Bundesverwaltungsgericht
26.01.2022
G307 2183458-1
G307 2183458-1/12E
G307 2183453-1/14E
G307 2183457-1/13E
G307 2183441-1/12E
G307 2183450-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Markus MAYRHOLD als Einzelrichter über die Beschwerden 1. des römisch 40 , geb. am römisch 40 , 2. der römisch 40 , geb. am römisch 40 , 3. der römisch 40 , geb. am römisch 40 , 4. des römisch 40 , geb. am römisch 40 und 5. des römisch 40 , geb. am römisch 40 , alle StA.: Irak, die letzten drei gesetzlich vertreten durch die Mutter, alle rechtlich vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH in 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.11.2017, Zahlen römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 und römisch 40 , nach öffentlicher mündlicher Verhandlung, zu Recht erkannt:
A)
römisch eins. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt römisch eins. der angefochtenen Bescheide werden gemäß
§ 3 Absatz eins, AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
römisch II. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG wird den Erst- bis Fünftbeschwerdeführern jeweils der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuerkannt.
römisch III. Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG wird den Erst- bis Fünftbeschwerdeführern jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
römisch IV. In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte römisch III. bis römisch VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.
B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) und der Viertbeschwerdeführer (im Folgenden: BF4) stellten jeweils am 04.08.2015, die Zweit- und Dritt beschwerdeführerin (im Folgenden: BF2 und BF3) jeweils am 22.10.2015 und der in Österreich geborene Fünftbeschwerdeführer (im Folgenden: BF5) am 05.10.2016 einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005, wobei BF1 und BF2 diese für ihre gemeinsamen Kinder (BF 3 bis BF5) einbrachten.
2. Am 05.08.2015 fand die Erstbefragung des BF1 und am 23.10.2015 jene der BF2 jeweils vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.
3. Am 08.11.2017 wurden BF1 und BF2 jeweils von einem Organ des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) zu ihren jeweiligen Fluchtgründen, der Fluchtroute und ihren sowie den persönlichen Verhältnissen von BF3 bis BF5 einvernommen.
4. Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des BFA, BF1 bis BF5 zugestellt am 06.12.2017, wurden die Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG (jeweils Spruchpunkt römisch eins.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen, den Beschwerdeführern (im Folgenden: BF) ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gegen sie gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.), sowie gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß Paragraph 46, FPG zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG eingeräumt (Spruchpunkt römisch VI.).
5. Mit per E-Mail am 02.01.2018 beim BFA eingebrachten gemeinsamen Schriftsätzen erhoben die BF durch ihre damals bevollmächtigte Rechtsvertretung, der ARGE Rechtsberatung, Beschwerde gegen die sie betreffenden – oben im Spruch genannten – Bescheide des BFA.
Darin wurde beantragt, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, die angefochtenen Bescheide zu beheben und den BF jeweils den Status eines Asylberechtigten, in eventu jeweils den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die Rückkehrentscheidungen zu beheben und diese für auf Dauer unzulässig erklären, in eventu die angefochtenen Bescheide zu beheben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.
6. Die gegenständlichen Beschwerden und die zugehörigen Verwaltungsakte wurden vom BFA am 11.01.2018 vorgelegt und langten am 18.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) ein.
7. Am 30.11.2021 fand vor dem BVwG, Außenstelle Graz, eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an welcher BF1, BF2 und BF3 sowie deren – oben im Spruch genannte – aktuelle Rechtsvertretung (im Folgenden: Regierungsvorlage teilnahmen und ein Dolmetscher der Sprache Arabisch beigezogen wurde.
8. Im Zuge dieser Verhandlung wurde den BF nochmals Parteiengehör zur Situation im Irak eingeräumt und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von 14 Tagen eingeräumt.
9. Mit per E-Mail am 13.12.2021 dem BVwG übermittelten gemeinsamen Schriftsatz gaben die BF durch ihre Regierungsvorlage eine ergänzende Stellungnahme, insbesondere zur aktuellen Lage von Kindern im Herkunftsstaat, ab.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die BF führen die im Spruch jeweils angegebene Identität (Namen und Geburtsdatum), sind irakische Staatsbürger, Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum sunnitischen Islam. Die Muttersprache der BF ist Arabisch. BF2 spricht zudem Kurdisch und Turkmenisch.
BF1 ist mit BF2 verheiratet und sind beide Eltern von BF3 bis BF5. Alle BF leben im gemeinsamen Haushalt.
BF1 und BF4 verließen den Irak am 12.07.2015 per Flugzeug, begaben sich auf dem Luftweg von Suleimania nach Istanbul, von wo sie über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich weiterreisten, wo sie letztlich am 04.08.2015 die gegenständlichen Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes stellten.
BF2 und BF3 verließen am 10.10.2015 ihren Herkunftsstaat und fuhewn per Pkw und Bus in die Türkei, von wo sie über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien Kroatien und Slowenien nach Österreich weiterreisten und letztlich am 22.10.2015 die gegenständlichen Anträge auf Gewährung internationalen Schutz stellten.
BF5 wurde am römisch 40 in Österreich geboren und stellten BF1 und BF2 für diesen am 05.10.2016 den gegenständlichen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes.
Die BF leiden an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen und sind BF1 und BF2 zudem arbeitsfähig. BF5 leidet an Atopischer Dermatit, frühkindlichem Asthma bronchiale und Nahrungsmittelunverträglichkeiten (Weizen, Kuhmilch und Hühnereier).
BF1 und BF2 gehen keiner Erwerbstätigkeit in Österreich nach; die BF leben überwiegend von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.
BF1 und BF2 lebten von 2004 bis 2007 gemeinsam in Bagdad, zogen im Jahr 2007 zusammen mit BF3 nach Kirkuk, wo BF4 zur Welt kam und sie bis zu ihrer gegenständlichen Ausreise in einem Haus, welches im Besitz der Familie der BF2 ist, lebten. Besagtes Haus besteht weiterhin, ist jedoch vermietet.
1.2. Zu den einzelnen BF:
1.2.1. BF1 wurde in Bagdad geboren, wo er auch aufwuchs. Er besuchte im Irak 9 Jahre lang die Schule und erlernte keinen Beruf. Er war als Autohändler erwerbstätig und in der Lage, seinen Unterhalt sowie jenen seiner Familie zu bestreiten.
Im Herkunftsstaat halten sich Onkel und Tanten sowie ein Bruder des BF1 auf. Zwei Brüder des BF1, ebenfalls Asylwerber, leben in Österreich.
Der BF1 hat einen Deutschkurs des Niveaus „A1/1“ besucht und ist des Deutschen hinreichend mächtig. Die Existenz von Deutschkenntnissen eines bestimmten Niveaus konnte nicht festgestellt werden.
1.2.2. BF2 wurde in Kirkuk geboren und wuchs ebendort auf. Sie besuchte insgesamt 12 Jahre lang die Schule im Herkunftsstaat, welche sie mit Matura abschloss. Sie war als Hausfrau tätig.
Im Herkunftsstaat halten sich nach wie vor Familienangehörige der BF2 auf, jedoch pflegt sie zu diesen kaum Kontakt.
BF2 hat keine Deutschkurse besucht, ist des Deutschen aber hinreichend mächtig. Das Bestehen von Deutschkenntnissen eines bestimmten Niveaus konnte nicht festgesetellt werden.
1.2.3. BF3 und BF4 besuchen derzeit die Schule in Österreich.
1.3. Alle BF sind strafrechtlich unbescholten und weisen soziale Bezugspunkte in Österreich auf.
1.4. Zum Fluchtvorbringen der BF:
Es konnte nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer gezielten Verfolgungsgefahr oder Bedrohung durch schiitische oder kurdische Milizen, Privatpersonen oder von staatlicher Seite ausgesetzt wären.
1.5. Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:
Zur allgemeinen Lage im Irak werden die vom BVwG im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 30.11.2021 in das Verfahren eingeführte Länderinformation der Staatendokumentation und fallrelevante Länderberichte als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand dieses Erkenntnisses erhoben.
Daraus ergibt sich:
Aus dem vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachten Konvolut an Länderberichten der Staatendokumentation ergibt sich:
COVID-19
Letzte Änderung: 15.10.2021
Auswirkungen auf die Bewegungs- und die Versammlungsfreiheit
Im März und April 2020 verhängte die Regierung in Bagdad Sperren aufgrund von COVID-19, welche die Bewegungsfreiheit zwischen den Provinzen stark einschränkten und zur Schließung der Grenzübergänge führten (FH 3.3.2021). Die im föderalen Irak am 9.6.2021 verhängte Ausgangssperre ist noch aktiv. Ausgangssperren gelten zwischen 22:00 Uhr und 5:00 Uhr und sind von Freitag bis Sonntag zusätzlich verschärft (IOM 18.6.2021). Im April und Mai 2020 nutzten die Behörden im Irak die COVID-19-Maßnahmen, um Proteste niederzuschlagen und die Pressefreiheit, das Versammlungsrecht und die Aktivitäten der Opposition stark einzuschränken (FH 3.3.2021). Nutzer sozialer Medien und Blogger wurden mit Verleumdungsklagen konfrontiert, weil sie die schlechte Reaktion der lokalen Behörden auf die COVID-19-Pandemie kritisierten (FH 3.3.2021).
Auswirkungen auf die Religionsfreiheit
Die Hadsch- und Umrah-Behörde registriert keinen Bürger, der die Umrah- und Hadsch-Pilgerreise antreten möchte, wenn dieser keinen Impfnachweis vorweisen kann (GoI 13.4.2021).
