von Kandahar durch Gereshk in Helmand und Delaram in Nimroz verläuft (ISW o.D.).
Der Abschnitt zwischen Kabul und Herat umfasst 1.400 km (IWPR 26.03.2018). Die an die Ring-Road anknüpfende 218 km lange Zaranj-Dilram-Autobahn (Provinz Nimroz, Anmerkung), auch „Route 606“ genannt, soll zukünftig Afghanistan mit Chabahar im Iran verbinden (AD 15.08.2017; vergleiche TET 09.08.2017, TD 24.05.2017).
Anrainer beschweren sich über den schlechten Zustand des Abschnitts Kandahar-Kabul-Herat (TN 14.03.2018). Die meisten Teile der Autobahn Kabul-Kandahar sind durch Angriffe und Gewalt beschädigt (TN 28.09.2020; vergleiche HOA 07.09.2020).
Abschnitt Baghlan-Balkh
Die Baghlan-Balkh-Autobahn ist Teil der Ring Road und verbindet den Norden mit dem Westen des Landes. Sie gilt als eine unabdingbare Transitroute zwischen der Hauptstadt der Provinz Baghlan, Pul-e Khumri, und den nordwestlichen Provinzen Samangan, Balkh, Jawjzan, Sar-e Pul und Faryab (AAN 15.08.2016).
Salang Tunnel/Salang Korridor
Der Salang-Korridor gilt als Vorzeigeobjekt des Kalten Krieges und wurde im Jahr 1964 zum ersten Mal eröffnet (TD 21.10.2015). Er ist die einzige direkte Verbindung zwischen der Hauptstadt Kabul und dem Norden des Landes (WP 22.01.2018; TD 21.10.2015). Der Salang-Tunnel, durch den über 80% des Nord-Süd-Handels Afghanistans verläuft (USAID o.D.b.), ist 2,7 km (1,7 Meilen) lang. Er wurde ursprünglich für eine Tagesnutzung von 1.000 - 2.000 Fahrzeuge gebaut. Heute befahren ihn jedoch täglich über 10.000 Transportmittel, was den Bedarf an Instandhaltungsarbeiten erhöht (WP 22.01.2018). Der Bau der Umspannstation des Salang-Tunnels wurde am 15.10.2019 abgeschlossen und kompensiert den Verbrauch von einer Million Liter Dieselkraftstoff pro Jahr, die bis dahin für den Betrieb der Generatoren des Tunnels erforderlich waren (USAID o.D.b; vergleiche PAJ 19.12.2019).
Durch das von der Weltbank finanzierte Trans-Hindukush Road Connectivity Project soll bis 2022 u.a. der Salang-Korridor dank einer Förderung von 55 Mio. USD renoviert werden (WB o.D.; vergleiche TN 15.09.2020, TN 01.09.2018, RW 06.07.2017). Im Juni 2018 kündigte das Ministerium für öffentliche Arbeiten (Ministry of Public Works - MoPW) an, dass die technischen und geologischen Untersuchungen sowie der Entwurf des neuen Salang-Tunnels gegen Ende 2019 abgeschlossen sein werden (TN 18.06.2018). Im September 2018 kündigte das Ministerium für öffentliche Arbeit an, dass die Arbeiten an den ersten 10 km des Salang-Passes begonnen hätten (TN 01.09.2018).
Gardez-Khost-Highway (NH08)
Der Gardez-Khost-Highway, auch „G-K-Highway“ genannt, ist 101,2 km lang (USAID 07.11.2016; vergleiche PAJ 15.12.2015) und verbindet die Provinzhauptstadt der Provinz Paktia, Gardez, mit Khost City, der Provinzhauptstadt von Khost (PAJ 15.12.2015). Sie verbindet aber auch Ostafghanistan mit dem Ghulam-Khan-Highway in Pakistan. Mitte Dezember 2015 wurde der sanierte Gardez-Khost Highway eröffnet. Ebenso wurden 410 kleine Brücken und 25 km Schutzwände auf dieser Autobahn errichtet (PAJ 15.12.2015; vergleiche USAID 07.11.2016).
Grand Trunk Road - Highway Jalalabad-Peshawar / Pak-Afghan-Highway
Die Grand Trunk Road, auch bekannt als „G.T. Road“, ist die älteste, längste und bekannteste Straße des indischen Subkontinentes (GS o.D.; vergleiche Doaks o.D., Dawn 30.12.2018, EIPB 2006). Die über 2.500 km lange Route beginnt in der bangladeschischen Stadt Chittagong, verläuft über Delhi in Indien, Lahore und Peshawar in Pakistan, den Khyber Pass an der afghanischpakistanischen Grenze und endet in Kabul (Samaa 09.08.2017; vergleiche Scroll 04.05.2018, EIPB 2006). Der Khyber-Pass erstreckt sich über 53 km durch das Safed-Koh-Gebirge und ist eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Afghanistan und Pakistan; er verbindet Kabul mit Peshawar (EB 30.03.2017; vergleiche BL o.D., NG o.D.).
Der Torkham-Peshawar Highway verbindet Jalalabad mit Peshawar in Pakistan über die afghanische Grenzstadt Torkham in der Provinz Nangarhar. Sie ist eine der am stärksten befahrenen Straßen Afghanistans. Der afghanische Teil der Straße besteht aus zwei Abschnitten: der 76 km langen Torkham-Jalalabad-Straße und die Jalalabad-Kabul-Verbindung, die sich über 155 km erstreckt (ET 27.10.2016). Die Straße, die auch als „Pak-Afghan Highway“ bekannt ist, wird als Wirtschaftsroute zwischen Pakistan, Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan und den südasiatischen Ländern genutzt (ET 07.03.2016; vergleiche PCQ o.D.).
Baghlan-Bamyan-Highway
Das Baghlan-Bamyan-Straßenbauprojekt ist Teil des von der Weltbank finanzierten Trans-Hindukusch-Straßenverbindungsprojekts. Die Doshi-Bamyan-Straße verbindet die Provinz Bamyan in Zentralafghanistan mit der Provinz Baghlan in Nordafghanistan als Alternative zum Salang-Pass, der einzigen Route, die Kabul mit dem Norden des Landes verbindet. Nach Angaben des Ministeriums für öffentliche Arbeiten wurde ein chinesisches Unternehmen mit den Arbeiten an dem Projekt beauftragt (TN 15.09.2020; vergleiche WB 03.11.2020). Im Juni 2020 hat die Bank über 100 Mio. USD des 170-Mio.-USD-Projekts annulliert, um den Hilfsfonds COVID-19 der afghanischen Regierung zu unterstützen, sagte jedoch, die Annullierung sei vorübergehend und werde die laufenden Bauaufträge nicht beeinträchtigen (TN 15.09.2020; vergleiche WB 03.11.2020). Die Bauarbeiten sind erst zu 20% abgeschlossen und wurden im Juni 2020 wegen der COVID-19-Pandemie und ihren Auswirkungen gestoppt (USDOS 24.06.2020; vergleiche AT 24.06.2020). Im September 2020 wurde die Regierung wegen einer Verzögerung der Bauarbeiten für das Projekt kritisiert. Nach Angaben des Ministeriums für öffentliche Arbeiten verzögerte sich die Umsetzung des Projekts aufgrund fehlender Mittel (TN 15.09.2020).
Abschnitte Kabul-Bamyan und Bamyan-Mazar-e Sharif
Am 29.08.2016 wurde die Straße Kabul-Bamyan eingeweiht. Das von der italienischen Agentur für Entwicklung finanzierte Straßenprojekt sollte die Fahrt zwischen Kabul und Bamyan erleichtern und den wirtschaftlichen Aufschwung in der Region fördern. Durch die neu errichtete Straße beträgt die Reisezeit von Kabul nach Bamyan zweieinhalb Stunden (Farnesina 29.08.2016).
Ausgeführt durch ein chinesisches Unternehmen, wurde der Startschuss zur Weiterführung des Projektes „Dare-e-Sof and Yakawlang Road“ gegeben. In der ersten, bereits beendeten Phase, wurde Mazar-e Sharif mit dem Distrikt Yakawlang in der Provinz Bamyan durch eine Straße verbunden (römisch XI 09.01.2017).
Transportwesen
Das Transportwesen in Afghanistan gilt als „verhältnismäßig gut“. Es gibt einige regelmäßige Busverbindungen innerhalb Kabuls und in die wichtigsten Großstädte Afghanistans (IE o.D.). Es existierten einige nationale Busunternehmen, welche Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan miteinander verbinden; Beispiele dafür sind Bazarak Panjshir, Herat Bus, Khawak Panjshir, Ahmad Shah Baba Abdali (vertrauliche Quelle 14.05.2018; vergleiche IWPR 26.03.2018).
Aus Bequemlichkeit bevorzugen Reisende, die es sich leisten können, die Nutzung von Gemeinschaftstaxis nach Mazar-e Sharif, Kabul, Herat, Jalalabad und Bamyan (vertrauliche Quelle 14.05.2018). Der folgenden Tabelle können die Preise für besagte Reiseziele entnommen werden (Stand 20.11.2021). Diese haben sich seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 nicht wesentlich geändert (RB KBL 08.11.2021):
[...]
Der Mangel an Bussen insbesondere während der Stoßzeit in Kabul-Stadt ist eine Herausforderung für die afghanische Regierung. Im Laufe der Jahre wurde versucht, dieses Problem zu lösen, indem Indien dem Transportsystem in Kabul hunderte Busse zur Verfügung stellte (TD 08.01.2019). Es gab [vor der Machtübernahme der Taliban] einige Busverbindungen zwischen Mazar-e Sharif und Kabul. Bis zu 50 verschiedene Unternehmen boten 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, Fahrten von und nach Kabul an (STDOK 4.2018).
Die Machtübernahme der Taliban hatte keine oder nur geringe Auswirkungen auf die Preise der Fahrzeiten oder die Verfügbarkeit der Verbindungen (RA KBL 08.11.2021).
Flugverbindungen
Der folgenden Karte können Informationen über Militär-, Regional- und internationale Flughäfen in den verschiedenen Städten Afghanistans entnommen werden (F 24 o.D.). Zu beachten ist allerdings, dass der Flughafen in Bamyan - in Abweichung zur dargestellten Karte - aktuell nicht von kommerziellen Anbietern angeflogen wurde (F 24 o.D.; vergleiche RA KBL 31.05.2021). Die vier internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar sind für internationale Flüge geöffnet (RA KBL 08.11.2021; vergleiche F 24 o.D.), auch wenn die Anzahl der Flüge seit der Machtübernahme der Taliban abgenommen hat. Die meisten internationalen Flüge werden über die Flughäfen Kabul und Mazar abgewickelt (RA KBL 08.11.2021).
[Anmerkung der Staatendokumentation: Zu beachten ist, dass es innerhalb von kurzer Zeit zu Änderungen der Flugverbindungen kommen kann]
[...]
Zugverbindungen
In Afghanistan existieren insgesamt drei Zugverbindungen: Eine Linie verläuft entlang der nördlichen Grenze zu Usbekistan (von Hairatan nach Mazar-e Sharif, Anmerkung), und zwei kurze Strecken verbinden Serhetabat in Turkmenistan mit Torghundi (in der Provinz Herat, Anmerkung) und Aqina (in der Provinz Faryab, Anmerkung) in Afghanistan (RoA 25.02.2018; vergleiche RoA o.D., RFE/RL 29.11.2016, vertrauliche Quelle 16.05.2018). Alle drei Zugverbindungen sind für den Transport von Fracht gedacht, wobei sie prinzipiell auch Passagiere transportieren könnten (vertrauliche Quelle 16.05.2018), es jedoch in Afghanistan nach wie vor keine Eisenbahn- oder Schienenverbindung für den Personentransport gibt. Es gibt Pläne dies zu ändern, aber es wird nicht erwartet, dass dies in naher Zukunft geschieht (RA KBL 20.11.2020). Die afghanischen Machthaber lehnten lange Zeit den Bau von Eisenbahnen in Afghanistan ab, aus Angst, ausländische Mächte könnten ihre Unabhängigkeit gefährden (RoA o.D.).
Grenzübergänge
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 01.09.2021; vergleiche NDTV 14.09.2021) oder über den GrenzübergangIslam Qala in den Iran geflohen (DZ 01.09.2021). Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet (AnA 14.09.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 01.09.2021).
Anfang November 2021 wurde der Chaman-Spin Boldak Grenzübergang zwischen Pakistan und Afghanistan für Zivilisten und den Handel wieder geöffnet (ANI 02.11.2021; vergleiche Dawn 01.11.2021). Mit Anfang Dezember sind die Landgrenzen Afghanistans zu Pakistan und Iran fast ausschließlich für Personen mit den erforderlichen Pässen und Visa geöffnet, wobei eine kleine Anzahl von medizinischen Fällen ausnahmsweise ohne Dokumente nach Pakistan einreisen darf. Die Landgrenzen zu Tadschikistan und Usbekistan sind für Afghanen vollständig geschlossen (UNHCR 01.12.2021; vergleiche RFE/RL 01.12.2021). Während die offiziellen Grenzen für die große Mehrheit der Afghanen geschlossen bleiben, berichtet UNHCR, dass viele Afghanen über inoffizielle Kanäle in die Nachbarländer einreisen. Viele, die in den Iran einreisen, berichten, dass sie die Hilfe von Schmugglern in Anspruch genommen haben, um Afghanistan zu verlassen. Dabei waren sie Schutzrisiken wie Erpressung, Schläge und andere Gewalt, insbesondere gegen Frauen und Mädchen ausgesetzt (UNHCR 01.12.2021).
[...]
Zentrale Akteure
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Geschichte Afghanistans ist seit Langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem [Zentral-] Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfern, die in den 1990er-Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen (AAN 01.07.2020). Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001-15.08.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich von der Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (AAN 04.06.2021; vergleiche AP 25.06.2021).
Mitte August 2021 formierte sich die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anmerkung: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 06.09.2021; vergleiche ANI 06.09.2021).
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüberstanden - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan (USDOD 12.2020), sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (CRS 17.08.2021).
Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als „regierungsfeindliche Elemente“ bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64% der zivilen Opfer verantwortlich. 39% aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9% auf den ISKP und 16% auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als „regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen“ bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2% der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23% der zivilen Opfer zurückgeführt (UNAMA 26.07.2021).
[...]
[Anmerkung: Die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf die Konfliktdynamik und politische LandschaftAfghanistans sind mit November 2021 noch nicht abschließend ersichtlich.]
[...]
Taliban
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vergleiche NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.05.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.02.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.08.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.08.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.08.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.08.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früheren Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 07.09.2021).
Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vergleiche RFE/RL 27.04.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.08.2021).
[...]
Struktur und Führung
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vergleiche BBC 15.04.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vergleiche NYT 26.05.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vergleiche USIP 11.2019; BBC 15.04.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.08.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.08.2021).
Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hatte (UNSC 01.06.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 06.08.2021).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 06.08.2021).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 06.08.2021). Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.08.2021). Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied der Rahbari-Schura (Quetta-Schura) (NZZ 07.09.2021; vergleiche BBC 08.09.2021a, AA 21.10.2021). Mullah Abdul Ghani Baradar, der vormalige Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha (RFE/RL 06.08.2021), wurde gemeinsam mit Mawlawi Abdul Salam Hanafi zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt. Als Innenminister wurde Mawlawi Sirajuddin Haqqani ernannt, der Führer des Haqqani-Netzwerkes, der in den USA immer noch auf der „Gesucht“ Liste des FBI aufscheint. Als Verteidigungsminister wurde Mawlawi Mohammad Yaqoob Mujahid ernannt und als Außenminister Mawlawi Amir Khan Muttaqi (BBC 07.09.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 08.09.2021; vergleiche TN 03.09.2021). In Kandahar hatte er im Oktober 2021 seinen ersten öffentlichen Auftritt (France 24 31.10.2021; vergleiche VOA 31.10.2021).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 01.06.2021).
Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HAT 05.09.2021; BAMF 06.09.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 06.09.2021). Haibatullah Akhunzada warnte im November die Taliban, dass es in ihren Reihen Einheiten geben könnte, die „gegen den Willen der Regierung arbeiten“ (AJ 04.11.2021; vergleiche TG 04.11.2021).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.04.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45% der Truppen der Talibanführung. Rund 35% werden von Sirajuddin Haqqani angeführt, weitere ca. 25% von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.08.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vergleiche NYT 26.05.2020).
[...]
Ehemalige staatliche Akteure und Widerstand gegen die Taliban
Letzte Änderung: 17.01.2022
National Resistance Front (NRF)
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anmerkung: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten afghanischen Streitkräfte der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 06.09.2021; vergleiche ANI 06.09.2021).
Sowohl die Taliban als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialogs überwinden zu wollen (TN 30.08.2021; vergleiche WZ 22.08.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.08.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen, und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 06.09.2021; vergleiche ANI 06.09.2021), während die NRF am 06.09.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 06.09.2021). Massoud kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeich- neten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 08.09.2021; vergleiche ANI 09.09.2021). Nach Angaben eines hochrangigen Mitglieds der NRF Anfang Oktober 2021 kontrolliert die NRF entgegen Angaben der Taliban mehr als die Hälfte von Panshir (France 24 05.10.2021).
Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF unter anderem in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vergleiche NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 01.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).
Am 01.11.2021 wurde berichtet, dass die NRF ein Verbindungsbüro in Washington DC eröffnet hat, nachdem sie beim US-Justizministerium registriert wurde, um Lobbyarbeit bei verschiedenen in der Stadt tätigen Politikern zu betreiben (VOA 01.11.2021; vergleiche BBC 29.10.2021). Am 04.12.2021 veröffentlichte die NRF auf ihrem offiziellen Twitteraccount eine Stellungnahme, laut derer sie bereit ist, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um das Leid der Menschen in Afghanistan zu lindern (NRF 04.12.2021).
Ismail Khan, Abdul Rashid Dostum und Mohammad Atta Noor
Gemäß einem Bericht, der am 04.08.2021 veröffentlicht wurde [Anmerkung: also kurz vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul], haben die Machthaber in den verschiedenen Regionen Afghanistans angesichts der vorrückenden Taliban wenig Kampfeswillen gezeigt. Diejenigen, die zu den Waffen gegriffen haben, taten dies hauptsächlich, um ihre eigenen lokalen Interessen zu verteidigen. In Herat beispielsweise beschloss der örtliche Machthaber Ismail Khan erst dann, eine Miliz zu mobilisieren, als die Taliban den Zollposten Islam Qala erreichten, von dem Gerüchten zufolge regelmäßig ein erheblicher Teil der Staatseinnahmen an ihn abgezweigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt fiel es ihm schwer, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Selbst seine Gefolgsleute beschreiben die neue Miliz als kaum ebenbürtig gegenüber den kampferprobten Taliban (RUSI 04.08.2021). Die Miliz des ethnischen Tadschiken Ismail Khan, der in den 1980ern eine große Mudschaheddin-Truppe befehligt hatte und nach 2001 eine führende Rolle einnahm, schmolz im August 2021 dahin - aufgrund der Bedrohung durch die Taliban oder aufgrund einer geheimen Übereinkunft mit der Gruppierung. Khan wurde Berichten zufolge am 13.08.2021 gefangengenommen und tauchte drei Tage später in der iranischen Stadt Mashhad auf (TC 06.09.2021; vergleiche AST 08.09.2021). Im Jänner 2022 trafen hochrangige Delegierte der Taliban wichtige afghanische Oppositionsführer im Iran, unter anderem Ismail Kahn und Ahmad Massoud, um sie zur Beendigung des Widerstands gegen die entstehende Herrschaft der islamistischen Gruppe aufzufordern und ihnen Sicherheit zu garantieren, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren (VOA 10.01.2022; vergleiche KP 10.01.2022).
Atta Mohammad Noor, der starke Mann von Mazar-i-Sharif, zögerte einem Bericht zufolge zunächst, sich den Taliban entgegenzustellen. Als diese jedoch auf den Zollposten von Hayratan vorrückten, von dem er Berichten zufolge große Mengen an Bargeld abzweigen kann, schloss er sich dem Kampf an und mobilisierte seine Milizionäre. Die tatsächliche Wirkung dieser Truppe auf dem Schlachtfeld [Anmerkung: Stand 04.08.2021] war bescheiden (RUSI 04.08.2021). Der ethnische Tadschike Noor, einst Kommandant der Nordallianz (TC 06.09.2021) und Anführer eines Teils des Tanzims [Anmerkung: militärisch-politische Organisation] Jamiat-e Islami (ANI 09.09.2021), wie auch der ethnische Usbeke Abdul Rashid Dostum, einer der Gründer der Nordallianz (TC 06.09.2021) und des Tanzims Jombesh-e Melli Islami-ye Afghanistan (KAS 01.01.2006), sind vor den anrückenden Taliban ins Ausland geflohen (TC 06.09.2021; vergleiche VOA 29.08.2021). Schon vor Beginn der Kämpfe hatte Noor einer politischen Lösung gegenüber militärischem Vorgehen den Vorrang gegeben (TC 06.09.2021; vergleiche AST 08.09.2021). Eine Gruppe rund um Dostum und Noor kündigte Ende August 2021 [Anmerkung: vor der offiziellen Verkündung der Taliban- „Übergangsregierung“ am 07.09.2021] an, Gespräche mit den Taliban anzustreben (VOA 29.08.2021; vergleiche FAZ 29.08.2021). Nach der Ankündigung der „Übergangsregierung“ der Taliban wurde diese von Noor kritisiert, sie würde den Regeln widersprechen und sei zum Scheitern verurteilt (ANI 09.09.2021). Es bleibt ungewiss, wieviel Unterstützung Führer wie Atta Noor, der weithin der Korruption beschuldigt wird, und Dostum, der mehrfacher Folter und Brutalität beschuldigt und in einem Bericht des US-Außenministeriums als „Quintessenz eines Warlords“ bezeichnet wird, in der Bevölkerung tatsächlich genießen (VOA 29.08.2021; vergleiche AST 08.09.2021).
Gulbuddin Hekmatyar
Der Gründer der Hezb-e Islami (Hekmatyar) und vormalige Gegner der Taliban, Gulbuddin Hekmatyar, war gemeinsam mit seinem ehemaligen Gegner Hamid Karzai und Abdullah Abdullah Teil eines Verhandlungsteams, das [Anmerkung: vor der Ankündigung der Taliban- „Übergangsregierung“ am 07.09.2021] unter dem Namen „Koordinationsrat“ mit den Taliban über eine Regierungsbeteiligung verhandelte (TC 06.09.2021, FP 23.08.2021), welche jedoch nicht zustande kam (TD 10.09.2021).
Nach der Bildung der „Übergangsregierung“ der Taliban lobte Hekmatyar diese als „idealste Regierung der letzten 50 Jahre, da sie keine Besitzer von Doppelstaatsbürgerschaften enthält“ und frei von Sekulären sei (KP 11.09.2021).
Mohammad Mohaqeq und Abdul Ghani Alipoor
Mohammad Mohaqeq, Anführer der Partei Hezb-e Wahdat und während des afghanischen Bürgerkriegs in den 1990ern ein wichtiger Hazara-Anführer der Nordallianz, zählt zu jenen afghanischen Warlords, die in den letzten Wochen versucht haben, ihre alten Milizen als Teil der „Volksaufstandskräfte“ [public uprising forces] zu mobilisieren, die vor dem Fall von Kabul gegen Taliban-Kämpfer kämpften (JF 05.09.2021; vergleiche RUSI 04.08.2021). Neben Mobilisierungen im Hazarajat (RUSI 04.08.2021) versuchte Mohaqeq zusammen mit Dostum und Noor, ihre Milizen in der Provinz Balkh zu mobilisieren, bevor diese am 14.08.2021 an die Taliban fiel (JF 05.09.2021; vergleiche RUSI 04.08.2021). Als Kabul fiel, meldete sich Mohaqeq in den sozialen Medien zu Wort und behauptete in einem Facebook-Post, dass „die Menschen gerettet wurden“ und dass die afghanische Regierung korrupt sei, außerdem sprach er sich [vor der Bildung der „Übergangsregierung“ der Taliban] für eine Regierung unter Beteiligung verschiedener Gruppierungen aus (JF 05.09.2021, ETR 20.08.2021).
Ein Hazara-Kommandant, der gemäß Twittermeldungen nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im Distrikt Behsud, Provinz (Maidan) Wardak, gegen die Taliban gekämpft hat, ist Abdul Ghani Alipoor (AWM 22.08.2021; IFE 22.08.2021; vergleiche ALM 15.08.2021). Alipoor gründete 2014 eine Hazara-Miliz mit dem Namen Jabha-ye Moqawamat (Widerstandskraft), die in den vergangenen Jahren Hazara in Distrikten wie Behsud verteidigt hat. Im November 2018 war Alipoor [von der damaligen Regierung] wegen des Vorwurfs der Führung einer illegalen Miliz verhaftet worden. Im März 2021 schossen seine Kämpfer ein afghanisches Militärflugzeug ab (CACI 26.08.2021).
[...]
Haqqani-Netzwerk
Letzte Änderung: 17.01.2022
Das Haqqani-Netzwerk wurde Ende der 1980er Jahre, etwa zur Zeit des Einmarsches der damaligen Sowjetunion in Afghanistan, gegründet und verbündete sich später mit den Taliban (USDOS 16.12.2021). Die Organisation wurde im Jahr 1996 Teil der Taliban (ASP 01.09.2020) und gilt als Verbündeter von al-Qaida. Das Netzwerk wurde von Jalaluddin Haqqani gegründet, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad [1979-1989] und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Sein Sohn Serajuddin [auch Sirajuddin] Haqqani führt das Netzwerk nun an (CRS 17.08.2021; vergleiche France 24 21.08.2021). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vergleiche RFE/RL 06.08.2021). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (France 24 21.08.2021). Mit September 2020 zählten die Haqqani-Kämpfer rund 10.000 Mann in Afghanistan, was etwa 20% der Kampfkräfte der Taliban ausmachte (ASP 01.09.2020), während eine andere Quelle Ende August 2021 von einem Anteil von rund 35% sprach (GN 31.08.2021). Das Außenministerium der Vereinigten Staaten (USDOS) wiederum schätzt im Dezember 2021, dass die Gruppe über 3.000 bis 5.000 Kämpfer verfügt (USDOS 16.12.2021). Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni 2021 ist das Haqqani-Netzwerk die schlagkräftigste Truppe der Taliban (UNSC 01.06.2021).
Das Haqqani-Netzwerk ist nach wie vor eine Drehscheibe für Kontakte und Zusammenarbeit mit regionalen ausländischen Terrorgruppen und die wichtigste Verbindungsstelle zwischen den Taliban und Al-Qaida (UNSC 01.06.2021). Auch wurden dem Netzwerk in der Vergangenheit Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst nachgesagt (CRS 17.08.2021; TSP 23.08.2021, USDOS 16.12.2021). Bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen dem Haqqani-Netzwerk und dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) bestehen unterschiedliche Auffassungen (UNSC 01.06.2021). Während der afghanische Geheimdienst im Mai 2020 von einer „gemeinsamen ISKP-Haqqani-Zelle“ sprach (RFE/RL 06.05.2021), ein Afghanistan-Experte Belege vergangener Kollaborationen erwähnte (GN 31.08.2021) und einige Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats von einer taktischen Zusammenarbeit zwischen dem ISKP und dem Haqqani-Netzwerk auf der Ebene der Befehlshaber berichten, bestreiten andere die Behauptungen einer taktischen Zusammenarbeit entschieden (UNSC 01.06.2021). Ende August 2021 wurde ein Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul verübt, bei dem mindestens 170 Menschen starben und zu dem sich der ISKP bekannte (MEE 27.08.2021; vergleiche GN 31.08.2021). Kämpfer aus Khost und Paktia, Kerngebieten des Haqqani-Netzwerks, waren einer Quelle zufolge für die Sicherheit in manchen Teilen der Provinzhauptstadt zuständig, das Flughafenareal wurde jedoch von anderen Einheiten gesichert (NLM 26.08.2021).
Von den US-Truppen und der [ehemaligen] afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ (ASP 01.09.2020) bzw. „gefährlichster“ Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 17.08.2021; vergleiche France 24 21.08.2021). Das Netzwerk wurde von den USA als ausländische Terrorgruppierung eingestuft und befindet sich auf der Sanktionsliste der Vereinten Nationen (FR24 21.08.2021; vergleiche NZZ 07.09.2021).
Trotz des Rufs des Haqqani-Netzwerks wird angenommen, dass es in einer künftigen Taliban-Regierung eine bedeutsame Rolle spielen wird (FR24 21.08.2021; vergleiche TSP 23.08.2021). So wurde im August 2021 angekündigt, dass Sirajuddin Haqqani den Posten des Innenministers in der neu gebildeten „Übergangsregierung“ der Taliban bekleiden wird (NZZ 07.09.2021).
Im November 2021 wurde ein hochrangiges Mitglied des Haqqani-Netzwerkes durch die TalibanRegierung zum Gouverneur von Logar ernannt. Khan ist einer von mehreren wichtigen Anführern des Haqqani-Netzwerks, die in der neuen Taliban-Regierung in hochrangige Positionen berufen wurden. Neben Nabi Omari als Gouverneur von Khost, Sirajuddin Haqqani als Innenminister, Khalil al Rahman Haqqani als Flüchtlingsminister ist Mullah Taj Mir Jawad erster Stellvertreter des Geheimdienstes (LWJ 10.11.2021).
[...]
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Letzte Änderung: 17.01.2022
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vergleiche LWJ 05.03.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei „Khorasan“ die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst. Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.08.2021; vergleiche AAN 01.08.2017). Aber auch Mitglieder anderer extremistischer Gruppierungen in der Region wechselten zum ISKP (WP 26.08.2021b).
Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des Islamischen Staates in Ostafghanistan (NYT 02.12.2019) nach jahrelangen Militäroffensiven der US-Streitkräfte und intensivierten Talibanangriffen zusammengebrochen (SIGAR 30.01.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vergleiche UNSC 27.05.2020). Die Gebietsverluste des ISKP haben seine Fähigkeiten zur Mitgliederrekrutierung und Mittelbeschaffung beeinträchtigt. Schätzungen zufolge verfügt der ISKP noch über eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern in kleinen Gebieten der Provinzen Kunar und Nangarhar. Er war gezwungen, sich zu dezentralisieren, und besteht hauptsächlich aus Zellen und kleinen Gruppen im ganzen Land, die autonom agieren, aber dieselbe Ideologie teilen (UNSC 01.06.2021). Im Zuge der Machtübernahme der Taliban wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagons „Tausende“ (MEE 27.08.2021) bzw. „Hunderte“ ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit, womit die Truppenstärke wieder steigen könnte (GN 31.08.2021). Trotz territorialer, führungsmäßiger, personeller und finanzieller Verluste in den Provinzen Kunar und Nangarhar im Jahr 2020 ist der ISKP in andere Provinzen vorgedrungen, darunter Nuristan, Badghis, Sari Pul, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Kabul, wo Kämpfer Schläferzellen gebildet haben. Die Gruppe hat ihre Positionen in und um Kabul gestärkt, wo sie die meisten ihrer Anschläge verübt (UNSC 21.07.2021).
Der ISKP hat in Afghanistan bislang kein Gebiet [nachhaltig] erfolgreich eingenommen. Stattdessen fokussiert seine Strategie auf Anschläge gegen zivile Ziele, wie zum Beispiel Moscheen, Schulen und Hochzeiten (WP 26.08.2021a). Im ersten Halbjahr 2021 verzeichnete UNAMA eine Zunahme an zivilen Opfern von rund 45% durch Anschläge des ISKP gegenüber demselben Untersuchungszeitraum im Vorjahr. Insgesamt schrieb UNAMA 9% aller erfassten zivilen Opfer dem ISKP zu. UNAMA stellte auch ein Wiederaufleben vorsätzlicher sektiererisch motivierter Anschläge gegen die religiöse Minderheit der Schiiten fest, von denen die meisten auch der ethnischen Minderheit der Hazara angehören und die fast alle vom ISIL-KP beanspruchtwerden (UNAMA 26.07.2021). Nach Erkenntnissen derAIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr dagegen um 20% gesunken. Insgesamt verzeichnete AIHRC im ersten Halbjahr 2021 343 zivile Opfer bei ISKP-Anschlägen oder -Angriffen, davon 104 Todesopfer und 284 Verletzte (AIHRC 01.08.2021). Im gesamten Jahr 2020 schrieb AIHRC dagegen 403 zivile Opfer dem ISKP zu (AIHRC 28.01.2021; vergleiche ACCORD 06.05.2021).
UNAMA zählte dagegen 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte). 80% der zivilen Opfer, die dem ISKP zugeschrieben wurden, entstanden bei Angriffen, die bewusst auf Zivilisten abzielten (UNAMA 2.2021a). Ende August 2021 übernahm der ISKP die Verantwortung für einen Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul, die sich im Zuge der Massenevakuierungsflüge nach der Machtübernahme der Taliban dort gebildet hatte. Mindestens 170 Personen sind bei dem Anschlag ums Leben gekommen (MEE 27.08.2021; vergleiche BBC 28.08.2021), neben den Zivilisten auch 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die zur Sicherung des Flughafengeländes dort postiert waren (MEE 27.08.2021).