Auswirkungen auf die Wirtschaftslage
Die von den irakischen Behörden und der kurdischen Regionalregierung (KRG) verhängten Abriegelungen verschlimmerten die finanziellen Nöte von Niedriglohnarbeitern und Kleinunternehmern (FH 3.3.2021). Die Erwerbsbeteiligung im Irak war mit 48,7% im Jahr 2019 bereits vor der Ausbreitung des COVID-19-Virus eine der niedrigsten in der Welt. Der wirtschaftliche Abschwung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hat die Beschäftigungsmöglichkeiten deutlich verringert und die Löhne gesenkt. Bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) wurde aufgrund der Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen ab April 2020 ein durchschnittlicher Beschäftigungsrückgang von 40% verzeichnet. Am stärksten betroffen waren KMUs im Baugewerbe und in der verarbeitenden Industrie, mit einem Verlust von 52% der Arbeitsplätze, gefolgt vom Lebensmittel- und Agrarsektor, mit einem Verlust von 45% der Arbeitsplätze (IOM 18.6.2021). Seit dem Ausbruch der Corona-Krise haben staatliche Angestellte im gesamten Land keine regelmäßige und volle Gehaltsauszahlung erhalten (GIZ 1.2021b). Die irakische Regierung hat Schwierigkeiten, die Löhne und Gehälter der sechs Millionen im öffentlichen Sektor Angestellten zu zahlen. Millionen Menschen, die im privaten und informellen Sektor gearbeitet haben, haben ihren Arbeitsplatz und ihre Lebensgrundlage verloren. Nach Schätzungen von UNICEF und der Weltbankgruppe leben im Jahr 2020 schätzungsweise 4,5 Millionen Iraker unter die Armutsgrenze von 1,90 USD pro Tag (IOM 18.6.2021).
Auswirkungen auf die medizinische Versorgung
Die COVID-19-Pandemie hat das ohnehin schon marode irakische Gesundheitswesen stark in Mitleidenschaft gezogen, das mit der großen Zahl von Menschen, die sich mit dem Virus infiziert haben, nur schwer zurechtkommt (FH 3.3.2021). Anfang 2020, zu Beginn der COVID-19-Krise, pausierten die Gesundheitseinrichtungen die meisten Dienstleistungen und konzentrierten sich auf die Erforschung des Virus und seine Auswirkungen. Im September 2020 nahm der öffentliche Gesundheitssektor seine Arbeit und seine Dienste wieder auf, mit zusätzlichen Vorschriften wie z. B., dass Krankenhäuser nur nach Terminvereinbarung aufgesucht werden dürfen, strengere Hygienemaßnahmen, und dass medizinisches Personal im Rotationsverfahren eingesetzt wird, was längere Wartezeiten zur Folge hat (IOM 18.6.2021). Im Jahr 2021 arbeiteten sowohl der öffentliche als auch der private Gesundheitssektor fast wieder auf normalem Niveau, jedoch mit hohen Vorsichtsmaßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19 auf Anweisung des irakischen Gesundheitsministeriums (MoH) (IOM 18.6.2021). Eine Umfrage deutet darauf hin, dass im Jahr 2020, infolge der COVID-Krise, die Zahl der Rückkehrerhaushalte, die mehr als 20% ihrer monatlichen Gesamtausgaben für Gesundheit oder Medikamente ausgeben, stark auf 38% gestiegen ist (gegenüber 7% im Jahr 2019) (IOM 18.6.2021).
Auswirkungen auf den Bildungszugang
Als Sofortmaßnahme gegen die COVID-19-Pandemie hat das Bundesbildungsministerium Ende Februar 2020 alle Schulen im Irak schließen lassen (UNICEF 20.1.2021). Die Schulen waren von März bis November 2020 geschlossen. Kinder ohne Zugang zu digitalen Lernmöglichkeiten, insbesondere Kinder von Vertriebenen und in Armut lebenden Familien, sind besonders vom Bildungsverlust betroffen. Besonders hart betroffen sind jene Kinder, die bereits vor der Pandemie durch das Leben unter IS-Herrschaft mehrere Jahre an Bildungszugang verloren haben (HRW 13.1.2021). Ende November 2020 wurden die Schulen wieder geöffnet, mit einem Tag Präsenzunterricht pro Woche für jede Klasse (UNICEF 20.2.2021). Kurdische Region im Irak (KRI)
Auswirkungen auf die Bewegungs- und die Versammlungsfreiheit
Die in der KRI eingeführten Maßnahmen unterscheiden sich von denen im föderalen Irak (IOM 18.6.2021). Im März und April 2020 verhängte auch die Kurdische Regionalregierung (KRG) aufgrund von COVID-19 Abriegelungen, welche die Bewegungsfreiheit zwischen den Provinzen stark einschränkten und zur Schließung der internationalen Grenzen führten. Die KRG verhängte beson2 ders harte und lange Abriegelungen im Laufe des Jahres 2020: die erste von März bis Mitte Mai, eine weitere Anfang Juni und eine weitere Anfang Juli (FH 3.3.2021). Personen, die in die KRI zurückkehren, müssen unter Quarantäne gestellt werden. Bei Nichteinhaltung der Vorschriften wird eine Geldstrafe von einer Million Dinar [559,59 EUR] verhängt. Wird eine Person positiv getestet und hat andere infiziert, so hat sie die gesamten Behandlungskosten zu tragen und es können zusätzliche rechtliche Schritte gegen sie eingeleitet werden (Gov.KRD 30.6.2021). Alle gesellschaftlichen Versammlungen und Feiern sind seit dem 30.3.2021 bis auf Weiteres verboten. Jede Lokalität, die bei einem Verstoß gegen diese Regeln erwischt wird, wird für zehn Tage geschlossen und der Besitzer muss eine Geldstrafe von 1.000.000 IQD [559,59 Euro] zahlen. Restaurants und Cafés sollen ihre Dienstleistungen im Freien anbieten. Falls kein Platz im Freien zur Verfügung steht, muss die Anzahl der Gäste im Inneren begrenzt werden, Fenster und Türen müssen immer offen gehalten werden, und die Tische sollten in einem sozial sicheren Abstand zueinander stehen (nicht weniger als 2 Meter). Alle öffentlichen Räume, wie z. B. Märkte, Restaurants und Geschäfte, dürfen nicht ohne Masken betreten werden (IOM 18.6.2021). Für die Einwohner der KRI gilt Maskenpflicht und eine Abstandsregel von 1,5 Metern. Personen, die in öffentlichen Innenräumen keine Maske tragen, droht eine Geldstrafe von 20.000 Dinar (Gov.KRD 30.6.2021). Im April und Mai nutzten besonders die Behörden in der Region Kurdistan, die COVID-19- Maßnahmen, um Proteste niederzuschlagen und die Pressefreiheit, das Versammlungsrecht und die Aktivitäten der Opposition stark einzuschränken (FH 3.3.2021). Jede Bewegung ist innerhalb der KRI möglich und der Handel zwischen den Provinzen und autonomen Verwaltungen der Region geht weiter (IOM 18.6.2021). Reisen zwischen der Region Kurdistan und irakischen Provinzen sind hingegen weiterhin verboten. Eine Reiseausnahme wird für folgende Personen erteilt, die zwischen der Region Kurdistan und den irakischen Provinzen reisen, wenn sie ein gültiges COVID-19 PCR-Testergebnis an den entsprechenden Kontrollpunkten vorlegen: Mitarbeiter von Einrichtungen der Vereinten Nationen Organisationen, der Koalitionsstreitkräfte, Diplomaten und offizielle Delegationen; Einwohner der Region Kurdistan, die aus anderen Provinzen des Iraks zurückkehren; Patienten, die dringend medizinische Versorgung in der Region Kurdistan benötigen (Gov.KRD 30.6.2021; vergleiche IOM 18.6.2021).
Auswirkungen auf die Religionsfreiheit
Moscheen, Kirchen und andere Gebetsstätten sind offen und dürfen unter strengen Richtlinien Pflichtgebete abhalten (Gov.KRD 30.6.2021; vergleiche IOM 18.6.2021). Alle Angestellten müssen sich entweder Impfen lassen oder alle 72 Stunden einen COVID-Test durchführen. Einrichtungen, die sich nicht an die Vorgaben halten, werden geschlossen (Gov.KRD 30.6.2021). Begräbnisfeiern mit Gästen sind verboten. Verstöße werden mit einer Geldstrafe von 2.000.000 irakischen Dinar geahndet (Gov.KRD 30.6.2021). Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit 3 Das Verbreiten von Desinformation in den sozialen Medien ist gerichtlich strafbar (Gov.KRD 30.6.2021).
Auswirkungen auf die medizinische Versorgung
Einer Studie zufolge hatte die Mehrheit der Binnenvertriebenen (IDPs) und Rückkehrer in der KRI im Berichtszeitraum von Juli bis September 2020 Schwierigkeiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung (IOM 18.6.2021). Auswirkungen auf den Bildungszugang In der KRI wurden die Schulen im März 2020 bis zum Ende des Schuljahres geschlossen (HRW 13.1.2021).
Quellen:
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021b): Irak - Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/irak/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
• GoI - Government of Iraq (13.4.2021): Covid-19: Iraqi government amends curfew hours, announces other measures, https://gds.gov.iq/covid-19-iraqi-government-amends-curfew -hours-announces-other-measures/ , Zugriff 25.8.2021
• Gov.KRD - Kurdistan Regional Governemnet (30.6.2021): Situation Update Coronavirus (COVID-19), https://gov.krd/coronavirus-en/situation-update/ , Zugriff 25.8.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 10.2.2021
• IOM - International Organization for Migration (18.6.2021): Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Iraq and in the Kurdish Region, requested by the Austrian Federal Office for Immigration and Asylum, Zugriff 21.6.2021
• UNICEF - UN Children’s Fund, Central Statistical Organization (20.1.2021): Iraq Humanitarian Situation Report (IDP Crisis): End-Year 2020, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.in t/files/resources/UNICEF%20Iraq%20Humanitarian%20Situation%20Report%20%28IDP %20Crisis%29%20-%20End-Year%202020.pdf, Zugriff 25.8.2021
Politische Lage
Letzte Änderung: 15.10.2021
Mit dem gewaltsamen Sturz Saddam Husseins und der Ba’ath-Partei im März 2003 (DFAT 17.8.2020, S.9) wurde die politische Landschaft des Irak enorm verändert (KAS 2.5.2018, S.2; vergleiche Fanack 8.7.2020). 2005 hielt der Irak erstmals demokratische Wahlen ab und führte eine Verfassung ein, die zahlreiche Menschenrechtsbestimmungen enthält. Das Machtvakuum infolge des Regimesturzes und die Misswirtschaft der Besatzungstruppen führten hingegen zu einem langwierigen Aufstand gegen die US-geführten Koalitionstruppen (DFAT 17.8.2020, S.9). Dieses gemischte Bild ist das Ergebnis der intensiven politischen Dynamik, die durch den Aufstieg des sog. Islamischen Staates auf eine harte Probe gestellt wurde (KAS 2.5.2018, S.2). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2021a). Gemäß der Verfassung von 2005 ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarischrepublikanischer Staat. Der Islam ist Staatsreligion und eine der Hauptquellen der Gesetzgebung (AA 22.1.2021, S.8; vergleiche Fanack 8.7.2020). Das Land ist in 18 Gouvernements (muhafazāt) unterteilt (Fanack 8.7.2020), jedes mit einem gewählten Rat, der einen Gouverneur ernennt (DFAT 17.8.2020; S.17). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (BS 29.4.2020, S.11; vergleiche GIZ 1.2021a, RoI 15.10.2005). An der Spitze der Exekutive steht der Präsident, welcher mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (arab.: majlis al-nuwwāb, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt wird. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 8.7.2020).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und repräsentiert die Souveränität und Einheit des Staates (DFAT 17.8.2020, S.17). Das zweite Organ der Exekutive ist der Premierminister, welcher vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt wird (Fanack 8.7.2020; vergleiche RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist zudem Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 8.7.2020; vergleiche DFAT 17.8.2020, S.17). Die Legislative wird durch den Repräsentantenrat, d.h. das Parlament, ausgeübt (Fanack 8.7.2020; vergleiche KAS 2.5.2018, S.2). Er besteht aus 329 Abgeordneten, die für eine Periode von vier Jahren gewählt werden (FH 3.3.2021; vergleiche GIZ 1.2021a). Neun Sitze sind per Gesetz für Minderheiten reserviert (AA 22.1.2021, S.11; vergleiche FH 3.3.2021, USDOS 30.3.2021) - fünf für Christen und je einer für Jesiden, Manäer-Sabäer, Schabak und für Faili-Kurden aus dem Gouvernement Wassit (AA 22.1.2021, S.11; vergleiche FH 3.3.2021, USDOS 30.3.2021). Die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (USDOS 30.3.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Die Judikative wird vor allem durch den Bundesgerichtshof repräsentiert (KAS 2.5.2018, S.2). Die Grenzen zwischen Exekutive, Legislative und Judikative sind jedoch häufig fließend (FH 3.3.2021). Unabhängige Institutionen, die stark genug wären, die Einhaltung der Verfassung zu kontrollieren und zu gewährleisten, existieren nicht (GIZ 1.2021a). In Artikel 19 der Verfassung heißt es beispielsweise, dass die Justiz unabhängig ist, und keine Macht über der Justiz steht, außer dem Gesetz selbst. Die Justiz ist jedoch eine der schwächsten Institutionen des Staates, und ihre Unabhängigkeit wird häufig durch die Einmischung politischer Parteien über PatronageNetzwerke und Klientelismus untergraben (BS 29.4.2020, S.11). Das politische System des Iraks wird durch das sogenannte Muhasasa-System geprägt. Muhasasa im irakischen Kontext bedeutet die Vergabe von staatlichen Ämtern entlang ethnisch-konfessioneller (Muhasasa Ta’ifiyya) oder parteipolitischer (Muhasasa Hizbiyya) Linien. Der Aufteilung wird ein geschätzter Zensus zu Grunde gelegt, sodass die drei größten Bevölkerungsgruppen (Kurden, Sunniten, Schiiten) ihren Bevölkerungsanteilen gemäß proportional repräsentiert werden. Einige Minderheiten wie Christen und Jesiden sind durch für sie reservierte Sitze repräsentiert. Mit der Vergabe staatlicher Ämter ergibt sich auch ein Zugang zu staatlichen Ressourcen, z.B. durch Zugang zu Budgets von Ministerien oder lokalen Behörden (BAMF 5.2020, S.2f.). Das Muhasasa-System gilt auch für die Staatsführung. So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018; vergleiche FH 3.3.2021). Das konfessionelle Proporzsystem im Parlament festigt den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindert die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 2.3.2020, S.8). Das seit 2003 etablierte politische Muhasasa-System steht in weiten Teilen der Bevölkerung in der Kritik (BAMF 5.2020, S.30), insbesondere bei säkularen und nationalen Kräften (GIZ 1.2021a).
Seit 2015 richten sich die Demonstrationen im Irak zunehmend auch gegen das etablierte MuhasasaSystem als solches. Das Muhasasa-System wird für das Scheitern des Staates verantwortlich gemacht (BAMF 5.2020, S.1). Vom Muhasasa-System abgesehen, stehen viele sunnitische Iraker der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber (AA 2.3.2020, S.8). Für die Durchführung der Wahlen im Irak ist die Unabhängige Hohe Wahlkommission (IHEC) verantwortlich. Sie genießt generell das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft und der irakischen Bevölkerung. Der Irak hält regelmäßig, kompetitive Wahlen ab. Die verschiedenen parteipolitischen, ethnischen und konfessionellen Gruppen des Landes sind im Allgemeinen im politischen System vertreten. Allerdings wird die demokratische Regierungsführung in der Praxis durch Korruption und Sicherheitsbedrohungen behindert (FH 3.3.2021). Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünften landesweiten Wahlen seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018; vergleiche FH 3.3.2021). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September 2018 zusammen (ZO 2.10.2018; vergleiche FH 3.3.2021). Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (FH 3.3.2021; vergleiche DW 2.10.2018, ZO 2.10.2018, KAS 5.10.2018). Bereits ein Jahr nach seiner Ernennung, reichte Premierminister Adel Abdul Mahdi Ende November 2019 als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste seinen Rücktritt ein. Die Proteste richteten sich gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vergleiche RFE/RL 6.2.2020; GIZ 1.2021a). Nachdem Muhammad Tawfiq Allawi an der Regierungsbildung scheiterte und nach einem Monat am 1.3.2020 seinen Rücktritt verkündete (GIZ 11.2020a; vergleiche Standard 2.3.2020; Reuters 1.3.2020), misslang auch dem als säkular geltenden Adnan az-Zurfi (GIZ 1.2021; vergleiche Reuters 17.3.2020), wegen des Widerstands der drei schiitischen Koalitionen Fatah, Dawlat al-Qanoon und Hikma, die Bildung einer Regierung. Präsident Salih beauftragte daraufhin am 9.4.2020 den von den schiitischen Blöcken favorisierten Kandidaten Mustafa alKadhimi mit der Regierungsbildung (GIZ 1.2021a), auf den sich die großen Blöcke im Parlament und ihre ausländischen Unterstützer letztlich einigten (FH 3.3.2021). Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vergleiche NYT 24.12.2019; Al Monitor 2.11.2020). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass künftig für Einzelpersonen statt für 6 Parteilisten gestimmt werden soll (NYT 24.12.2019; vergleiche FH 3.3.2021). Die Gouvernements werden hierzu in eine Reihe neuer Wahlbezirke unterteilt, in denen für jeweils 100.000 Einwohner ein Abgeordneter gewählt wird (FH 3.3.2021). Unklar ist für diese Einteilung jedoch, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (FH 3.3.2021; vergleiche NYT 24.12.2019). Einige politische Parteien befürchten Wahlbetrug und lehnen die Einteilung der Wahlbezirke ab. Besonders die traditionellen Parteienblöcke befürchten einen Verlust an Einfluss durch die Aufteilung ihrer Wählerschaft in die neuen, kleineren Wahlbezirke (Al Monitor 2.11.2020). Die aus den letzten Wahlen im Mai 2018 hervorgegangenen vier größten Allianzen wurden alle von schiitischen Parteien angeführt, wobei unterschiedliche Anstrengungen unternommen wurden, die konfessionellen Grenzen zu überwinden. Unter den verschiedenen kurdischen Parteien dominierten die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK). Die restlichen Sitze verteilten sich auf sunnitisch geführte Bündnisse, kleinere Parteien und Unabhängige (FH 3.3.2021), wobei die sunnitische politische Szene im Irak durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet ist. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018). Sairoun, das Bündnis aus der schiitischen Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei, erlangte bei den Wahlen 2018 54 Sitze im Parlament, gefolgt von den vier schiitisch geprägten Bündnissen, der Fatah-Koalition mit 47, der Nasr-Allianz mit 42, der Dawlat al Qanoon-Allianz mit 25 Sitzen sowie der Hikma-Koalition mit 19 Sitzen. Die säkulare Wataniya-Allianz, angeführt von Ex-Premier Allawi, errang 21 Mandate. Das größte sunnitische Bündnis unter Osama alNujaifi errang 11 Sitze. Die beiden großen Kurden-Parteien KDP und PUK gewannen 25 bzw. 18 Sitze (LSE 7.2018). Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen, ist eigentlich verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Die Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018). Etliche errangen tatsächlich auch Sitze im Parlament (FH 3.3.2021). Im Juli 2020 hat Premierminister al-Kadhimi ein Versprechen an die Protestbewegung erfüllt und die Vorverlegung der Parlamentswahlen auf 6.6.2021 beschlossen (Reuters 31.7.2020; vergleiche GIZ 1.2021a; Al Monitor 9.12.2020). Auf Vorschlag der Unabhängigen Hohen Wahlkommission (IHEC), die um mehr Zeit für die Umsetzung der rechtlichen und logistischen Maßnahmen bat, hat das Kabinett einstimmig entschieden, die Parlamentswahlen auf den 10.10.2021 zu verschieben. Die Amtszeit für das aktuelle Parlament endet offiziell 2022 (Al Jazeera 19.1.2021). Am Vorabend der Parlamentswahlen im Oktober 2021 sahen sich reformorientierte Kandidaten bei Vorbereitung gegen die etablierten Parteien des Landes anzutreten, zu denen auch bewaffnete Milizen gehören, die das irakische Parlament seit 2018 dominieren, mit beunruhigenden Hindernissen konfrontiert (MEI 22.3.2021). Nach wiederholten Verzögerungen wurden die ursprünglich für 2017 geplanten Wahlen zu den Provinzräten im November 2019 auf unbestimmte Zeit verschoben (FH 3.3.2021). Das irakische Parlament hatte Ende Oktober 2019 beschlossen, die Provinzräte aufzulösen, mit Ausnahme jener in der Region Kurdistan (KRI). Es beschloss jedoch, die Gouverneure im Amt zu belassen, welche die Aufgaben der Räte übernehmen, aber unter der Kontrolle der Zentralregierung stehen. Das irakische Bundesgericht bestätigte Anfang Juni 2021 nach einer vorausgegangenen Klage die Entscheidung des Parlaments von 2019 (Rudaw 2.6.2021).