Die Taliban stehen dem IS und seinen Vorstellungen eines globalen Dschihads ablehnend gegenüber und haben ISKP in den vergangenen Jahren bekämpft (AA 21.10.2021). Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vergleiche WP 26.08.2021a). Die Rivalität des ISKP mit den Taliban wurde von einer Quelle auch als ein „Mikrokosmos des [internationalen] Wettbewerbs zwischen Al-Qaida und ihrem radikaleren Ableger, dem Islamischen Staat“ beschrieben. Zwischen den Gruppen bestehen Generations- und ideologische Unterschiede (WP 26.08.2021b). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele sowie afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränkten (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sie Angriffe gegen Schiiten sowie Hindus und Sikhs richten (SC 27.08.2021; vergleiche WP 19.08.2019). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung (AA 21.10.2021).
Experten zufolge werden die Taliban [nach ihrer Machtübernahme in Kabul] wahrscheinlich versuchen, die Gruppe zu eliminieren. Einige warnten jedoch im August 2021, dass der ISKP von einem Sicherheitsvakuum profitieren könnte, während die Taliban versuchen, ihre Macht zu konsolidieren (WP 26.08.2021a; vergleiche AM 27.08.2021). Ein weiterer Experte wies auch darauf hin, dass der ISKP versuchen könnte, Spannungen zwischen den verschiedenen Talibanfraktionen auszunutzen, welche beispielsweise im Rahmen der Regierungsbildung deutlich wurden (GN 31.08.2021; vergleiche SC 27.08.2021).
Der ISKP hat in den Monaten seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ihre Angriffe gegen die Taliban verstärkt (LWJ 23.11.2021; vergleiche HRW 25.10.2021) und eine Handvoll öffentlichkeitswirksamer Selbstmordattentate auf Ziele wie Moscheen und Krankenhäuser verübt und kleinere, aber zahlreichere Anschläge mit Sprengsätzen und Handfeuerwaffen gegen die militärischen Kräfte der Taliban durchgeführt. Als Reaktion darauf haben die Taliban mehr als 1.000 Kämpfer in die Provinz Nangarhar, dem Zentrum der ISKP-Operationen, geschickt, um die Gruppe zu bekämpfen (LWJ 23.11.2021; vergleiche WP 22.11.2021). Aktuell liegt nach Ansicht des Long War Journal der Vorteil klar bei den Taliban, da der ISKP über keine Verbündete im In- oder Ausland verfügt und die Taliban im Zuge der Machtübernahme ein großes Waffenarsenal requirieren konnten sowie über territoriale Kontrolle in alle Provinzen verfügen. Der ISKP verfügt nur über Kleinwaffen, und sein Hauptwerkzeug für Angriffe auf die Taliban sind Sprengfallen und Selbstmordattentate (LWJ 23.11.2021).
Im Oktober gab es Berichte, wonach in Jalalabad Leichen entdeckt wurden, einige mit handgeschriebenen Notizen in ihren Taschen, auf denen sie beschuldigt wurden, Mitglieder des ISKP zu sein. Die Taliban werden beschuldigt, für diese Tötungen verantwortlich zu sein (BBC 29.10.2021).
Mitte Dezember kam es zu zwei Bombenanschlägen in hauptsächlich schiitischen Gegenden Kabuls, bei denen mindestens eine Person getötet wurde. Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (RFE/RL 18.11.2021; vergleiche REU 17.11.2021).
Die UNAMA-Vorsitzende Deborah Lyons sagte am 16.11.2021, ISKP sei mittlerweile nicht mehr nur im Osten, sondern im ganzen Land zunehmend aktiver (UNAMA 16.11.2021).
[...]
Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen
Letzte Änderung: 17.01.2022
Al-Qaida und ihr regionaler Zweig, Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent [Anmerkung: manchmal mit AQIS abgekürzt], operieren trotz wiederholter Behauptungen der Taliban, dass die Gruppe keine Präsenz im Land habe, weiterhin in ganz Afghanistan (LWJ 08.04.2021; vergleiche BAMF 12.04.2021).
Gemäß einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Juli 2021 ist Al-Qaida in mindestens 15 Provinzen Afghanistans aktiv, vor allem im Osten, Süden und Südosten des Landes (UNSC 21.07.2021). Ein bedeutender Teil der Führungsriege von Al-Qaida - einschließlich ihrem Anführer Aiman al-Zawahiri - hat ihre Basis in der Grenzregion von Afghanistan und Pakistan, von wo aus sie eng mit AQIS zusammenarbeitet (UNSC 01.06.2021). AQIS operiert unter dem Schutz der Taliban von Kandahar, Helmand und Nimruz aus (UNSC 21.07.2021). Die Zahl der Mitglieder von Al-Qaida, einschließlich AQIS, wird auf mehrere Dutzend bis 500 Personen geschätzt (UNSC 01.06.2021).
Al-Qaida operierte überwiegend unter der Schirmherrschaft der Taliban und in Verbindung mit anderen regierungsfeindlichen Gruppen gegen die [bis 15.08.2021 im Amt befindliche] afghanische Regierung. Die Aktivitäten konzentrierten sich auf die Ausbildung, einschließlich mit Waffen und Sprengstoff, sowie auf Beratung, und es wird behauptet, dass sie an Taliban-internen Diskussionen über die Beziehungen der Bewegung zu anderen dschihadistischen Gruppierungen teilnahmen (UNAMA 2.2021a). Kämpfer von AQIS waren in die Strukturen der Taliban eingebettet (CRS 17.08.2021). Die Nähe zwischen den beiden Gruppen wird auch durch die Tötung mehrerer Al-Qaida-Kommandeure bei Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte in von den Taliban kontrollierten Gebieten unterstrichen (UNSC 01.06.2021; vergleiche VOA 10.11.2020).
Die Taliban und Al-Qaida sind nach wie vor eng miteinander verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen, wobei das Haqqani-Netzwerk hier eine wichtige Komponente ist. Die Verbindungen zwischen den beiden Gruppen beruhen auf ideologischer Übereinstimmung, auf Beziehungen, die durch gemeinsame Kämpfe entstanden sind, und auf der persönlichen Ebene z.B. durch Eheschließungen (UNSC 01.06.2021). Im Zuge des US-Taliban-Abkommens haben die Taliban zugesichert, zu verhindern, dass Al-Qaida den Boden Afghanistans nutzt, „um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (USDOS 29.02.2020). Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten (UNSC 15.01.2019), bestritten die Taliban dann, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert (LWJ 15.06.2020; vergleiche UNSC 01.06.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 gratulierte die Al-Qaida-Führung den Taliban zu ihrem „historischen Sieg“ (LWJ 31.08.2021). Mit Stand 15.08.2021 ist noch unklar, welche Haltung die Taliban gegenüber Al-Qaida oder anderen islamistischen Extremisten einnehmen werden, sollten diese in Afghanistan grenzüberschreitende Gewaltaktionen durchführen. Es ist auch nicht klar, wie Al-Qaida auf die jüngsten Ereignisse reagieren wird (GN 15.08.2021).
Im August 2021 schätzte das US-Verteidigungsministerium die Präsenz von Al-Qaida in Afghanistan als nicht derart hoch ein, dass die Gruppierung eine Bedrohung für die USA darstellen würde, wie es am 11.09.2001 der Fall war (CNN 21.08.2021). Die Führung von Al-Qaida ist vielmehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt (CRS 17.08.2021). Zuvor hatte das US-amerikanische Verteidigungsministerium jedoch Präsident Biden widersprochen, der den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan damit gerechtfertigt hatte, dass Al-Qaida aus dem Land „verschwunden“ sei (CNN 21.08.2021).
Im September 2021 hatte die Taliban amerikanische Befürchtungen, dass Al-Qaida oder der ISKP (Islamic State Khorasan Province) im Land präsent sind, als „unbegründete Propaganda“ zurückgewiesen (VOA 21.09.2021; vergleiche REU 21.09.2021).
Im Dezember 2021 erklärte der Leiter des US-Zentralkommandos, dass seit dem Abzug der US-Streitkräfte die Extremistengruppe Al-Qaida in Afghanistan „leicht gewachsen“ sei. Auch herrsche Uneinigkeit zwischen den neuen Taliban-Führern des Landes, ob sie ihr Versprechen aus dem Jahr 2020, die Beziehungen zu der Gruppe abzubrechen, einhalten sollen (ArN 10.12.2021; vergleiche KP 11.12.2021).
Nach Angaben eines Taliban-Sprechers wurde Qari Baryal am 07.11.2021 zum Gouverneur der Provinz Kabul ernannt (LWJ 09.11.2021; vergleiche REU 07.11.2021), der nach früheren Berichten vom US-Militär als „mit Al-Qaida verbundener Taliban-Führer“ bezeichnet wurde (LWJ 09.11.2021).
[...]
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 an, dass zukünftig eine islamische Regierung von islamischen Gesetzen angeleitet werden soll, das Regierungssystem solle auf der Scharia basieren. Sie blieben dabei allerdings sehr vage bezüglich der konkreten Auslegung. „Scharia“ bedeutet auf Arabisch „der Weg“ und bezieht sich auf ein breites Spektrum an moralischen und ethischen Grundsätzen, die sich aus dem Koran sowie aus denAussprüchen und Praktiken des Propheten Mohammed ergeben. Die Grundsätze variieren je nach der Auslegung verschiedener Gelehrter, die Denkschulen gegründet haben, denen die Muslime folgen und die sie als Richtschnur für ihr tägliches Leben nutzen (AJ 23.08.2021; vergleiche NYT 19.08.2021). Die Auslegung der Scharia ist in der muslimischen Welt Gegenstand von Diskussionen. Jene Gruppen und Regierungen, die ihr Rechtssystem auf die Scharia stützen, haben dies auf unterschiedliche Weise getan. Wenn die Taliban sagen, dass sie die Scharia einführen, bedeutet das nicht, dass sie dies auf eine Weise tun, der andere islamische Gelehrte oder islamische Autoritäten zustimmen würden (NYT 19.08.2021). Sogar in Afghanistan haben sowohl die Taliban, die das Land zwischen 1996 und 2001 regierten, als auch die Regierung von Ashraf Ghani behauptet, das islamische Recht zu wahren, obwohl sie unterschiedliche Rechtssysteme hatten (AJ 23.08.2021).
Bislang [Stand Oktober 2021] hat sich kein formelles neues Justizsystem etabliert. Bereits vor der Machtübernahme unterhielten die Taliban Schattengerichte unter strikter Auslegung der Scharia in den von ihnen kontrollierten Gebieten, die von der Bevölkerung zum Teil als effizienter und verlässlicher als das korruptionsbelastete Justizsystem der Republik empfunden wurden. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Taliban auf lokaler Ebene gegen Kriminalität vorgehen und Täter öffentlich bestrafen. Darüber, was im Anschluss weiter mit den Tätern passiert, liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021).
Die Auslegung des islamischen Rechts durch die Taliban entstammt nach Angaben eines Experten dem Deobandi-Strang der Hanafi-Rechtsprechung - einem Zweig, der in mehreren Teilen Südostasiens, darunter Pakistan und Indien, anzutreffen ist - und der eigenen gelebten Erfahrung als überwiegend ländliche und stammesbezogene Gesellschaft (AJ 23.08.2021; vergleiche WTN 03.09.2021).
Als die Taliban 1996 an die Macht kamen, setzten sie strenge Kleidervorschriften für Männer und Frauen durch und schlossen Frauen weitgehend von Arbeit und Bildung aus. Die Taliban führten auch strafrechtliche Bestrafungen (hudood) im Einklang mit ihrer strengen Auslegung des islamischen Rechts ein, darunter öffentliche Hinrichtungen von Menschen, die von Taliban-Richtern des Mordes oder des Ehebruchs für schuldig befunden wurden, und Amputationen für diejenigen, die aufgrund von Diebstahl verurteilt wurden (AJ 23.08.2021; vergleiche VOA 24.08.2021).
[...]
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme im August 2021 faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in Zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen, ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun (AA 21.10.2021).
Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor (AA 21.10.2021).
Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (AA 21.10.2021).
Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA21.10.2021). Obwohl die Taliban eine „Generalamnestie“ für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (AI 9.2021). Es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (CNN 08.09.2021; vergleiche BBC 05.09.2021). Es gibt weitere Berichte, wonach ehemalige Polizisten (PAJ 21.10.2021) oder Dolmetscher getötet wurden (ABC News 20.10.2021).
Während im Oktober afghanische Militärpiloten noch berichteten, dass ihre in Afghanistan verbliebenen Verwandten mit dem Tod bedroht würden, sollten sie nicht zurückkehren (RFE/RL 23.10.2021), forderte der Sprecher der Talibanregierung diese auf, im Land zu bleiben bzw. zurückzukehren. Sie würden durch eine Amnestie geschützt und nicht verhaftet werden. Dies geschah, nachdem Dutzende von in den USA ausgebildeten afghanischen Piloten Tadschikistan im Rahmen einer von den USA vermittelten Evakuierung verlassen hatten, wohin sie zuvor geflüchtet waren (AP 10.11.2021; vergleiche TD 10.11.2021).
Nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom November 2021 wurden seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in nur vier Provinzen (Ghazni, Helmand, Kandahar und Kunduz) exekutiert oder waren gewaltsamem „Verschwindenlassen“ ausgesetzt (HRW 30.11.2021).
[...]
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 17.01.2022
Unter der vormaligen Regierung war laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) Folter verboten (UNAMA 2.2021b; vergleiche AA 16.07.2021). Die Regierung erzielte Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumte es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 04.02.2021; vergleiche HRW 13.01.2021).
Über systematische staatliche Folter ist bislang nichts bekannt (AA 21.10.2021). Es gibt jedoch zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus (UNAMA 26.05.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021). Auch gibt es Berichte über die Folter von Journalisten (AA 21.10.2021; vergleiche HRW 08.09.2021).
[...]
Korruption
Letzte Änderung: 14.01.2022
Mit einer Bewertung von 19 Punkten (von 100 möglichen Punkten – 0 = highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2020 von Transpa- rency International von 180 untersuchten Ländern den 165. Platz, was eine Verbesserung um acht Ränge im Vergleich zum Jahr davor darstellt (TI 28.01.2021; vergleiche TI 23.01.2020).
Die [ehemalige] Regierung setzte Maßnahmen gegen Korruption nicht effektiv um (USDOS 30.03.2021) und unternahm nur kleine Schritte, um gegen Korruption vorzugehen, wie das Verfassen von Vorschriften oder das Abhalten von Treffen anstatt konkreter Maßnahmen (SIGAR 30.01.2021), während Beamte häufig ungestraft korrupte Praktiken ausübten. Berichte deuten an, dass Korruption innerhalb der Gesellschaft endemisch ist - Geldflüsse von Militär, internationalen Gebern und aus dem Drogenhandel verstärken das Problem (USDOS 30.03.2021). Die weitverbreitete Korruption und Misswirtschaft schwächten in weiterer Folge die staatlichen Strukturen. Das gilt für die Sicherheitskräfte ebenso wie für das Parlament und die Gerichte (NZZ 11.08.2021).
Der hohe Grad an Korruption wird von vielen auch als einer der Gründe für den schnellen Erfolg der Taliban gesehen (NZZ 11.08.2021; vergleiche TD 17.08.2021, BBC 13.08.2021).
Der mit August 2021 neue amtierende Bürgermeister von Kabul erklärt, dass gegen korrupte Elemente nach den Regeln der Scharia vorgegangen wird. Seinen Angaben zufolge gab es in der Vergangenheit in allen Bereichen Afghanistans massive Korruption, aber das „Islamische Emirat“ hätte nun alle Personen begnadigt und es würde niemand für frühere Korruption verhaftet werden (PAJ 30.08.2021).
[...]
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 17.01.2022
Bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 kam es zu systematischen Morddrohungen, Angriffen und Tötungen von Menschenrechtsverteidigern in ganz Afghanistan (AI 9.2021; vergleiche AA 15.07.2021, AI 16.03.2021).
Gegenwärtig bietet sich u.a. mangels Gesetzgebung oder einheitlicher Regelungen bzw. Handlungen der Talibanregierung noch kein klares Bild über die künftigen Betätigungsmöglichkeiten für Menschenrechtsorganisationen. Faktisch ist ihre Arbeit im Moment aber kaum möglich. Aus Sorge vor gewaltsamen Repressalien haben zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen Afghanistan kurz vor bzw. nach der Machtübernahme der Taliban verlassen oder halten sich versteckt (AA 21.10.2021; vergleiche AI 9.2021). Es gibt Berichte über Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmung von Eigentum, Drohungen und Gewaltanwendung gegen Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen (AA 21.10.2021; vergleiche AI 9.2021) bzw. deren Familien (AI 9.2021; vergleiche PAJ 12.09.2021), auch wenn diese zum Teil schwer zu verifizieren sind (AA 21.10.2021) bzw. Amnesty International (AI) anführt, dass nur wenige bereit sind, die Angriffe öffentlich anzuprangern, aus Angst vor weiteren Repressalien (AI 9.2021).
Nach Angaben von AI wurden mehrere NGO-Büros von den Taliban durchsucht, und ihre Konten wurden in Erwartung einer „zukünftigen Beurteilung“ durch die Taliban eingefroren, während NGOs auch ihre Programme zur Förderung der Rechte der Frauen eingestellt haben oder die meisten Büros aus Angst vor Repressalien geschlossen bleiben (AI 9.2021).
Die afghanische staatliche Menschenrechtskommission Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) hat am 18.09.2021 ein Statement veröffentlicht, wonach sie in Folge der Machtübernahme der Taliban nicht in der Lage ist, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Dazu gehören insbesondere die Aufnahme und Untersuchung von Beschwerden der Bevölkerung über Menschenrechtsverletzungen. Als Grund benennt die Kommission die Besetzung und Nutzung ihrer Einrichtungen durch die Taliban und Beschränkungen der Berufstätigkeit von Frauen (AIHRC 18.09.2021; vergleiche AA 21.10.2021). Am 07.10.2021 hat der UN-Menschenrechtsrat die Ernennung eines Sonderberichterstatters zur Menschenrechtslage in Afghanistan ab März 2022 beschlossen (AA 21.10.2021).
Berichten zufolge werden Frauenrechtsaktivisten gezielt von den Taliban bedroht und gejagt und ihre Gruppen infiltriert (TG 04.11.2021; vergleiche ABC News 20.11.2021). Anfang November wurde eine Menschenrechtsaktivistin in Mazar-e Sharif getötet (France 24 06.11.2021; vergleiche TG 05.11.2021).
[...]
Wehrdienst und Zwangsrekrutierung
Letzte Änderung: 17.01.2022
Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es in Afghanistan keine Wehrpflicht. Das vorgeschriebene Mindestalter für die freiwillige Meldung betrug 18 Jahre. Da die Tätigkeit als Soldat oder Polizist für den großen Teil der jungen männlichen Bevölkerung eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten darstellte, bestand grundsätzlich kein Anlass für Zwangsrekrutierungen zu staatlichen Sicherheitskräften (AA 16.07.2021).
Das Problem der Rekrutierung von Kindern, einschließlich Zwangsrekrutierung sowie Entführungen und sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch regierungsfeindliche Gruppen, Milizen oder afghanische Sicherheitskräfte bestand bis zur Übernahme der Taliban weiter. Für 2020 ist die Rekrutierung von insgesamt 196 Jungen belegt, davon 172 durch die Taliban. Weitere 17 Vorfälle gingen auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte (AA 16.07.2021).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilte die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert wurden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet waren (LI 29.06.2017).
Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgte: Sie lief hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban, enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura [Anmerkung: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta/Pakistan] war für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.06.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vergleiche UNAMA 7.2020).
In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen in der Vergangenheit Kontrolle ausübten, gab es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.06.2017). Grundsätzlich hatten die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machten nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, waren jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.06.2017).
Sympathisanten der Taliban waren Einzelpersonen und Gruppen von, vielfach jungen, desillusionierten Männern. Ihre Motive waren der Wunsch nach Rache und Heldentum, gepaart mit religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Sie fühlten sich nicht zwingend den zentralen Werten der Taliban verpflichtet. Die meisten haben das Vertrauen in das Staatsbildungsprojekt verloren und glaubten nicht länger, dass es möglich ist, ein sicheres und stabiles Afghanistan zu schaffen. Viele schlossen sich den Aufständischen aus Angst oder Frustration über die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung an. Armut, Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven waren die wesentlichen Erklärungsgründe (LI 29.06.2017).
Vor einigen Jahren waren Mittel wie Pamphlete, DVDs und Zeitschriften bis hin zu Radio, Telefon und web-basierter Verbreitung wichtige Instrumente des Propagandaapparats der Taliban. Während Internet und soziale Medien wie Twitter, Blogs und Facebook sich in den letzten Jahren zu sehr wichtigen Foren und Kanälen für die Verbreitung der Botschaft dieser Bewegung entwickelt haben, dienen sie auch als Instrument für die Anwerbung. Über die sozialen Medien konnten die Taliban mit Sympathisanten und potenziellen Rekruten Kontakt aufnehmen. Die Taliban haben verstanden, dass ohne soziale Medien kein Krieg gewonnen werden kann. Sie haben ein umfangreiches Kommunikations- und Mediennetzwerk für Propaganda und Rekrutierung aufgebaut. Zusätzlich unternahmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten lief über religiöse Netzwerke (LI 29.06.2017).
Die Entscheidung, Rekruten zu mobilisieren, wird von den Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Gemeindevorstehern getroffen. Dadurch wird dies nicht als Zwangsrekrutierung wahrgenommen, da die Entscheidungen der Anführer als legitim und akzeptabel gesehen werden. Personen, die sich dem widersetzen, gehen ein Risiko ein, dass sie oder ihre Familien bestraft oder getötet werden (DAI/CNRR 10.2016; vergleiche EASO 6.2018), wenngleich die Taliban nachsichtiger als der ISKP seien und lokale Entscheidungen eher akzeptieren würden (TST 22.08.2019). Andererseits wurde berichtet, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert wurden oder in denen die Taliban stark präsent waren, de facto unmöglich war, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten (LI 29.06.2017).
Die erweiterte Familie konnte angeblich auch eine Zahlung leisten, anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien waren, die Kämpfer stellten, da sie keine Mittel haben, um sich freizukaufen (LI 29.06.2017).
Die Taliban wandten, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 30.03.2021; vergleiche EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise wurden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2020 gab es laut UNAMA insgesamt 196 Jungen, hauptsächlich im Norden und Nordosten des Landes, die sowohl von den Taliban als auch von den afghanischen Sicherheitskräften rekrutiert wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern in Afghanistan aufgrund der damit verbundenen Sensibilität und der Sorge um die Sicherheit der Kinder in hohem Maße unterrepräsentiert sind (UNAMA 2.2021a).
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Die Taliban haben im Oktober 2021 den Aufbau einer eigenen Armee angekündigt. Diese soll sich sowohl aus den bisherigen Taliban-Milizen als auch aus Resten der aufgelösten vorherigen afghanischen Armee zusammensetzen (ArN 26.10.2021), welche mit den modernsten Waffen ausgerüstet werden sollen, um die Interessen, Werte und Grenzen Afghanistans zu schützen. Im November 2021 gab das Verteidigungsministerium der Taliban bekannt, dass die zukünftige Armee aus acht Korps bestehen soll. Die Taliban haben noch nicht offiziell mit derAusbildung von Angehörigen für ihre neue Armee begonnen, aber Dutzende von Taliban-Mitgliedern sind damit beschäftigt, sich in verschiedenen Provinzen Afghanistans ausbilden zu lassen (KP 08.11.2021).
[...]
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 17.01.2022
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen (AA 21.10.2021).
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.08.2021; vergleiche AA 21.10.2021), wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen (AA 21.10.2021).
Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (HRW 30.11.2021; vergleiche BBC 20.08.2021, AP 03.09.2021). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien (BBC 20.08.2021). Es existieren Berichte über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen o.Ä. durchführen (AA 21.10.2021).
Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.07.2021 getötet (AI 9.2021; vergleiche WP 28.07.2021), ein Volkssänger von den Taliban erschossen (AI 9.2021; vergleiche RFE/RL 29.08.2021) und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen (AI 9.2021; vergleiche BBC 05.09.2021).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Mrd. USD von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 02.09.2021; vergleiche REU 03.09.2021).
[...]
Meinungs- und Pressefreiheit
Letzte Änderung: 17.01.2022
Aufgrund der hohen Analphabetismusrate bevorzugen die meisten Bürger Fernsehen und Radio gegenüber Print- oder Online-Medien. Ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung - auch in abgelegenen Provinzen - hat Zugang zu Radio (USDOS 30.03.2021).
Afghanistan rangiert im World Press Freedom Index 2020 auf Platz 122 von 180 untersuchten Staaten; dies stellt eine Verschlechterung von einem Platz im Vergleich zum Vorjahr und drei Plätzen im Vergleich zum Jahr 2018 dar (RSF 2020).
Das Afghanistan Journalists Center zählte 2020 112 gewalttätige Übergriffe auf Medienschaffende, wobei sieben Journalisten und ein Medienmitarbeiter getötet wurden (AFJC o.D.; vergleiche AI 03.05.2021, RSF 10.12.2020, BAMF 11.1.2021). Die Taliban stritten in einer Presseerklärung vom 06.01.2021 jede (ihnen von der damaligen Regierung zugeschriebene) Beteiligung an der Tötung von Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft ab (BAMF 11.01.2021; vergleiche TN 06.01.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) nehmen Taliban-Kräfte jedoch gezielt Journalisten und andere Medienmitarbeiter ins Visier, darunter auch Frauen (HRW 01.04.2021) und nach Angaben des Afghanistan Journalists Center waren die Taliban, Daesh [Anmerkung: auch IS, ISKP] bzw. unbekannte Bewaffnete für die Tötungen von Journalisten verantwortlich (TN 06.01.2021). Am 01.01.2021 wurde der Direktor einer Radiostation in der Provinz Ghor erschossen (RSF 07.01.2021). Im Mai 2021 gab RSF (Reporters Sans Frontieres) an, dass in den letzten sechs Monaten mindestens 20 Journalisten und Medienschaffende Opfer von gezielten Angriffen wurden und acht, darunter vier Frauen, getötet wurden. Etwa 30 weitere haben Todesdrohungen im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit erhalten (RSF 03.05.2021). Mit Ende April wurden im Jahr 2021 bereits vier Journalisten getötet (AI 03.05.2021).
Im Mai 2021 gaben die Taliban eine Pressemitteilung heraus, in der sie den Medien im Land vorwarfen, einseitig zugunsten der Regierung zu berichten, und drohten mit Konsequenzen. Einen Tag später wurde ein Journalist in der Stadt Kandahar von Unbekannten erschossen (BAMF 10.05.2021). Während die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen aus dem Land abziehen, ist Reporter ohne Grenzen (RSF) alarmiert über die eskalierende Gewalt gegen Journalisten, insbesondere gegen Frauen, durch gezielte Gewalt und Drohungen - seit Juli 2021 wurden mindestens drei Journalistinnen ermordet (RSF 19.07.2021). Die gezielten Angriffe auf Medienschaffende sorgt insbesondere in Kabul für Angst in Teilen der Bevölkerung (AA 15.07.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Bereits in den Wochen vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul kam es zu Angriffen auf Journalisten (AI 9.2021; vergleiche REU 09.08.2021). Am 07.09.2021 verhafteten Sicherheitskräfte der Taliban Journalisten des in Kabul ansäßigen Medienunternehmens Etilaat-e Roz. Die Reporter hatten über Proteste von Frauen in Kabul berichtet, die ein Ende der Verstöße der Taliban gegen die Rechte von Frauen und Mädchen forderten. Es wurde berichtet, dass die Taliban-Behörden die beiden Männer zu einer Polizeistation in Kabul brachten, sie in getrennte Zellen steckten und sie mit Kabeln schwer verprügelten. Beide Männer wurden am 08.09.2021 freigelassen und in einem Krankenhaus wegen ihrer Verletzungen am Rücken und im Gesicht medizinisch versorgt (HRW 08.09.2021).). Es gibt auch Berichte, wonach Taliban Tränengas und Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen (BBC 07.09.2021)
Nach außen hin haben sich die Taliban verpflichtet, Journalisten zu schützen und die Pressefreiheit zu respektieren, jedoch existiert eine Reihe von Berichten über die Festnahme und Misshandlung von Journalisten (RSF 24.08.2021; vergleiche AA 21.10.2021). Die neuen Behörden verhängen bereits sehr strenge Auflagen für die Nachrichtenmedien, auch wenn sie noch nicht offiziell sind, und es gibt Berichte, wonach die Taliban Journalisten Schikanen, Drohungen und auch Gewalt aussetzen (RSF 24.08.2021).
Zahlreiche Medienschaffende haben ihre Arbeit nach der Machtübernahme der Taliban aufgegeben oder vermeiden die Berichterstattung zu bestimmten Themen wie Menschenrechtsverletzungen aufgrund von Sicherheitsbedenken, was besonders für Journalistinnen gilt (AA 21.10.2021). Es gibt Berichte u.a. vom Committee to Protect Journalists (CPJ), dass weibliche Journalisten davon abgehalten wurden, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren (CPJ 19.08.2021; vergleiche AI 09.08.2021, TN 19.08.2021) und dass Journalisten bedroht, belästigt, verprügelt oder verhaftet wurden (AI 9.2021; vergleiche CPJ 19.08.2021, BBC 09.09.2021). Laut einer von Reporter ohne Grenzen (RSF) durchgeführten Umfrage arbeiten [mit Ende August 2021] weniger als 100 der 700 afghanischen Journalisten (RSF 31.08.2021; vergleiche AI 9.2021; AA 21.10.2021). Am 20.08.2021 brachen Taliban-Mitglieder, auf der Suche nach einem Journalisten, der für die Deutsche Welle (DW) arbeitet, in ein Haus ein. Der Journalist war jedoch bereits mit einem Evakuierungsflug nach Deutschland gebracht worden. Anschließend töteten sie ein Mitglied seiner Familie und verletzten ein weiteres (AI 9.2021; vergleiche TG 20.08.2021). Im Oktober 2021 gab es Berichte, wonach ein Reporter von Tolonews von Soldaten am Grenzübergang Torkham geschlagen wurde, weil er über die Situation an der Grenze berichten wollte (TN 24.10.2021).
Journalisten beklagten sich über den mangelnden Zugang zu Informationen und erklärten, dass der Zugang zu Informationen trotz der Einführung mehrerer Pressesprecher in den Ministerien der Taliban-Regierung weiterhin ein Hindernis darstellt (TN 18.10.2021).
Internet und Mobiltelefonie
Eine schnelle Verbreitung von Mobiltelefonen, Internet und sozialen Medien hat vielen Bürgern einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Ansichten und Informationen ermöglicht (USDOS 30.03.2021).
Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.06.2020).
Fünf GSM-Betreiber decken zwei Drittel der bevölkerungsreichsten Gebiete ab. Ungefähr jeder zweite Einwohner hat im Jahr 2020 eine aktive SIM-Karte. Weniger als einer von zehn Nutzern geht mit einem Mobiltelefon ins Internet (DFJP/SEM 30.06.2020).
Im Laufe des Jahres 2020 gab es viele Berichte über Versuche der Taliban, den Zugang zu Informationen einzuschränken, oft durch die Zerstörung oder Abschaltung von Telekommunikationsantennen und anderen Geräten (USDOS 30.03.2021).
Aus strategischen Gründen schnitten die Taliban im Zuge der Kampfhandlungen die Internetverbindungen nach Panjshir zeitweise ab (AAN 01.07.2021), und es gibt auch Berichte, wonach die Taliban in Kabul das Internet an- und abschalten würden (DW 30.08.2021). Am 09.09.2021 forderten die Taliban die Telekommunikationsbetreiber auf, die Internetverbindung in mehreren Bezirken Kabuls abzuschalten, darunter auch in Gebieten wie Dasht-e-Barchi, wo in den Tagen zuvor Proteste stattgefunden hatten (AI 9.2021; vergleiche IT 09.09.2021, AA 21.10.2021).
[...]
Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und die Meinungs- und Pressefreiheit wurden seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeinen Zusicherungen deutlich eingeschränkt. Friedlich Demonstrierende waren zwischen August und September einer zunehmend gewaltsamen Behandlung durch die Taliban ausgesetzt, einschließlich der Verwendung scharfer Munition (AA 21.10.2021).
Ein Protest von mehreren hundert Personen wurde am 07.09.2021 durch Taliban-Kämpfer aufgelöst, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten. Augenzeugen berichteten, dass Taliban-Mitglieder Fotos und Videos der Proteste von den Telefonen der von ihnen festgenommenen Personen löschten. Auch ein Kameramann des afghanischen Nachrichtensenders Tolo News wurde kurzzeitig von den Taliban festgenommen (WP 07.09.2021). Es gibt auch Berichte, wonach Taliban Tränengas und Pfefferspray (BBC 07.09.2021) bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzen (CNN 08.09.2021; vergleiche BBC 08.09.2021). Auch von Todesopfern bei Protesten wird berichtet (BBC 19.08.2021; vergleiche AA 21.10.2021). Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Proteste gegen ihre Herrschaft verschärft und haben alle Demonstrationen, die nicht offiziell genehmigt sind, verboten (TG 08.09.2021; vergleiche AA 22.10.2021). Demnach müssen Demonstrationen unter Angaben von Details zu Zweck, Zeitraum und Ort des Protests mit einem Vorlauf von 24 Stunden beim Justizministerium angemeldet und von dort genehmigt werden (AA 22.10.2021). Die Taliban warnten vor „schweren rechtlichen Konsequenzen“, sollte man sich nicht daran halten (TG 08.09.2021). Dennoch kommt es landesweit immer wieder zu Protesten und Gewaltanwendung gegen Demonstranten und Journalisten, zum Beispiel Ende Oktober 2021 bei einer Demonstration in Kabul für die Öffnung von Mädchenschulen (ANI 26.10.2021) und die Verbesserung der Wirtschaftslage (AA 21.10.2021).
Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist bislang nicht vorhanden (AA 21.10.2021).
Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich gegenwärtig im Ausland. Prominente Figuren wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung Abdullah und der ehemalige Präsident Hamid Karzai befinden sich weiterhin in Kabul (AA 21.10.2021; vergleiche FP 27.10.2021) und führen Gespräche, u.a. auch mit ausländischen Gästen. Ihr Aktionsradius ist darüber hinaus äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt (AA 21.10.2021).
In Panjshir hat sich unter der Führung von Ahmad Massoud und dem ehemaligen Vizepräsidenten Saleh die sogenannte „Nationale Widerstandsfront“ gebildet, die laut eigenen Angaben auch nach der weitgehenden Übernahme der Provinz durch die Taliban weiter aktiv ist und Angriffe durchführt. Vereinzelt gibt es auch aus anderen Provinzen Meldungen über bewaffneten Widerstand gegen die Taliban. Die Führung der „Nationalen Widerstandsfront“ hat sich mittlerweile nach Tadschikistan zurückgezogen (AA 21.10.2021; vergleiche France 24 04.10.2021).
[...]
Haftbedingungen
Letzte Änderung: 26.01.2022
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet: Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), war verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das MoI und das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) waren verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren und Zivilhaftanstalten. Das National Directorate of Security (NDS) war verantwortlich für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Distriktebene, die in der Regel mit den jeweiligen Hauptquartieren zusammenarbeiten. Das Verteidigungsministerium betrieb die Nationalen Haftanstalten Afghanistans in Parwan (USDOS 30.03.2021). Glaubwürdigen Berichten zufolge verwalteten regierungstreue lokale Machthaber, mächtige Personen in den Sicherheitskräften und Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 30.03.2021; vergleiche FH 04.02.2019). Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene; auch herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge (USDOS 30.03.2021).
Die Haftbedingungen wurden vor der Machtübernahme durch die Taliban als hart beschrieben, Überbelegung war ein ernstes, weit verbreitetes Problem. Am 21.04.2020 erklärte der Generaldirektor der Gefängnisse, dass die Gefängnisse des Landes unter weit verbreiteten Missständen litten, darunter Korruption, mangelnde Aufmerksamkeit für die Dauer der Haftstrafen, sexueller Missbrauch minderjähriger Gefangener und fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung. Gefangene in einer Reihe von Gefängnissen führten gelegentlich Hungerstreiks durch oder nähten sich den Mund zu, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren (USDOS 30.03.2021).
Unter der ehemaligen afghanischen Regierung bestand ein Recht für Häftlinge auf Gesundheitsdienste und medizinische Untersuchungen zu Beginn der Unterbringung (UNAMA 4.2019). Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend (USDOS 30.03.2021; vergleiche HRW 14.01.2020). Das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC war sehr limitiert. Daher mussten Familienangehörige oft für die notwendige ergänzende Nahrung aufkommen (USDOS 30.03.2021). Als Folge der schlechten Haftbedingungen waren psychische Gesundheitsprobleme weit verbreitet (UNAMA 4.2019).
Vor allem Frauen und Kinder wurden vor der Machtübernahme der Taliban in Haft häufig Opfer von Misshandlungen. Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt (AA 16.07.2021). Laut NGOs und Medienberichten hielten die Behörden Kinder unter 15 Jahren zusammen mit ihren Müttern im Gefängnis fest, was zum Teil auf die mangelnde Kapazität separater Kinderbetreuungszentren zurückzuführen war. Diese Berichte dokumentierten unzureichende Bildungs- und medizinische Einrichtungen für diese Minderjährigen (USDOS 30.03.2021).
Folter von Inhaftierten durch die Sicherheitskräfte war unter der ehemaligen afghanischen Regierung verbreitet (FH 04.02.2019). Gemäß einer zweijährigen Studie in den Jahren 2019 und 2020 berichten Häftlinge, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen wurden und sich im Gewahrsam der ANDSF (Afghan National Security Forces) befinden, über Folter und Misshandlung (30,3% der Befragten - im Vergleich 31,9% in den Jahren 2017 und 2018) (UNAMA 2.2021b; vergleiche HRW 14.01.2020, UNAMA 4.2019). Im Gewahrsam des NDS (National Directorate of Security) gab es einen weiteren Rückgang bei der Anzahl gefolterter bzw. misshandelter Personen (16% der Befragten - im Vergleich 19,4% in den Jahren 2017 und 2018). Weiter reduziert hat sich auch die Anzahl der durch die ANP (Afghan National Police) gefolterten und misshandelten Personen (27,5% der Befragten - im Vergleich 31,2% in den Jahren 2017 und 2018) (UNAMA 2.2021; vergleiche UNAMA 4.2019).
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Berichten zufolge tausende Gefangene aus den Gefängnissen befreit (AJ 17.08.2021; vergleiche ANI 17.08.2021) darunter auch hochrangige Taliban (ANI 17.08.2021) und Mitglieder von ISKP und Al-Qaida (BBC 27.08.2021).
Das Hauptgefängnis von Kabul, Pul-e-Charkhi, welches einst überfüllt mit Tausenden von Taliban war, die von der Regierung gefangen genommen und verhaftet worden waren, wird nun von einem Taliban-Befehlshaber geleitet, der einst dort inhaftiert war (BBC 25.09.2021; vergleiche AJ 14.09.2021).
Bislang [Stand Oktober 2021] hat sich kein formelles neues Justizsystem etabliert. Bereits vor der Machtübernahme unterhielten die Taliban Schattengerichte unter strikter Auslegung der Scharia in den von ihnen kontrollierten Gebieten, die von der Bevölkerung zum Teil als effizienter und verlässlicher als das korruptionsbelastete Justizsystem der Republik empfunden wurde. Aktuell gibt es Berichte, wonach die Taliban auf lokaler Ebene gegen Kriminalität vorgehen und Täter öffentlich bestrafen. Darüber, was im Anschluss weiter mit den Tätern passiert, liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021).
[...]
Todesstrafe
Letzte Änderung: 27.01.2022
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war die Todesstrafe in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 16.07.2021), und zwar für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. (StGb-AFGH 15.05.2017: Artikel 170,).
Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die sowohl während des ersten Talibanregimes, als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis auf Grundlage einer strikten Auslegung der Scharia sieht die Todesstrafe vor (AA 21.10.2021).
[...]
Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 27.01.2022
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 23.08.2021; vergleiche USDOS 12.05.2021, AA 21.10.2021). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 23.08.2021, USDOS 12.05.2021).
Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.05.2021). Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen (AP 09.09.2021). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.05.2021).
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (AA 21.10.2021). In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.05.2021). Nach Angaben der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) sind Angehörige religiöser Gruppen auch weiterhin stark von der Verfolgung durch die Taliban bedroht (WT 06.10.2021; vergleiche NAT 06.10.2021)
[...]
Schiiten
Letzte Änderung: 27.01.2022
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wurde vor der Machtübernahme durch die Taliban auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 23.08.2021; vergleiche AA 16.07.2021). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 12.05.2021).
Direkte Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten waren vor der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan selten (AA 16.07.2021). Im Jahr 2020 verzeichnete UNAMA 19 Angriffe mit 115 zivilen Opfern (60 Tote und 55 Verletzte), die dem ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und anderen regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden und die auf Kultstätten, religiöse Führer und Gläubige abzielten, verglichen mit 20 Angriffen im Jahr 2019 mit 236 zivilen Opfern (80 Tote und 156 Verletzte) (USDOS 12.05.2021). Auch nach der Machtübernahme der Taliban ging der ISKP gezielt gegen Schiiten vor mit Angriffen in Kabul, Jalalabad, Herat, Kandahar und Kunduz (HRW 25.10.2021).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.08.2021; vergleiche BBC 20.08.2021), und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet worden sein (AI 05.10.2021; vergleiche BBC 05.11.2021).
AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.08.2021).
Im Oktober kam es zu Anschlägen auf schiitische Moscheen in Kandahar (UNOCHA 21.10.2021; vergleiche WP 15.10.2021) und Kunduz, bei denen viele Menschen getötet wurden (BBC 09.10.2021; vergleiche TG 08.10.2021). Nach diesen Angriffen versprachen die Taliban, die Sicherheitsmaßnahmen vor schiitischen Moscheen zu erhöhen (AN 17.10.2021; vergleiche HRW 25.10.2021).
Human Rights Watch (HRW) berichtet, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen, um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. HRW verwies auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh. In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober Hunderte von Hazara-Familien vertrieben, und aus 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan wurden im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021).
[...]
Sikhs und Hindus
Letzte Änderung: 27.01.2022
Nach Angaben von Sikh-Führern sind mit Mai 2021 weniger als 400 Mitglieder der Sikh-Gemeinschaft im Land geblieben, verglichen mit geschätzten 600 zu Beginn des Jahres 2020 und 1.300 im Jahr 2017 (USDOS 12.05.2021; vergleiche AA 16.07.2021). Noch vor einigen Jahrzehnten lebten einige Hunderttausend Hindus und Sikhs in Afghanistan (AJ 01.01.2017; vergleiche AIIA 11.07.2018). Eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage der Gemeinschaften, erhöhte Sicherheitsbedenken sowie fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt waren laut Sikh-Führern Hauptgrund einer verstärkten Emigration. Nach einer Reihe tödlicher Angriffe des ISKP im März 2020, die sich gegen Sikhs richteten und 25 Personen töteten, verließen etwa 200 Mitglieder der Sikh-Gemeinschaft das Land in Richtung Indien und gaben an, dass sie wegen der mangelnden Sicherheit und des unzureichenden Schutzes durch die Regierung ausgereist seien (USDOS 12.05.2021). Hindus und Sikhs können ihren Glauben in begrenztem Maße in landesweit zwei aktiven Sikh- und vier Hindu-Tempeln praktizieren. Im Zusammenhang mit wahrgenommenen Verstößen gegen muslimische Glaubenssätze, beispielsweise der Einäscherung von Toten, kommt es allerdings zu teilweise gewaltsamen Protesten (AA 16.07.2021).
In Hinblick auf die Gespräche im Rahmen des Friedensprozesses, vor der Machtübernahme der Taliban, äußerten einige Sikhs und Hindus ihre Besorgnis darüber, dass in einem Nachkriegs-Afghanistan von ihnen verlangt werden könnte, gelbe (Stirn-)Punkte, Abzeichen oder Armbinden zu tragen, wie es die Taliban während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 vorgeschrieben hatten (USDOS 12.05.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkungen der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die Minderheit der Sikhs und Hindus sind noch keine validen Informationen bekannt]
[...]
Baha‘i
Letzte Änderung: 27.01.2022
Es existieren keine verlässlichen Schätzungen zur Größe der Baha‘i-Gemeinschaft in Afghanistan (USDOS 12.05.2021). UNHCR schätzte ihre Zahl 2013 landesweit auf 2.000 Personen (AA 16.07.2021). Die Gemeinschaft der Baha‘i ist hauptsächlich in Kabul ansäßig, mit wenigen Mitgliedern in Kandahar (USDOS 12.05.2021).
Im Mai 2007 befand das Generaldirektorat für Fatwas, dass der Glaube der Baha’i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha’i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt (USDOS 12.05.2021). Sie galten somit als Ungläubige, nicht jedoch als Konvertiten, und wurden keines Vergehens angeklagt. Strafverfolgung wegen Blasphemie wurde nicht berichtet (USDOS 12.05.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die religiöse Minderheit der Baha‘i sind noch keine validen Informationen bekannt]
[...]
Apostasie, Blasphemie, Konversion
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die Zahl der afghanischen Christen in Afghanistan ist höchst unsicher, die Schätzungen schwanken zwischen einigen Dutzend und mehreren Tausend (LI 07.04.2021; vergleiche USDOS 12.05.2021). Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert (AA 16.07.2021).
Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Der Islam spielt eine entscheidende Rolle in der afghanischen Gesellschaft und definiert die Auffassung der Afghanen vom Leben, von Moral und Lebensrhythmus. Den Islam zu verlassen und zu einer anderen Religion zu konvertieren bedeutet, gegen die gesellschaftlichen Kerninstitutionen und die soziale Ordnung zu rebellieren (LI 07.04.2021).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 konnten christliche Afghanen ihren Glauben nicht offen praktizieren (LI 07.04.2021; vergleiche USDOS 12.05.2021, AA 16.07.2021). In den fünf Jahren davor gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie (USDOS 12.05.2021; vergleiche AA 16.07.2020); jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (USDOS 12.05.2021).
Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 12.05.2021).
Es gibt wenig konkrete Informationen darüber, wie christliche Afghanen ihren Glauben tatsächlich praktizieren; das verfügbare Material, das ihre Situation und Herausforderungen beschreibt, ist bescheiden und anekdotisch. Jene, die sich in der Öffentlichkeit oder über digitale Medien zu ihrem Glauben bekennen, sind ausnahmslos Afghanen, die außerhalb des Landes leben. Es gibt keine Anzeichen für christliche Traditionen, christliche Präsenz oder Kirchengebäude jeglicher Art in Afghanistan (LI 07.04.2021).
Ein Konvertit wird in jeder Hinsicht stigmatisiert: als Repräsentant seiner Familie, Ehepartner, Eltern/Erzieher, politischer Bündnispartner und Geschäftspartner. Weigert sich der Konvertit, zum Islam zurückzukehren, riskiert er, von seiner Familie ausgeschlossen zu werden und im Extremfall Gewalt und Drohungen ausgesetzt zu sein. Einige Konvertiten haben angeblich Todesdrohungen von ihren eigenen Familienmitgliedern erhalten (LI 07.04.2021; vergleiche USDOS 12.05.2021).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Apostasie, Blasphemie, Konversion sind noch keine validen Informationen bekannt]
[...]
Ethnische Gruppen
Letzte Änderung: 27.01.2022
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Mio. Menschen (NSIA 6.2020; vergleiche CIA 23.08.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vergleiche CIA 23.08.2021). Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 21.10.2021).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anmerkung: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.03.2021; vergleiche Karrell 26.01.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.03.2021).
Die am 07.09.2021 gebildete Übergangsregierung der Taliban umfasste nur drei Vertreter der usbekischen bzw. der tadschikischen Minderheiten, durch weitere Ernennungen kamen mittlerweile wenige weitere, darunter ein Vertreter der Hazara, hinzu (AA 21.10.2021).
Darüber hinaus unterliegen - soweit bislang erkennbar - ethnische Minderheiten aber keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren (AA 21.10.2021).
[...]
Paschtunen
Letzte Änderung: 27.01.2022
Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.e). Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (STDOK 7.2016).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden (STDOK 7.2016; vergleiche NYT 10.06.2019) und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (STDOK 7.2016).
Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung (BBC 26.05.2016; vergleiche RFE/RL 13.11.2018, EASO 9.2016, AAN 4.2011), werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen (EASO 9.2016). Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen (RFE/RL 13.11.2018; vergleiche AAN 4.2011, EASO 9.2016). Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (EASO 9.2016).
[...]
Tadschiken
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.d; vergleiche RFE/RL 09.08.2019). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Während sie in der vor-sowjetischen Ära hauptsächlich in den Städten, in und um Kabul und in der bergigen Region Badashkshan im Nordosten lebten, leben sie heute in verschiedenen Gebieten im ganzen Land, allerdings hauptsächlich im Norden, Nordosten und Westen Afghanistans (MRG o.D.d).
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (MRG o.D.d). Heute werden unter dem Terminus täjik „Tadschike“ fast alle Dari/Persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016).
[...]
Hazara
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).
Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.03.2019).
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vergleiche MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.05.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.08.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.05.2021).
Die Lage der Hazara, die während der ersten Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert (AA 16.07.2021; vergleiche FH 04.03.2020). Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.03.2021).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vergleiche MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.03.2018).
Während des gesamten Jahres 2020 und auch 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 06.03.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2020 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.03.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen (USDOS 12.05.2021) wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 09.05.2021; vergleiche RFE/RL 09.05.2021, BBC 09.05.2021).
In Randgebieten des Hazarajat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.08.2021; vergleiche BBC 20.08.2021) und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen von den Taliban getötet worden sein (AI 05.10.2021; vergleiche BBC 05.11.2021).
AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.08.2021).
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 haben diese erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Sie haben insbesondere den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara, die während des ersten Talibanregimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht (AA 21.10.2021; vergleiche WSJ 02.09.2021). Zum Nachweis haben die Taliban mit ihren Kämpfern die Ashura-Feierlichkeiten [Anmerkung: Gedenken des Martyriums von Imam Hussein, einem Enkel des Propheten Mohammed] am 19.08.2021 abgesichert und sich medienwirksam mit Hazara-Führern getroffen (AA 21.10.2021; vergleiche AJ 19.08.2021). Nach Angaben des in London lebenden Journalisten und eines afghanischen Rechtsprofessors werden die Hazara in Afghanistan von vielen Taliban-Mitgliedern weiterhin als minderwertig angesehen, da sie schiitische Muslime sind. Die dänische Einwanderungsbehörde verweist in einem Bericht auf zwei Quellen, denen zufolge Hazara seit der Machtübernahme durch die Taliban beim Zugang zum Rechtssystem und zu Ressourcen diskriminiert werden (DIS 12.2021). Außerdem wurde die Hazara-Gemeinschaft weitgehend von der Übergangsregierung und anderen hochrangigen Positionen auf nationaler und provinzieller Ebene ausgeschlossen (DIS 12.2021; vergleiche WP 01.11.2021).
Es gibt Berichte, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen, um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. Die Quellen verweisen auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh (HRW 22.10.2021; vergleiche DIS 12.2021). In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober „Hunderte von Hazara-Familien“, und aus 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021). Drei im Bericht der dänischen Einwanderungsbehörde zitierten Quellen zufolge zeigen diese Vertreibungen, dass die Taliban die Hazara zwar nicht systematisch verfolgen, sie aber auch nicht bereit sind, sie zu schützen (DIS 12.2021).
Die Hazara sind weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des ISKP zu werden. Diese Anschläge waren bereits in der Vergangenheit häufig gegen überwiegend von Hazara genutzte Einrichtungen oder Wohnviertel gerichtet (AA 21.10.2021). Am 08. und 15.10.2021 kamen bei Selbstmordattentaten auf schiitische Moscheen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets in Kunduz und Kandahar mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt (AA 21.10.2021; vergleiche UNOCHA 14.10.2021, WP 15.10.2021). Der amtierende Außenminister der Taliban sagte zu, die Sicherheitsvorkehrungen für schiitische Moscheen zu verstärken (AA 21.10.2021; vergleiche DIS 12.2021).
[...]
Usbeken
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die usbekische Minderheit ist die viertgrößte Minderheit Afghanistans und umfasst etwa 9% der Gesamtbevölkerung (MRG o.D.b). Usbeken sind Sunniten und leben vorwiegend im Norden des Landes, wo sie gemeinsam mit den Turkmenen den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens kontrollieren (MRG o.D.b). Sie siedeln sowohl im ländlichen Raum, wie auch in urbanen Zentren (Mazar-e Sharif, Kabul, Kandahar, Lashkargah u.a.), wo ihre Wirtschafts- und Lebensformen kaum Unterschiede zu Dari-sprachigen Gruppen aufweisen. In den Städten und in vielen ländlichen Gegenden beherrschen Usbeken neben dem Usbekischen in der Regel auch Dari auf nahezu muttersprachlichem Niveau. Heiratsbeziehungen zwischen Usbeken und Tadschiken sind keine Seltenheit (STDOK 7.2016).
Die Usbeken haben Stammesidentitäten, die immer noch weitgehend die Strukturen innerhalb ihrer jeweiligen Gesellschaft bestimmen, was sich sowohl in ihrem sozialen als auch in ihrem politischen Leben widerspiegelt (MRG o.D.b.).
[...]
Kutschi, Nomaden
Letzte Änderung: 27.01.2022
Ethnisch gesehen ist der Großteil der Kutschi paschtunisch (TD 19.04.2019; vergleiche MRG o.D.a, AA 15.07.2021) und stammt vorwiegend aus dem Süden und Osten Afghanistans (MRG o.D.a). Sie sind eher eine soziale Gruppe, obwohl sie einige Charakteristiken einer eigenen ethnischen Gruppe aufweisen. Während des ersten Taliban-Regimes wurden viele Kutschi in den usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten im Nordwesten des Landes sesshaft. Die größte Kutschi-Population findet sich in der Wüste im Süden des Landes (Registan) (MRG o.D.a).
Viele Kuchi leben in informellen Siedlungen am Stadtrand von Kabul (MDG n.d.a; vergleiche AAN 19.03.2019). Ein großer Teil der Nomaden zieht im Sommer in die Weidegebiete von Hazarajat (zentrales Hochland) (AREU 1.2018; vergleiche GIZ 4.2019). Nur noch wenige tausend Menschen führen ein Leben als Hirtennomaden (MRG o.J.; vergleiche AREU 1.2018).
Traditionell waren die Kutschi eine nomadische Gemeinschaft; jahrzehntelange Konflikte und Dürre haben verstärkt dazu geführt, dass die afghanischen Kutschi ihren traditionellen Lebensstil aufgaben und sich in festen Siedlungsgebieten niedergelassen haben. Manche Kutschi haben ihr Vieh verloren und versucht, sich dauerhaft oder temporär in nicht-regulierten Gebieten niederzulassen (TD 19.04.2019; vergleiche AREU 1.2018, GIZ 4.2019), was zu Konflikten mit Anwohnern und Kommandanten aufgrund von Landbesitz und Wasserzugang führte (TD 19.04.2019; vergleiche AREU 1.2018).
Kutschi leiden in besonderem Maße unter den ungeklärten Boden- und Wasserrechten. Dies schließt die illegale Landnahme durch mächtige Personen ein - mangels funktionierenden Katasterwesens in Afghanistan ein häufiges und alle Volksgruppen betreffendes Problem (AA 16.07.2021; vergleiche AREU 1.2018).
Konflikte basieren u.a. auf der Blockade der Zugangswege zu den Weiden durch die sesshafte Bevölkerung, da das durchziehende Vieh landwirtschaftliche Flächen beschädigt; oder auch auf der Übernahme von Weideland der Nomaden durch die sesshafte Dorfbevölkerung zur eigenen Beweidung, Kultivierung oder Bebauung. Ebenso entstehen Konflikte durch das Bevölkerungswachstum, wodurch frühere Weidegebiete der Nomaden vermehrt verbaut werden, insbesondere im Nahbereich größerer Städte (AREU 1.2018).
[...]
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung: 27.01.2022
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.06.2020; vergleiche BBC 27.02.2020, Taz 06.02.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 06.02.2019). Die Taliban haben während ihres ersten Regimes [Anmerkung: 1996-2001] afghanischen Frauen und Mädchen Regeln oktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 03.09.2019).
Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, u.a. durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Frauen waren auch im Jahr 2020 konfliktbedingter sexueller Gewalt ausgesetzt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuellen Gewalt in Afghanistan widerspiegeln. Tief konservative Geschlechternormen, Stigmatisierung und ein Mangel an speziell auf Opfer ausgerichteten Diensten tragen dazu bei, dass es wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt (UNAMA 2.2021a).
Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen (IWPR 08.03.2021). Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat in der Periode März 2020 – März 2021 mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert - darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum gemeldet wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden in Schutzeinrichtungen untergebracht (RSF 11.03.2021; vergleiche CPAWJ 07.03.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Der Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen ist bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig, es zeichnen sich aber deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Berichte über unterschiedlich ausgeprägte Repressionen und Einschränkungen für Frauen betreffen Kleidungsvorschriften, die Pflicht zu männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkung von Schulbesuch und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung mit Talibankämpfern (AA 21.10.2021). Bei der Ernennung der Übergangsregierung wurde das unter der Vorgängerregierung vorhandene Frauenministerium nicht berücksichtigt. Am 17.09.2021 wurde der ehemalige Sitz des Frauenministeriums in den Sitz des neuen „Ministeriums für die Verbreitung von Tugend und Verhinderung des Lasters“ umgewandelt. Diese Institution hatte bereits im ersten Talibanregime Verstöße gegen die Einhaltung religiöser Vorschriften verfolgt (AA 21.10.2021; vergleiche BBC 17.09.2021).
Im vergangenen Jahr bekannten sich die Taliban dazu, Frauen Arbeit und Bildung im Einklang mit der Scharia bzw. des islamischen Systems der Taliban zu gewähren (AJ 16.08.2021; HRW 17.08.2021, AA 21.10.2021). Doch auch wenn die Taliban-Führer eine sanftere Rhetorik in Bezug auf die Rechte der Frauen an den Tag legen, gibt es oft eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Aussagen und der Realität vor Ort, wo Befehlshaber der Taliban oft harte Regeln durchsetzen, die im Widerspruch zu den Beteuerungen ihrer Führer stehen (HRW 17.08.2021; vergleiche AI 9.2021, AA 21.10.2021).
Eine afghanische Richterin beschreibt, wie sie von Männern gejagt wurde, die sie einst inhaftiert hatte und nun von den Taliban-Kämpfern, die das Land übernommen haben, freigelassen wurden (REU 03.09.2021), und es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (CNN 06.09.2021; vergleiche BBC 05.09.2021). Anfang November wurden bis zu vier Frauen in Mazar-e Sharif getötet, darunter eine Frauenrechtsaktivistin. Berichten zufolge hätten die Frauen einen Anruf erhalten, den sie für eine Einladung zu einem Evakuierungsflug hielten. Sie wurden später tot aufgefunden (France 24 06.11.2021; vergleiche TG 05.11.2021).
Es gibt Berichte, wonach die Taliban weibliche Angestellte einiger Banken aufgefordert hätten, nicht an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren (AJ 16.08.2021). Einige Frauen konnten ihre Arbeit fortsetzen, andere wurden von Taliban-Kämpfern am Betreten ihres Arbeitsplatzes physisch gehindert; viele andere sind vorsichtshalber zu Hause geblieben (AI 9.2021; vergleiche AA 21.10.2021). Frauen, die vor der Machtübernahme durch die Taliban in der Regierung waren, sind größtenteils aus dem Land geflohen. Allerdings gab es bereits mehrere Fälle von Repressalien gegen ihre Mitarbeiter, Kollegen und Familienmitglieder, die in Afghanistan geblieben sind (AI 9.2021; vergleiche TG 20.08.2021). Ein Erlass der Regierung vom 17.09.2021, dessen Authentizität bisher nicht bestätigt werden konnte, soll die öffentliche Verwaltung anweisen, männlichen Kandidaten prioritär Zugang zu bestimmten Laufbahnen im öffentlichen Dienst zu gewähren. Frauen werden aufgefordert, ihre Kündigung einzureichen (AA 21.10.2021).
Es kam mit September 2021 zu Protesten von Frauen in mehreren Städten, darunter Kabul und Herat, gegen die Taliban (AP 03.09.2021; vergleiche WP 07.09.2021; AI 9.2021). Es gibt Berichte, wonach einige Proteste, unter anderem solche von Frauen, durch die Taliban aufgelöst wurden, indem sie Gewehrsalven in die Luft feuerten, Tränengas und Pfefferspray (BBC 07.09.2021) bzw. Stöcke und Peitschen gegen Demonstranten einsetzten (CNN 08.09.2021; vergleiche BBC 8.9.2021). Die Taliban haben ihr Vorgehen gegen die Anti-Taliban-Proteste verschärft und alle nicht offiziell genehmigten Demonstrationen verboten, und zwar sowohl die Versammlung selbst, als auch etwaige Slogans, die verwendet werden. Die Taliban warnten vor „schweren rechtlichen Konsequenzen“, sollte man sich nicht daran halten (TG 08.09.2021). Am 11.09.2021 kam es zu einem Pro-Taliban Protest durch einige hundert komplett verschleierte Frauen. Die Taliban erklärten, die Demonstration an der Shaheed Rabbani Education University sei von Dozentinnen und Studentinnen der Universität organisiert worden (NYT 11.09.2021; vergleiche France 24 11.09.2021).
Lehrkräfte und Studierende an Universitäten in den größten Städten Afghanistans - Kabul, Kandahar und Herat - berichteten der Nachrichtenagentur Reuters, dass Studentinnen im Unterricht getrennt werden, separat unterrichtet werden oder auf bestimmte Bereiche des Campus beschränkt sind. In einigen Fällen wurden Schülerinnen durch Vorhänge oder Bretter in der Mitte des Klassenzimmers von ihren männlichen Kollegen getrennt (REU 06.09.2021). Am 05.09.2021 erließ das nun von den Taliban kontrollierte Bildungsministerium einen Erlass, dass alle Studentinnen, Lehrerinnen und Mitarbeiterinnen an Hochschulen und Universitäten ein islamisches schwarzes Abaya und Niqab tragen müssen, die das Haar, den Körper und den größten Teil des Gesichts bedecken, sowie Handschuhe (AI 9.2021; vergleiche RFE/RL 06.09.2021).
Ende Oktober berichtete Human Rights Watch (HRW), dass die Taliban strengere Tugendregeln aufstellen als zunächst öffentlich angekündigt. In vielen Provinzen gelten per Gesetz die Regeln eines „Tugendhandbuches“, welches z.B. vorgibt, welche Frauen als Anstandsdamen für andere Frauen gelten dürfen, und Parties mit Musik sowie Ehebruch und gleichgeschlechtliche Beziehungen verbietet (HRW 29.10.2021; vergleiche BAMF 08.11.2021, RFE/RL 29.10.2021). Zusätzlich gibt es Berichte, wonach in den meisten Provinzen Entwicklungshelferinnen an der Ausübung ihrer Arbeit hindern würden (HRW 04.11.2021; vergleiche BAMF 08.11.2021).
Im November wiesen die Taliban Fernsehsender in Afghanistan an, keine Seifenopern oder anderen Unterhaltungsprogramme auszustrahlen, in denen Frauen auftreten (AJ 25.11.2021; vergleiche VOA 21.11.2021). Des Weiteren wurde erklärt, dass Journalistinnen einen Hijab tragen müssen (AJ 25.11.2021).
Anfang Dezember verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister der Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären (ABC News 03.12.2021; vergleiche AJ 03.12.2021).
Währenddessen sind weiterhin tausende Mädchen vom Besuch der siebenten bis zwölften Schulstufe ausgeschlossen, und der Großteil der Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban nicht an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt (ABC News 03.12.2021).
[...]
Kinder
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 47% der Bevölkerung (27,5 Mio. Afghanen) unter 25 Jahren und davon 46% (11,7 Mio. Kinder) unter 15 Jahren (UNFPA 18.12.2018; vergleiche NSIA 01.06.2020). Das Durchschnittsalter in Afghanistan liegt bei 18,4 Jahren (WoM 06.10.2020). Die Volljährigkeit begann vor der Machtübernahme durch die Taliban mit dem 18. Geburtstag, wobei einige politische Kräfte dies mit Verweis auf die Scharia ablehnen. Die Zwangsverheiratung auch von Kindern unter dem gesetzlichen Mindestalter der Ehefähigkeit – 18 Jahre für Männer, 16 für Frauen (mit Zustimmung des Vaters 15 Jahre) - ist weit verbreitet (AA 16.07.2021).
Anfang Dezember verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war (ABC News 03.12.2021; vergleiche AJ 03.12.2021). Zwangsverheiratungen sind eine sozial akzeptierte Bewältigungsstrategie in wirtschaftlichen Notlagen und finden infolge der desaströsen Wirtschaftslage weiter Verbreitung (AA 21.10.2021; vergleiche Dawn 27.10.2021), wobei Mädchen in die Zwangsheirat verkauft werden, um das wirtschaftliche Überleben der Familie zu sichern (Dawn 27.10.2021). Es existieren Berichte über die Zwangsverheiratung von Mädchen mit Talibankämpfern nach der Machtübernahme (AA 21.10.2021; vergleiche BBC 29.10.2021), und nach Angaben von UNICEF sind Mädchen zunehmend von Zwangsheirat bedroht (UNICEF 12.11.2021).
Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Heim und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen (Ventevogel et al. 2013).
Kinder litten bis zur Machtübernahme der Taliban besonders unter dem bewaffneten Konflikt und wurden Opfer von Zwangsrekrutierung, vor allem von Seiten der Taliban (AA 21.10.2021). In den vergangenen fünf Jahren haben bewaffnete Kräfte und Gruppen in Afghanistan Berichten zufolge Tausende von Kindern sowohl für Kampf- als auch für Unterstützungsaufgaben rekrutiert, auch für sexuelle Zwecke (HRW 07.06.2021). Während des gesamten Jahres 2020 rekrutierten die Taliban, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Zwischen dem 01.01. und 31.12.2020 verifizierte UNAMA die Rekrutierung und den Einsatz von 196 Jungen, wobei die meisten Fälle in den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes auftraten. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Rekrutierung und Einsatz von Kindern in Afghanistan oft nicht gemeldet werden (UNAMA 2.2021a).
In der ersten Hälfte des Jahres 2021 machten Kinder 32% aller zivilen Opfer aus, darunter die höchste Zahl von Mädchen, die jemals von UNAMA erfasst wurde. Unter den zivilen Opfern des Angriffs auf den Flughafen von Kabul am 26.08.2021 waren Berichten zufolge auch Kinder (WL 01.09.2021).