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Sicherheitslage
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den sog. Islamischen Staat (IS) erheblich verbessert (FH 3.3.2021). Derzeit ist es jedoch staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen (AA 22.1.2021). Der sog. IS ist zwar offiziell besiegt, stellt aber weiterhin eine Bedrohung dar, und es besteht die ernsthafte Sorge, dass die Gruppe wieder an Stärke gewinnt (DIIS 23.6.2021). Zusätzlich agieren insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen eigenmächtig. Die ursprünglich für den Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar (AA 22.1.2021). Die Volksmobilisierungskräfte (PMF) haben erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Lage im Irak und nutzen ihre Stellung zum Teil, um unter anderem ungestraft gegen Kritiker vorzugehen. Immer wieder werden Aktivisten ermordet, welche die vom Iran unterstützten PMF öffentlich kritisiert haben (DIIS 23.6.2021). Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 22.1.2021). Siehe hierzu Kapitel: Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi Im Jahr 2020 blieb die Sicherheitslage in vielen Gebieten des Irak instabil (USDOS 30.3.2021). Die Gründe dafür liegen in sporadischen Angriffen durch den sog. IS (UNSC 30.3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021), in Kämpfen zwischen den irakischen Sicherheitskräften (ISF) und dem IS in dessen Hochburgen in abgelegenen Gebieten des Irak, in der Präsenz von Milizen, die nicht vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen, einschließlich bestimmter Volksmobiliserungskräfte (PMF) sowie in ethno-konfessioneller und finanziell motivierter Gewalt (USDOS 30.3.2021). Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA, die am 3.1.2020 in der gezielten Tötung von Qasem Soleimani, Kommandant des Korps der Islamischen Revolutionsgarden und der Quds Force, und Abu Mahdi al-Muhandis, Gründer der Kataib Hisbollah und de facto Anführer der Volksmobilisierungskräfte, bei einem Militärschlag am Internationalen Flughafen von Bagdad gipfelten, haben einen destabilisierenden Einfluss auf den Irak (DIIS 23.6.2021). Schiitische Milizenführer drohen regelmäßig damit, die von den USA unterstützten Streitkräfte im Irak anzugreifen. Anschläge mit Sprengfallen (IEDs) gegen militärische Versorgungskonvois der USA sind im Irak an der Tagesordnung. Es wird häufig über Anschläge in der südlichen 10 Region des Landes berichtet, darunter in den Gouvernements Babil, Basra, Dhi Qar, Qadisiyyah und Muthanna. Aber auch aus den zentralen Gouvernements Bagdad, Anbar und Salah ad-Din wurden Anschläge gemeldet. Konvois werden oft auf Autobahnen angegriffen, wobei diese Vorfälle selten Opfer oder größere Schäden zur Folge haben (Garda 15.7.2021).
Die Zahl der Angriffe pro-iranischer Milizen hat ihren bisherigen monatlichen Höhepunkt mit 26 im April 2021 erreicht und ist seitdem zurückgegangen. Diese Gruppen versuchen, die US-Präsenz im Irak einzuschränken, was ihr auch gelungen ist, da sich die Amerikaner nun auf den Schutz ihrer Truppen konzentrieren, anstatt mit den irakischen Sicherheitskräften zusammenzuarbeiten (Wing 2.8.2021). In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 22.1.2021). Im Nordirak führt die Türkei zum Teil massive militärische Interventionen durch, die laut der Türkei gegen die PKK gerichtet sind, und die Türkei unterhält temporäre Militärstützpunkte (GIZ 1.2021a). Die Gründung weiterer Militärstützpunkte ist geplant (Reuters 18.6.2020). Die Regierungen in Bagdad und Erbil haben im Mai 2021 eine Vereinbarung über den gemeinsamen Einsatz ihrer Sicherheitskräfte (ISF und der Peshmerga) in den Sicherheitslücken zwischen den von ihnen kontrollierten Gebieten getroffen (Rudaw 14.5.2021; vergleiche Rudaw 21.6.2021). Seitdem wurden mehrere „Gemeinsame Koordinationszentren“ eingerichtet (Rudaw 21.6.2021). In vier neuen Gemeinsamen Koordinationszentren, in Makhmour, in Diyala, in Kirkuks K1 Militärbasis und in Ninewa, werden kurdische und irakische Kräfte zusammenarbeiten und Informationen austauschen, um den sog. IS in diesen Gebieten zu bekämpfen (Rudaw 25.5.2021). - Jene Sicherheitslücken werden vom sog. IS erfolgreich ausgenutzt. In einigen Gebieten ist die Sicherheitslücke bis zu 40 Kilometer breit. Der sog. IS gewinnt dort an Stärke und führt tödliche Angriffe auf kurdische und irakische Kräfte und Zivilisten durch (Rudaw 14.5.2021).
Quellen:
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Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) hat in der Kurdischen Region im Irak (KRI) eine Präsenz in den Qandil Bergen (WKI 11.5.2021). 2007 haben die Türkei und die Zentralregierung in Bagdad eine Vereinbarung getroffen, dass die Türkei Kämpfer der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) über die gebirgige Grenze in den Nordirak verfolgen darf, ohne zuvor die Erlaubnis der irakischen Regierung in Bagdad einholen zu müssen (Reuters 28.9.2007). Die Türkei führt im Nordirak zum Teil massive militärische Operationen gegen die PKK durch (GIZ 1.2021a). Im Jahr 2020 führten die türkischen Streitkräfte die "Operation Kralle" in der KRI aus (FH 3.3.2021) und errichtete mehrere temporäre Militärstützpunkte, vorgeblich, um die eigene Grenzsicherheit zu erhöhen (FH 3.3.2021; vergleiche GIZ 1.2021a). Die Türkei hat eine etwa 25 km tiefe Sicherheitszone errichtet und verfügt über mindestens 41 Militärstützpunkte in der KRI (WKI 11.5.2021). Die Gründung weiterer Militärstützpunkte ist geplant (Reuters 18.6.2020). Im April 2021 hat die Türkei eine neuerliche Militäroperation gegen die PKK in den Gebieten von Metina, Avasin und Basyan, im Gouvernement Dohuk eingeleitet (Al Jazeera 16.8.2021; vergleiche FAZ 24.4.2021, Rudaw 24.4.2021). Ein Ziel der Operation ist es, eine Militärbasis zu errichten, um die Bewegungen der PKK zwischen der Kurdischen Region im Irak (KRI), der Türkei und Syrien zu unterbinden (Rudaw 5.5.2021). Das Gebiet von Metina, wo eine neue türkische Basis entstehen soll, steht im Mittelpunkt der Operation "Krallenblitz", während die "Operation Krallendonnerkeil" auf die Gebiete Avashin und Basyan weiter östlich zielt (IKHRW o.D.).
Der IS greift in der KRI gelegentlich an und sucht nach günstigen Gelegenheiten für Angriffe (Wing 3.5.2021). Der IS hat die Taktik geändert, von groß angelegten zu kleineren und gezielten Angriffen. Dabei hat der sog. IS seine Angriffe auch auf kurdische Sicherheitskräfte verstärkt (VOA 11.5.2021).
Gouvernement Erbil
Im Februar 2021 wurde im Gouvernement Erbil ein sicherheitsrelevanter Vorfall (Raketenbeschuss des Flughafen Erbil, der pro-iranischen Milizen zugeschrieben wird) mit zwei Toten und acht Verletzten verzeichnet (Wing 8.3.2021). Im April 2021 wurde ein sicherheitsrelevanter Vorfall (Drohnenangriff auf den Flughafen Erbil, der ebenfalls pro-iranischen Milizen zugeschrieben wird) ohne Opfer verzeichnet (Wing 3.5.2021). Im Mai 2021 wurde ein sicherheitsrelevanter Vorfall mit je einem Toten und Verletzten verzeichnet, der dem IS zugeordnet wird. Beide Opfer waren Peshmerga (Wing 7.6.2021). Im Juni 2021 wurden zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten und drei Verletzten verzeichnet. Je ein Vorfall wird pro-iranischen Milizen und dem IS zugeschrieben (Wing 6.7.2021). Im Juli 2021 waren es vier sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Todesfall. Je zwei Vorfälle werden pro-iranischen Milizen und dem IS zugeschrieben (Wing 2.8.2021). Am 6.7.2021 wurde der Luftwaffenstützpunkt am Flughafen in Erbil mit Raketen beschossen (Al Monitor 7.7.2021). Am 24.7.2021 traf ein Drohnenangriff die Al-Harir Militärbasis (Wing 2.8.2021). Im August wurden sieben sicherheitsrelevante Vorfälle (Schießereien, Entführungen, und Angriffen auf Kontrollpunkte und auf Dörfer, die dem IS zugeschrieben werden) mit einem Toten und fünf Verletzten im südlich gelegenen Distrikt Makhmour, welcher zu den sogenannten "umstrittenen Gebieten" zählt, verzeichnet (Wing 6.9.2021).
Gouvernement Dohuk
Für April 2021 hat der Irakexperte Joel Wing für das Gouvernement Dohuk einen sicherheitsrelevanten Vorfall mit einem toten türkischen Soldaten und einem verwundeten Zivilisten verzeichnet (Wing 3.5.2021). Ein hochrangiger Sicherheitsbeamter aus Dohuk berichtet, dass im Zuge einer türkischen Militäroperation der Ort Zinare Kesta und nahe gelegene Dörfer in der Region Metina bombardiert wurden (Rudaw 24.4.2021). Das Dorf Zinare Kesta wurde im Mai 2021 aufgrund der schweren türkischen Bombardements vollständig evakuiert (Rudaw 5.5.2021).
Gouvernement Sulaymaniyah
Im Jänner 2021 wurden im Gouvernement Sulaymaniyah zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten und drei Verletzten verzeichnet. Beide Vorfälle werden dem IS zugeschrieben (Wing 4.2.2021). Im April 2021 wurden neuerlich zwei sicherheitsrelevante Vorfälle, diesmal ohne Opfer, verzeichnet. Je ein Vorfall wird pro-iranischen Milizen und dem IS zugeschrieben (Wing 3.5.2021).