Weiterhin fortbestehende Probleme sind sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und Kinderarbeit. Es ist noch unklar, inwieweit die Taliban die dahin gehende bisher vorhandene Gesetzgebung und Strafverfolgung übernehmen (AA 21.10.2021).
Eine Prognose der IPC vom Oktober 2021 ging davon aus, dass bis Ende des Jahres 2021 bis zu 3,2 Mio. Kinder unter fünf Jahren an akuter Unterernährung leiden würden. Auch das WFP (World Food Programm) und die FAO (Food and Agriculture Organization) warnten, dass 1 Mio. Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohten, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhielten (IPC 10.2021; vergleiche WFP/FAO 25.10.2021).
[...]
Schulbildung in Afghanistan
Letzte Änderung: 27.01.2022
Am 18.09.2021 hat auf Weisung der Regierung der Schulunterricht für Jungen ab der siebten Klasse wieder begonnen. Zur Wiederaufnahme des Unterrichts für Mädchen äußerten sich die Taliban bisher gar nicht (AA 21.10.2021; vergleiche TG 17.09.2021) bis hinhaltend - hierfür müssten erst die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden (AA 21.10.2021; vergleiche BBC 18.09.2021). In einigen Provinzen sind Mädchenschulen dennoch weiterhin oder wieder geöffnet. Der Zuspruch ist aufgrund von Sicherheitsbedenken oftmals niedrig. Zuvor hatten die Taliban zugesichert, dass auch Mädchen und Frauen unter Einhaltung strikter Geschlechtertrennung Bildungsmöglichkeiten erhalten würden. Faktisch findet - aus einer Reihe von Gründen (ausbleibende Lohnzahlungen, Unsicherheit und Flucht der Lehrer etc.) auch der Schulunterricht für Jungen häufig nicht statt (AA 21.10.2021; vergleiche AI 13.10.2021). Die schwierige wirtschaftliche Lage hat viele Familien dazu gezwungen, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen und sie zur Arbeit zu schicken. Millionen von Afghanen wurden während und nach der Übernahme des Landes durch die Taliban vertrieben, und viele vertriebene Kinder gehen nicht zur Schule (AI 13.10.2021). Aktuell (Stand November 2021) ist es Mädchen nur in einigen Provinzen wie Herat, Balkh (Mazar-e Sharif), Kunduz, Ghazni und Sar-e-Pul möglich, die Sekundarstufe oder die Oberstufe zu besuchen. In den anderen Provinzen können Mädchen nur in der Primarstufe zur Schule gehen. Alle Mädchen, die eine Schule besuchen, müssen in von den Jungen getrennten Klassen von weiblichen Lehrern unterrichtet werden und den Hijab tragen (RA KBL 11.11.2021; vergleiche AI 13.10.2021, REU 12.10.2021).
Was die Universitäten anbelangt, so ist der Unterricht an den privaten Universitäten derzeit sowohl für Männer als auch für Frauen geöffnet, an den öffentlichen Universitäten jedoch noch nicht. Daher können vorerst nur Frauen, die an privaten Universitäten eingeschrieben sind, an deren Unterricht teilnehmen. Die Bedingungen für die Teilnahme der Mädchen am Unterricht sind das Tragen des Hijab, und der Unterricht muss durch weibliche oder ältere männliche Lehrkräfte in von Männern getrennten Klassen oder, wenn dies nicht möglich ist, in denselben Klassen mit einer Trennung zwischen weiblichen und männlichen Studenten stattfinden (RA KBL 11.11.2021; vergleiche REU 12.10.2021).
[...]
Sexuelle Orientierung und Genderidentität
Letzte Änderung: 27.01.2022
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 war die LGBTI-Gemeinschaft in Afghanistan erheblicher Gewalt von Seiten des Staates und der Gesellschaft insgesamt ausgesetzt (USCIRF 3.2021; vergleiche AA 21.10.2021). Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft hatten keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und konnten wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren. LGBTI-Personen berichteten, dass sie mit Verhaftungen durch Sicherheitskräfte und Diskriminierung sowie Übergriffen und Vergewaltigungen in der Gesellschaft im Allgemeinen konfrontiert waren (USDOS 30.3.2021).
Unter der Scharia ist bereits die Annäherung des äußeren Erscheinungsbilds, etwa durch Kleidung, an das andere Geschlecht verboten (AA 16.07.2021). Es gibt nur wenige spezifische Informationen über Transgender oder Intersex-Personen in Afghanistan (DFAT 27.06.2019; vergleiche SFH 30.04.2020).
Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme sind in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema (EASO 12.2017; vergleiche Bamik 7.2018), und dieses Thema wird geheim gehalten. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen, und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet (Bamik 7.2018). Es wird auch über „Ehrenmorde“ an tatsächlichen oder vermeintlichen LGBTQI-Personen durch Familienmitglieder berichtet. Oftmals reicht das Gerücht oder die Beschuldigung, um Betroffene in Gefahr zu bringen (SFH 30.04.2020; vergleiche AI 05.02.2018).
Es existieren zahlreiche traditionelle Praktiken, die zwar nicht offiziell anerkannt sind, jedoch teilweise im Stillen geduldet werden. Beispiele dafür sind die Bacha Push und Bacha Bazi. Bacha Push sind junge Mädchen, die sich als Jungen ausgeben, um eine bestimmte Bildung genießen zu können, alleine außer Haus zu gehen oder Geld für die sohn- oder vaterlose Familie zu verdienen (AA 16.07.2021).
Bei den Bacha Push handelt es sich in der Regel nicht um eine transsexuelle, sondern eine indirekt gesellschaftlich bedingte Lebensweise. Bei Entdeckung droht Verfolgung durch konservative oder religiöse Kreise, da ein Mädchen bestimmte Geschlechtergrenzen überschritten und sich in Männerkreisen bewegt hat (AA 16.07.2021; vergleiche Corboz 17.06.2019, NG 02.03.2018). Meist erfolgt das Ausgeben der Mädchen als Buben mit der Unterstützung der Familie, beispielsweise weil es in der Familie keinen Sohn gibt (Corbez 17.06.2019). Mit Erreichen der Pubertät kehren die meisten Bacha Push zurück zu ihrem Leben als Mädchen (NG 02.03.2018).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Nach Angaben von Amnesty International sind LGBTI-Personen und -Gruppen in Afghanistan unter der Taliban-Herrschaft einem hohen Risiko ausgesetzt, Schaden zu nehmen (AI 9.2021). Medienberichten zufolge sind viele von ihnen untergetaucht (AI 9.2021; vergleiche REU 19.08.2021, ABC News 02.09.2021). Amnesty International und andere NGOs sind besorgt, dass nach der strengen Auslegung der Scharia durch die Taliban jedem, der gleichgeschlechtlicher Beziehungen beschuldigt wird, die Todesstrafe oder außergerichtliche Hinrichtungen drohen (AI 9.2021). In den von den Taliban kontrollierten Gebieten existierte bereits vor ihrer Machtübernahme ein informelles Justizsystem auf Grundlage einer strikten Auslegung islamischen Rechts, nach dem Strafen bis hin zur Auspeitschung oder Steinigung vorgesehen waren. Bis auf Weiteres ist von einer Fortführung dieser Praxis auszugehen (AA 21.10.2021). Ein Sprecher der Taliban sagte im Oktober 2021, dass Menschenrechte im Rahmen des islamischen Rechts geachtet werden, was jedoch nicht für LGBTQI-Rechte gilt, da diese gegen Regeln der Scharia wären (REU 29.10.2021). Es gibt Berichte, wonach Namen von Personen zirkulieren, die verdächtigt werden, zur Gruppe der LGBTQI zu gehören (France 24 02.11.2021).
[...]
Personen mit physischen und psychischen Beeinträchtigungen
Letzte Änderung: 28.01.2022
In der afghanischen Gesellschaft gelten Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen als vulnerabel. Sie sind Teil der Familie und werden gepflegt - genau wie Kranke und ältere Menschen. Körperlich und geistig behinderte Menschen und Missbrauchsopfer brauchen daher eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung (STDOK 4.2018; vergleiche AF 02.11.2016, TN 14.05.2019, BAMF 2016), um Stigmatisierung und Ausgrenzung aus der Gesellschaft (AF 02.11.2016) sowie Demütigung, Diskriminierung und dem Entzug gleichberechtigter sozialer Beziehungen zu begegnen (AIHRC 2019). Denn trotz ihrer Anzahl gehören Menschen mit Beeinträchtigungen und Kinder mit besonderen Bedürfnissen weiterhin zu den am stärksten benachteiligten und stigmatisierten Gruppen in Afghanistan, und Diskriminierung ist die bedeutendste und schädlichste Barriere in Afghanistan für Menschen mit Beeinträchtigungen (TN 14.05.2019).
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bedenken über die Sicherheit von Menschen mit Beeinträchtigungen und auch Mitarbeiter von Organisationen, die sich mit diesen Menschen beschäftigen, laut (BuI 06.09.2021; vergleiche TNA 02.09.2021). Eine Mitarbeiterin der Afghanistan Human Rights Commission (AHRC), die nach der Machtübernahme ausAfghanistan floh, erinnert an den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen durch die Taliban unter deren erster Herrschaft und danach (BuI 06.09.2021). Auch fürchten Mitarbeiter von NGOs in diesem Bereich, dass ihnen aufgrund des Erhalts von Zuschüssen und Geldern durch die USA Spionage unterstellt und sie zu Zielen für die Taliban werden könnten (TNA 02.09.2021).
Physische Beeinträchtigungen
Laut Human Rights Watch hat Afghanistan nach vier Jahrzehnten Krieg einen der weltweit höchsten Prozentsätze an Menschen mit Beeinträchtigungen (UNOCHA 19.12.2020; vergleiche HRW 28.04.2020), wobei mehr als 1 Mio. afghanische Bürgerinnen und Bürger Amputationen, Seh- oder Hörprobleme aufweisen (HRW 28.04.2020; vergleiche EASO 8.2020b). Die häufigsten Ursachen für Beeinträchtigungen sind konfliktbedingte Verletzungen (u.a. durch Landminen und explosive Kampfmittelrückstände), Traumata und psychische Belastungen, sowie Zerebralparese und Polio. Sehbeeinträchtigungen sind häufig. Schlechter Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung, insbesondere im ländlichen Afghanistan, ist eine der Hauptursachen für vermeidbare Beeinträchtigungen (HRW 28.04.2020). Auch leiden viele Menschen innerhalb der afghanischen Bevölkerung unter verschiedenen psychischen Erkrankungen als Folge des andauernden Konflikts, Naturkatastrophen, endemischer Armut und der COVID-19-Pandemie (UNOCHA 19.12.2020).
Menschen mit Beeinträchtigungen sehen sich mit Barrieren konfrontiert, wie z.B. dem eingeschränkten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten oder Unzugänglichkeit von Regierungsgebäuden, dem Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten und der sozialen Ausgrenzung aufgrund von Stigmatisierung (USDOS 30.03.2021).
Eine 2019 von der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) durchgeführte Studie zu den menschenrechtlichen Herausforderungen für Menschen mit Beeinträchtigungen ergab, dass 72% der befragten Menschen mit einer Behinderung arbeitslos waren, nur 53% soziale Unterstützung erhielten, 80% keine formale Ausbildung hatten und die Hälfte mit physischen Barrieren beim Zugang zu Gesundheitsdiensten konfrontiert war (AIHRC 2019; vergleiche UNOCHA 19.12.2020). Zwar benötigen nicht alle Menschen mit einer schweren Behinderung humanitäre Hilfe, doch wenn dies der Fall ist, sind die Menschen dieser Kategorie mit zusätzlichen Barrieren beim Zugang zu Unterstützung konfrontiert, insbesondere Frauen und Mädchen (UNOCHA 19.12.2020; vergleiche HRW 28.04.2020). Menschen mit Beeinträchtigungen sind in der Gesellschaft mit höheren Risiken und Herausforderungen konfrontiert, die in Konflikt- und Notsituationen, in denen die Ressourcen begrenzt sind und einem starken Wettbewerb unterliegen, noch verschärft werden (UNOCHA 19.12.2020). In Bezug auf das Recht auf Bildung gibt es einen unzureichenden Zugang zu Chancengleichheit, einschließlich eines Mangels an Bildungseinrichtungen und Ressourcen, die für die Art der Behinderung geeignet sind. Die größten Herausforderungen in Bezug auf die Gesundheit und den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen sind große Entfernungen zwischen dem Wohnort und den Gesundheitszentren, sowie ein unzureichender Transport und das Fehlen von behindertengerechten Maßnahmen innerhalb von Gesundheitszentren (z.B. Rollstuhlrampen) (AIHRC 2019; vergleiche EASO 8.2020b, TN 14.05.2019). Laut einer Umfrage der Asia Foundation aus dem Jahr 2019 erhielten etwa 40,4% der Erwachsenen mit schweren Beeinträchtigungen keine stationäre Gesundheitsversorgung, wenn sie diese benötigten (AF 13.05.2020; vergleiche EASO 8.2020b). Mangelnde Sicherheit blieb [vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021, Anmerkung] ein Problem für Behindertenprogramme. Die Unsicherheit in abgelegenen Gebieten, in denen eine unverhältnismäßig große Anzahl von Menschen mit Beeinträchtigungen lebt, verhindert in einigen Fällen die Bereitstellung von Hilfe. Die meisten Gebäude bleiben für Menschen mit Beeinträchtigungen unzugänglich, was viele daran hindert, Bildung, Gesundheitsversorgung und andere Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen (USDOS 30.03.2021).
Menschen mit schweren Beeinträchtigungen sind im COVID-19-Kontext besonders gefährdet, da Abriegelungsmaßnahmen und Bewegungseinschränkungen ihre eingeschränkte Mobilität, Transportmöglichkeiten sowie den Zugang zu Unterstützungsdiensten und einkommensschaffenden Möglichkeiten weiter einschränken (UNOCHA 19.12.2020).
Es gibt zwar keine nationale NGO, die Menschen mit Beeinträchtigungen in Afghanistan vertritt, aber eine Reihe von afghanischen NGOs boten zumindest vor der Machtübernahme durch die Taliban Programme zur Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen an, die von rehabilitativen Diensten über Berufsausbildung bis hin zu Lobbyarbeit reichten. Dazu gehörten die Accessibility Organization for Afghan Disabled, die Afghan Landmine Survivors Organization, die Development and Ability Organization, die Afghanistan Association of the Blind und die Afghan National Association of the Deaf. Zu den wichtigsten internationalen Organisationen, die Afghanen mit Beeinträchtigungen unterstützen, gehören das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Afghanische Rothalbmondgesellschaft, das Schwedische Komitee für Afghanistan, Humanity and Inclusion (das als Handicap International in Afghanistan tätig ist) und Serve Afghanistan (HRW 28.04.2020).
[...]
Psychische Beeinträchtigungen
Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - fand vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nicht in ausreichendem Maße statt. Es gab keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen (AA 16.07.2021). Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen, bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung, sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem (BDA 18.12.2018). Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert (AA 16.07.2021; vergleiche BDA 18.12.2018). Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik (STDOK 4.2018).
[...]
Patienten werden zu stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen, oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (IOM 24.04.2019).
Das Zusammenwirken von Krieg, Armut, häuslicher Gewalt und sozialer Marginalisierung führt dazu, dass Frauen überproportional von psychischen Problemen und psychosozialen Beeinträchtigungen betroffen sind (HRW 28.04.2020). Dort, wo Dienste verfügbar sind, führen kulturelle Barrieren, Stigmatisierung und die begrenzte Anzahl weiblicher Gesundheitsdienste häufig dazu, dass Frauen vom Zugang zu geeigneten Diensten ausgeschlossen sind (UNOCHA 19.12.2020).
[...]
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.07.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban gab es Berichte über härtere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen (HRW 17.08.2021).
Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht „man kenne seine Nachbarn nicht mehr“ (AAN 19.03.2019).
Die Absorptionsfähigkeit der Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht. Dies schlägt sich sowohl im Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch im erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder. Die Auswirkungen des anhaltenden Konflikts und der Covid-19-Pandemie haben die Lage weiter verschärft (AA 16.07.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es Berichte, wonach die afghanische Bevölkerung daran gehindert wurde, ins Ausland zu fliehen und dort Asyl zu suchen, weil die Taliban den Zugang zum Flughafen von Kabul verhinderten oder die Landgrenzen geschlossen wurden. Einige Männer und Frauen wurden Berichten zufolge gefoltert oder misshandelt, als sie versuchten, das Land zu verlassen (AI 9.2021).
Sowohl Iran wie auch Pakistan haben ihre Grenzen für Personen ohne gültige Reisedokumente geschlossen, die aus Afghanistan einreisen wollen (DIS 12.2021; vergleiche France 24), wobei nach Angaben von UNHCR Afghanen weiterhin illegal über inoffizielle Grenzübergänge in den Iran gelangen (UNHCR 10.11.2021). Pakistan hat im Jahr 2020 begonnen, seine Grenze zu Afghanistan mit 2.600 km an Zäunen zu verstärken (DIS 12.2021). Der Bau des Zauns wurde mit Ende 2021 weiter fortgesetzt, trotz Versuchen seitens der Taliban, den Bau zu behindern (Dawn 07.01.2022; vergleiche VOA 03.01.2022).
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban riegelte die usbekische Regierung die Grenze zu Afghanistan ab und erklärte, dass keine afghanischen Flüchtlinge ins Land gelassen würden. Der usbekische Flughafen wurde zwar als Zwischenstopp zum Auftanken für Flüchtlingsflüge nach Europa und darüber hinaus zur Verfügung gestellt, doch das Einreiseverbot für Flüchtlinge blieb bestehen, auch nachdem der Grenzübergang Termez wieder für den zugelassenen gewerblichen Verkehr geöffnet wurde (VOA 23.12.2021). Auch die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan bleibt geschlossen (DIS 12.2021), und es gibt Berichte über zwangsweise Rückführungen von Afghanen aus Tadschikistan (UNHCR 19.11.2021; vergleiche DIS 12.2021).
Seit dem 26.12.2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, mehr als 72 Kilometer (45 Meilen) ohne einen männlichen Verwandten zu reisen. Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 06.01.2022; vergleiche DW 26.12.2021).
[Anmerkung: Weitere Informationen zum nationalen und internationalen Flugverkehr sowie zum Status der Grenzen finden sich im Kapitel Erreichbarkeit. Aufgrund der aktuellen Situation - der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 - kann es zu plötzlichen Änderungen im Hinblick auf die Öffnung und Schließung von Grenzen und auf den Flugverkehr kommen. Mit Stand Dezember 2021 ist noch nicht abschließend klar, ob bzw. welche Maßnahmen die Talibanregierung erlassen wird, und welchen Einfluss diese auf die Bewegungsfreiheit der Menschen haben werden.]
[...]
IDPs und Flüchtlinge
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten (AA 16.07.2021).
Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führte vor der Machtübernahme durch die Taliban zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlte weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft (USDOS 30.03.2021).
IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen (USDOS 30.03.2021). Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrern war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Überweisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (Halle 12.2020).
Die vier Mio. Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch, und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren (AI 30.03.2021). Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrer bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging (Halle 12.2020).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
UNOCHA bestätigte im Jahr 2020 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und Naturkatastrophen (UNOCHA 27.12.2020; vergleiche NRC 11.2020, AI 30.03.2021) und, bis 21.11.2021 wurden von UNOCHA 667.938 neue Binnenvertriebene im laufenden Jahr 2021 verifiziert (UNOCHA 26.11.2021). Damit stieg die Zahl der Binnenvertriebenen bis Oktober 2021 auf insgesamt mehr als 3,5 Mio. Menschen (AA 21.10.2021), die genaue Zahl lässt sich jedoch nicht bestimmen (STDOK 10.2020).
Die Unsicherheit ist nicht der einzige Faktor, der die Menschen zum Verlassen ihrer Häuser zwingt. Afghanistan erlebt derzeit die zweite schwere Dürre innerhalb von vier Jahren, und die Nahrungsmittelproduktion ist stark betroffen (UNHCR 15.10.2021; vergleiche NH 30.08.2021).
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 01.09.2021) oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen (DZ 01.09.2021). Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen (IOM 19.08.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Taliban verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 01.09.2021).
Nach dem Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes gibt es erste Anzeichen für eine Rückkehr Binnenvertriebener in ihre Heimatprovinzen (AA 21.10.2021; vergleiche UNOCHA 14.10.2021). Die Taliban haben internationale Organisationen der humanitären Hilfe um Unterstützung bei der Rückführung Binnenvertriebener gebeten, die selbst in der Regel nicht über ausreichende Mittel zur Rückkehr verfügen (AA 21.10.2021).
Aufgrund des nahenden Winters zieht es viele Binnenflüchtlinge nach Kabul, wo sie auf Hilfe hoffen (UNHCR 15.10.2021). Das Ministerium für Flüchtlingsangelegenheiten der Übergangsregierung der Taliban hat zusammen mit einer Reihe von Hilfsorganisationen mit der Umsiedlung von Tausenden von Binnenvertriebenen im Oktober begonnen, die zumeist aus Behelfsunterkünften in Kabul in ihre Heimatprovinzen umgesiedelt wurden (römisch XI 05.10.2021; vergleiche KP 03.10.2021).
[...]
Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan
Iran
Letzte Änderung: 17.01.2022
Anmerkung: Das Unterkapitel „Iran“ des Kapitels „Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan“ entspricht inhaltlich dem Kapitel „Flüchtlinge“ der Version 4 der Länderinformation zu Iran (Veröffentlichkeitsdatum 22.12.2021).
Iran hat die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet und übernimmt seit mehr als drei Jahrzehnten Verantwortung für afghanische und irakische Flüchtlinge im Land (AA 05.02.2021; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Die Behörden arbeiten mit dem Büro von UNHCR zusammen, um afghanischen und irakischen Flüchtlingen Hilfe bereitzustellen (USDOS 30.03.2021; vergleiche UNHCR 30.09.2020), vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (UNHCR 2020). Die iranische Regierung ist über das Amt für Ausländer- und Einwanderungsangelegenheiten (BAFIA) für die Registrierung von Asylwerbern und Flüchtlingen sowie für die Feststellung des Flüchtlingsstatus in Iran gemäß den iranischen Rechtsvorschriften zuständig. UNHCR in Iran nimmt keine Asylanträge an und entscheidet nicht über Asylanträge (UNHCR 26.09.2021).
Von den Flüchtlingen stellen die afghanischen weiterhin die größte Gruppe, gefolgt von irakischen. Insgesamt ist Iran eines der größten Aufnahmeländer für Flüchtlinge weltweit (GIZ 12.2020c). In Iran halten sich ca. 3-4,5 Mio. Afghanen auf, wobei ca. 300.000 seit Machtergreifung der Taliban Anfang August 2021 nach Iran geflohen sind (ÖB Teheran 11.2021). Einem eingeschränkten Kreis von 951.000 Amayesh-Karteninhabern, die Zugang zu Gesundheitsdiensten und zum Bildungssystem haben, stehen 1,5-2 Mio. nicht registrierte Flüchtlinge und 450.000 Afghanen mit Pass und Visum gegenüber. Die Regierung hatte im Jahr 2017 mit einer schrittweisen Ausweitung der Registrierung begonnen, die mittlerweile abgeschlossen wurde. 800.000 nicht dokumentierte Afghanen wurden erfasst, unklar ist aber noch, was für einen Status sie erhalten werden. Angesichts des anhaltenden Drucks durch die US-Wirtschaftssanktionen wird es für Iran immer schwieriger, das Engagement für die Flüchtlinge innenpolitisch zu rechtfertigen. Bislang wirkt sich dies jedoch nicht auf die Leistungen für die Flüchtlinge aus. In enger Zusammenarbeit verfolgt die Flüchtlingsbehörde BAFIA die Projekte, die internationale und lokale NGOs umsetzen, um die Verhältnisse der Flüchtlinge im Land zu verbessern (AA 05.02.2021).
Internationale Organisationen wie UNHCR und NGOs bestätigen, dass Iran afghanische Flüchtlinge einerseits in den vergangenen Jahren sehr großzügig aufgenommen und behandelt, andererseits aber sehr wenig internationale Unterstützung erhalten hat (ÖB Teheran 11.2021).
Mit der Durchführung des Amayesh-Programms für Flüchtlinge in Iran wurde in der Zeit von 2001 bis 2003 begonnen. Im Jahr 2001 begann man mit den Vorregistrierungen, und im Jahr 2003 wurde die erste Amayesh-Runde durchgeführt. Die Personen, die durch das Programm registriert worden sind, bekamen sogenannte Amayesh-Karten ausgestellt, die u.a. das Recht auf medizinische Versorgung und Ausbildung einschließen. Die Amayesh-Karten haben eine begrenzte Gültigkeit, und um ihren legalen Status in Iran nicht zu verlieren, müssen sich Amayesh-registrierte Personen bei jeder Registrierungsrunde, die in Iran durchgeführt wird, erneut registrieren. Der Prozess zur erneuten Registrierung ist immer noch mit Schwierigkeiten und unterschiedlichen Ausgaben verbunden, die in den unterschiedlichen Provinzen variieren können. Normalerweise geschieht die Erneuerung jedes Jahr, die Kosten liegen bei 200-300 USD für eine Familie mit fünf Personen (hierin sind die Kosten für die Arbeitserlaubnis für eine Person sowie die Provinzsteuer inkludiert). Die iranischen Behörden geben im Internet bekannt, wenn es Zeit für eine neue Amayesh-Runde ist. Sie informieren auch über andere Regeln online und erwarten, dass sich die Betroffenen auf dem Laufenden halten, was nicht immer der Fall ist. Hilfsorganisationen richten sich mit Extra-Information an die am meisten schutzbedürftigen Gruppen, damit sie nicht verpassen, sich erneut für eine neue Amayesh-Karte oder den Schulbesuch der Kinder zu registrieren (Lifos 10.04.2018).
Die Afghanen, die vor 2001 nach Iran gekommen sind, werden - vorausgesetzt, dass sie sich bei sämtlichen Amayesh-Registrierungen registriert haben - von den iranischen Behörden als Flüchtlinge betrachtet. Das Amayesh-System ist aber kein offenes System, was bedeutet, dass neu eingereiste Afghanen kein Asyl in Iran beantragen können. Seit 2001 werden im Prinzip keine Neuregistrierungen mehr vorgenommen. Zu den Ausnahmen gehören wenige, besonders schutzbedürftige Fälle. Kinder von Amayesh-registrierten Eltern werden registriert (Lifos 10.04.2018). Die Behörden erlauben aber auch unregistrierten afghanischen Kindern den Schulbesuch (HRW 14.05.2019; vergleiche ÖB Teheran 11.2021, AA 05.02.2021). Wenn eine Person ihren Amayesh-Status infolge einer verpassten Registrierung verliert, gibt es keine Möglichkeit zur erneuten Registrierung. Amayesh-Registrierte verlieren ihren Status, wenn sie Iran verlassen, weil der Amayesh-Status keine Ausreise erlaubt (Lifos 10.04.2018).
Amayesh-registrierte Afghanen haben das Recht, eineArbeitsgenehmigung zu beantragen (Lifos 10.04.2018; vergleiche ÖB Teheran 11.2021). Männer im Alter von 18 bis 65 sind dazu verpflichtet, dieses in Zusammenhang mit der Amayesh-Registrierung zu tun. Amayesh-registrierte Frauen können keine offizielle Arbeitserlaubnis im Iran beantragen, aber in der Praxis arbeiten auch einige afghanische Frauen - oft zu Hause. Der Arbeitsmarkt für Afghanen im Iran ist reguliert, und Afghanen haben das Recht, in 87 verschiedenen Berufen zu arbeiten. Ein Problem für Amayesh-registrierte, ausgebildete Personen ist, dass die Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt bedeuten können, dass sie nicht in dem Bereich arbeiten können, für den sie ausgebildet sind. Was den Zugang der afghanischen Bevölkerung zum Arbeitsmarkt sowie die Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen angeht, haben die iranischen Behörden in den letzten Jahren frühere Restriktionen verringert. In einzelnen Fällen, wo eine Amayesh-registrierte Person eine gewisse Berufskompetenz besitzt, die nicht unter die 87 erlaubten Berufe fällt, kann eine Ausnahme gestattet werden (Lifos 10.04.2018). Die meisten Flüchtlinge gehen eher minderwertigen und schlecht bezahlten Arbeiten v.a. im informellen Sektor (Bau, Reinigung/Müllabfuhr oder Landwirtschaft) nach, die offiziell versicherungspflichtig sind (AA 05.02.2021).
Als Teil der Bestrebungen der iranischen Behörden, Kontrolle über die sich illegal im Land aufhaltenden Afghanen zu bekommen, wurde 2017 ein Programm zur Identifikation und Registrierung afghanischer Staatsbürger durchgeführt. Dieser sogenannte „headcount“ richtete sich zu Beginn nur auf Afghanen, wurde aber später auch auf irakische Staatsbürger im Land ausgeweitet. Bis Mitte September 2017 wurden durch dieses Programm ca. 800.000 ausländische Staatsbürger mit illegalem Aufenthalt im Land identifiziert. Hinsichtlich sich illegal im Land aufhaltender Afghanen wurde das Hauptaugenmerk in der ersten Runde auf drei besondere Kategorien gerichtet:
1. Unregistrierte Afghanen mit in die Schule gehenden Kindern;
2. Unregistrierte Afghanen, die mit Amayesh-registrierten Personen verheiratet sind;
3. Unregistrierte Afghanen, die mit iranischen Staatsbürgern verheiratet sind (Lifos 10.04.2018).
Personen aus diesen Kategorien, die eine dem Programm entsprechende Identifikation durchlaufen haben, haben einen Papierbeleg (headcountslip) erhalten, der sie bis auf Weiteres davor schützt, aus Iran deportiert zu werden. Die Möglichkeit zur Teilnahme an dem Programm wurde auf früher Amayesh-registrierte Personen oder Visumsinhaber, die ihren Status aus irgendeinem Grund verloren haben, ausgeweitet. Der Fokus der iranischen Behörden liegt darauf, den Aufenthalt der Afghanen, die sich illegal im Land befinden, zu erfassen und zu regulieren, und nicht auf Deportationen (Lifos 10.04.2018). Im November 2018 hat die Regierung erneut eine Registrierungsinitiative für in Iran legal sowie illegal arbeitende Ausländer eingeleitet. In diesem Kontext wurden zum Schuljahr 2019/2020 erneut nicht-registrierte Flüchtlingskinder in das Schulsystem aufgenommen. Derzeit werden über 130.000 sogenannte „blue card holders“ gezählt, die infolge eines Dekrets des Obersten Revolutionsführers aus dem Jahr 2015 neu eingeschrieben werden konnten, bei insgesamt 480.000 Kindern aus Flüchtlingsfamilien (auch Iraker). Neben dem Abschiebeschutz für die ganze Familie geht damit der Zugang zu einer besseren Grundversorgung mit Nahrungsmitteln sowie Beratung und Gesundheitsfürsorge einher (AA 05.02.2021). Auch die Schulgebühren für Flüchtlingskinder wurden 2016 aufgehoben. Dennoch finden nicht alle Kinder einen Schulplatz, auch weil erschwingliche Transportmöglichkeiten zur nächsten Schule fehlen (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche ACCORD 5.2020), die Kinder illegal arbeiten geschickt werden, die allgemeine Einschreibegebühr von umgerechnet 60 USD zu hoch ist, oder Eltern iranischer Kinder gegen die Aufnahme von afghanischen Kindern sind (ÖB Teheran 11.2021). Flüchtlingskinder lernen Seite an Seite mit ihren iranischen Klassenkameraden nach dem iranischen Lehrplan. Allein im Jahr 2019 schuf Iran in seinen Schulen Platz für etwa 60.000 zusätzliche afghanische Schüler. Es gibt einige von der afghanischen Gemeinschaft betriebene Schulen, in denen in Dari oder anderen in Afghanistan gesprochenen Sprachen unterrichtet wird, aber diese Schulen wurden erst vor Kurzem offiziell anerkannt, nachdem sie zuvor regelmäßig von den Behörden geschlossen wurden (ACCORD 5.2020). Auch der Zugang zu höherer Bildung ist möglich, dafür muss jedoch der Flüchtlingsstatus aufgegeben und ein Studentenvisum beantragt werden. Nach dem Studium besteht daher die Gefahr, keine Aufenthaltserlaubnis mehr zu erlangen. Infolgedessen beantragen viele stattdessen Asyl in Europa, um dort ihre Ausbildung fortzusetzen, obwohl sie dies lieber in Iran gemacht hätten (ÖB Teheran 11.2021).