Quellen:
Al Jazeera (16.8.2021): Three Turkish soldiers killed in explosion in northern Iraq, https://www.aljazeera.com/news/2021/8/16/three-turkish-soldiers-killed-in-explosion-in-northern-iraq, Zugriff 25.8.2021
Al Monitor (7.7.2021): Militias launch spate of attacks on US positions in Iraq, https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/militias-launch-spate-attacks-us-positions-iraq, Zugriff 25.8.2021
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.4.2021): Türkei startet neue Offensive gegen Kurden im Nordirak, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kampf-gegen-pkk-offensive-der-tuerkei-im-nordirak-17310447.html, Zugriff 25.8.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
Guardian, The (4.4.2021): Kurds in 'mountain prison' cower as Turkey fights PKK with drones in Iraq, https://www.theguardian.com/world/2021/apr/04/iraq-turkey-pkk-drones-kurds-kurdistan, Zugriff 20.4.2021
GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 16.3.2021
IKHRW - Iranian Kurdistan Human Rights Watch (o.D.): New Turkish base will be opened in Duhok, https://www.ikhrw.com/en/article/new-turkish-base-will-be-opened-in-duhok/, Zugriff 25.8.2021
Reuters (18.6.2020): Turkey plans more military bases in north Iraq after offensive: official, https://www.reuters.com/article/us-turkey-security-iraq/turkey-plans-more-military-bases-in-north-iraq-after-offensive-official-idUSKBN23P12U, Zugriff 16.3.2021
Reuters (28.9.2007): Turkey, Iraq sign terrorism deal amid border row, https://www.reuters.com/article/us-turkey-iraq-idUSL2874027620070928, Zugriff 25.8.2021
Rudaw (5.5.2021): Duhok’s Kesta village completely evacuated overnight due to Turkish bombardments, https://www.rudaw.net/english/kurdistan/05052021, Zugriff 25.8.2021
Rudaw (24.4.2021): Turkey attacks PKK, rappels troops into Duhok: PKK media, https://www.rudaw.net/english/kurdistan/24042021, Zugriff 25.8.2021
VOA (11.5.2021): Islamic State Increases Attacks on Iraqi and Kurdish Forces, https://www.voanews.com/a/extremism-watch_islamic-state-increases-attacks-iraqi-and-kurdish-forces/6205698.html, Zugriff 25.8.2021
WKI - Washington Kurdish Institute (11.5.2021): Turkey has the largest presence in Iraq and is occupying more lands, https://dckurd.org/2021/05/11/turkey-presence-in-iraq/, Zugriff 25.8.2021
Wing, Joel, Musings on Iraq (6.9.2021): Islamic State’s Summer Offensive In Iraq Ends In August, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/09/islamic-states-summer-offensive-in-iraq.html, Zugriff 7.9.2021
Wing, Joel, Musings on Iraq (2.8.2021): Violence Picks Up Again In Iraq In July 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/08/violence-picks-up-again-in-iraq-in-july.html, Zugriff 25.8.2021
Wing, Joel, Musings on Iraq (6.7.2021): Security In Iraq June 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/07/security-in-iraq-june-2021.html, Zugriff 25.8.2021
Wing, Joel, Musings on Iraq (7.6.2021): Islamic State’s Offensive Appears Over While Pro-Iran Groups Maintain Campaign In May 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/06/islamic-states-offensive-appears-over.html, Zugriff 25.8.2021
Wing, Joel, Musings on Iraq (3.5.2021): Islamic State Ramadan Offensive Begins, Pro-Iran Groups Increase Attacks In April 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/05/islamic-state-ramadan-offensive-begins.html, Zugriff 25.8.2021
Wing, Joel, Musings on Iraq (8.3.2021): IS Winter Break Continues In Feb While Pro-Iran Groups Picking Up Attacks, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/03/is-winter-break-continues-in-feb-while.html, Zugriff 25.8.2021
Wing, Joel, Musings on Iraq (4.2.2021): Violence Continues To Decline In Iraq Winter 2020-21, https://musingsoniraq.blogspot.com/2021/02/violence-continues-to-decline-in-iraq.html, Zugriff 25.8.2021
Islamischer Staat (IS)
Letzte Änderung: 15.10.2021
Im Dezember 2017 erklärte der Irak offiziell den Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS), nachdem im Monat zuvor mit Rawa im westlichen Anbar, das letzte urbane Zentrum des IS im Irak zurückerobert worden war (Al Monitor 11.7.2021). Der IS stellt nach wie vor eine Bedrohung dar (DIIS 23.6.2021; vergleiche MEE 4.2.2021, Garda 15.4.2021). Er ist als klandestine Terrorgruppe aktiv, deren Fähigkeit zu operieren dadurch verringert ist, dass er weder Territorium noch Zivilbevölkerung beherrscht (FH 3.3.2021). Laut irakischen Kommandanten ist der IS nicht mehr in der Lage Territorien zu halten (MEE 4.2.2021). Nur eine Minderheit der IS-Kräfte ist aktiv in Kämpfe verwickelt, besonders in einigen Gebieten im Nord- und Zentralirak. In Gebieten mit sunnitischer Bevölkerungsmehrheit konzentriert sich der IS auf die Doppelstrategie der Einschüchterung und Versöhnung mit den lokalen Gemeinschaften, während er auf ein erneutes Chaos oder den Abzug der internationalen Anti-Terrortruppen wartet (NI 19.5.2020). Der IS unterhält im gesamten West- und Nordirak Zellen, die gut ausgerüstet und äußerst mobil sind. Es wird angenommen, dass sie die Unterstützung aus den marginalisierten sunnitischen Gemeinschaften in der Region erhalten (Garda 15.4.2021). Schätzungen über die Stärke des IS gehen von 2.000 bis zu 10.000 IS-Kämpfer im Irak, dürften aber zu hoch gegriffen sein und sich zur Hälfte aus Unterstützern und Schläfern zusammensetzen (NI 18.5.2021).
Eine grundlegende geografische Verteilung der IS-Kämpfer lässt sich aus deren Operationen ableiten, die sie gegen die Sicherheitskräfte und die PMF durchführen. Diese betreffen hauptsächlich Anbar, Bagdad, Babil, Kirkuk, Salah ad-Din, Ninewa und Diyala (NI 18.5.2021). Nach der territorialen Niederlage im Jahr 2017 haben sich Zellen des IS weitgehend im Gebietsdreieck zwischen den Gouvernements Salah ad-Din, Diyala und Kirkuk, einschließlich des Hamrin-Gebirges, im Nordirak neu gruppiert. Das Gebiet liegt zwischen den Zuständigkeiten der irakischen Sicherheitskräfte und denen der kurdischen Regionalregierung (KRG), den Peshmerga (MEE 4.2.2021).
Um die 2.000 der Kämpfer sollen sich in diversen Dreiecksgebieten konzentrieren:
Das Gebiet zwischen Nord, West und Süd Bagdad, das Gebiet zwischen den nördlichen Hamreenbergen, Südkirkuk und dem Osten von Salah-ad-Din, das Gebiet zwischen Makhmour, Shirqat und den Khanoukenbergen im nördlichen Salah ad-Din, das Gebiet zwischen Baaj in Ninewa, Rawa im nördlichen Anbar und dem Tharthar See, das Gebiet zwischen Wadi Hauran, Wadi al-Qathf und Wadi al-Abyad in Anbar (NI 19.5.2020). Auch Informationen irakischer Sicherheitsbeamter deuten darauf hin, dass der IS auf abgelegene Stützpunkte tief in der Wüste in Anbar, Ninewa, in Gebirgszügen, Tälern und Obstplantagen in Bagdad, Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala zurückgreift, um seine Kämpfer unterzubringen und Überwachungs- und Kontrollpunkte zur Sicherung der Nachschubwege einzurichten. Er nutzt diese Stützpunkte auch, um Kommandozentren und kleine Ausbildungslager einzurichten. In urbanen Gebieten hat der IS seine Kämpfer in kleinen mobilen Untergruppen reorganisiert und seine Aktivitäten in Gebieten in denen er noch Einfluss hat verstärkt, indem er die internen Probleme des Iraks ausnutzt und sich vertrautes geografisches Gebiet zunutze macht (NI 18.5.2021). (Quelle: NI 19.5.2020) Der verstärkte Einsatz von mobilen Gruppen, die in verschiedenen Gebieten operieren, oft weit entfernt von ihren Stützpunkten oder von Unterkünften wie den Madafat Anmerkung, Grundausbildungslager), die sich in unwegsamem Gelände, Felsenhöhlen oder unterirdischen Tunneln befinden, bedeutet, dass die tatsächliche Präsenz der Gruppe nicht anhand ihrer territorialen Ansprüche oder von Ankündigungen irakischer Behörden beurteilt werden kann (NI 18.5.2021). Der IS verlässt sich bei der Planung und Ausführung seiner Aktivitäten auf geografisches Terrain. Obwohl die Gruppe nicht mehr als Staat agiert, wie es in den Jahren des Kalifats von 2014 bis 2018 der Fall war, beziehen sich ihre Kommuniqués, in denen sie sich zu Anschlägen bekennt, immer noch auf das Wilayat als Teil ihrer PR-Strategie (NI 18.5.2021).
Der IS wählt seine Einsatzgebiete nach strategischen Faktoren aus:
Ein Faktor ist die Generierung von Finanzmitteln, an den Handelsrouten zum Iran, zu Syrien und zwischen den irakischen Gouvernements, durch Steuern bzw. Schutzgelder, die Transportunternehmen auferlegt werden, sowie aus dem Schmuggel von Medikamenten, Waffen, Zigaretten, Öl, illegalen Substanzen und Lebensmitteln. Ein anderer Faktor ist die Schaffung strategischer Tiefe und sicherer Häfen. So konzentriert sich der IS auf die Ansiedlung in verlassenen Dörfern im Nord- und Zentralirak, wo natürliche geographische Barrieren und Gelände, wie Täler, Berge, Wüsten und ländliche Gebiete, konventionelle Militäroperationen zu einer Herausforderung machen. Hier nutzt der IS Höhlen, Tunnel und Lager zu Ausbildungszwecken, auch um sich Überwachung, Spionage und feindlichen Operationen zu entziehen. Ein weiterer Faktor ist die direkte Nähe zum Ziel. Der IS konzentriert sich beispielsweise auf Randgebiete um Städte und große Dörfer, die eine große Präsenz von einerseits Stammesmilizen oder lokalen Streitkräften und andererseits von nicht-lokalen loyalistischen PMF-Milizen aufweisen, sowie auf niederrangige Beamte, die mit der Regierung für die Vertreibung des IS zusammengearbeitet haben. Solche Gebiete sind häufig instabil aufgrund von Friktionen zwischen den verschiedenen Kräften. Einheimische, vor allem solche, die durch die anwesenden Kräfte geschädigt wurden, können dem IS gegenüber aufgeschlossener sein (CPG 5.5.2020).