Die Krankenversicherungsleistungen für registrierte Flüchtlinge sollen erweitert und möglichst alle Flüchtlinge in medizinische Betreuungsmaßnahmen aufgenommen werden. Dazu bedient sich die Flüchtlingsbehörde BAFIA zunehmend eines Überweisungssystems von besonders schwierigen Fällen an internationale NGOs oder den UNHCR. Dieser ist mit Gesundheitsstationen in 18 Provinzen tätig und hat mit einem zusätzlichen Versicherungsangebot innerhalb des bestehenden Salamat-Systems (UPHI) [Krankenversicherung] im 6. Zyklus in 100.000 Härtefällen Hilfe geleistet (AA 05.02.2021). Afghanen haben auch ohne Aufenthaltstitel Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Medizinische Grundversorgung ist für alle Menschen in Iran gratis zugänglich, nicht registrierte Flüchtlinge haben jedoch oft Angst, abgeschoben zu werden, und nehmen diese nicht in Anspruch. Seit 2016 können sich alle registrierten Flüchtlinge in der staatlichen Krankenversicherung registrieren, müssen allerdings eine Gebühr zahlen, die sich viele nicht leisten können. UNHCR zahlt diese Gebühr für die vulnerabelsten Flüchtlinge (ÖB Teheran 11.2021). 120.000 Flüchtlinge wurden von UNHCR beim Zugang zur iranischen Krankenversicherung unterstützt. Die Krankenversicherung zielt darauf ab, den am stärksten gefährdeten afghanischen Flüchtlingen den nötigen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. UNHCR übernahm die Kosten für die Versicherungsprämien der schutzbedürftigen Flüchtlinge, die 2020 in der iranischenAllgemeinen Krankenversicherung (UPHI) eingeschrieben waren. Angesichts der COVID-19-Pandemie und des anhaltenden wirtschaftlichen Abschwungs im Iran hat UNHCR die Zahl der von dem Programm erfassten Flüchtlinge vorübergehend erhöht. Trotz der Herausforderungen gewährt Iran den Flüchtlingen weiterhin großzügig Zugang zu Bildung und Gesundheitsdiensten. Iran ist eines von nur einer Handvoll Ländern auf der Welt, die Flüchtlingen die Möglichkeit bietet, sich wie iranische Staatsangehörige in eine nationale Krankenversicherung für wesentliche sekundäre und tertiäre öffentliche Gesundheitsdienste einzuschreiben. Das nationale Versicherungssystem ermöglicht eine kostenlose COVID-19-Behandlung und Krankenhausaufenthalte. Es subventioniert auch die Kosten für Operationen, Dialyse, Radiologie, Labortests, ambulante Versorgung und mehr. Viele Flüchtlinge können sich die Prämienkosten jedoch nicht leisten. Die Auswirkungen der Pandemie auf den Lebensunterhalt sind besonders schwerwiegend für Flüchtlinge, die oft auf prekäre und instabile Arbeitsplätze angewiesen sind. Viele können ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken, geschweige denn die Kosten für die Krankenversicherung, die schätzungsweise rund 40% der monatlichen Ausgaben einer durchschnittlichen Flüchtlingsfamilie ausmachen (UNHCR 06.04.2021).
Kulturell, sprachlich, religiös und in den Grenzbereichen auch ethnisch bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Iranern und Afghanen. Iranische Behörden fürchten jedoch einen noch größeren Zustrom von Afghanen in den kommenden Monaten und verweisen auf die bereits große afghanische Gemeinde im Iran, die schlechte Wirtschaftslage angesichts der US-Sanktionen und die Auswirkungen der Covid-Pandemie. Es werden Spannungen zwischen residenter Bevölkerung und den Neuankömmlingen befürchtet. Bereits bisher werden Afghanen teilweise diskriminiert, und es kommt zu Protesten gegen Afghanen, z.B. gegen die Aufnahme afghanischer Kinder an Schulen (ÖB Teheran 11.2021). Afghanen sind im Großen und Ganzen - auch wenn sie zum Teil bereits in der zweiten Generation in Iran leben, wenig integriert. 15% der Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa machen, haben mindestens sechs Monate im Iran verbracht (AA 05.02.2021). Neu angekommene Afghanen haben meist keine Probleme, in Iran eine Wohnung zu finden. Dies liegt daran, dass die afghanische Gesellschaft eine starke Netzwerkgesellschaft mit festen Beziehungen innerhalb der Netzwerke ist. Diejenigen, die nach Iran kommen, haben oft bereits Familienmitglieder im Land, bei denen sie wohnen können. Afghanen im Iran unterstützen sich gegenseitig, und dieses kann auch für Personen gelten, die nicht miteinander verwandt sind. Viele Afghanen mieten große Wohnungen, und es können viele Personen in einem Haushalt wohnen. Afghanen im Iran haben ungeachtet dessen, ob sie Amayesh-registriert sind oder nicht, nicht das Recht dazu, ein Haus oder eine Wohnung zu besitzen, sondern können diese nur mieten. Die Wohnungskosten stellen einen der größten Ausgabenposten für Afghanen in Iran dar. Bei der Anmietung eines Hauses wird eine Kaution an den Besitzer bezahlt, und je größer die Kaution, die hinterlegt werden kann, desto billiger werden die Mietkosten (Lifos 10.04.2018).
Hochzeiten zwischen Iranern und afghanischen Flüchtlingen sind, obwohl keine Seltenheit, schwierig, da die iranischen Behörden dafür Dokumente der Botschaft oder der afghanischen Behörden benötigen. Staatenlosen wird von einigen Provinzverwaltungen Zugang zur öffentlichen Grundversorgung und das Ausstellen von Reisedokumenten und sonstigen Papieren verwehrt; eine einheitliche Praxis fehlt (ÖB Teheran 11.2021). Mittlerweile ist es möglich, dass iranische Frauen ihre Staatsbürgerschaft an Kinder mit einem ausländischen Vater weitergeben können [vgl. hierzu Kapitel Frauen] (ÖB Teheran 11.2021; vergleiche USDOS 31.03.2021).
Die Revolutionsgarden sollen Tausende von in Iran lebenden afghanischen Migranten mithilfe von Zwangsmaßnahmen für den Kampf in Syrien rekrutiert haben. Human Rights Watch berichtete, dass sich unter den Rekrutierten auch Kinder im Alter von 14 Jahren befinden (FH 03.03.2021; vergleiche USDOS 30.03.2021).
Die freiwillige Rückkehr registrierter afghanischer Flüchtlinge lag 2019 mit 1.609 im vergleichbaren Rahmen wie im Vorjahr (Vergleichszeitraum 2018: 1.450). Nach Angaben des UNHCR erfolgen 40% dieser Ausreisen durch Studenten in der Absicht, mit einem entsprechenden Visum wieder nach Iran einzureisen (AA 05.02.2021). Seit Jahresbeginn 2020 sind laut UNHCR bislang (Stand Oktober 2020) mit 695.677 deutlich mehr nicht registrierte Afghanen aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt als im Vorjahr (2019 dagegen insgesamt nur 476.887), 259.084 der Rückkehrenden wurden abgeschoben. UNHCR führt dies auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage im Iran sowie die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zurück (AA 05.02.2021). UNHCR verzeichnete, dass 16.300 Afghanen, die „potenziell internationalen Schutz benötigen“, zwischen Jänner und September 2021 neu nach Iran eingereist sind. Mitte September 2021 brauchten Afghanen einen Pass und ein Visum, um in den Iran einzureisen, mit wenigen Ausnahmen aus medizinischen Gründen. Infolgedessen meldete UNHCR eine Zunahme der Bewegungen von Afghanen ohne Papiere, die auf dem Landweg irreguläre Grenzübertritte nach Iran vornehmen (AI 10.2021).
Im Mai 2020 griffen iranische Grenzposten zahlreiche Afghanen auf, darunter auch Minderjährige, die auf der Suche nach Arbeit die Grenze überschritten hatten. Die Personen wurden geschlagen und mit vorgehaltener Waffe in den iranisch-afghanischen Grenzfluss Hariroud gezwungen. Dabei ertranken mehrere Menschen. Die Behörden wiesen jede Verantwortung für den Vorfall zurück (AI 07.04.2021).
Seit Beginn der Corona Pandemie gab die Regierung immer wieder bekannt, dass die Behandlung für ausländische Covid-19 Patienten kostenlos erfolge. Mit Unterstützung des GAVI-COVAX-Mechanismus erhält Iran mittlerweile auch kostenlose Impfstoffe zum Impfen für die Afghanen im Land (ÖB Teheran 11.2021).
[...]
Pakistan
Letzte Änderung: 26.01.2022
[Anmerkung: Das Unterkapitel „Pakistan“ des Kapitels „Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan“ entspricht inhaltlich dem Kapitel „afghanische Flüchtlinge“ der Version 3 der Länderinformation zu Pakistan (noch nicht veröffentlicht)]
Rechtlicher Status
Pakistan ist eines der weltweit größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen und beherbergt seit rund vier Jahrzehnten Millionen afghanische Staatsbürger (AA 28.09.2021). Diese unterteilen sich nach ihrem rechtlichen Status in drei Kategorien (VB 06.05.2021):
Zum einen sind dies registrierte afghanische Flüchtlinge. UNHCR beziffert sie mit Stand 31.08.2021 auf 1.435.026 (UNHCR 31.08.2021). Sie sind sogenannte Proof of Residence (PoR) - Karteninhaber unter UNHCR-Mandat. Die Lage dieser registrierten Flüchtlinge ist aufgrund ihres legalen Aufenthaltsstatus in der Regel geprägt von höherer Rechtssicherheit und einem verbesserten Zugang zu Unterstützungsangeboten des UNHCR sowie zu bestimmten staatlichen Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit). Die zweite Kategorie umfasst rund 880.000 afghanische Staatsangehörige im Besitz der sogenannten „Afghan Citizen Card“ (ACC), die ebenfalls einen legalen Aufenthaltstitel bietet (AA 28.09.2021). Das allgemeine Gültigkeitsdatum der PoR-Karten wird regelmäßig von der Regierung für einen längeren Zeitraum verlängert. Die Inhaber der ACC haben keinen Flüchtlingsstatus. Die Gültigkeit dieser Karten wird typischerweise für kurze Zeiträume verlängert (USDOS 30.03.2021). Neben diesen beiden Kategorien halten sich nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zwischen 500.000 und 1 Mio. nicht-dokumentierte afghanische Staatsbürger in Pakistan auf (AA 28.09.2021).
Pakistan hat kein nationales Asylsystem und ist kein Unterzeichnerstaat der Flüchtlingskonvention von 1951 (UNHCR 14.01.2022a). Seit 2007 hat es keine Personen mehr als Flüchtlinge registriert (FP 22.11.2021). Doch die Regierung arbeitet mit dem UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen, um – u.a. - den afghanischen Flüchtlingen, zurückkehrenden Flüchtlingen und Asylsuchenden Schutz und Hilfe zu bieten (USDOS 30.03.2021). UNHCR führt dabei auch eine Registrierung von Personen mit erhöhtem Schutzbedürfnis durch. Dazu führt es ein Vorab-Screening durch, um Risikoprofile und Schutzbedürfnisse zu erheben. UNHCR priorisiert dabei die Registrierung von Personen mit nachvollziehbaren Asylgründen, unter anderem Minderheiten, Kinder, ältere Menschen und Frauen in Risikosituationen, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung. Nach dem Registrierungsprozess wird eine entsprechende Dokumentation ausgestellt. Pakistan akzeptiert im Allgemeinen die Entscheidungen des UNHCR und erlaubt vom UNHCR registrierten Asylsuchenden, in Pakistan zu bleiben, während eine dauerhafte Lösung für sie gesucht wird (UNHCR 14.01.2022a).
UNHCR betreibt neun Zentren für rechtliche Beratung und Unterstützung in den Gebieten, in denen die Mehrheit der Flüchtlinge lebt. Ein Fokus liegt auf der Intervention bei Verhaftungen aufgrund des rechtlichen Aufenthaltsstatus (UNHCR 14.01.2022a). Für den Zeitraum zwischen Jänner und August 2020 zählte UNHCR 370 Festnahmen afghanischer Flüchtlinge. Afghanische Flüchtlinge haben Zugang zu Polizei und Gerichten, doch insbesondere Ärmere fürchten sich davor (USDOS 30.03.2021).
Verteilung und Grundversorgung
Ungefähr 58% der afghanischen Flüchtlinge leben in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, 22,8% in Belutschistan und 11,7% im Punjab (UNHCR 31.08.2021). Rund zwei Drittel der Flüchtlinge leben in Städten (AA 28.09.2021). Ein Drittel der registrierten afghanischen Flüchtlinge lebt in einem der 54 Flüchtlingsdörfer, die restlichen zwei Drittel leben in Aufnahmegemeinden in ländlichen und städtischen Gebieten und suchen dort den Zugang zur Grundversorgung (USDOS 30.03.2021). Sie setzen damit die bereits belasteten lokalen Systeme öffentlicher Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit) und den Arbeitsmarkt zusätzlich unter Druck (UNHCR 06.07.2020). Schwierig ist die soziale und wirtschaftliche Lage der Afghanen in den Flüchtlingssiedlungen, vor allem aber in den Ballungszentren der Großstädte (AA 28.09.2021). Eine pakistanische Menschenrechtsorganisation berichtet z.B. über schlechte hygienische Bedingungen in Flüchtlingslagern und dass Flüchtlinge Schikanierungen und Xenophobie durch die lokalen Behörden und die Bevölkerung ausgesetzt sind (HRCP 22.11.2021).
Es gibt kein formales Dokument, das es Flüchtlingen erlaubt, legal zu arbeiten, aber es gibt auch kein Gesetz, das es ihnen verbietet. Viele Flüchtlinge arbeiten als Tagelöhner oder auf informellen Märkten. Die lokalen Arbeitgeber beuten die Flüchtlinge auf dem informellen Arbeitsmarkt oft mit niedrigen oder unbezahlten Löhnen aus. Frauen und Kinder sind besonders gefährdet und nehmen unterbezahlte und unerwünschte Arbeit an. Im Jahr 2019 erlaubte die Regierung afghanischen Flüchtlingen, mit ihren PoR-Karten Bankkonten zu eröffnen (USDOS 30.03.2021).
Die Verfassung garantiert kostenfreie Bildung für alle Kinder zwischen fünf und sechzehn, unabhängig von ihrer Nationalität. Alle registrierten Flüchtlinge haben theoretisch Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen. Der Zugang ist allerdings durch die Verfügbarkeit von Plätzen bestimmt. Die meisten registrierten Flüchtlingskinder besuchen private afghanische Schulen oder Schulen finanziert durch die internationale Gemeinschaft. Für ältere Kinder, besonders Mädchen in Flüchtlingslagern, ist der Zugang zu Bildung schwierig. Registrierte afghanische Flüchtlinge haben das Recht auf Einschreibung an den Universitäten (USDOS 30.03.2021). UNHCR unterhält Projekte zum Aufbau der Fähigkeit zur Selbstversorgung und sozio-ökonomischen Kapazität in den Flüchtlingsgemeinden. Dies umfasst Ausbildungen in Handwerk und Landwirtschaft sowie unterschiedlichen Berufen ebenso wie die Unterstützung beim Zugang zu höherer und tertiärer akademischer Bildung. Wo vorhanden, versucht UNHCR, den Zugang afghanischer Kinder zum regulären Schulsystem zu ermöglichen. Außerdem vergibt es auch Universitätsstipendien (UNHCR 14.01.2022a).
Undokumentierte Afghanen haben nur begrenzten Zugang zu Arbeit, Unterkunft und Bildung. Ohne rechtlichen Schutz sind sie Ziel von Diskriminierung und Schikanen durch die Behörden (FP 22.11.2021). Es gibt keine Berichte über Flüchtlinge, denen der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen aufgrund ihrer Nationalität verweigert wurde (USDOS 30.03.2021). Um den Zugang der Flüchtlinge zu medizinischer Versorgung zu verbessern, verfolgt UNHCR, wo möglich, nicht mehr den Ansatz, Parallelstrukturen für Flüchtlinge zu schaffen, sondern die lokale Infrastruktur für alle zu fördern, deren Kapazität und Qualität zu erhöhen und damit den Zugang dazu für die Flüchtlinge zu verbessern (UNHCR 14.01.2022a).
Am 15.04.2021 wurde der Beginn der Umsetzung des DRIVE-Programmes (Documentation Renewal and Information Verification Exercise) eingeläutet (VB 06.05.2021). DRIVE wird durch die Regierung Pakistans - namentlich das „Ministry of States and Frontier Regions“ (SAFRON), den Chief Commissioner für afghanische Flüchtlinge und die „National Database and Registration Authority“ (NADRA) - in Unterstützung durch den UNHCR durchgeführt. Ziel ist es, die Daten zu den registrierten afghanischen Flüchtlingen in Pakistan zu erneuern und neue, biometrische „Smartcards“ auszustellen. Letztere dienen als Identitäts- und Aufenthaltsnachweis (UNHCR 14.01.2022a). Die „Smartcards“ werden somit jenen ungefähr 1,4 Mio. afghanischen Flüchtlingen in Pakistan ausgestellt, die Inhaber einer PoR-Karte sind. Die neuen Karten sind zwei Jahre gültig und technologisch kompatibel mit Systemen, die in Pakistan zur Verifikation der Identität der eigenen Staatsbürger beim Zugang zu staatlichen Dienstleistungen verwendet werden. Zudem werden Fertigkeiten, Bildungsniveau sowie die sozio-ökonomischen Umstände afghanischer Flüchtlinge erfasst. Dies dient - laut Behördenangaben - zur Ermöglichung einer gezielteren Unterstützung in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Lebensunterhalt (VB 06.05.2021; vergleiche UNHCR 15.04.2021). Die Implementierungsphase wurde am 31.12.2021 erfolgreich abgeschlossen. Die finale Phase wird im ersten Quartal 2022 durchgeführt. Dabei werden schließlich die neuen „Smartcards“ ausgestellt (UNHCR 14.01.2022a).
Grenzübertritte und Neuankommende
Seit der Machtübernahme der Taliban hat Pakistan Neuzugänge von Afghanistan zurückgedrängt, seine Grenzrestriktionen verstärkt und einige Personen ohne Visa abgeschoben. Viele Afghanen wurden an Grenzen zurückgewiesen, die sie zuvor noch leicht überqueren konnten. Diese Einstellung gegenüber den Neuankommenden spiegelt die Ängste eines Staates wider, der die Bürde der Unterbringung vieler Flüchtlinge trägt und besorgt über seine eigene nationale Sicherheit ist. Menschenrechtsgruppen berichten, dass Afghanen für die Regierung und Teile der Öffentlichkeit hinsichtlich ökonomischer Unsicherheit und Extremismus oft als Sündenböcke dienen. Die Möglichkeiten für Afghanen, in Pakistan Unterschlupfzu finden, sind begrenzt. Haben sie es geschafft, finden sie sich in prekärer Lage in einem System, das sie offiziell nicht anerkennt. Der pakistanische Innenminister bestritt im September, dass es einen Zustrom von Flüchtlingen gäbe, und erklärte, Pakistan würde keine Flüchtlingslager aufstellen (FP 22.11.2021).
Es gibt keine speziellen Maßnahmen für den Einlass von Personen, die um Asyl ansuchen wollen. UNHCR arbeitet daran, dem Thema bei den Behörden Gehör zu verschaffen. Die Grenzen zu Afghanistan sind grundsätzlich nur für jene offen, die Pässe und gültige Visa haben, oder aber für Personen mit Ausnahmegenehmigung zur medizinischen Behandlung. Beim Grenzübergang Torkham beschränkt man sich auf dieses Vorgehen, während beim Grenzübergang Chaman - dem wichtigsten zu Afghanistan - uneinheitlich vorgegangen wird (UNHCR 15.12.2021). Der Grenzübergang Chaman erlaubt im Normalfall auch visafreien Grenzverkehr von Afghanen aus bestimmten Grenzregionen, doch ist er zeitweise immer wieder auch geschlossen. Der Hauptteil der Grenze zu Afghanistan ist mit einem Zaun gesichert und wird durch die Armee patrouilliert. Dennoch finden Afghanen einen Weg über die Grenze. Familien zahlen z.B. für Identitätspapiere, die sie als Einwohner der Grenzregionen ausweisen (FP 22.11.2021). HRCP kritisiert, dass für die Grenzpatrouillen und die Polizei eine besorgniserregende Unklarheit zum Umgang mit den Ankommenden vorherrscht. Es gibt Berichte über Erpressung von Geld, bevorzugte Behandlungen, Verweigerung der Einreise oder gar Gewalt durch die Behörden (HRCP 22.11.2021).
UNHCR schätzt, dass zwischen Jänner 2021 und Jänner 2022 89.349 Afghanen neu in Pakistan angekommen sind. Davon waren 53% männlich und 47% weiblich. 57% der Neuangekommenen seien demnach Paschtunen, 21% Hazara und 12% Tadschiken. 96% gaben als Grund für die Flucht die allgemeine Gewalt und Unsicherheit an. Die Hauptsorgen von befragten afghanischen Neuangekommenen in Pakistan waren Zugang zu Unterkunft, Lebenserhalt, Lebensmittel und medizinischer Versorgung (UNHCR 11.01.2022).
UNHCR stellt Zertifikate aus, die auch die Neuankommenden als Asylsuchende bestätigen, doch verhandelt es noch mit der pakistanischen Regierung über deren Rechte. Flüchtlingsorganisationen berichten, dass die fehlenden politischen Vorgaben zu den Neuankünften es den Hilfsorganisationen schwierig machen, diesen zu helfen. Sie müssen auf persönliche Netzwerke zurückgreifen, um ihre Grundbedürfnisse zu decken. Viele Menschen versuchen aus Angst vor den Behörden, unter dem Radar zu bleiben. Wachsende Ressentiments gegen die Flüchtlinge haben das Problem vergrößert. Seit der Machtübernahme der Taliban haben manche Provinzen Einwohner, welche Afghanen Unterschlupf gewährten, gestraft (FP 22.11.2021).
[...]
Rückkehr und Abschiebung
UNHCR unterhält in Pakistan zwei Zentren zur Unterstützung einer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, eines in Khyber Pakhtunkhwa und eines in Belutschistan (UNHCR 14.01.2022a). Im Jahr 2021 kehrten zwischen Jänner und Dezember 451 Afghanen freiwillig mit der Unterstützung des UNHCR zurück. 71% gaben das Fehlen der Möglichkeit, den Lebensunterhaltzu bestreiten, als Grund das Land zu verlassen an (UNHCR 14.01.2022b).
[...]
Fälle zwangsweiser Rückführungen von PoR-Karteninhabern nach Afghanistan sind nicht bekannt, bei ACC-Karteninhabern und insbesondere bei nicht-dokumentierten afghanischen Staatsangehörigen finden diese jedoch statt (AA 28.09.2021). Die Zahl der Abschiebungen nach Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme der Taliban erhöht. Im September und Oktober 2021 wurden laut UNHCR 1.800 Personen zurückgeführt (UNHCR 15.12.2021). Zwischen Juli und September 2021 wurden laut IOM 1.100 Afghanen ohne Aufenthaltspapiere behördlich rückgeführt (IOM 17.11.2021). Im zweiwöchigen Erhebungszeitraum zwischen 5. und 18.12.2021 wurden 32 Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung behördlich rückgeführt (IOM 29.12.2021).
IOM Pakistan sammelt Daten über die Abwanderung afghanischer Migranten ohne Aufenthaltspapiere an den Grenzübergängen Torkham und Chaman. Demnach kehrten im Zeitraum [nach der Machtübernahme der Taliban] zwischen Juli und September 2021 - zusätzlich zu den behördlich Rückgeführten - 5.960 Afghanen ohne Papiere selbständig nach Afghanistan zurück. 5.442 davon über den Chaman Grenzübergang, 518 über Torkham. 86% der befragten Rückkehrer gaben als Zielprovinz Kandahar an (IOM 17.11.2021).
Insgesamt kehrten 24.874 afghanische Migranten ohne Aufenthaltspapiere zwischen Jänner und Dezember 2021 selbständig an den beiden Grenzübergängen nach Afghanistan zurück. Als Gründe, Pakistan zu verlassen („Push-Faktoren“) wurden von 37% der Befragten die fehlende Möglichkeit, die Unterkunft zu bezahlen, von 26% die fehlende Möglichkeit, die Grundversorgung zu bestreiten, und von 22% eine fehlende Arbeit angegeben. Als Gründe für die Rückkehr nach Afghanistan („Pull-Faktoren“) wurden von 52% die Möglichkeit von Unterstützung und von 44% die Wiedervereinigung mit der Familie angegeben. Im zweiwöchigen Erhebungszeitraum zwischen 05. und 18.2021 kehrten 3.627 undokumentierte afghanische Migranten nach Afghanistan zurück, davon 654 über den Grenzübergang Torkham und 2.973 über Chaman. Von den Rückkehrern wurden 11% als vulnerable Personen eingestuft, hauptsächlich ältere Menschen und chronisch Kranke. In Pakistan gingen von den Rückkehrern 58% einer Hauptbeschäftigung als ungelernte Arbeitskraft, 23% als Facharbeiter, 17% im Handel, 1% als formell Angestellter und 1% als Studenten nach. Die drei größten Herausforderungen, die die Rückkehrer in Afghanistan selbst erwarteten, waren, den Lebensunterhalt zu bestreiten (27%), in eine neue Stadt zu ziehen (27%) und Einkommensmöglichkeiten zu finden (27%) (IOM 29.12.2021).
[...]
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 27.01.2022
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (AF 2018; vergleiche WB 7.2019). Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.08.2019; vergleiche WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vergleiche ACCORD 07.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vergleiche Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vergleiche CSO 2018).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vergleiche STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: Einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9% (SIGAR 30.01.2021).
Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste zivile Hilfe, finanzielle Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021).
Bevor sie die Macht übernahmen, hatten die Taliban große Teile des Landes kontrolliert oder in ihrem Einfluss und konnten die Bevölkerung und die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, denen die Menschen dort nachgingen, „besteuern“. Dazu gehörten unter anderem: die landwirtschaftliche Ernte (Ushr) [Anmerkung: 10% Steuer auf landwirtschaftliche Produkte nach islamischem Recht], insbesondere Opium; der grenzüberschreitende Handel, sowohl legal als auch illegal; Bergbau; Gehälter, auch von Beamten und NGO-Mitarbeitern. Sie erzielten auch Einnahmen in Form von Schutzgeldern sowie durch die Einhebung von Geld von Reisenden an Kontrollpunkten. Die Taliban erhielten auch Spenden von afghanischen und ausländischen Anhängern (AAN 11.11.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben dieVereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. USD (7,66 Mrd. Euro) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.08.2021; vergleiche AAN 11.11.2021).
Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wieder aufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (KP 09.11.2021; vergleiche ANI 09.11.2021).
Die Regierung der Taliban hat einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NRG und UN-Organisationen aufgenommen (AAN 11.11.2021). Anfang Dezember wurde berichtet, dass die Taliban begonnen haben, landesweit eine Ushr einzutreiben (BAMF 06.12.2021).
Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen ist ebenso wie eine Reihe von UN-Unterorganisationen (z. B. WHO, WFP, UNHCR, IOM) vor Ort - mit Abstrichen - weiter arbeitsfähig. Bei einer internationalen Geberkonferenz am 13.09.2021 hat die internationale Gemeinschaft über 1 Mrd. USD an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (AA 21.10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 4% der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul gaben 80% der Befragten an, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66% in Mazar-e Sharif und 45% in Herat. Ebenso gaben 8% der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24% in Mazar-e Sharif und 42% in Herat (ATR/STDOK 18.01.2022).
Dürre und Überschwemmungen
Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am Stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 05.05.2021; vergleiche UNOCHA 11.05.2021). 405 Familien wurden in weiterer Folge landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.05.2021).
Im Jahr 2021 kam es zur zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren (AAN 11.11.2021; vergleiche AAN 06.11.2021), welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt hat. Besonders schlimm sind die Bedingungen im Süden, Westen und Nordwesten des Landes (AAN 06.11.2021)
Für den Winter droht angesichts der anhaltenden Dürre und des Hungers eine weitverbreitete Hungersnot (NPR 10.11.2021; vergleiche BBC 08.11.2021, WFP/FAO 25.10.2021).
[...]
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Letzte Änderung: 27.01.2022
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.07.2021; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Mio. Menschen (2020: 14 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 09.12.2020).
Da keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung Ende August 2021 auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20% gestiegen (DW 24.08.2021). Dieser Trend setzte sich auch im Dezember 2021 fort, als die afghanische Währung gegenüber dem Dollar in nur einer Woche 30% des Wertes verlor (France 24 13.12.2021).
Das World Food Program (WFP), die Food and Agriculture Organization (FAO), die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) sowie die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) warnten im Oktober 2021, dass im kommenden Winter fast 23 Mio. Afghanen unter „akuter Ernährungsunsicherheit“ leiden werden. Grund dafür sind die kombinierten Auswirkungen von Dürre, Konflikten, der Coronavirus-Pandemie und einer Wirtschaftskrise, die sich durch die Unruhen nach der Machtübernahme der Taliban im Land noch verschärft hat (WFP/FAO 25.10.2021; vergleiche IPC 10.2021, RFE/RL 25.10.2021, UNAMA 16.11.2021). Der im Oktober 2021 veröffentlichte IPC-Bericht zeigt, dass die Zahl der Afghanen, die von akutem Hunger betroffen sind, seit der letzten Bewertung im April 2021 um 37% gestiegen ist (WFP/FAO 25.10.2021). Unter den Gefährdeten sind 3,2 Mio. Kinder unter fünf Jahren, die bis Ende des Jahres an akuter Unterernährung leiden dürften. NGOs warnten, dass 1 Mio. Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohen, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhalten (IPC 10.2021; vergleiche WFP/FAO 25.10.2021).
Während das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten bestand, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen. Im dritten Quartal 2021 ließen die UN 10,5 Mio. Menschen humanitäre Hilfe zukommen. Am 18.11.2021 sind 36 Tonnen an humanitärer Hilfe der russischen Regierung in Kabul eingetroffen. Insgesamt sollten 108 Tonnen geliefert werden. Ein Zug mit über 1.000 Tonnen Hilfsgütern aus China wurde für Anfang Dezember erwartet (UNAMA 16.11.2021). Am 06.12.2021 waren bereits 500 Tonnen in der Provinz Balkh angekommen (römisch XI 06.12.2021).
[...]
Nach der Machtübernahme der Taliban haben sich die Preise für Lebensmittel und Treibstoff erhöht und stiegen (mit Stand November 2021) immer noch an (RA KBL 08.11.2021), und für den nahenden Winter wurde ein weiterer Anstieg prognostiziert (BAMF 08.11.2021; vergleiche TN 31.12.2021).
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) stellte in seinem Weekly Market Price Bulletin für die dritte Novemberwoche 2021 fest, dass die Preise für Lebensmittel immer noch deutlich höher lagen als in der letzten Juniwoche 2021 (WFP 15.11.2021; vergleiche BAMF 29.11.2021).
[...]
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6% der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53% der Befragten in Herat, 26% in Balkh und 12% in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33% der Befragten in Herat und Balkh und 57% der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage seien, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.01.2022).
[...]
Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Letzte Änderung: 28.01.2022
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.07.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließendem Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020).
Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.07.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden – vorausgesetzt, die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vergleiche STDOK 21.07.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat, wobei abhängig vom Verbrauch diese Kosten auch höher liegen konnten. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen als in den Städten (IOM 2020).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Mieten um 20-40% gesunken. Die durchschnittliche Miete für eine Wohnung wird mit November 2021 auf 110 USD bis 550 USD (10.000 AFN bis 50.000 AFN) für Kabul, Herat und Mazar-e Sharif geschätzt, je nach Standort und Art der Einrichtung (RA KBL 08.11.2021).
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66%) und Mazar-e Sharif (63%) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50% der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3% der Befragten in Kabul, 48,4% in Balkh und 8,7% in Herat an, dass sie 5.000-10.000 AFN (ca. 40 bis 80 Euro) pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3% der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3% und in Balkh 48,4%. Nur 4,3% der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.01.2022).
[...]
Arbeitsmarkt
Letzte Änderung: 27.01.2022
Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Mio. in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich (UNDP 30.11.2021).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vergleiche Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“ mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 03.12.2020; vergleiche, CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 03.12.2020).
Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.07.2020; vergleiche IOM 18.03.2021), ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (AAN 03.12.2020).
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 01.06.2020; vergleiche STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vergleiche STDOK 10.2020, CSO 2018).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenig Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 08.06.2017). Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.07.2020; vergleiche STDOK 13.06.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen, und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.06.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vergleiche Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.03.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden (IOM 18.03.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Mio. Personen geschätzt wird, hat nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit mehr (IPC 10.2021; vergleiche RA KBL 08.11.2021). Die Arbeit von Tagelöhnern ist gleichgeblieben, allerdings ist es schwerer, Arbeit zu finden (RA KBL 08.11.2021). Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (MSF 10.11.2021; vergleiche IPC 10.2021).
Das UNDP (United Nations Development Program) erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10% sinken werden (UNDP 30.11.2021). Afghanische Arbeitnehmerinnen machten vor der Krise 20% der Beschäftigten aus. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Gesellschaft auswirken. Außerdem wird das Einkommen der Haushalte verringern, deren weibliche Mitglieder nun nicht mehr arbeiten, weniger arbeiten bzw. weniger verdienen, was zu einem Rückgang des Konsums auf der Mikroebene und der Nachfrage auf der Makroebene führen wird (UNDP 30.11.2021).
Die Markt- und Preisbeobachtung des Welternährungsprogramms (WFP) ergab einen drastischen Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten: Im Juli waren es zwei Tage pro Woche, im August nur noch 1,8 Tage und im September nur noch ein Arbeitstag (IPC 10.2021). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, lag Ende November 2021 bei 1,4 Tagen pro Woche (BAMF 29.11.2021).