Der IS hat die jüngsten Entwicklungen im Irak, wie die weitreichenden öffentlichen Proteste, den Rücktritt der Regierung und die daraus resultierende politische Stagnation, die Machtkämpfe um die Ermordung des Führers der Popular Mobilization Forces (PMF), Abu Mahdi al-Muhandis, durch die USA und den Abzug von US-Streitkräften aus dem Irak, operativ genutzt und in eher kleinen Gruppen von neun bis elf Männern Anschläge in Diyala, Salah ad-Din, Ninewa, Kirkuk und im Norden Bagdads verübt (CPG 5.5.2020). Seit Sommer 2021 häufen sich Angriffe auf das irakische Stromnetz. Diese Angriffe werden von den Behörden terroristischen Kräften oder dem IS zugeschrieben (AN 14.8.2021). Der IS hat sich zu Dutzenden solcher Anschläge bekannt und bedroht auch andere lebenswichtige Infrastruktur. Es wird angenommen, dass der IS versucht Panik zu verbreiten, indem er das Elektrizitätsnetz angreift (Rudaw 8.8.2021). Nach der Tötung des „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi wurde Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi 2019 der neue Anführer des IS. Dieser wurde als Ameer Muhammed Sa’id al-Salbi al-Mawla identifiziert, ein langjähriger Anführer des IS aus Tal Afar im Nordirak (NI 19.5.2020; vergleiche CISAC 2021). Dem neuen Kalifen sind zwei fünfköpfige Ausschüsse unterstellt: ein Shura (Beratungs-) Rat und ein Delegiertenausschuss. Jedes Mitglied des letzteren ist für ein Ressort zuständig (Sicherheit, sichere Unterkünfte, religiöse Angelegenheiten, Medien und Finanzierung). Die verschiedenen Sektoren des IS arbeiten auf lokaler Ebene dezentralisiert, halbautonom und sind finanziell autark (NI 19.5.2020). Ende Jänner 2021 wurde der Wali [Anm.: Gouverneur] für den Irak Jabbar Salman Ali Farhan al-Issawi, bekannt als Abu Yasser, in einer Operation als Vergeltung für den IS-Bombenanschlag in Bagdad vom 21.1.2021 im Süden Kirkuks getötet (WIng 4.2.2021; vergleiche Al-Monitor 1.3.2021, VOA 7.2.2021). Abu Yasser hatte Berichten zufolge seit 2017 den IS-Aufstand im Irak angeführt (VOA 7.2.2021).
Quellen:
• Al Monitor (11.7.2021): Islamic State uses hit-and-run tactics in Iraq, https://www.al-monit or.com/originals/2021/07/islamic-state-uses-hit-and-run-tactics-iraq , Zugriff 25.8.2021 15
• Al Monitor (1.3.2021): Prominent Islamic State leaders killed in Iraq, https://www.al-monit or.com/originals/2021/03/iraq-security-isis-tarmiya.htm l, Zugriff 12.4.2021
• AN - Arab News (14.8.2021): West Baghdad without water after ‘attack’ on power grid, https://www.arabnews.com/node/1911056/middle-east , Zugriff 25.8.2021
• CISAC - Center for International Security and Cooperation (2021): The Islamic State, https://cisac.fsi.stanford.edu/mappingmilitants/profiles/islamic-state#highlight_text_12400 , Zugriff 25.8.2021
• CPG - Center for Global Policy (5.5.2020): ISIS in Iraq: From Abandoned Villages to the Cities, https://cgpolicy.org/articles/isis-in-iraq-from-abandoned-villages-to-the-cities/ , Zugriff 4.6.2020
• DIIS - Danish Institute for international Studies (23.6.2021): Security provision and external actors in Iraq, https://www.diis.dk/en/research/security-provision-and-external-actors-in-ir aq , Zugriff 25.8.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• Garda World (15.4.2021): Iraq: At least five people killed, 21 injured in car bomb explosion in Baghdad April 15 /update 1, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/467636/iraq-a t-least-five-people-killed-21-injured-in-car-bomb-explosion-in-baghdad-april-15-update-1 , Zugriff 25.8.2021
• MEE - Middle East Eye (4.2.2021): Islamic State regrouping in northern Iraq and relying on women operatives, https://www.middleeasteye.net/news/iraq-islamic-state-regrouping -northern-women-operatives, Zugriff 10.4.2021
• NI - Newlines Institute (18.5.2021): ISIS in Iraq: Weakened but Agile, https://newlinesinstit ute.org/iraq/isis-in-iraq-weakened-but-agile/?ref=nl , Zugriff 20.5.2021
• NI - Newlines Institute (19.5.2020): ISIS 2020: New Structures and Leaders in Iraq Revealed, https://newlinesinstitute.org/isis/isis-2020-new-structures-and-leaders-in-iraq-reveal ed/ , Zugriff 4.6.2021
• USDOS - US Department of State (USA) (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032435.html, Zugriff 28.5.2021
• Rudaw (8.8.2021): More than 18 attacks on electricity towers thwarted in Iraq in two weeks: military spox, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/080820212 , Zugriff 25.8.2021
• VOA - Voice of America (7.2.2021): Kurds Warn of Growing Islamic State Capabilities in Iraq, https://www.voanews.com/extremism-watch/kurds-warn-growing-islamic-state-cap abilities-iraq, Zugriff 12.4.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (4.2.2021): Violence Continues To Decline In Iraq Winter 2020-21, https://musingsoniraq.blogspot.com/2021/02/violence-continues-to-decline-in-ir aq.html, Zugriff 12.4.2021
Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Letzte Änderung: 15.10.2021
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden für den gesamten Irak im Lauf des Monats Jänner 2021 77 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 92 Toten (46 Zivilisten) und 176 Verwundeten (125 Zivilisten) verzeichnet. 64 dieser Vorfälle werden dem sog. Islamischen Staat (IS) zugeschrieben und 13 pro-iranischen Milizen. Die meisten Opfer gab es in Bagdad mit 145, gefolgt von 36 in Diyala, 28 in Ninewa und 26 in Salah ad-Din (Wing 4.2.2021).
Im Februar 2021 waren es 63 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 39 Toten (elf Zivilisten) und 77 Verwundeten (elf Zivilisten). 47 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 16 pro-iranischen Milizen. Die Meisten Opfer 16 gab es in Diyala mit 38, gefolgt von 26 in Kirkuk und 21 in Anbar (Wing 8.3.2021).
Im März 2021 waren es 79 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 39 Toten (16 Zivilisten) und 44 Verwundeten (14 Zivilisten). 59 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 20 pro-iranischen Milizen. Die Meisten Opfer gab es in Salah ad-Din mit 22, gefolgt von 19 in Diyala und 18 in Kirkuk (Wing 5.4.2021).
Im April 2021 waren es 107 Vorfälle mit 54 Toten (19 Zivilisten) und 132 Verwundeten (52 Zivilisten). 80 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 27 pro-iranischen Milizen. Diyala hatte mit 62 die meisten Opfer zu beklagen, gefolgt von 39 in Kirkuk, 30 in Bagdad, 24 in Salah ad-Din und 22 in Ninewa (Wing 3.5.2021).
Im Mai 2021 waren es 113 Vorfälle mit 59 Toten (elf Zivilisten) und 100 Verwundeten (24 Zivilisten). 89 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 24 pro-iranischen Milizen. Die Meisten Opfer gab es in Kirkuk mit 53, gefolgt von 31 in Salah ad-Din, 26 in Diyala und 19 in Anbar (Wing 7.6.2021).
Im Juni 2021 wurden 83 sicherheitsrelevante Vorfälle verzeichnet. Dabei wurden 36 Menschen (16 Zivilisten) getötet und 87 verwundet (50 Zivilisten). 62 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 17 proiranischen Milizen. Vier weitere Vorfälle konnten nicht zugewiesen werden. Die meisten Opfer gab es in Bagdad mit 47, gefolgt von 31 in Diyala und 23 in Kirkuk (Wing 6.7.2021). Im Juli 2021 waren es 107 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 106 Toten (76 Zivilisten) und 164 (114 Zivilisten) Verwundeten. 90 dieser Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 17 pro-iranischen Milizen. Die Meisten Opfer gab es in Bagdad, wo ein Bombenanschlag 101 Opfer forderte, gefolgt von 65 in Salah ad-Din, 33 in Anbar, 25 in Diyala, 21 in Kirkuk und 20 in Ninewa (Wing 2.8.2021). Im August 2021 wurden schließlich 103 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 54 Toten (15 Zivilisten) und 82 Verwundeten (34 Zivilisten) verzeichnet. 73 der Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, 30 pro-iranischen Milizen. Die Meisten Opfer gab es in Salah ad-Din mit 48, gefolgt von 23 in Kirkuk, 19 in Bagdad und 18 in Diyala (Wing 6.9.2021).