Laut der saisonalen Bewertung der Ernährungssicherheit (SFSA) für das Jahr 2021 meldeten 95% der Bevölkerung Einkommenseinbußen, davon 76% einen erheblichen Einkommensrückgang (83% bei städtischen und 72% bei ländlichen Haushalten) im Vergleich zum Vorjahr. Die Hauptgründe waren ein Rückgang der Beschäftigung (42%) und Konflikte (41%) (IPC 10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3% der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3%, Frauen: 81,3%). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62% der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25% eine Teilzeitstelle hatten, 9% als Tagelöhner arbeiteten und 2% mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1%) gab an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN (100 USD) pro Monat zu haben. 8,7% der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN (100-200 USD) pro Monat zu haben, und 2,2% stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.000 und 50.000 AFN (200-500 USD) pro Monat ein (ATR/STDOK 18.01.2022).
[...]
Bank- und Finanzwesen
Letzte Änderung: 27.01.2022
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer seien und Geldwechsel nicht möglich sei und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern (DW 24.08.2021). Laut einem Sprecher der Taliban sollen die Banken bald wieder öffnen (REU 25.08.2021). Nach Aussagen des Vorsitzenden der Bankiersgewerkschaft in der Hauptstadt Kabul hätten die Banken ihren Betrieb aufgrund technischer Probleme noch nicht wieder aufgenommen. Gerüchte, dass die Banken kein Bargeld mehr hätten, dementiert er und fügte hinzu, dass die Banken voraussichtlich in den nächsten Tagen wieder normale Dienstleistungen anbieten würden (AnA 28.08.2021).
Mit Stand November 2021 sind die Banken wieder geöffnet. Aktuell sind Einzahlungen, begrenzte Abhebungen sowie begrenzte inländische und (sehr) begrenzte internationale Überweisungen möglich. Geldautomaten sind geschlossen, und in den meisten Banken muss man in langen Schlangen warten, was einen halben oder ganzen Tag dauert, um die begrenzte Geldsumme abzuheben (RA KBL 08.11.2021. Aktuell kann man 30.000 AFN (ca. 400 USD) pro Woche abheben (RA KBL 08.11.2021; vergleiche BAMF 08.11.2021). Bei Geldüberweisungen aus dem Ausland kann es sein, dass die Mittelsbank die Überweisung nicht zulässt. Überweisungen von Western Union und MoneyGram sind für Einzelpersonen auf 20.000 AFN (220 USD) pro Woche begrenzt und erfordern lange Warteschlangen (RA KBL 08.11.2021).
Anfang November 2021 hat die Taliban-Regierung die Nutzung fremder Währungen im Land verboten. Einzig der Afghani solle für den Zahlungsverkehr benutzt werden (BBC 02.11.2021; vergleiche REU 02.11.2021).
Hawala-System
Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig, und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (WKO 2.2017; vergleiche WB 2003, FA 07.09.2016).
Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (römisch zehn) das Geld, z.B. 10.000 Euro, und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (römisch zehn) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (Y) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (Y) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt (WKO 2.2017; vergleiche WB 2003).
So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2%, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten (WKO 2.2017; vergleiche WB 2003).
[…]
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung: 27.01.2022
In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten (EASO 8.2020b; vergleiche UKHO 12.2020). Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (AA 16.07.2021).
Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten (UNOCHA 19.12.2020; vergleiche EASO 8.2020b, Schwörer 30.11.2020). Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Mio. Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (UNOCHA 19.12.2020).
Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 Jahre im Jahr 2018 gestiegen (WB o.D.a.; vergleiche WHO 4.2018).
Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90% der medizinischen Versorgung inAfghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (AA 16.07.2021).
Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan, und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt (WHO 12.2018). Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser waren. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (RA KBL 20.10.2020). Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken bestand, war es in den ländlichen Gebieten für viele Afghaninnen und Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (AA 16.07.2021). Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen, und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (IWA 8.2017).
Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (AA 16.07.2021; vergleiche WHO 8.2020).
Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wurde berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzten. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte lebten, bevorzugten die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität war als in öffentlichen Einrichtungen (MedCOI 5.2019).
Sicherheitslage bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021
Die Sicherheitslage hatte erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste (UNAMA 2.2021; vergleiche AA 16.07.2020, UNOCHA 07.03.2021, UNOCHA 19.12.2020, ICRC 17.06.2020). Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen wurden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wurde. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt (UNAMA 2.2021a; vergleiche UNOCHA 19.12.2020, ICRC 17.06.2020). Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führte nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwang viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (MSF 3.2020; vergleiche UNOCHA 07.03.2021).
UNAMA verifizierte zwischen 01.01. und 31.12.2020 90 Angriffe, welche die Gesundheitsversorgung beeinträchtigten, ein Anstieg um 20% im Vergleich zu 2019. Diese Vorfälle umfassten sowohl direkte Angriffe oder Drohungen gegen Gesundheitseinrichtungen und Personal, als auch wahllose Angriffe, die zu zufälligen Schäden an Gesundheitseinrichtungen und geschütztem Personal führten. Ein Trend aus dem Jahr 2019 setzte sich 2020 fort, indem die Taliban eine Reihe von Gesundheitszentren bedrohten und medizinisches Personal entführten, um sie zu verschiedenen Handlungen zu zwingen, wie z.B. sich mit ihnen zu koordinieren, ihre Kämpfer medizinisch zu versorgen, Medikamente und Einrichtungen zu übergeben, Sondersteuern zu zahlen oder ihre Dienste an einen anderen Ort zu verlagern. Die Taliban bedrohten das Jahr 2020 hindurch Gesundheitszentren. So erzwangen die Taliban beispielsweise am 11.11.2020 in der Provinz Badakhshan die Schließung von 17 Gesundheitszentren in sechs Distrikten (UNAMA 2.2021a). Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bzw. Beschränkungen des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen setzen sich in der ersten Hälfte 2021 fort (UNOCHA 07.03.2021; vergleiche AI 16.06.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war das afghanische Gesundheitssystem seit Jahren fragil und wies große Lücken auf und ist nun, nach Angaben von Ärzten ohne Grenzen (MSF), vom Zusammenbruch bedroht (MSF 10.11.2021). Auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung war schon vor der Machtübernahme durch die Taliban ein großes Problem in Afghanistan, wobei sich die Situation nun noch weiter verschlechtert, da der Großteil der internationalen Hilfe eingestellt wurde (MSF 10.11.2021; vergleiche NPR 21.12.2021). Gesundheitseinrichtungen beispielsweise in Herat haben geschlossen oder laufen auf Minimalbetrieb, und die Menschen sind meistens zu arm, um in private Kliniken zu gehen (MSF 10.11.2021). Anfang November 2021 meldete das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), man habe mithilfe von 15 Mio. USD das Sehatmandi Projekt aufrechterhalten und Medizin für Kranke bezahlt sowie alle Gehälter der Ärzteschaft und des Personals für den Vormonat direkt auf deren Konten eingezahlt (insgesamt 8 Mio. für 23.500 Angestellte in 31 Provinzen) (BAMF 15.11.2021; vergleiche UN 10.11.2021, NPR 21.12.2021), da viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems in ganz Afghanistan seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten haben (MSF 10.11.2021).
Angesichts der jüngsten Entwicklungen hat auch die Weltbank alle Hilfen für Afghanistan eingefroren (WHO 28.08.2021; vergleiche HRW 03.09.2021). Mehr als 2.500 Gesundheitseinrichtungen und die Gehälter von mehr als 2.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen, die im Rahmen des von der Weltbank kofinanzierten Sehatmandi-Projekts unterstützt wurden, sind davon betroffen. Derzeit sind mehr als 3.800 Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, ganz oder teilweise nicht funktionsfähig. Die reduzierte Unterstützung des Projektes hat zur sofortigen Aussetzung einiger Dienste in den Gesundheitseinrichtungen, einschließlich Überweisungen und ambulanter Essensversorgung, geführt. Einige wenige Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, verfügen über genügend medizinische Vorräte, um die Versorgung für einige Monate aufrechtzuerhalten. In Ermangelung einer ausreichenden Finanzierung könnte die Kürzung der Hilfe hunderttausende Afghanen ohne medizinische Versorgung zurücklassen und unverhältnismäßig viele Frauen betreffen (WHO 28.08.2021).
Vor allem außerhalb der großen Städte ist die Lage der medizinischen Einrichtungen sehr schlecht. Zwar erhielten viele Mitarbeiter der Krankenhäuser im Dezember nach fünf Monaten erstmalig ihr Gehalt, jedoch waren die Medikamentenvorräte noch gefährlich knapp (BBC 15.12.2021; vergleiche NPR 21.12.2021). Die meisten Patienten sind angewiesen, ihre eigenen Medikamente in nahegelegenen Apotheken zu kaufen (BBC 15.12.2021). Aber auch größere Krankenhäuser, die ein höheres Versorgungsniveau bieten, wie beispielsweise 39 COVID-19-Krankenhäuser, leiden an Unterfinanzierung. Den meisten fehlt es an grundlegenden Leistungen wie Sauerstoff und den für die Behandlung von COVID-19 wichtigen intravenösen Medikamenten (NPR 21.12.2021). Das COVID-19-Krankenhaus in Kabul (Afghan-Japan-Hospital) leidet beispielsweise an einem Mangel an lebenswichtigen Medikamenten, und das Verfallsdatum der verfügbaren Arzneimittel ist weit überschritten (TD 17.12.2021).
In ganz Afghanistan wurde mit viertem Quartal 2021 ein starker Anstieg der Fälle von Unterernährung, vor allem betreffend Mütter und Kleinkinder (BBC 15.12.2021) sowie schwerer Lungenentzündung verzeichnet (NPR 21.12.2021). Die Vereinten Nationen (BBC 15.12.2021) und NGOs warnten davor, dass 1 Mio. Kinder in den folgenden Monaten an den Auswirkungen des Hungers zu sterben drohten (IPC 10.2021; vergleiche WFP/FAO 25.10.2021).
Ab dem 08.11.2021 war geplant, in Afghanistan landesweit gegen Kinderlähmung zu impfen. Zum ersten Mal seit drei Jahren sollte die Tür-zu-Tür-Impfkampagne auch Kinder in bisher nicht zugänglichen Gebieten erreichen. Die Taliban-Führung unterstützte das Vorhaben (UNICEF 18.10.2021; vergleiche BBC 18.10.2021). In einigen Gebieten werden Impfungen allerdings nicht mehr im Rahmen von Haus-zu-Haus-Kampagnen durchgeführt, da die Taliban den Aufenthalt von Männern und nicht verwandten Frauen in Häusern verbieten. In diesen Gebieten werden die Menschen gebeten, zur Impfung in die nächste Moschee zu gehen, wobei die Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden. Die erneute Bereitstellung von Mitteln bedeutet auch, dass Ausbrüche von Denguefieber, Cholera und Malaria wieder bekämpft werden können (NPR 21.12.2021).
Die WHO bestätigte am 08.11.2021, dass sie sieben Tonnen an Medizin und medizinischem Gerät nach Kabul geliefert hat. Dies beinhalte Hilfe für 5.000 unterernährte afghanische Kinder (BAMF 15.11.2021; vergleiche AN 08.11.2021).
Gemäß einer im Auftrag der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie haben 43,3% der Befragten (45% der männlichen und 42,3% der weiblichen Befragten) Zugang zu Ärzten. 42,3% haben Zugang zu Fachärzten, 37,3% zu Zahnärzten und 31,3% zu Krankenhäusern, während der Rest nur begrenzten oder stark eingeschränkten Zugang zu medizinischen Leistungen hat. Insgesamt 17,7% der Befragten haben Zugang zu Impfungen. Dies bezieht sich jedoch auf ein rein städtisches Publikum. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in städtischen Ballungszentren ist aufgrund einer umfangreicheren medizinischen Infrastruktur, nachhaltiger öffentlicher und privater Investitionen, der Verfügbarkeit von Ärzten und Krankenschwestern, der Beschäftigungsmöglichkeiten für Ärzte und medizinisches Hilfspersonal, sowie der höheren Entlohnung, deutlich besser ist als in ländlichen oder halbländlichen Gebieten des Landes (ATR/STDOK 18.01.2022).
[…]
Zugangsbedingungen für Frauen und Mädchen
Letzte Änderung: 27.01.2022
In den Jahren nach der US-geführten Militärinvasion und dem Sturz der Taliban-Regierung Ende 2001 gaben die [ehemalige] afghanische Regierung und die internationalen Geber dem Aufbau eines effektiven Gesundheitssystems Priorität, einschließlich der Ausweitung des Zugangs zu medizinischer Grundversorgung auf alle Teile des Landes. Die Bemühungen führten zu wichtigen Erfolgen, darunter ein signifikanter Rückgang der Müttersterblichkeit und ein Anstieg der pränatalen Versorgung, der Nutzung moderner Verhütungsmittel und betreuter Geburten (HRW 5.2021).
Dennoch bleibt Afghanistan einer der gefährlichsten Orte der Welt um zu gebären, mit der dritthöchsten Sterblichkeitsrate weltweit (SIGAR 2021; vergleiche AIHRC 06.07.2021). Laut dem VN-Bevölkerungsfonds sterben pro 100.000 Geburten durchschnittlich 638 Frauen. Dies liegt u.a. auch an dem großen Mangel an ausgebildeten Hebammen (AA 16.07.2021).
Afghanistan gehört zu den wenigen Ländern, in welchen die Selbstmordrate von Frauen höher ist als die von Männern. Die weite Verbreitung psychischer Erkrankungen unter Frauen wird von Experten mit den rigiden kulturellen Einschränkungen, welchen Frauen unterworfen sind und welche ihr Leben weitgehend auf das eigene Heim beschränken, in Verbindung gebracht (BDA 18.12.2018).
Derzeit ist es für Frauen und Mädchen schwierig, auch nur die grundlegendsten Informationen über Gesundheit und Familienplanung zu erhalten (HRW 5.2021). Das Zusammenwirken von Krieg, Armut, häuslicher Gewalt und sozialer Marginalisierung führt dazu, dass Frauen überproportional von psychischen Problemen und psychosozialen Behinderungen betroffen sind (HRW 28.04.2020), während der Mangel an psychischen Gesundheitsdiensten für Frauen als besonders besorgniserregend gilt. HRW (Human Rights Watch) dokumentierte in Interviews mit Frauen über ihre Erfahrungen bei der Suche und Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung sowie mit Gesundheitspersonal und Experten große Hindernisse für Frauen beim Zugang zu Dienstleistungen, selbst in der Hauptstadt Kabul, wo sich die meisten der qualitativ besten Dienstleistungen des Landes befinden (HRW 5.2021). Dort, wo Dienste verfügbar sind, führen kulturelle Barrieren, Stigmatisierung und die begrenzte Anzahl weiblicher Anbieter psychischer Gesundheitsdienste häufig dazu, dass Frauen vom Zugang zu geeigneten Diensten ausgeschlossen sind (UNOCHA 19.12.2020).
Medizinische Einrichtungen auf dem Land sind oft unterbesetzt oder haben wenig oder kein weibliches Personal (HRW 5.2021). Gemäß afghanischen Gesellschaftsnormen sollten Frauen von Ärztinnen untersucht werden. Es kommt somit zu Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung von Frauen, wenn keine Ärztinnen verfügbar sind. Manche Frauen konsultierten in den Dörfern oder Distrikten [Anmerkung: vor der Machtübernahme der Taliban] allerdings unter Umständen auch Ärzte (STDOK 21.07.2020).
Frauen und Mädchen in Afghanistan sind stark gefährdet, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden (ASP/YHDO 3.2021; vergleiche SIGAR 2.2021) und sehen sich mit erheblichen Hindernissen beim Zugang zu Gesundheitseinrichtungen konfrontiert, um nach solcher Gewalt Hilfe zu suchen (ASP/YHDO 3.2021, vergleiche AAN 02.12.2014), darunter beispielsweise einem geringen Wissen über Gesundheitsprobleme, einer niedrigen Alphabetisierungsrate (AAN 02.12.2014), Einschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit und einem beschränkten Zugang zu finanziellen Mitteln (AAN 02.12.2014; vergleiche UNOCHA 17.12.2019, STDOK 13.06.2019). Die Covid-19-Pandemie hat den Zugang von Frauen zur Gesundheitsversorgung in mehrfacher Hinsicht verschlechtert, u.a. indem sie viele Familien tiefer in die Armut stürzte und die der Regierung zur Verfügung stehenden Mittel zur Unterstützung der Gesundheitsversorgung reduzierte (HRW 5.2021; vergleiche WHO 18.06.2020).
Nach der Übernahme des Landes durch die Taliban haben sich die grundlegenden gesundheitsdienstlichen Dienste für Frauen und Mädchen, speziell für jene, die geschlechtsspezifische Gewalt erlebt haben, weiter reduziert. Es wird berichtet, dass Taliban Schutzeinrichtungen für Frauen geschlossen, in einigen Fällen auch deren Personal drangsaliert haben. Durch die Schließungen waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken, andere wurden von Familienmitgliedern gewaltsam zurückgeholt oder waren gezwungen, bei den Mitarbeitern der Unterkünfte oder auf der Straße zu leben. Taliban haben Gefangene aus dem Gefängnis entlassen, darunter viele, die wegen geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt wurden (AI 06.12.2021; vergleiche VOA 10.12.2021).
Auch ist das weibliche Gesundheitspersonal seit der Machtübernahme neuen Beschränkungen unterworfen. So dürfen beispielsweise einige Hebammen keine Hausbesuche ohne männliche Begleitung machen. Nach Angaben einer Hebamme in einer Gesundheitseinrichtung in Kandahar hatten die Taliban mit Ende Dezember 2021 bislang die Familienplanung in der Einrichtung nicht verhindert, jedoch liegen keine Informationen darüber vor, wie es in den ländlichen Gebieten aussieht (NPR 21.12.2021).
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 42,3% der befragten Frauen an, Zugang zu einem Arzt zu haben. 40% gaben an, Zugang zu einem Spezialisten, z.B. einem Gynäkologen zu haben (ATR/STDOK 18.01.2022).
[…]
Medizinische Versorgungseinrichtungen in Afghanistan (Kabul, Herat, Balkh...)
Letzte Änderung: 27.01.2022
[Anmerkung: Wie dem Überkapitel „Medizinische Versorgung“ zu entnehmen ist, sind die medizinischen Einrichtungen in Afghanistan aktuell, durch die Einstellung eines Großteils der internationalen Hilfsmittel, stark unterfinanziert. Viele der Gesundheitseinrichtungen können daher ihre Dienste nur eingeschränkt oder gar nicht anbieten]
Rückkehr
Letzte Änderung: 27.01.2022
IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.02.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.01.2021; vergleiche NH 26.01.2021). Im Jahr 2021 wurden bis August 759.046 undokumentierte Rückkehrer verzeichnet (USAID 27.08.2021).
Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vergleiche IOM KBL 30.04.2020, Reach 10.2017). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vergleiche IOM KBL 30.04.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017), da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme, und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.06.2019, IOM KBL 30.04.2020). Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.04.2020; vergleiche Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).
Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.06.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte (STDOK 4.2018; vergleiche VIDC 1.2021). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (VIDC 1.2021; vergleiche STDOK 13.06.2019, STDOK 4.2018).
„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vergleiche SFH 26.03.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.07.2021; vergleiche SFH 26.03.2021). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.06.2019; vergleiche SFH 26.03.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.06.2019).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART römisch III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (IOM AUT 08.09.2021; vergleiche IOM 19.08.2021).
Die Taliban haben in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren. Zum Umgang der Taliban mit Rückkehrern liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021).
[…]
Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF)
Letzte Änderung: 27.01.2022
Mit dem Begriff „unbegleitete Minderjährige“ werden Personen bezeichnet, die unter 18 Jahre alt sind bzw. das nationale Volljährigkeitsalter nicht erreicht haben und getrennt von ihren Eltern bzw. ohne die Obhut eines Vormundes leben (MPI 11.2017). Quellen zufolge entscheidet meist der weitere Familienkreis, ein minderjähriges Familienmitglied nach Europa zu schicken (EASO 2.2018), wobei Minderjährige oft selbst eine mögliche Migration ansprechen und schließlich ihre Familie davon überzeugen (Hall 19.07.2020). Ohne familiäre Unterstützung wäre es dem Minderjährigen meistens gar nicht möglich, die Reise nach Europa anzutreten; dies ist eine wichtige Netzwerkentscheidung, die u.a. die Finanzen der Familie belastet. Jedoch gibt es auch Fälle, in denen der Minderjährige unabhängig von seiner Familie beschließt, das Land zu verlassen und nach Europa zu reisen. Meist sind dies junge Leute aus gebildeten, wohlhabenden Familien. Dies wird oft durch den Kontakt zu Freunden und Bekannten im Ausland gefördert, die über soziale Medien ein idealisiertes Bild der Lebensbedingungen in Europa vermitteln (EASO 2.2018.
Eine von der norwegischen COI-Einheit Landinfo zitierte Analystin des AAN (Afghanistan Analysts Network) legt dar, dass Familien in Afghanistan in der Regel den Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied halten und genau Bescheid wissen, wo sich die Person aufhält und wie es ihr in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt, und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (STDOK 4.2018).
Die genaue Zahl der nach Afghanistan zurückkehrenden Minderjährigen, sowohl unbegleitet, von den Eltern getrennt oder gemeinsam mit ihrer Familie, kann von staatlichen Behörden nicht angegeben werden (STC 16.10.2018). Ca. 58% der Rückkehrer nach Afghanistan sind unter 18 Jahre alt (UKHO 4.2018). Der größte Teil rückkehrender Minderjähriger sind Buben (STC 16.10.2018).
Eine größere Anzahl an unbegleiteten Minderjährigen ist auf der Suche nach Arbeit in den Iran, nach Pakistan, Europa und in urbane Zentren innerhalb Afghanistans migriert; viele von ihnen nutzten dafür Schlepperdienste (MPI 11.2017; vergleiche USDOS 25.06.2020).
[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind noch keine validen Informationen bekannt.]
[…]
Dokumente
Letzte Änderung: 27.01.2022
Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.07.2020). Sämtliche Urkunden in Afghanistan waren problemlos gegen finanzielle Zuwendungen oder aus Gefälligkeit erhältlich (ÖB 28.11.2018; vergleiche AG DFAT 27.06.2019).
Des Weiteren kamen verfahrensangepasste Dokumente häufig vor. Im Visumverfahren wurden teilweise gefälschte Einladungen oder Arbeitsbescheinigungen vorgelegt. Medienberichten zufolge sollen insbesondere seit den Parlamentswahlen 2018 zahlreiche gefälschte Tazkiras [Anmerkung: nationale Personalausweise] im Rahmen der Wählerregistrierung in Umlauf sein (AA 16.07.2020). Personenstands- und weitere von Gerichten ausgestellte Urkunden wurden zentral vom Afghan State Printing House (SUKUK) ausgestellt (ÖB 28.11.2018).
Auf Grundlage bestimmter Informationen konnten echte Dokumente ausgestellt werden. Dafür notwendige unterstützende Formen der Dokumentation wie etwa Schul-, Studien- oder Bankunterlagen konnten leicht gefälscht werden. Dieser Faktor stellte sich besonders problematisch dar, wenn es sich bei dem primären Dokument um eine Tazkira handelte, welche zur Erlangung anderer Formen der Identifizierung verwendet wurde. Es bestand ein Risiko, dass echte, aber betrügerisch erworbene Tazkira zur Erlangung von Reisepässen verwendet wurden (AG DFAT 27.06.2019).
Eine Tazkira wurde nur afghanischen Staatsangehörigen nach Registrierung und dadurch erfolgtem Nachweis der Abstammung von einem Afghanen ausgestellt. In der Regel erfolgte der Nachweis der Abstammung durch die Vorlage der Tazkira eines Verwandten 1. Grades oder durch Zeugenerklärungen in Afghanistan (AA 16.07.2020). In einem Bericht der afghanischen Regierung vom April 2019 über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention findet sich die Information, dass für die Ausstellung einer Tazkira die Zeugenaussagen von zwei Personen nötig waren, die Inhaber von einer Tazkira sein müssen. Darüber hinaus musste die Identität des Antragstellers von lokalen Behörden bestätigt werden (ACCORD 15.06.2020). Eine andere Quelle wies darauf hin, dass man bei Beantragung einer Tazkira eine Geburtsurkunde vorweisen musste, dass allerdings die Mehrheit der Afghanen noch immer nicht im Besitz einer solchen waren. Wenn keine Geburtsurkunde vorgewiesen werden konnte, war es erforderlich, die Tazkira eines männlichen Familienmitglieds väterlicherseits (Vater, Bruder, Onkel oder Cousin) vorzuweisen (LI 22.05.2019; vergleiche ACCORD 15.06.2020). Wollte jemand sich beispielsweise in Kabul eine Tazkira ausstellen lassen und konnte seine Identität nicht beweisen, so musste diese Person in das Heimatgebiet ihres Vaters oder Großvaters zurückkehren. Dort konnte versucht werden, einen Identitätsnachweis vonseiten des lokalen Dorfvorstehers zu erhalten. Dieser konnte dann bei den örtlichen Behörden eingereicht werden, die auf dessen Grundlage eine Tazkira ausstellten (ACCORD 15.06.2020).
Kinder unter sieben Jahren waren von der Pflicht befreit, persönlich zu erscheinen, um sich eine Tazkira ausstellen zu lassen. Eine Geburtsurkunde wurde als Nachweis akzeptiert. War eine solche nicht vorhanden, waren zwei Zeugen erforderlich. Bis zum Alter von 18 Jahren war für die Ausstellung der Tazkira die Zustimmung des Vaters erforderlich (ACCORD 15.06.2020).
In der Tazkira waren Informationen zu Vater und Großvater, jedoch nicht zur Mutter enthalten. Erst seit ca. 2014 gab es die Möglichkeit, eine Birth Registration Card zu beantragen, in der ein konkretes Geburtsdatum und die Mutter eines Kindes genannt wurden. Diese konnte aber auch jederzeit nachträglich für Personen ausgestellt werden, die vor 2014 geboren wurden. Es konnte davon ausgegangen werden, dass die Ausstellung daher ohne weitere Prüfung vorgenommen wird (AA 16.07.2020).
Eintragungen in der Tazkira waren oft ungenau. Geburtsdaten wurden häufig lediglich in Form von „Alter im Jahr der Beantragung“, z. B. „17 Jahre im Jahr 20xx“ erfasst, genauere Geburtsdaten wurden selten erfasst und wenn, dann meist geschätzt (AA 02.09.2019). Insgesamt waren in Afghanistan sechs Tazkira-Varianten im Umlauf (AAN 22.02.2018). Es gab keine einheitlichen Druckverfahren oder Sicherheitsmerkmale für die Tazkira in A4-Format. Im Februar 2018 wurde die e-Tazkira (elektronischer Personalausweis) mit der symbolischen Beantragung u.a. durch Präsident Ghani gestartet (AAN 22.02.2018). Nach dem 03.05.2018 wurden e-Tazkira (auch electronic Tazkira) in Form einer Chipkarte ausgestellt, die Einführung lief jedoch nur sehr schleppend (AA 16.07.2020). Im September 2020 verabschiedete die ehemalige Regierung ein Gesetz, das die Aufnahme des Namens der Mutter in die Tazkira erlaubte (HRW 13.01.2021; vergleiche TN 02.09.2020).
Die Vorlage einer Tazkira war Voraussetzung für die Ausstellung eines Reisepasses. Seit Ausstellung maschinenlesbarer Reisepässe im Jahr 2014 musste bei Passbeantragung ein Familienname bestimmt werden. Die Bestimmung erfolgte ohne rechtliche Grundlage und ohne Dokumentation. Die Angaben, insbesondere Namen und Geburtsdatum, in Tazkira und Reisepass einer Person stimmten daher häufig nicht miteinander überein (AA 16.07.2020).
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Im Oktober 2021 gab der Leiter des Passamtes an, dass Afghanistan wieder Reisepässe ausstellen würde (REU 05.10.2021; vergleiche AN 05.10.2021), dass zwischen 5.000 und 6.000 Exemplare pro Tag ausgestellt werden würden und dass weibliche Mitarbeiter die Anträge von Frauen bearbeiten würden (AN 05.10.2021). Es ist demnach möglich, einen Reisepass zu beantragen und zu erhalten, aber die Beantragung und Bearbeitung neuer Tazkira-Anträge hat noch nicht begonnen. Die Nationale Statistikbehörde Afghanistans (NSIA) ist für die Verteilung der bereits bearbeiteten und gedruckten Tazkira geöffnet, nimmt aber derzeit keine neuen Anträge an und bearbeitet sie nicht (RA KBL 08.11.2021).
Die Anforderungen zur Ausstellung eines Reisepasses haben sich nicht wesentlich geändert, allerdings gibt es leichte Änderungen bei den Verfahren (RA KBL 08.11.2021). Zunächst nahm nur die Passabteilung in Kabul Anträge an und bearbeitete sie (RA KBL 08.11.2021). Mit Ende November begann die Ausstellung von Pässen in 17 weiteren Provinzen, darunter Balkh, Herat und Kandahar (TTI 24.11.2021; TN 30.11.2021). Jeden Tag steht eine große Anzahl von Antragstellern oft bereits in der Nacht in der Warteschlange. Vor der Machtübernahme durch die Taliban mussten die Antragsteller ihre Daten in ein Online-System eingeben, welches aktuell gesperrt ist. Es werden jedoch weiterhin Anträge von Personen entgegengenommen, die einen Termin für ein Visumgespräch vereinbart haben, sowie von Personen, die zur Behandlung schwerer Krankheiten ins Ausland reisen (RA KBL 08.11.2021). Seit Mitte Oktober ist die Ausgabe von Reisepässen in der Hauptstadt Kabul ausgesetzt, während die Büros in den Provinzen weiterhin geöffnet sind (TN 29.11.2021). Allerdings gibt es Berichte von starken Überlastungen der Passabteilungen, beispielsweise in Nangarhar (ANI 19.11.2021). Mit Stand Anfang Dezember werden in 32 der 34 Provinzen Reisepässe ausgestellt (ANI 06.12.2021).
Bislang (mit Stand November 2021) haben Reisepässe und Tazkira dasselbe Aussehen und Layout wie vor der Machtübernahme der Taliban. Es ist noch nicht bekannt, ob die Taliban die Formate beibehalten oder Änderungen vornehmen werden und ob sie überhaupt die Kapazität haben, neue Pässe und Tazkira zu drucken (RA KBL 08.11.2021).
Aktuell [Stand September 2021] werden von der afghanischen Botschaft in Wien keine neuen Tazkiras und Reisepässe ausgestellt. Davon betroffen sind auch jene Personen, die bereits einen Antrag gestellt haben bzw. eine Bestätigung zur Ausstellung erhalten haben. Hier kann seitens der afghanischen Botschaft nicht abgeschätzt werden, wie lange dieser Umstand noch vorherrschen wird. Abgelaufene biometrische Reisepässe können in Zukunft bei der Botschaft verlängert werden (AFB WIE 22.09.2021). Ende November erklärte der Leiter der Passabteilung, die Abteilung habe dem Außenministerium mindestens 20.000 Pässe zur Verteilung an afghanische Staatsbürger außerhalb des Landes vorgelegt. Nach Angaben der Abteilung werden die Pässe an die Afghanen außerhalb des Landes ausgegeben, deren Pässe abgelaufen sind (TN 30.11.2021).
[…]
4. Beweiswürdigung:
Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zugrunde:
Der Verfahrensgang ergibt sich aus den zur gegenständlichen Rechtssache vorliegenden Verfahrensakten des BFA und des BVwG.
4.1. Zur Person des BF:
Die Feststellungen zur Identität des BF ergeben sich aus seinen diesbezüglichen Angaben vor dem BFA, im Beschwerdeverfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft, insbesondere zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den Lebensumständen des BF stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF im Verfahren vor dem BFA und im Beschwerdeverfahren sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG und auf die Kenntnis und Verwendung der Sprachen Paschtu, Dari und Urdu.
Die Identität des BF steht mit für das Verfahren ausreichender Sicherheit fest.
Die Feststellungen betreffend seine Angehörigen beruhen auf den Angaben des BF, welche jedoch teilweise widersprüchlich waren (siehe unten Punkt 4.2.).
Die Feststellungen zur Schulbildung und Berufstätigkeit des BF beruhen auf seinen eigenen, unbestrittenen Angaben.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand beruhen auf den eigenen Angaben des BF und den vorgelegten Unterlagen.
Die strafrechtliche Verurteilung des BF geht aus dem im Akt aufliegenden Urteil hervor.
Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des BF in Österreich beruhen auf seinen eigenen Angaben in Verbindung mit den im Akt aufliegenden Unterlagen. Die Inhaftierung ergibt sich aus dem Zentralen Melderegister.
4.2. Die Feststellungen zu den Gründen des BF für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die von ihm vor dem BFA und im Beschwerdeverfahren getroffenen Aussagen.
Als fluchtauslösendes Ereignis brachte der BF im Verfahren vor, dass er als Informant für die Regierung gearbeitet und Aktivitäten der Taliban verraten hätte, weshalb er von diesen mit dem Tode bedroht worden wäre.
Festzuhalten ist, dass diese Verfolgungsgründe weder bewiesen noch ausreichend belegt worden sind. Daher ist zur Beurteilung, ob die Verfolgungsgründe als glaubhaft gemacht anzusehen sind, auf die persönliche Glaubwürdigkeit des BF und das Vorbringen zu den Fluchtgründen abzustellen.
Die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des BF hat vor allem zu berücksichtigen, ob dieser außerhalb des unmittelbaren Vortrags zu seinen Fluchtgründen die Wahrheit gesagt hat; auch ist die Beachtung der in Paragraph 15, AsylG normierten Mitwirkungspflichten gemäß Paragraph 18, Absatz 2, AsylG und die sonstige Mitwirkung des BF im Verfahren zu berücksichtigen.
Festzuhalten ist, dass das Vorbringen des BF mehrere gravierend widersprüchliche Angaben enthält:
Bereits im Zuge seiner Aussagen betreffend seine Familienangehörigen traten Unstimmigkeiten auf, welche geeignet sind, die Glaubhaftigkeit des Vorbringens im Gesamten zu beeinträchtigen. So gab der BF im Zuge der Erstbefragung am 18.05.2015 an, dass er verheiratet sei und fünf Söhne sowie zwei Töchter habe. Sein Vater sei bereits 2011 an einer Krankheit verstorben. In der Einvernahme am 08.09.2015 jedoch brachte er vor, vier Söhne und drei Töchter zu haben. Ferner sei sein Vater im Zuge eines Bombenanschlages 2011 getötet worden („Mein Vater war am 19.02.2011 bei der Bank und wollte dort seine Bankgeschäfte erledigen, da kamen Attentäter und er wurde getötet.“). Diese Angaben machte er auch in seiner Einvernahme am 13.12.2018. In der Verhandlung am 15.02.2022 wiederum sagte der BF aus, dass er drei Söhne und vier Töchter habe. Erst auf mehrmalige Nachfrage und auf die Widersprüche angesprochen gab er dann an, dass er nur seine lebenden Söhne gemeint hätte, sein ältester Sohn sei bereits verstorben. Diese Behauptung ist allerdings keine Erklärung dafür, dass der BF in der Erstbefragung fünf Söhne und zwei Töchter, in den Einvernahmen vor dem BFA vier Söhne und drei Töchter und vor dem BVwG drei Söhne (bzw. vier inklusive dem verstorbenen) und nunmehr vier Töchter aufgezählt hat. Auch der Widerspruch zwischen Erstbefragung und Einvernahme vor dem BFA hinsichtlich der Todesart des Vaters spricht gegen die Glaubwürdigkeit des BF, zumal gerade die Erstbefragung dazu dient, neben der Reiseroute auch die persönlichen Familienverhältnisse zu klären.
Betreffend den ältesten Sohn verwickelte sich der BF ebenfalls in Widersprüchlichkeiten. So brachte er in der Einvernahme am 13.12.2018 vor, dass dieser im Jahre 2016 entführt worden wäre („Im Februar oder März 2016 haben die Taliban wahrscheinlich unseren Wohnort gefunden und haben meinen Sohn entführt, der bis jetzt spurlos verschwunden ist. Ich habe keine Ahnung, wo er ist.“). Allerdings kam es hier bereits zu einer ersten Unstimmigkeit, da der nachgereiste Sohn, der ebenfalls in Österreich einen Asylantrag stellte, in seiner Einvernahme am 13.12.2018 angegeben hatte, sein Bruder sei am 22. oder 23.09.2016 entführt worden. In der Verhandlung am 15.02.2022 allerdings behauptete der BF plötzlich, dass der entführte Sohn verstorben sei. Dieser sei fünf oder sechs Monate nach dem Überfall auf das Haus der Familie, sohin Ende 2013/Anfang 2014, von Taliban verschleppt worden und nach weiteren vier bis fünf Monaten hätte er bei einem Bombardement fliehen können, allerdings wäre er nach seiner Rückkehr zuhause verstorben. Erfahren hätte er vom Tod seines Sohnes kurz nach seiner Ankunft in Österreich im Jahre 2015. Hier stellt sich somit die Frage, weshalb der BF in seiner Einvernahme am 13.12.2018 behauptet hatte, der Sohn sei 2016 – und nicht Anfang 2014 – entführt worden und gelte noch immer als verschollen, obwohl ihm dessen Tod im Jahr 2014 bekannt gewesen sein müsste. Auch brachte der BF in der Einvernahme am 13.12.2018 vor, dass der BF am neuen Wohnort der Familie in Jalalabad, den die Taliban offenbar herausgefunden hätten, entführt worden wäre, und es wäre beim Einkaufen geschehen („Im Februar oder März 2016 haben die Taliban wahrscheinlich unseren Wohnort gefunden und haben meinen Sohn entführt…[…]…Mein Sohn war wegen Einkaufens draußen, als er von den Taliban entführt wurde…“). In der Verhandlung am 15.02.2022 allerdings behauptete er, der Sohn sei mit seiner Großmutter im Heimatdorf verblieben und dort entführt worden („RI: Wurde Ihr Sohn aus Ihrem Heimatdorf/Elternhaus entführt? BF: Vom Heimatdorf.“). Ferner gab der BF in der Verhandlung am 15.02.2022 zuerst an, dass der Sohn zwei bis drei Monate nach seiner Flucht verstorben sei („…Er wurde von den Taliban entführt und dann wurde unser Dorf von der NATO bombardiert. Dadurch konnte er fliehen. Er kam nach Hause und zwei oder drei Monate später ist er verstorben.“). Nur wenig später brachte er jedoch vor, dass nur zwei bis drei Tage zwischen Rückkehr und Tod vergangen wären („RI: Was hat er nach der Freilassung gemacht? BF: Nachdem er zu Hause angekommen ist, ist er zwei oder drei Tage später verstorben.“). Des Weiteren gab der BF in der Verhandlung anfangs an, dass er beim Tod des Sohnes auf dem Weg nach bzw. bereits in Österreich gewesen sei („RI: Wann ist Ihr Sohn verstorben? BF: Ca. vor vier oder fünf Jahren, oder vor sechs Jahren. RI: Waren Sie da noch in Afghanistan? BF: Nein, ich war bereits in Österreich. Er starb nach meiner Ausreise aus Afghanistan, das war im Jahr 2014. Ich war auf dem Weg nach Österreich.“). Später allerdings änderte er diese Aussage und brachte vor, dass er sich beim Tod des Sohnes noch in Afghanistan in Kunar aufgehalten hätte („RI: Waren Sie schon in Österreich? Können Sie mir das ungefähr sagen? BF: Im fünften oder sechsten Monat des Jahres 2014. Ich war da in Kunar.“).
Betreffend seine Tätigkeit für die Regierung machte der BF vor dem BFA und dem BVwG ebenfalls Angaben, die sich inhaltlich massiv widersprachen. So gab er in der Einvernahme am 08.09.2015 an, dass er einen Kontaktmann namens römisch 40 gehabt hätte, der Sicherheitskommandant gewesen wäre und dem er immer wieder Informationen weitergegen hätte. Dabei hätte er alle 24 Stunden mit dem Chauffeur des Kommandanten namens römisch 40 telefoniert („Ich konnte ihn nicht anrufen, der Fahrer hatte meine Telefonnummer und hat mich immer angerufen. Einmal alle 24 Stunden wurde ich durch ihn kontaktiert.“). Nur kurz darauf behauptete der BF jedoch, alle 24 Stunden mit dem Kommandanten selbst telefoniert und sich mit ihm getroffen zu haben, wenn er Informationen gehabt hätte („LA: Wie oft trafen Sie diesen Kommandanten? VP: Er hat mich alle 24 Stunden einmal angerufen, ich habe dann mit ihm gesprochen. Wenn ich neue Informationen hatte, haben wir uns getroffen, ansonsten habe ich Ausreden verwendet…“). In der Verhandlung am 15.02.2022 brachte der BF dann vor, dass er nur ein- bis zwei Mal im Monat Kontakt mit dem Kommandanten gehabt und ihn getroffen hätte, von den Anrufen alle 24 Stunden erwähnte er nichts („RI: Wie haben Sie den getroffen und wie oft haben Sie ihn getroffen und wie haben Sie ihm Informationen übermittelt? BF: Einmal im Monat habe ich mich mit ihm im Restaurant in Jalalabad getroffen. RI: Dh, Sie haben einmal im Monat mit ihm Kontakt gehabt? BF: Einmal bis zweimal im Monat habe ich diesem Mann Informationen über die Taliban gegeben. Der Kommandant ist in die Hauptstadt der Provinz gefahren und dann hat er mich telefonisch kontaktiert.“).
Gravierende Widersprüche ergaben sich auch bezüglich der Art und Weise, wie der BF an die Informationen gekommen sein will. So gab er in der Einvernahme am 08.09.2015 an, dass er an den Treffen der Taliban teilgenommen und Teil ihrer Zelle gewesen sei, so habe er von ihren Plänen erfahren („LA: Wie kamen Sie zu diesen Informationen, woher erfährt man von einer Operation der Taliban? VP: Ich saß mit den Taliban bei den Besprechungen. LA: Also waren Sie mit den Taliban in einer Zelle integriert? VP: Ja, ich war Autofahrer, bin zur Schule gegangen, die haben nicht geglaubt, dass ich mit der Regierung arbeite.“). In der Einvernahme am 08.09.2015 allerdings behauptete er, niemals bei den Taliban dabei gewesen zu sein, er hätte immer von anderen Einwohnern etwas über die Bewegungen der Taliban erfahren, die diese in den Bergen gesehen hätten („LA: Wie sind Sie zu den Informationen über die Taliban gekommen? VP: Von den Einwohnern unseres Gebietes – wir sind zu Hause am Fuß eines Berges namens römisch 40 an der Grenze, da sind Nomaden und Bauern zu Hause – habe ich mich ab und zu informiert.“). Zuletzt gab er dann in der Verhandlung am 15.02.2022 an, dass er selbst die Taliban beobachtet und das Gesehene an den Kommandanten weitergegeben hätte („RI: Dh, die Informationen die Sie weitergegeben haben, waren persönliche Beobachtungen? BF: Ja, was ich selbst beobachtet habe. Ich habe das dem Mann berichtet.“). An Versammlungen der Taliban hätte er allerdings nie teilgenommen („RI: Haben Sie außer diesen Einkäufen sonst noch etwas gemacht oder waren Sie an Versammlungen dabei? BF: Nein, ich habe nicht an Versammlungen teilgenommen.“). Auch bezüglich seiner Bezahlung widersprach sich der BF, zumal er in der Einvernahme am 08.09.2015 angab, 15.000 Afghani erhalten zu haben, während er am 13.12.2018 und in der Verhandlung am 15.02.2022 behauptete, 10.000 Afghani bekommen zu haben.
Des Weiteren erwähnte der BF bei seinen beiden Einvernahmen vor dem BFA einen gewissen römisch 40 und einen römisch 40 , wobei er vermuten würde, dass ihn letzterer an die Taliban verraten hätte, da dieser ein Auto des Kommandanten gestohlen und zu den Taliban übergelaufen wäre. Allerdings brachte der BF in der Einvernahme am 08.09.2015 vor, dass sowohl römisch 40 als auch römisch 40 Fahrer des Kommandanten gewesen seien, wobei römisch 40 von diesem illegal angestellt worden wäre. In der Einvernahme am 13.12.2018 jedoch behauptete der BF, dass römisch 40 aus seinem Heimatdorf stammen würde und die gleiche Funktion wie er selbst, nämlich Informant des Kommandanten, bekleidet hätte. Nicht nachvollziehbar ist, dass der BF nunmehr in der Verhandlung am 15.02.2022 diese beiden Personen von sich aus in der freien Erzählung mit keinem Wort erwähnte, obwohl ja der römisch 40 durch seinen angeblichen Verrat für die Probleme und die damit zusammenhängende Flucht verantwortlich gewesen sein soll. Dass römisch 40 in der Geschichte des BF keine Rolle spielte und er diesen erst auf Nachfrage benannte, spricht dafür, dass das Fluchtvorbringen des BF im Gesamten ein gedankliches Konstrukt darstellt.
Betreffend den Überfall der Taliban auf das Haus der Familie und die anschließende Flucht ist festzuhalten, dass auch dies vom BF nicht widerspruchsfrei geschildert werden konnte. So gab er vor dem BFA am 08.09.2015 an, dass er am 15.07.2014 Informationen über die Taliban weitergegeben hätte, woraufhin am Abend des gleichen Tages das Bombardement des Dorfes stattgefunden hätte. Danach hätte man ihn gewarnt und er wäre zehn bis fünfzehn Tage in Jalalabad aufhältig gewesen, dann wären die Taliban im Heimatdorf vorbeigekommen und hätten den Bruder erschossen („Am 15.07.2014 habe ich Informationen an die Regierung weitergegeben, dass in unser Dorf Taliban gekommen sind…[…]… Ich war 10-15 Tage lang in Jalalabad aufhältig, die Taliban waren bei mir zu Hause.“). In der Einvernahme am 13.12.2018 allerdings gab der BF an, dass die Taliban ca. einen Monat nach der Bombardierung sein Haus aufgesucht hätten, was nicht zu den vorher erwähnten zehn bis fünfzehn Tagen passt („Ca. ein Monat blieb nach diesem Vorfall alles ruhig. Eines Nachts kamen die Taliban zu uns nach Hause und suchten nach mir.“). In der Verhandlung am 15.02.2022 dann behauptete der BF plötzlich, dass das Gefecht zwischen NATO und Taliban im achten Monat des Jahres 2013 stattgefunden hätte, was somit eine Abweichung von über einem Jahr gegenüber seiner Aussage vor dem BFA bedeuten würde („RI: Wann war diese Bombardierung? BF: Das war im achten Monat des Jahres 2013. […] RI: Können Sie mir noch einmal wiederholen, wann die Bombardierung des Dorfes war? BF: Ich glaube es war im achten Monat des Jahres 2013.“). Ferner behauptete der BF, dass die Taliban zwei bis drei Tage nach der Bombardierung zuhause vorbeigekommen wären, was den zuvor erwähnten zehn bis fünfzehn Tagen bzw. dem Monat widerspricht („Ich war nicht zu Hause, während die Bombardierung stattgefunden hat. Zwei Tage später kamen die Taliban zu uns nach Hause.“). Weiters gab der BF in der Einvernahme am 08.09.2015 an, drei bis vier Taliban wären bei dem Angriff ums Leben gekommen. Am 13.12.2018 brachte der BF vor, dass ein Stellvertreter des Kommandanten und drei weitere Taliban, also vier, getötet worden wären. In der Verhandlung am 15.02.2022 erwähnte er zuerst zwei bis drei Opfer, später drei bis vier tote Taliban. Diese ungenauen und widersprüchlichen Angaben bezüglich der Opferzahlen verwundern, zumal der BF offenbar immer gut informiert gewesen sein will und wohl genauere Angaben über die getöteten Taliban machen müsste können.
Ferner sagte der BF vor dem BFA aus, dass jemand zu ihm geschickt worden wäre, der ihn persönlich über den Überfall auf sein Haus informiert hätte („Erst am nächsten Morgen wurde jemand von zu Hause zu mir geschickt, um mir die nächtlichen Ereignisse mitzuteilen.“). Vor dem BVwG jedoch behauptete er, telefonisch davon unterrichtet worden zu sein („RI: Wurden Sie persönlich oder telefonisch informiert? BF: Meine Freunde haben mich telefonisch informiert.“).
Betreffend die weiteren Vorkommnisse brachte der BF in der Einvernahme am 08.09.2015 vor, dass dann seine Familie zu ihm nach Jalalabad gekommen wäre, wo ihm ein dort wohnender Freund namens römisch 40 zwei Zimmer zur Verfügung gestellt hätte („Mein Schwager hat meine Kinder und meine Familie nach Jalalabad gebracht. Mein Freund namens römisch 40 , der in Jalalabad wohnt, hat mir zwei Zimmer zur Verfügung gestellt.“). In der Einvernahme am 13.12.2018 wiederholte der BF diese Angaben und gab an, noch einen Monat bis zu seiner Ausreise gemeinsam mit seiner Familie in Jalalabad gelebt zu haben („Und so habe ich dann auch meine Familie aus dem Heimatdorf nach Jalalabad in eine Siedlung namens römisch 40 geholt…[…] Nach dem Entschluss war ich noch einen Monat in diesem gemieteten Haus bei meiner Familie, dann habe ich Afghanistan verlassen.“). In der Verhandlung am 15.02.2022 behauptete der BF jedoch, er hätte zwei Freunde gehabt, einer heiße römisch 40 und der andere römisch 40 („BF: Ein Freund hat römisch 40 geheißen und der andere hat römisch 40 geheißen. Sie waren meine Geschäftspartner.“), aus einem Freund mit Doppelnamen wurden somit zwei Personen. Auch gab er an, dass diese Freunde nicht in Jalalabad, sondern in Kunar gewohnt hätten. Ferner brachte er plötzlich vor, nach dem Bombardement und dem Überfall noch ein ganzes Jahr – und nicht einen Monat – in Afghanistan geblieben zu sein und dabei nicht in Jalalabad, sondern in Kunar bei einem der Freunde gewohnt zu haben („RI: Wie lange waren Sie dann noch in Afghanistan nach diesem Überfall auf Ihr Haus? BF: Dann bin ich nach Kunar gefahren und dort blieb ich im Haus meines Geschäftspartners. Im achten Monat des Jahres 2014 bin ich ausgereist. Die beiden Partner haben für mich einen Schlepper organisiert. RI: Dh, dass Sie ein Jahr nach der Bombardierung des Dorfes ausgereist sind? BF: Ja, ich habe mich acht Monate lang im Haus meines Partners in der Provinz Kunar versteckt aufgehalten.“). Dass er jemals in Jalalabad gewesen wäre, bestritt er („RI: Sie waren in Kunar und nicht in Jalalabad wohnhaft? BF: In Kunar.“). Auch bezüglich seiner Familie widersprach er sich, so gab er an, dass er diese nur mehr ein Mal nach dem Überfall gesehen hätte, da er selbst in Kunar und die Familie in Jalalabad gewohnt hätte („RI: Während Sie in Kunar waren, war Ihre Familie weiterhin im Heimatdorf? BF: Meine Familie hat dann in Jalalabad gelebt. Mein Geschäftspartner hat für sie ein Haus organisiert. […] RI: Haben Sie zwischen den Bombardierungen und Ihrer Ausreise Ihre Familie gesehen? BF: Einmal habe ich mich mit meiner Familie in Jalalabad getroffen. Ich bin heimlich nach Jalalabad gefahren und eine halbe Stunde blieb ich bei meiner Familie und bin dann nach Kunar gefahren.“). Dies stimmt mit der Aussage vor dem BFA, er hätte einen Monat lang in Jalalabad gemeinsam mit seiner Familie verbracht, nicht überein. Auch in der Erstbefragung, die ja zur Klärung des Reiseweges dient, hatte der BF angegeben, seine Reise im Oktober 2014 von Jalalabad aus begonnen zu haben, was ebenfalls nicht zu seinen Angaben vor dem BVwG, er hätte sich bis zur Ausreise in Kunar versteckt, passt.
Zum vorgelegten Drohbrief ist allgemein festzuhalten:
Der Daily Caller, eine US-amerikanische Onlinezeitung, berichtete über Drohbriefe der Taliban:
[…] „Todesdrohungen – übermittelt durch handgeschriebene Briefe – haben eine lange Tradition in der Region und wurden normalerweise jenen übermittelt, die mit den internationalen Kräften kollaborierten. Obwohl die Taliban diese Methoden größtenteils aufgegeben haben, haben Fälscher diese übernommen und verkaufen Briefe auf dem Briefpapier des islamischen Emirates für US$ 1.000 pro Stück.
Ein Fälscher, Mukhamil, gab an, dass aktuell nur 1 Prozent der Briefe ernsthafte Bedrohungen sind. Mukhamil entnimmt einfach ein Talibanlogo aus dem Internet, setzt es ins Dokument ein und behauptet dann, dass der Briefkäufer für die US arbeitet und ernsthaften Strafen ausgesetzt sein wird.“ […].
(Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 28.07.2016, Taliban Drohbriefe, Bedrohung militärischer Mitarbeiter)
Bezüglich des Drohbriefes ist somit auszuführen, dass diesem im Hinblick auf die vorgebrachten Fluchtgründe nur wenig Beweiskraft zukommt. So könnte es sich dabei mangels Möglichkeiten, die Echtheit des Schriftstücks zu verifizieren, um ein Gefälligkeitsschreiben einer beliebigen Person handeln, und es ist – wie oben ausgeführt – amtsbekannt, dass in Afghanistan jegliche Urkunden und alle Arten von gefälschten Dokumenten verfügbar sind.
Selbiges gilt für das zweite vorgelegte Schreiben an den Bezirkshauptmann des Bezirkes, welches der BF selbst als Antragsteller verfasst hat und welches daher selbst im Falle unterstellter Authentizität keine Bestätigung der vom BF aufgestellten Behauptungen darstellen kann.
Zusammengefasst ist festzustellen, dass der BF aufgrund der oben aufgezählten, mehrfachen Widersprüche keinerlei Glaubwürdigkeit betreffend eine mögliche Verfolgung durch die Taliban erlangen konnte.
Der Ermittlungspflicht des BFA steht eine Mitwirkungspflicht des BF gegenüber. Der VwGH hat in ständiger Judikatur erkannt, dass es für die Glaubhaftmachung der Angaben erforderlich ist, dass der BF die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert, und dass diese Gründe objektivierbar sind, wobei zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals des „Glaubhaft-Seins“ der Aussage des Asylwerbers selbst wesentliche Bedeutung zukommt. Damit ist die Pflicht des Antragstellers verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der Voraussetzungen und für eine Asylgewährung spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzungen liefern. Insoweit trifft den Antragsteller eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 11.11.1991, 91/12/0143, VwGH 13.04.1988, 86/01/0268). Der Antragsteller hat daher das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (u.a. VwGH 26.06.2997, 95/18/1291, VwGH 17.07.1997, 97/18/0336, VwGH 05.04.1995, 93/180289). Die Mitwirkungspflicht bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann.
Das Verwaltungsverfahren im Asylverfahren sieht neben der allgemeinen Manuduktionspflicht des AVG (Paragraph 13 a, leg. cit.) eine Reihe weiterer verfahrenssichernder Maßnahmen vor, um einerseits der Verpflichtung nach Paragraph 37, AVG nachhaltig Rechnung zu tragen, sowie andererseits um die in einem solchen Verfahren oft schwierigen Beweisfragen zu klären. Daher ist die erkennende Behörde auch auf die Verwertung allgemeiner Erfahrungssätze angewiesen. Die Bildung von solchen Erfahrungssätzen ist aber nicht nur zu Gunsten des Asylwerbers möglich, sondern sie können auch gegen ein Asylvorbringen sprechen.
Es entspricht der ständigen Judikatur des VwGH, wenn Gründe, die zum Verlassen des Heimatlandes bzw. Herkunftsstaates geführt haben, im Allgemeinen als nicht glaubwürdig angesehen werden, wenn der Asylwerber die nach seiner Meinung einen Asyltatbestand begründenden Tatsachen im Laufe des Verfahrens – niederschriftlichen Einvernahmen – unterschiedlich oder sogar widersprüchlich darstellt, wenn seine Angaben mit den der Erfahrung entsprechenden Geschehnisabläufen oder mit tatsächlichen Verhältnissen bzw. Ereignissen nicht vereinbar und daher unwahrscheinlich erscheinen, oder wenn er maßgebliche Tatsachen erst sehr spät im Laufe des Asylverfahrens vorbringt (VwGH 06.03.1996, 95/20/0650).
Da dies auf das Vorbringen des BF zutrifft, konnte der BF eine begründete, asylrelevante Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft machen.
Dass der BF in Afghanistan aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt werde, wurde von ihm somit nicht behauptet und sind aus dem vorgebrachten Sachverhalt auch von Amts wegen keine Hinweise auf eine solche Verfolgung hervorgekommen.
Von weiteren Erhebungen im Herkunftsland konnte daher Abstand genommen werden. Da weitere Fluchtgründe weder behauptet wurden, noch von Amts wegen hervorgekommen sind, konnte eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht werden.
4.3. Zu einer Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat und zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aufgrund des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 28.01.2022, den EASO-Richtlinien (Country Guidance Afghanistan) von Dezember 2020 und November 2021, der UNHCR-RL vom 30.08.2018, der UNHCR-Position zu Afghanistan vom August 2021, der Guidance Note on the International Protection Needs of People Fleeing Afghanistan vom Februar 2022 sowie der zahlreichen nationalen und internationalen Berichterstattungen zum Vormarsch und zur Machtübernahme der Taliban. Aufgrund der derzeitigen Entwicklung ist den aktuellsten Kurzinformationen der Staatendokumentation, der aktuellen UNHCR-Position und den aktuellen Medienberichten in der Beweiswürdigung der größte Stellenwert aufgrund der notwendigen Aktualität einzuräumen.
Die Feststellungen zu den Folgen einer Rückkehr des BF nach Afghanistan ergeben sich aus den oben angeführten Länderberichten in Zusammenschau mit den persönlichen Umständen des BF sowie der zahlreichen, aktuellen nationalen und internationalen Berichterstattungen:
Beim BF handelt es sich zwar um einen arbeitsfähigen Mann, der über Schulbildung und Arbeitserfahrung verfügt, sodass bisher die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben in Afghanistan vorausgesetzt werden konnte. Auch ist er mit den wesentlichen Gegebenheiten, Bräuchen als auch drei der gesprochenen Sprachen Afghanistans vertraut.
Trotzdem wäre es dem BF aufgrund der nunmehr in Afghanistan herrschenden Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit derzeit nicht möglich, Afghanistan zu erreichen und sich dort eine Existenz aufzubauen, ohne eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seine körperliche Unversehrtheit zu riskieren, auch nicht mehr, wie festgestellt, in den zuvor relativ sicheren Städten Mazar-e Sharif und Herat. Herat, ebenso wie Kandahar, fiel am 12.08.2021, wie aus der unzähligen nationalen und internationalen Berichterstattung hervorging, an die Taliban. Mazar-e Sharif wurde am 14.08.2021 erobert. Die Hauptstadt Kabul fiel mit 15.08.2021 ebenfalls an die Taliban und begab sich der afghanische Präsident außer Landes. In der Folge wurde der Präsidentenpalast durch die Taliban besetzt und es kam zu chaotischen Szenen am Flughafen Kabul sowie zur Stellungnahme der afghanischen Behörde für Flugsicherheit, den afghanischen Luftraum in der Zivilluftfahrt zu meiden, da dieser nur für militärische Flüge freigegeben sei, weshalb aus Sicht des erkennenden Richters keine Erreichbarkeit mehr gegeben ist. Auch zeigt sich die grundsätzlich instabile Sicherheitslage darin, dass nach Afghanistan entsandte Vertreter zahlreicher Staaten von ihren Heimatstaaten aufgefordert wurden, Afghanistan zu verlassen.
- https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-taliban-erobern-mit-kandahar-die-zweitgroesste-stadt-17483081.html [Frankfurter Allgemeine, 13.08.2021]
- https://www.sn.at/politik/weltpolitik/bereits-18-provinzhauptstaedte-afghanistans-in-taliban-hand-107903731 [Salzburger Nachrichten, 14.08.2021]
- https://www.sn.at/politik/weltpolitik/taliban-verkuenden-sieg-praesidentenpalast-besetzt-108029776 [Salzburger Nachrichten, 15.08.2021]
- https://orf.at/stories/3225020/ [orf.at, 16.08.2021]
- https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-ein-fluechtling-berichtet-vom-taliban-terror-17486919.html [Frankfurter Allgemeine, 16.08.2021]
- https://www.sn.at/politik/weltpolitik/chaotische-szenen-am-flughafen-in-kabul-108078907 [Salzburger Nachrichten, 16.08.2021]
- https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-flucht-vor-taliban-chaos-am-flughafen-von-kabul-a-497a0d6c-fecc-406f-bc71-07d8b0d39707 [Spiegel, 16.08.2021]
- https://www.bbc.com/news/world-asia-58227029 [BBC News, 16.08.2021]
- https://www.reuters.com/world/asia-pacific/airlines-reroute-flights-avoid-afghanistan-airspace-2021-08-16/ [CNN News, 16.08.2021]
Die derzeit in ganz Afghanistan herrschende schlechte Sicherheitslage zeigt sich auch darin, dass bereits viele europäische Staaten, wie unter anderem Deutschland, Frankreich, Schweden und die Niederlande, vorübergehend Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt haben, zumal der Wunsch danach von mittlerweile abgelösten Regierungsvertretern geäußert wurde, die die Lage aus nächster Nähe einschätzen konnten.
- https://www.derstandard.at/story/2000128854309/niederlande-und-deutschland-setzen-abschiebungen-nach-afghanistan-aus [Der Standard, 11.08.2021]
- https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-frankreich-stoppt-abschiebefluege-nach-kabul-a-cad7bdae-7ed7-427a-b0c6-d9451c3f7891 [Spiegel, 12.08.2021]
Vor dem Hintergrund der de facto derzeit aufgrund des Umbruchs nicht beurteilbaren Sicherheits- und Versorgunglage – somit der Faktenlage zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – und deren Entwicklung in naher Zukunft in Afghanistan war in Zusammenschau mit den persönlichen Merkmalen des BF in einer Gesamtschau festzustellen, dass nunmehr in ganz Afghanistan ein solcher Grad an willkürlicher Gewalt herrscht, dass er allein durch seine Anwesenheit tatsächlich einer ernsthaften, individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt ist und dass er Gefahr läuft, dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
Eine Gesamtschau der Umstände führt zur Feststellung, dass es dem BF aufgrund der angespannten Situation in allen Teilen Afghanistan nicht zumutbar ist, eine Existenz im Herkunftsstaat aufzubauen.
Dass der BF mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 angehört, ergibt sich aus den – auf Basis allgemein zugänglicher Informationen der WHO getroffenen – Feststellungen zu dieser Erkrankung. Es ist demnach auch keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit dafür zutage getreten, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. Dass nun durch die Machtübernahme der Taliban die Pandemieentwicklung in Afghanistan nicht mehr einschätzbar ist, folgt aus der im Allgemeinen unsicheren Lage in Afghanistan.
5. Rechtliche Beurteilung:
5.1. Anzuwendendes Recht:
Gegenständlich sind die Verfahrensbestimmungen des AVG, des BFA-VG, des VwGVG und jene im AsylG enthaltenen sowie die materiellen Bestimmungen des AsylG in der geltenden Fassung samt jenen Normen, auf welche das AsylG verweist, anzuwenden.
Gemäß Paragraph 6, Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 10 aus 2013, in der geltenden Fassung, entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, des BFA-Verfahrensgesetzes (BFA-VG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012, in der geltenden Fassung, entscheidet über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA das BVwG.
Gemäß Paragraph 27, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (Paragraph 9, Absatz 3,) zu überprüfen.
Gemäß Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß Paragraph 15, AsylG hat der Asylwerber am Verfahren nach diesem Bundesgesetz mitzuwirken und insbesondere ohne unnötigen Aufschub seinen Antrag zu begründen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Gemäß Paragraph 18, AsylG hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
5.2. Rechtlich folgt daraus:
Zu Spruchteil A):
5.2.1. Die gegenständliche und zulässige Beschwerde wurde rechtzeitig beim BFA eingebracht und ist nach Vorlage am 07.02.2019 beim BVwG eingegangen. Das Verfahren wurde am 05.07.2021 der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des BVwG zuständigen Einzelrichter.
5.2.2. Zu den Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides:
5.2.2.1. Zu Paragraph 3, AsylG (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):
5.2.2.1.1. Gemäß Paragraph 3, AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist und glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 55 aus 1955,, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Bundesgesetzblatt Nr. 78 aus 1974, (in der Folge GFK) droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; Neufassung) verweist.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG) gesetzt hat.
Die mit 01.01.2016 in Kraft getretenen Absatz 4 bis 4b des Paragraph 3, AsylG, die gemäß Paragraph 75, Absatz 24, für Asylanträge gelten, die nach dem 15.11.2015 gestellt worden sind, lauten:
„(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.
(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (Paragraph 5, BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.
(4b) In einem Familienverfahren gemäß Paragraph 34, Absatz eins, Ziffer eins, gilt Absatz 4, mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.“
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist vergleiche z.B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse vergleiche VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vergleiche auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.
Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein vergleiche dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird vergleiche VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370; VwGH 22.10.2002, 2000/01/0322).
Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. „inländische Fluchtalternative“ vor. Der Begriff „inländische Fluchtalternative“ trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, 98/01/0503 und 98/01/0648).
Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne des Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, 98/20/0399; VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).
5.2.2.1.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen konnte vom BF jedoch nicht glaubhaft gemacht werden. Das Verlassen des Herkunftsstaates aus persönlichen Gründen oder wegen der dort vorherrschenden prekären Lebensbedingungen stellt keine relevante Verfolgung im Sinne der GFK dar. Auch Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen keine Verfolgung im Sinne der GFK dar.
Da der BF die behaupteten Fluchtgründe, nämlich die – aktuell drohende – Verfolgung durch die Taliban, nicht hat glaubhaft machen können, liegt die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, nicht vor. Soweit er eine Verfolgung durch Privatpersonen behauptet, fehlt es überdies an einem ausreichenden Zusammenhang mit einem Konventionsgrund.