Im Jahr 2021 wurden bis Juli 2021 bisher 417 zivile Todesopfer verzeichnet. Bis auf die Monate April und Juli waren es jeweils weniger als in den Vergleichsmonaten des Vorjahres (IBC 8.2021). 19 (IBC 8.2021)
Quellen:
• ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (25.3.2021): Iraq, third quarter 2020: Update on incidents according to the Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2050684/202 0q3Iraq_en.pdf , Zugriff 25.8.2021
• IBC - Iraq Bodycount (8.2021): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https: //www.iraqbodycount.org/database/ , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (6.9.2021): Islamic State’s Summer Offensive In Iraq Ends In August, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/09/islamic-states-summer-offensive-in-ir aq.html , Zugriff 7.9.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (2.8.2021): Violence Picks Up Again In Iraq In July 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/08/violence-picks-up-again-in-iraq-in-july.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (6.7.2021): Security In Iraq June 2021, http://musingsoniraq. blogspot.com/2021/07/security-in-iraq-june-2021.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (7.6.2021): Islamic State’s Offensive Appears Over While Pro-Iran Groups Maintain Campaign In May 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2 021/06/islamic-states-offensive-appears-over.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (3.5.2021): Islamic State Ramadan Offensive Begins, Pro-Iran Groups Increase Attacks In April 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/05/islam ic-state-ramadan-offensive-begins.html, Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (5.4.2021): Violence In Iraq, March 2021, http://musingsonira q.blogspot.com/2021/04/violence-in-iraq-march-2021.html ,Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (8.3.2021): IS Winter Break Continues In Feb While Pro-Iran Groups Picking Up Attacks, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/03/is-winter-break-c ontinues-in-feb-while.html , Zugriff 25.8.2021 20
• Wing, Joel, Musings on Iraq (4.2.2021): Violence Continues To Decline In Iraq Winter 2020-21, https://musingsoniraq.blogspot.com/2021/02/violence-continues-to-decline-in-ir aq.html, Zugriff 25.8.2021
Sicherheitslage Bagdad
Letzte Änderung: 15.10.2021
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, das seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017). Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Gebiete (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmiya, Arab Jibor und al-Mada’in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 Kilometern um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008). Im Ort Tarmiya im nördlichen Teil des Gouvernement Bagdad, hat der sog. Islamische Staat (IS) eine Zelle reaktiviert (Wing 2.8.2021). Im August 2021 haben Sicherheitskräfte eine Operation gegen diese IS-Zelle gestartet, nachdem der IS seine Angriffe in den vorangegangenen Monaten verstärkt hatte (Anadolu 23.8.2021). Seit Beginn des Sommers 2021 häufen sich Angriffe auf das irakische Stromnetz, das ohnehin bereits mit schweren Stromengpässen zu kämpfen hat. Mitte August 2021 wurde beispielsweise bei Tarmiya ein Strommast gesprengt, der die dortige Pumpstation mit Strom versorgt. Deren Stillstand hatte den Ausfall der Wasserversorgung für mehrere Millionen Menschen im Westen Bagdads zur Folge. Diese Angriffe werden von den Behörden terroristischen Kräften oder dem IS zugeschrieben (AN 14.8.2021). Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA, die am 3.1.2020 in der gezielten Tötung von Qasem Soleimani, Kommandant des Korps der Islamischen Revolutionsgarden und der Quds Force und Abu Mahdi al-Muhandis, Gründer der Kata’ib Hisbollah und de facto 21 Anführer der Volksmobilisierungskräfte bei einem Militärschlag am Internationalen Flughafen von Bagdad gipfelten, haben einen destabilisierenden Einfluss auf den Irak (DIIS 23.6.2021). Pro-iranische schiitische Milizenführer drohen regelmäßig damit, die von den USA unterstützten Streitkräfte im Irak anzugreifen. Unter anderem werden auch aus dem Gouvernement Bagdad Anschläge mit Sprengfallen (IEDs) gegen militärische Versorgungskonvois der USA gemeldet. Konvois werden oft auf Autobahnen angegriffen, wobei diese Vorfälle selten Opfer oder größere Schäden zur Folge haben (Garda 15.7.2021). Pro-iranische Milizen werden auch für Raketenund Drohnenangriffe auf den Internationalen Flughafen Bagdad und auf die sogenannte Grüne Zone Anmerkung, ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandsvertretungen beherbergt) verantwortlich gemacht. Siehe dazu diefolgende Auflistungen der monatlichen sicherheitsrelevanten Vorfälle: Im Jänner 2021 wurden im Gouvernement Bagdad zehn sicherheitsrelevante Vorfälle mit 34 Toten und 111 Verletzten verzeichnet. 32 der Toten und 110 der Verletzten waren Zivilisten. Sechs dieser Vorfälle werden dem sog. IS zugeschrieben, vier pro-iranischen Milizen (Wing 4.2.2021). Der IS hat im Jänner 2021 einen doppelten Selbstmordanschlag auf einem Markt am Tayaran-Platz im Zentrum Bagdads ausgeführt, bei dem 32 Menschen getötet und 110 verletzt wurden (Al Arabiya 19.7.2021; vergleiche BBC 21.1.2021, Wing 4.2.2021). Pro-iranische Milizen zeichneten sich verantwortlich für drei IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA und für den Raketenbeschuss des Internationalen Flughafens Bagdad (Wing 4.2.2021). Im Februar 2021 wurden zehn Vorfälle mit vier Toten und drei Verletzten verzeichnet. Je fünf Vorfälle werden dem IS und pro-iranischen Milizen zugeschrieben. Bei den IS-Vorfällen handelte es sich, bis auf ein Feuergefecht in Tarmiya im Norden Bagdads, um Angriffe von geringem Ausmaß. Bei vier der pro-iranischen Vorfälle handelte es sich um IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA, beim fünften um einen Raketenbeschuss der Grünen Zone in Bagdad (Wing 8.3.2021). Im März 2021 gab es zehn sicherheitsrelevante Vorfälle mit drei Toten und sieben Verletzten, davon waren zwei der getöteten und sechs der verwundeten Personen Zivilisten. Acht dieser Vorfälle werden dem sog. IS, zwei weitere pro-iranischen Milizen zugeschrieben. Die IS-Angriffe umfassten unter anderem ein Feuergefecht, den Einsatz einer Motorradbombe und den Angriff auf das Haus eines Sheikhs mit einem Sprengsatz. Tarmiya, ein Ort im Norden Bagdads, von dem aus eine IS-Zelle operiert, war hauptsächlich von den IS-Übergriffen betroffen. Bei den pro-iranischen Vorfällen handelte es sich um zwei IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA (Wing 5.4.2021). Im April 2021 wurden im Gouvernement Bagdad sieben sicherheitsrelevante Vorfälle mit sieben Toten und 23 Verletzten verzeichnet. Vier dieser Vorfälle werden dem IS, drei pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 3.5.2021). Bei einem der IS-Angriffe handelte es sich um einen Anschlag unter Verwendung einer Autobombe auf einem Markt in Sadr City, bei dem vier Menschen getötet und 20 verwundet wurden (Al Arabiya 19.7.2021; vergleiche Garda 15.4.2021, Wing 3.5.2021). Bei den pro-iranischen Vorfällen handelte es sich wiederum um zwei IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA sowie um Raketenbeschuss einer Militärbasis (Wing 3.5.2021). 22 Im Mai 2021 wurden neun sicherheitsrelevante Vorfälle mit 16 Toten verzeichnet, von denen zwei Zivilisten waren. Sieben Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, wobei sich sechs im nördlichen Tarmiya Distrikt ereigneten. Zwei Vorfälle, ein Raketenbeschuss des Internationalen Flughafens Bagdad und ein vereitelter Angriff, werden pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 7.6.2021). Im Juni 2021 wurden 16 sicherheitsrelevante Vorfälle mit acht Toten und 39 Verletzten verzeichnet. Sieben der Toten und 36 der Verletzten waren zivile Opfer. Zehn der Vorfälle werden dem sog. IS zugeschrieben. Sechs der sicherheitsrelevante Vorfälle, unter anderem ein IED-Angriff auf einen Versorgungskonvoi der USA sowie zwei Drohnenangriffe auf den Internationalen Flughafen Bagdad, werden pro-iranischen Milizen zugeschrieben. Weitere Angriffe konnten verhindert werden (Wing 6.7.2021). Im Juli 2021 wurden im Gouvernement Bagdad 18 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten, davon 38 Zivilisten, und 59 zivile Verletzte verzeichnet. 14 dieser Vorfälle werden dem sog. IS zugeschrieben (Wing 2.8.2021). Am 19.7.2021 führte der IS ein Selbstmordattentat in einem Markt in Sadr City aus, bei dem 35 Menschen getötet und 59 verletzt wurden (Al Arabiya 19.7.2021; vergleiche Wing 2.8.2021). Vier Vorfälle, ein IED-Angriff gegen einen Versorgungskonvoi der USA, zwei Raketenbeschüsse der Grünen Zone sowie die Entschärfung einer Rakete, werden pro-iranischen Milizen zugeschrieben (WIng 2.8.2021). Im August 2021 wurden zehn Vorfälle, mit acht Toten und elf Verwundeten verzeichnet, wobei zwei der Verwundeten Zivilisten waren. Sechs Angriffe werden dem sog. IS zugeordnet, vier pro-iranischen Milizen (Wing 6.9.2021). Der IS war im Gouvernement Bagdad neuerlich in Tarmiya am aktivsten, wo unter anderem ein PMF-Brigade-Hauptquartier angegriffen wurde. Bei den vier Vorfällen unter Beteiligung pro-iranischen Milizen handelt es sich um IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der US-Streitkräfte (Wing 6.9.2021). [Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel Protestbewegung entnommen werden.]
Quellen:
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• ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar .org/region/baghdad-belts , Zugriff 25.8.2021
• OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés etApatrides [Frankreich] (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/file s/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf , Zugriff 13.3.2020
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• Wing, Joel, Musings on Iraq (7.6.2021): Islamic State’s Offensive Appears Over While Pro-Iran Groups Maintain Campaign In May 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2 021/06/islamic-states-offensive-appears-over.html , Zugriff 25.8.2021
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• Wing, Joel, Musings on Iraq (5.4.2021): Violence In Iraq, March 2021, http://musingsonira q.blogspot.com/2021/04/violence-in-iraq-march-2021.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (8.3.2021): IS Winter Break Continues In Feb While Pro-Iran Groups Picking Up Attacks, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/03/is-winter-break-c ontinues-in-feb-while.html , Zugriff 25.8.2021
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Sicherheitslage Nord- und Zentralirak
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Aktivitäten des sogenannten Islamischen Staates (IS) nehmen in vielen Gebieten der Gouvernements Salah ad-Din, Kirkuk, Anbar und Ninewa zu, vor allem in abgelegenen Gegenden der zwischen der kurdischen Regionalregierung (KRG) und der irakischen Bundesregierung „umstrittenen Gebiete“. IS-Kämpfer wenden „Hit-and-Run“-Taktiken an und verüben Entführungen und Erschießungen in diesen Gebieten (K24 3.7.2021). Der IS infiltriert bereits seit Jahren die Sicherheitslücken, die sich zwischen den irakischen und kurdischen Sicherheitskräften in den umstrittenen Gebieten gebildet haben (JP 1.5.2021). Die Gouvernements Anbar und Salah ad-Din sind, ebenso wie viele südirakische Gouvernements von Anschlägen mit Sprengfallen (IEDs) durch schiitische Milizen (PMF) betroffen, die gegen militärische Versorgungskonvois der USA gerichtet sind. Die Konvois werden oft auf Autobahnen angegriffen, wobei diese Vorfälle selten Opfer oder größere Schäden zur Folge haben (Garda 15.7.2021).