Aus den Länderinformationen der Staatendokumentation sowie den EASO Country Guidance zu Afghanistan ergibt sich, dass Rückkehrer keiner Stigmatisierung oder Gewalt aufgrund ihrer „Verwestlichung“ ausgesetzt sind. Vielmehr ist eine Rückkehr auch ohne Gefahr von Verfolgung aufgrund einer unterstellten politischen Gesinnung möglich. Zusätzlich gehört der BF der Volksgruppe der Paschtunen und damit der größten Ethnie Afghanistans an. Schließlich entspricht es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass etwa Männern in Afghanistan keine asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer „westlichen Orientierung“ droht (siehe etwa VwGH 30.03.2021, Ra 2019/19/0518, zuletzt auch VwGH 21.05.2021, Ra 2021/19/0143).
Auch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan lässt sich für den BF eine Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht herleiten: Eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation stellt nach ständiger Judikatur des VwGH keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar vergleiche etwa VwGH vom 14.03.1995, 94/20/0798; 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen vergleiche etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; 30.04.1997, 95/01/0529; 8.9.1999, 98/01/0614). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung – zusammenhängt, was im vorliegenden Fall zu verneinen ist.
Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG als unbegründet abzuweisen.
5.2.2.2. Zu Paragraph 8, AsylG (Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen 1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder 2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß Artikel 2, EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Gemäß Artikel 3, EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Protokolle Nr. 6 und Nr. 13 zur Konvention betreffen die Abschaffung der Todesstrafe.
Gemäß Paragraph 8, Abs ist die Entscheidung über Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Absatz eins, mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, AsylG 2005 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach Paragraph 7, AsylG 2005 zu verbinden.
Bei der Beurteilung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz ist im Einzelfall zu prüfen, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Artikel 3, EMRK verstoßenden Behandlung droht vergleiche Unter realer Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen vergleiche etwa VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus. Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Artikel 3, EMRK auch sonst gültigen Maßstab des "real risk", wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat vergleiche VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; 31.05.2005, 2005/20/0095; 25.04.2017, Ra 2017/01/0016).
Gemäß Paragraph 8, Absatz 3, AsylG sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG) offen steht. Dies ist gem. Paragraph 11, Absatz eins, AsylG dann der Fall, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins, AsylG) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerberin zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (Paragraph 11, Absatz 2, AsylG).
Selbst wenn einem Antragsteller in seiner Herkunftsregion eine Artikel 3, EMRK-widrige Situation drohen sollte, ist seine Rückführung daher dennoch möglich, wenn ihm in einem anderen Landesteil seines Herkunftsstaates eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (Paragraph 11, AsylG). Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative muss dem Fremden – im Sinne eines zusätzlichen Kriteriums – zumutbar sein (Prüfung der konkreten Lebensumstände am Zielort); für die Frage der Zumutbarkeit (im engeren Sinn) muss daher ein geringerer Maßstab als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes als maßgeblich angesehen werden vergleiche Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, Paragraph 11, AsylG 2005, K15).
Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein – im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen – höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen. In diesem Fall kann das reale Risiko der Verletzung von Artikel 2, oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bereits in der Kombination der prekären Sicherheitslage und der besonderen Gefährdungsmomente für die einzelne Person begründet liegen vergleiche VwGH 30.09.2019, Ra 2018/01/0068).
Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (VwGH 25.05.2020, Ra 2018/19/0652, mwN).
Für den hier in Rede stehenden Herkunftsstaat Afghanistan hat der Verwaltungsgerichtshof jüngst mehrfach auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hingewiesen, wonach die allgemeine Situation in Afghanistan nicht so gelagert ist, dass schon alleine die Rückkehr eines Antragstellers dorthin eine ernsthafte Bedrohung für die durch Artikel 3, EMRK geschützten Rechte bedeuten würde (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/01/0134, 18.03.2016, Ra 2015/01/0255, 13.09.2016, Ra 2016/01/0096).
In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner jüngeren zum Herkunftsstaat Afghanistan ergangenen Rechtsprechung wiederholt und unter Bezugnahme auf die diesbezügliche ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgesprochen, dass es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Artikel 3, EMRK widersprechende Behandlung drohen würde vergleiche etwa jüngst VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0243; sowie aus der ständigen Rechtsprechung des EGMR 8.10.2019, R.K./Russland, 30.261/17, Ziffer 46 ;, s. aber auch EGMR (GK) 23.3.2016, F.G./Schweden, 43.611/11, Ziffer 120 ;, (GK) 23.8.2016, J.K./Schweden, 59.116/12, Ziffer 91, f, jeweils mwN).
Der EGMR geht gestützt auf die Afghanistan-Richtlinien des UNHCR davon aus, dass die Übersiedlung in einen anderen Teil Afghanistans zumutbar ist, wenn Schutz durch die eigene Großfamilie, Gemeinschaft oder den Stamm am Zielort verfügbar ist; alleinstehenden Männern und Kleinfamilien ist es unter bestimmten Umständen auch möglich, ohne Unterstützung durch Familie und Gemeinschaft in städtischen oder halbstädtischen Gebieten mit existenter Infrastruktur und unter effektiver staatlicher Kontrolle zu überleben. Wegen des Zusammenbruchs des traditionellen sozialen Zusammenhalts in Afghanistan, der durch jahrzehntelange Kriege, massive Flüchtlingsströme und Landflucht verursacht worden ist, ist aber eine Prüfung jedes einzelnen Falles notwendig (VfGH 13.09.2013, U 370/2012 mit Verweis auf EGMR, 13.10.2011, Fall Husseini, App. 10.611/09, Ziffer 96 ;, 09.04.2013, Fall H. und B., Appl. 70.073/10 und 44.539/11, Ziffer 45 und 114).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss. Dabei hat sich das BVwG auch mit den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 sowie den Vorgaben der EASO Country Guidance Notes zu Afghanistan in adäquater Weise auseinanderzusetzen. Wie der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang weiters festgehalten hat, gehen weder EASO noch UNHCR von der Notwendigkeit der Existenz eines sozialen Netzwerkes in Mazar-e Sharif für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus vergleiche VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0398, mwN).
Zudem ist nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreichend, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen vergleiche VwGH 18.07.2019, Ra 2019/19/0197, mwN).
Ebenso entspricht es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren worden ist, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen ist vergleiche VwGH 29.4.2019, Ra 2019/20/0175, mwN).
Außerdem hindert allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfügt, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist vergleiche VwGH 22.04.2020, Ra 2020/18/0098, mwN).
Auch der Verfassungsgerichtshof führte etwa in seiner Entscheidung vom 12.12.2019, E 3369/2019 aus, dass zur Beurteilung einer Verletzung von Artikel 2, oder 3 EMRK hinreichend aktuelle Länderberichte heranzuziehen seien und dabei den UNHCR-Richtlinien sowie EASO-Berichten besondere Beachtung zu schenken sei. In dieser Entscheidung kam der Verfassungsgerichtshof unter Berücksichtigung der EASO Country-Guidance außerdem zum Ergebnis, dass für Rückkehrer, die außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung sowie Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans. Weiters führte der Verfassungsgerichtshof unter Verweis auf die oben zitierte Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 17.09.2019, Ra 2019/14/0160, aus, es bedürfe in einem solchen Fall einer Begründung, auf Grund welcher außergewöhnlichen Umstände es dem Beschwerdeführer dennoch möglich sein könnte, nach Afghanistan zurückzukehren, ohne dass er in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Artikel 2, EMRK auf Leben sowie gemäß Artikel 3, EMRK, weder der Folter, noch erniedrigender oder unmenschlicher Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wird.
Eine Wiederansiedlung des BF in seiner Herkunftsprovinz Nangarhar würde für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Gefahr seiner in Artikel 2, EMRK und Artikel 3, EMRK gewährleisteten Rechte mit sich bringen.
Im Fall des BF ist weiters auszuführen, dass nunmehr sowohl Kabul als auch Herat und Mazar-e Sharif an die Taliban gefallen sind und die Taliban folglich den Krieg in Afghanistan für beendet erklärt haben. Dementsprechend liegen in diesen Städten Bedingungen vor, die gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen. Dies deshalb, weil nun die aufständischen Taliban mit der Übernahme der Hauptstadt Kabul und der Flucht des Präsidenten aus Afghanistan die Herrschaft über ganz Afghanistan übernommen haben.
Dementsprechend kann auch nicht mehr von einer bestehenden innerstaatlichen Fluchtalternative ausgegangen werden. UNHCR hält es in seiner Position zur Rückkehr nach Afghanistan von August 2021 (abrufbar hier: https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2021/08/DE_UNHCR-Position_Ruckkehr-Afghanistan-2021-08-20.pdf, vergleiche dort insbesondere Punkt 4. und 7.) sowie in seiner die Guidance Note on the International Protection Needs of People Fleeing Afghanistan vom Februar 2022 nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- und Neuansiedlungsperspektive zu verwehren und fordert die Staaten aufgrund der volatilen Situation und der sich abzeichnenden humanitären Notlage in Afghanistan dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben (zur Indizwirkung von UNHCR-Richtlinien vergleiche u.a. VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0103, diese Indizwirkung wird auch der UNHCR-Position zu Afghanistan von August 2021 beigemessen).
Der EGMR setzte am 02.08.2021 im Fall R.A. gegen Österreich im Lichte der aktuellen Entwicklung der Sicherheitslage und der Entscheidung des afghanischen Ministeriums für Flüchtlinge und Rückführung an die Regierungen der Europäischen Union, vom 08.07.2021 bis 08.10.2021 keine Abschiebungen zu akzeptieren, mittels vorläufiger Maßnahme gemäß Artikel 39, der Verfahrensordnung des EGMR die Abschiebung eines afghanischen Asylwerbers bis 31.08.2021 aus (Appl.no. 38335/21).
Aufgrund der allgemeinen schlechten Sicherheitslage in Afghanistan und der Machtübernahme durch die Taliban, der individuellen Umstände des BF sowie dem Umstand, dass der BF weder Kabul noch Mazar-e Sharif oder Herat realitätsnahe erreichen kann, war in seinem Fall festzustellen, dass eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht gegeben ist.
Wie beweiswürdigend ausgeführt, ist dem BF aufgrund der sich rasant ändernden, sich verschlechternden Lage in Afghanistan (Flucht des afghanischen Präsidenten, sodass die bisherige afghanische Regierung offenbar keine Gebietssicherheit mehr ausübt und die Taliban nun die Macht auch in Kabul übernommen haben), der derzeit aufgrund des Umbruchs nicht beurteilbaren Sicherheits- und Versorgungslage und der unvorhersehbaren weiteren Entwicklungen die Rückkehr dorthin nicht möglich. Auf Basis der bereits dargestellten Judikatur des EGMR, des Verfassungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs führt aufgrund des festgestellten Sachverhalts die Prüfung der maßgeblichen Kriterien zu dem Ergebnis, dass dem BF bei einer Rückführung nach Afghanistan eine Verletzung seiner durch Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der durch die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention geschützten Rechte droht oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Dem BF wäre daher eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilten und der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilungen ist jedoch zu prüfen, ob ein Ausschlusstatbestand gemäß Paragraph 9, Absatz 2, AsylG besteht.
Paragraph 8, Absatz 3 a, AsylG normiert:
Ist ein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon mangels einer Voraussetzung gemäß Absatz eins, oder aus den Gründen des Absatz 3, oder 6 abzuweisen, so hat eine Abweisung auch dann zu erfolgen, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß Paragraph 9, Absatz 2, vorliegt. Diesfalls ist die Abweisung mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Dies gilt sinngemäß auch für die Feststellung, dass der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen ist.
Paragraph 9, Absatz 2, AsylG normiert:
(2) Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des Absatz eins, abzuerkennen, so hat eine Aberkennung auch dann zu erfolgen, wenn
1. einer der in Artikel eins, Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe vorliegt;
2. der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder
3. der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB, Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974,, entspricht.
In diesen Fällen ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Eine Prognose, ob infolge jener Handlungen, derentwegen ein Fremder rechtskräftig wegen eines Verbrechens verurteilt wurde, auch eine von ihm ausgehende Gefahr besteht, ist nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG nicht vorzunehmen vergleiche VwGH vom 22.10.2020, Ro 2020/20/0001).
Mit der Bestimmung des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG, die der Umsetzung des Artikel 17, Absatz eins, Litera b, Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) dient, verfolgte der Gesetzgeber vielmehr das Ziel, einen Fremden allein schon wegen der Verurteilung aufgrund einer schweren Straftat von der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auszuschließen. Zwar hat der Verwaltungsgerichtshof seine Rechtsprechung, wonach bei der Prüfung, ob der Tatbestand des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG erfüllt ist, allein auf das Bestehen einer Verurteilung wegen eines Verbrechens abzustellen und weder eine Einzelfallprüfung in Bezug auf die Umstände der Taten vorzunehmen noch eine Gefährdungsprognose anzustellen sei, im Hinblick auf die Judikatur des EuGH nicht vollumfänglich aufrechterhalten vergleiche VwGH 06.11.2018, Ra 2018/18/0295). Es ist aber (weiterhin) von Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG (ebenso wie nach Artikel 17, Absatz eins, Litera b, Statusrichtlinie) nicht gefordert, über die Einzelfallprüfung im genannten Sinn hinaus auch eine Gefährdungsprognose vorzunehmen.
Der Gesetzgeber hat nämlich nach der in den Materialien zur Schaffung des Paragraph 9, Absatz 2, AsylG zum Ausdruck gebrachten Intention Regierungsvorlage 330 BlgNR 24. GP, 9) beabsichtigt, Artikel 17, Absatz eins, Litera b, Statusrichtlinie mit der Bestimmung des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG umzusetzen vergleiche nochmals VwGH Ra 2018/18/0295). Es ist daher davon auszugehen, dass bei der Auslegung der innerstaatlichen Rechtslage nach Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG die unionsrechtlichen Kriterien für die Aberkennung von subsidiärem Schutz und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH zum Tragen kommen vergleiche dazu das zu Ra 2020/20/0274 ergangene Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom heutigen Tag).
Bei der Beurteilung, ob eine schwere Straftat im Sinn des Artikel 17, Absatz eins, Litera b, Statusrichtlinie – nach dessen Wortlaut wird auf den Umstand einer strafgerichtlichen Verurteilung nicht abgestellt – vorliegt, darf sich die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats erst dann auf den in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausschlussgrund berufen, nachdem sie im Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlusstatbestand fallen vergleiche EuGH 13.08.2018, Ahmed, C-369/17, Rn. 55). Mit dem hier in Rede stehenden Grund für den Ausschluss vom subsidiären Schutz wird der Zweck verfolgt, Personen auszuschließen, die als des sich aus der Zuerkennung dieses Status ergebenden Schutzes unwürdig angesehen werden, und die Glaubwürdigkeit des gemeinsamen europäischen Asylsystems zu erhalten vergleiche EuGH C-369/17, Rn. 51). Es ist demnach zur Erfüllung des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, AsylG hinreichend, dass – wie von dieser Bestimmung ausdrücklich gefordert – eine rechtskräftige Verurteilung des Fremden wegen eines Verbrechens vorliegt und – wie in Beachtung der Rechtsprechung des EuGHs geboten – die vollständige Prüfung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls ergibt, dass eine schwere Straftat (in Sinn des Artikel 17, Absatz eins, Litera b, Statusrichtlinie) gegeben ist.
Im gegenständlichen Fall wurde der BF von einem inländischen Gericht – unter anderem – wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt.
Durch das Urteil des Landesgerichtes ST. PÖLTEN vom 12.04.2021 wurde der BF wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels und des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel gemäß den Paragraphen 28, Absatz eins, 1. Satz 2. Fall, 28a Absatz eins, 5. Fall und Absatz 4, Ziffer 3, SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
Der Strafrahmen des Paragraph 28 a, Absatz 4, SMG beträgt ein bis fünfzehn Jahre.
Der maßgebliche Paragraph 17, StGB lautet:
„§ 17 (1) Verbrechen sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind.
(2) Alle anderen strafbaren Handlungen sind Vergehen.“
Da die vorsätzlichen Handlungen des BF mit ein bis fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, handelt es sich um Verbrechen gemäß Paragraph 17, StGB, sodass der BF ein Verbrechen im Sinne des Paragraph 9, Absatz 2, Ziffer 3, StGB begangen hat.
Zusätzlich ist jedoch der Einzelfall des Umstandes, die zur Verurteilung geführt haben, zu berücksichtigen.
Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF einerseits vorschriftswidrig Suchtgift in einer das 25-fache der Grenzmenge übersteigenden Menge, nämlich 16.816 Gramm Cannabiskraut mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 12% THCA und 0,9% Delta-9-THC, anderen überlassen hat. Andererseits hat er in einer die Grenzmenge übersteigenden Menge Suchtgift, nämlich 864,6 Gramm Cannabiskraut – beinhaltend zumindest 110 THCA und 8,4 Gramm Delta-9-THC –, mit dem Vorsatz besessen, es in Verkehr zu setzen, indem er es in seiner Wohnung teils zum Weiterverkauf, teils zur Übergabe an einen anderen Verdächtigen aufbewahrte.
Die vom BF begangenen Delikte stellen ohne Zweifel eine die öffentliche Sicherheit auf dem Gebiet des Fremdenwesens besonders schwer gefährdende und beeinträchtigende Form von Fehlverhalten dar vergleiche VwGH 23.03.1992, 92/18/0044; 22.2.2011, 2010/18/0417). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass die Verhinderung strafbarer Handlungen, insbesondere von Suchtgiftdelikten, jedenfalls schon vor dem Hintergrund der verheerenden Schäden und Folgen in der Gesellschaft, zu denen der Konsum von Suchtgiften führt, ein Grundinteresse der Gesellschaft (Schutz und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit) darstellt. Der VwGH hat in Bezug auf Suchtmitteldelinquenz wiederholt festgehalten, dass diese ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, bei dem erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben ist und an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse besteht (VwGH 22.11.2012, 2011/23/0556; 20.12.2012, 2011/23/0554; 30.8.2017, Ra 2017/18/0155; 1.4.2019, Ra 2018/19/0643).
Im Zuge der Strafbemessung wertete das Landesgericht die Sicherstellung eines Teiles des Suchtgiftes und den bisher ordentlichen Lebenswandel als mildernd, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen von einem Verbrechen und einem Vergehen und verhängte gegen den BF eine Freiheitsstrafe in der Höhe von drei Jahren.
Gerade aus den Erschwernisgründen der Verurteilung ist für das Verwaltungsgericht eindeutig klar, dass der BF für den durch die Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigten ergebenden Schutzes als unwürdig angesehen wird und die Glaubwürdigkeit des gemeinsamen europäischen Asylsystems nicht aufrechtzuerhalten ist. Der BF wurde wegen eines Verbrechens und eines Vergehens verurteilt. Er hat im Mai 2015 den Antrag gestellt, war mit Zulassung rechtmäßig aufhältig, erhielt Schutz und Grundversorgung durch den Staat. Dem BF war es möglich, Deutsch- und Integrationskurse zu besuchen. Doch bereits nach etwas mehr als zweieinhalb Jahren des Aufenthaltes in Österreich wurde der BF straffällig, indem er ab Jänner 2018 begann, über einen Zeitraum von zwei Jahren und zehn Monaten hinweg vorschriftswidrig 31 Abnehmern Suchtgift in einer das 25-fache der Grenzmenge übersteigenden Menge zu überlassen, wobei er auch nicht davor zurückschreckte, Suchtgift an Minderjährige zu verkaufen.
Suchtgifthandel bzw. Vorbereitung von Suchtgifthandel stellen besonders verwerfliche Taten dar. Der BF zeigte auch in der Verhandlung vor dem BVwG teilweise keine Unrechtseinsicht, so gab er beispielsweise an, dass der Verkauf von Suchtgift an Minderjährige wohl nur unbeabsichtigt erfolgt wäre („RI: Aber, Sie haben Drogen auch an Minderjährige verkauft. Geben Sie das auch zu? BF: Ich habe Minderjährige, wenn sie für Drogen zu mir kamen, weggeschickt. Ich habe sie wie meine Kinder angesehen. Es kann aber sein, dass einer dieser Minderjährigen mit einem Freund gekommen ist und Drogen von mir gekauft hat. Dieses Geständnis habe ich auch vor dem Gericht in ST. PÖLTEN abgelegt.“).
Ferner stritt er ab, über einen Zeitraum von zwei Jahren und zehn Monaten Suchtgift verkauft zu haben („Als ich im Zimmer gewohnt habe, habe ich etwa drei oder vier Monate lang die Kunden von ATAULLAH mit Drogen versorgt. Das gebe ich zu. Aber, dass ich 30 Personen über zwei Jahre lang Drogen verkauft hätte, ist nicht richtig.“) bzw. gab er die Hauptschuld einem anderen Asylwerber, der offenbar der „Kopf“ hinter dem Drogenhandel gewesen sein soll („RI: Dh, es war eine Verwechslung und Sie streiten ab, dass Sie an ca. 30 Personen Drogen verkauft haben? BF: Ich werde später zu dieser Frage kommen. Ich bin dort aufgefordert worden aus meinem Zimmer auszuziehen und in das Zimmer von ATAULLAH einzuziehen. Das habe ich nicht getan. Unser Chef kam und hat mich gezwungen in das andere Zimmer einzuziehen. Der Chef brachte meine Sachen ins Zimmer von ATAULLAH. Dieser Mann hat mit Drogen gehandelt. Dieser Mann hat einen negativen Bescheid erhalten. Dann ist er von dort weggegangen. Ich habe in seinem Zimmer weiter gewohnt, etwa zwei oder drei Monate lang habe ich gar nicht mit Drogen gehandelt. Dann kam irgendwann ATAULLAH mit dem Auto zu mir und sagte, ich solle Drogen verkaufen. Er würde mir im Monat 100 bis 200 Gramm Drogen liefern und er ließ bei mir die Drogen lagern – jedes Mal 100 bis 200 Gramm. Nach zwei oder drei Tagen kam er wieder und holte sie ab. Er gab mir eine Provision für die Aufbewahrung der Drogen.“)
Besonders absurd erscheint auch die Aussage des BF, dass ein weiterer Asylwerber ihm gegen seinen Willen zufällig gefundenes Suchtgift zur Aufbewahrung überlassen hätte und der BF – als offenbar rechtschaffender Bürger – deswegen sogar die Polizei verständigen hätte wollen („BF: Einmal hat mir ein Mann namens BESMILLAH Hanf/Marihuana gebracht. Diese Drogen waren zwei oder drei Tage lang bei mir. Beim Jahreswechsel von 2019 auf 2020 habe ich zweimal eine Nummer der Polizei angerufen, die Polizei hat jedoch nicht abgehoben – ich habe darüber auch Beweise. Diese Drogen blieben noch zwei Wochen bei mir. Den Namen des Mannes namens BESMILLAH habe ich auch der Polizei gegeben. Er hat weder konsumiert noch gehandelt. Er hat irgendwo Drogen gefunden und hat sie mir diese gebracht. Er wusste, dass ich manchmal einen Joint rauche. RI: Wegen was haben Sie die Polizei angerufen? BF: Ich wollte die Polizei darüber verständigen, damit sie es mir abnehmen. Ich wollte keine Probleme bekommen, ich habe davor nie mit Drogen gehandelt. Ich habe manchmal einen Joint geraucht und manchmal habe ich kein Geld dafür gezahlt, sondern diesen geschenkt bekommen und geraucht.“).
Der BF ist zusammengefasst nicht würdig, den Schutz als subsidiär Schutzberechtigter zu erhalten und würde ein Schutz von Personen, welche Suchtgifthandel betrieben haben, die Glaubwürdigkeit an das europäische Asylsystem nachhaltig gefährden. Daher war der Antrag auf subsidiären Schutz abzuweisen.
So verwirklichte der BF durch den Suchtgifthandel bzw. die Vorbereitung von Suchtgifthandel gerade das Bild einer Person, welche nicht davor zurückscheut, verheerende Schäden und Folgen in der Gesellschaft, zu denen der Konsum von Suchtgiften führt, zu verursachen.
5.2.2.3. Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte römisch III.–V. des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist eine Entscheidung nach dem AsylG 2005 mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt wird. Allerdings wäre - schon aus verfassungsrechtlichen Gründen - eine Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung zu unterlassen, wenn diese gegen Artikel 8, Europäische Menschenrechtskonvention, Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil 3, Nr. 139 aus 2018,, verstoßen würde.
Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 20, AsylG ist begünstigter Drittstaatsangehöriger: der Ehegatte, eingetragene Partner, eigene Verwandte und Verwandte des Ehegatten oder eingetragenen Partners eines EWR-Bürgers oder Schweizer Bürgers oder Österreichers, die ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben, in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, darüber hinaus, sofern ihnen Unterhalt tatsächlich gewährt wird, sowie eigene Verwandte und Verwandte des Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie, sofern ihnen Unterhalt tatsächlich gewährt wird, insofern dieser Drittstaatsangehörige den unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, von dem sich seine unionsrechtliche Begünstigung herleitet, begleitet oder ihm nachzieht.
Dass der BF begünstigter Drittstaatsangehöriger wäre, wurde weder vorgebracht noch konnte es von Amts wegen festgestellt werden.
Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG erster Satz FPG ist mit der Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist.
Gemäß Paragraph 57, Absatz eins, AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:
„1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, (…)
2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder
3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der ‚Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.“
Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG liegen nicht vor, weil der Aufenthalt weder seit mindestens einem Jahr gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG geduldet ist, noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist, noch der BF Opfer von Gewalt wurde. Weder hat der BF das Vorliegen eines solchen Grundes behauptet, noch kam ein Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Sachverhaltes im Ermittlungsverfahren hervor.
Gemäß Paragraph 58, Absatz 2, AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. Paragraph 55, AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn die Rückkehrentscheidung aufgrund Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.
Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG ist, dass dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG iSd Artikel 8, EMRK geboten ist. Nur bei Vorliegen dieser Voraussetzung kommt ein Abspruch über einen Aufenthaltstitel nach Paragraph 55, AsylG überhaupt in Betracht (VwGH vom 12.11.2015, Ra 2015/21/0101).
Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG lautet:
„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraphen 45 und 48 oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.“
Gemäß Artikel 8, Absatz eins, EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen vergleiche VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198; VwGH vom 25.01.2018 Ra 2017/21/0218).
Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.
Der Begriff des "Familienlebens" in Artikel 8, EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt vergleiche dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein – Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Artikel 8 ;, Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vergleiche auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Artikel 8, EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt vergleiche Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Der volljährige BF verfügt über keine Familienangehörigen in Österreich, sodass nicht in das Familienleben des BF eingegriffen werden kann und kein Familieninteresse des BF besteht.
Die aufenthaltsbeendende Maßnahme könnte allerdings in das Privatleben des BF eingreifen.
Unter „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen vergleiche Sisojeva ua. gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). Artikel 8, EMRK schützt unter anderem sowohl die individuelle Selbstbestimmung und persönliche Identität als auch die freie Gestaltung der Lebensführung. So können persönliche Beziehungen, die nicht unter das Familienleben fallen, sehr wohl als „Privatleben" relevant sein. In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen stellen regelmäßig einen Eingriff in das Privatleben dar, weil sie die betroffene Person aus ihrem sozialen Umfeld herausreißen. Die Prüfung am Maßstab des Privatlebens ist jedoch weniger streng als jene am Maßstab des Familienlebens, weshalb letztere in der Praxis im Vordergrund steht (Wiederin, Schutz der Privatsphäre, in: Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer [Hg.], Handbuch der Grundrechte VII/1, 2. Aufl., Paragraph 10,, Rn. 52).
Bei der Beurteilung der Frage, ob der BF in Österreich über ein schützenswertes Privatleben verfügen, spielt die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle, da – abseits familiärer Umstände – eine von Artikel 8, EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist. Der VwGH geht bei einem dreieinhalbjährigen Aufenthalt im Allgemeinen von einer eher kürzeren Aufenthaltsdauer aus vergleiche Chvosta, ÖJZ 2007/74 unter Hinweis auf VwGH 08.03.2005, 2004/18/0354; 27.03.2007, 2005/21/0378), und stellt im Erkenntnis vom 26.06.2007, 2007/10/0479, fest, „dass der Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von drei Jahren [...] jedenfalls nicht so lange ist, dass daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abgeleitet werden könnte". Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessensabwägung zukommt vergleiche VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055, mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Artikel 8, Absatz 2, EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der VfGH und der VwGH haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfGH 17.03.2005, G78/04 ua; VwGH vom 26.06.2007; 2007/01/0479). Nach der bisherigen Rechtsprechung ist auch auf die Besonderheiten der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Asylwerbern Bedacht zu nehmen, zumal das Gewicht einer aus dem langjährigen Aufenthalt in Österreich abzuleitenden Integration dann gemindert ist, wenn dieser Aufenthalt lediglich auf unberechtigte Asylanträge zurückzuführen ist vergleiche VwGH 17.12.2007, 2006/01/0216 mwN).
Im gegenständlichen Fall reiste der BF illegal in das österreichische Bundesgebiet ein vergleiche dazu VwGH 22.01.2009, 2008/21/0654). Er hält sich bislang fast sieben Jahre in Österreich auf, somit so lange, als dass man nach vorhin angeführter Rechtsprechung des VwGH von einem schützenswerten Privatleben in Österreich ausgehen könnte. Der bisherige Aufenthalt des BF in Österreich ist auf seinen Antrag auf internationalen Schutz gestützt.
Selbst wenn man vom Vorliegen schützenswerten Privatlebens ausginge, wäre der Eingriff in dieses Recht durch Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht unverhältnismäßig:
Der BF ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er spricht nur gebrochenes Deutsch, Sprachprüfungen hat er nicht abgelegt. Er war geringfügig bei einer Gemeinde beschäftigt und hat ein paar Integrationskurse besucht. Aus- oder Fortbildungen hat der BF nicht absolviert. Er erstattete kein Vorbringen zu sozialen Kontakte in Österreich, ist kein Mitglied in einem Verein. Der BF setzte keine außergewöhnlichen Integrationsmaßnahmen.
Den schwach ausgeprägten privaten Interessen des BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich stehen den öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Nach ständiger Judikatur des VwGH kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8, Absatz 2, EMRK) ein hoher Stellenwert zu (zB: VwGH 16.01.2001, 2000/18/0251).
Der BF ist in Afghanistan geboren und wuchs dort bis zu seiner Ausreise 2014 auf. Er hat im afghanischen Familienkreis seine Sozialisierung erfahren und hatte auch von Österreich weiterhin Kontakt mit seiner Familie. Er beherrscht die Sprache Paschtu als Erstsprache, auch die Landessprachen Dari und Urdu spricht er. Seine Familienangehörigen leben teils in Afghanistan, teils in Pakistan. Es ist aufgrund seiner Sozialisierung in einer afghanischen Familie davon auszugehen, dass er sich in die afghanische Gesellschaft eingliedern können wird, zumal er mit den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten vertraut ist.
Der BF wurde während seines fast siebenjährigen Aufenthalts rechtskräftig wegen eines Verbrechens und eines Vergehens verurteilt. Er beging laut Urteil bereits zweieinhalb Jahre nach Einreise im Jänner 2018 erstmalig eine strafrechtswidrige Handlung. Die strafbaren Handlungen bezogen sich auf Suchtgifthandel sowie die Vorbereitung von Suchtgifthandel über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren und zehn Monaten. In diesem Zusammenhang ist zudem darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des VwGH die für die Integration eines Fremden wesentliche soziale Komponente durch von ihm begangene Straftaten erheblich beeinträchtigt wird (VwGH 19.11.2003, 2002/21/0181 mwN).
In einer Gesamtbetrachtung iS des Paragraph 9, BFA-VG ist die belangte Behörde somit zu Recht davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse des BF am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG eine Verletzung des Artikel 8, EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
Gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG ist mit der Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
Gemäß Paragraph 46, Absatz eins, FPG sind Fremde, gegen die eine Rückkehrentscheidung, eine Anordnung zur Außerlandesbringung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag des Bundesamtes zur Ausreise zu verhalten (Abschiebung), wenn
1. die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint,
2. sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht zeitgerecht nachgekommen sind,
3. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, sie würden ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen, oder
4. sie einem Einreiseverbot oder Aufenthaltsverbot zuwider in das Bundesgebiet zurückgekehrt sind.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.).
Gemäß Paragraph 50, Absatz eins, FPG ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2, oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.
Wie sich aus den Länderfeststellungen, den eingebrachten Berichten und Dokumenten (EASO und UNHCR) und aus den Feststellungen zur Person des BF und zu seiner Rückkehr in den Heimatstaat ergibt, besteht jedoch angesichts der derzeitigen Situation – Versorgungs- und Sicherheitslage – in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass durch die Abschiebung des BF Artikel 2, oder Artikel 3, EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würden.
Die Abschiebung des BF nach Afghanistan ist daher gemäß Paragraph 50, Absatz eins, FPG unzulässig. Gründe im Sinne von Paragraph 50, Absatz 2 und 3 FPG liegen hingegen nicht vor.
Es war daher gemäß Paragraph 8, Absatz 3 a, AsylG festzustellen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde.
5.2.2.4. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch VI. (freiwillige Ausreise) des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 55, Absatz eins, FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Paragraph 55, Absatz 2, FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
Da derartige Gründe im Verfahren nicht vorgebracht wurden, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt worden.
Der BF befindet sich jedoch zum Entscheidungszeitpunkt in Strafhaft. Der Spruch des Bescheids war daher entsprechend zu korrigieren.
Zu Spruchteil B):
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), Bundesgesetzblatt Nr. 10 aus 1985, in der geltenden Fassung, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlichen Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A) zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen Grundlage für die zu treffende Entscheidung war.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
ECLI:AT:BVWG:2022:W241.2147898.2.00