In den umstrittenen Gebieten gibt es große Sicherheitslücken zwischen den Sicherheitskräften Bagdads und Erbils, die in den nördlichen Gebieten bis zu 60 km und in Diyala um die 40 km breit sind. Diese territorialen Sicherheitslücken haben sich zu sicheren Zufluchtsorten für den sog. IS entwickelt, von wo aus die Kämpfer Anschläge gegen irakische Streitkräfte und kurdische Peshmerga in den Gebieten von Ninewa, Salah ad-Din, Diyala und Kirkuk verüben (EPC 13.7.2021). Bei den zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebieten handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel, der zwischen dem arabischen und kurdischen Teil des Irak liegt, und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (ICG 14.12.2018). Die umstrittenen Gebiete umfassen Territorien in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya und Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011).
Die Bevölkerung der umstrittenen Gebiete ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom sog. IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die umstrittenen Gebiete umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (ICG 14.12.2018). In dem Bemühen, die zunehmenden Aktivitäten des sog. IS in den Sicherheitslücken einzudämmen, richten die kurdische Regionalregierung (KRG) und die irakische Bundesregierung gemeinsame Koordinationszentren ein (Al Monitor 26.5.2021). Ein Abkommen zwischen Bagdad und Erbil soll die Wiederherstellung der gemeinsamen militärischen Verwaltung dieser Gebiete und die Rückkehr der kurdischen Peschmerga in diese Gebiete, insbesondere in Kirkuk und einigen Teilen von Diyala, mit sich bringen (EPC 13.7.2021).
Gouvernement Anbar
Das Gouvernement Anbar wird vom IS hauptsächlich als Drehscheibe benutzt, was üblicherweise eine geringe Zahl an Angriffen vor Ort zur Folge hat (Wing 5.4.2021). Im Jänner 2021 wurden im Gouvernement Anbar zehn sicherheitsrelevante Vorfälle mit sechs Toten und zwölf Verletzten verzeichnet. Je ein Toter und ein Verletzter waren Zivilisten. Alle Vorfälle werden dem sog. IS zugeschrieben (Wing 4.2.2021). Im Februar 2021 wurden fünf sicherheitsrelevante Vorfälle mit sieben Toten und 14 Verletzten verzeichnet, jedoch ohne Zivile Opfer. Alle Vorfälle werden dem sog. IS zugeschrieben (Wing 8.3.2021). Im März 2021 wurden fünf Vorfälle mit fünf Verletzten verzeichnet. Bei einem der Opfer handelt es sich um einen Zivilisten. Drei der Vorfälle werden dem sog. IS zugeschrieben, zwei pro-iranischen Milizen, darunter ein IED-Angriff auf einen Versorgungskonvoi der USA, und ein Raketenbeschuss der ’Ain Al-Assad Militärbasis (Wing 5.4.2021). Im April 2021 wurden elf Vorfälle mit vier Toten und einem Verletzten verzeichnet. Bei zwei der Toten handelt es sich um Zivilisten. Vier der Vorfälle werden dem IS zugeschrieben, während sieben der Vorfälle - fünf IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA, ein Raketenbeschuss der ’Ain Al-Assad Militärbasis sowie ein Schusswechsel an einem Kontrollpunkt an der saudiarabischen Grenze - pro-iranischen Milizen zugeschrieben werden (Wing 3.5.2021). Im Mai 2021 wurden 13 sicherheitsrelevante Vorfälle mit vier Toten und 15 Verletzten verzeichnet. Sechs der Vorfälle werden dem sog. IS und sieben - drei IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA, sowie zwei Raketen und ein Drohnenangriff auf ’Ain Al-Assad Militärbasis - pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 7.6.2021). Im Juni 2021 wurden fünf Vorfälle ohne Opfer verzeichnet. Zwei der Vorfälle werden dem sog. IS und drei - ein IED-Angriff auf einen Versorgungskonvoi der USA sowie Raketenbeschüsse der ’Ain Al-Assad Militärbasis an unterschiedlichen Tagen - pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 6.7.2021). Im Juli 2021 wurden 16 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 14 Toten und 19 Verletzten verzeichnet. Bei neun der Toten und acht der Verwundeten handelte es sich um Zivilisten. Zwölf der Vorfälle werden dem sog. IS und vier - zwei IED-Angriffe auf Versorgungskonvois 28 der USA sowie Raketenbeschüsse der ’Ain Al-Assad Militärbasis an unterschiedlichen Tagen, pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 2.8.2021).
Im August 2021 wurden in Anbar sechs sicherheitsrelevante Vorfälle mit zwei Toten und drei Verletzten verzeichnet. Bei einem der Toten und zwei Verwundeten handelte es sich um Zivilisten. Fünf Vorfälle werden dem sog. IS zugeschrieben, ein IED-Angriff auf einen Versorgungskonvoi der USA wird pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 6.9.2021). Der schwerwiegendste Vorfall im August ereignete sich am Grenzübergang Akashat. Ein Grenzpolizist wurde getötet, ein weiterer verletzt und ein dritter entführt und später vom sog. IS enthauptet. Es wird vermutet, dass dies als Einschüchterung gesehen wird, Schmuggelaktionen des IS zu ermöglichen (Wing 6.9.2021).
Gouvernement Diyala
Das Gouvernement Diyala gilt als ein Zentrum des sog. Islamischen Staates (IS) im Irak. Hier hat er im zentralen Distrikt Muqdadiya und im nordöstlich gelegenen Khanaqin de facto die Kontrolle über weite ländliche Gebiete und konzentriert sich darauf, Einheimische und Sicherheitskräfte von diesen Gebieten fernzuhalten (Wing 6.7.2021; vergleiche Wing 2.8.2021). Üblicherweise kommt es in den Distrikten Muqdadiya und Khanaqin zu den meisten Zwischenfällen Diyala (Wing 6.7.2021; vergleiche Wing 2.8.2021). Im Februar 2021 wurden in Diyala 21 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 15 Toten und 23 Verletzten verzeichnet. Bei vier der Toten und zwei der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 8.3.2021). Im März 2021 wurden in Diyala 21 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zehn Toten und neun Verletzten verzeichnet. Bei fünf der Toten und zwei der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 5.4.2021). Im April 2021 wurden in Diyala 30 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 13 Toten und 49 Verletzten verzeichnet. Bei drei der Toten und zehn der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 3.5.2021). Im Mai 2021 wurden in Diyala 31 sicherheitsrelevante Vorfälle mit acht Toten und 18 Verletzten verzeichnet. Bei vier der Toten und sechs der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 7.6.2021). Im Juni 2021 wurden im Gouvernement Diyala 21 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 16 Toten und 15 Verletzten verzeichnet. Bei fünf der Toten und sieben der Verwundeten handelte es sich um Zivilisten. Ein Vorfall wird pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 6.7.2021). Im Juli 2021 wurden im Gouvernement Diyala 17 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 13 Toten und zwölf Verletzten verzeichnet. Bei zwölf der Toten und sechs der Verwundeten handelte es sich um Zivilisten (Wing 2.8.2021). Im August 2021 wurden in Diyala 17 sicherheitsrelevante Vorfälle mit je neun Toten und Verletzten verzeichnet. Bei sechs der Toten und acht der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 6.9.2021).
Gouvernement Kirkuk
Das Gouvernement Kirkuk gehört neben Salah ad-Din zu den Schwerpunkten des sog. Islamischen Staates (IS) (Wing 2.8.2021). Der IS reorganisiert sich in den umstrittenen Gebieten des Gouvernements Kirkuk. Kleine Gruppen von IS-Kämpfern attackieren Kontrollpunkte von Militär und Polizei, ermorden lokale Anführer und greifen das Elektrizitätsnetz und die Erdöl-Anlagen an. Die hügeligen und gebirgigen Gebiete des Zentralirak bieten dabei einen perfekten Rückzugsort (K24 12.7.2021). Da der Süden Kirkuks nie vollständig von IS-Kämpfern befreit wurde, finden hier auch üblicherweise die meisten Gewalttaten des IS statt (Joel Wing 3.5.2021). Im Februar 2021 wurden in Kirkuk acht sicherheitsrelevante Vorfälle mit sechs Toten und 20 Verletzten verzeichnet. Bei einem der Toten handelt es sich um einen Zivilisten (Wing 8.3.2021). Im März 2021 wurden in Kirkuk 21 sicherheitsrelevante Vorfälle mit fünf Toten und 13 Verletzten verzeichnet. Es befanden sich keine Zivilisten unter den Opfern (Wing 5.4.2021). Im April 2021 wurden in Kirkuk 14 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 15 Toten und 24 Verletzten verzeichnet. Bei einem der Toten handelt es sich um einen Zivilisten (Wing 3.5.2021). Im Mai 2021 wurden im Gouvernement Kirkuk 20 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 19 Toten und 34 Verletzten verzeichnet. Zwei der Todesfälle und ein Verletzter waren Zivilisten (Wing 7.6.2021). Im Juni 2021 wurden im Gouvernement Kirkuk 14 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zehn Toten und 13 Verletzten verzeichnet. Zwei der Todesfälle waren Zivilisten (Wing 6.7.2021). Im Juli 2021 wurden im Gouvernement Kirkuk 14 sicherheitsrelevante Vorfälle mit neun Toten und zwölf Verletzten verzeichnet. Bei einem der Toten und vier der Verwundeten handelte es sich um Zivilisten (Wing 2.8.2021). Im August 2021 wurden im Gouvernement Kirkuk 20 sicherheitsrelevante Vorfälle mit neun Toten und 14 Verletzten verzeichnet. Bei drei der Toten und neun der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 6.9.2021).
Gouvernement Ninewa
Das Gouvernement Ninewa ist eine der Regionen, die dem IS als logistische Drehscheibe dienen (Wing 6.7.2021). Sie wird genutzt, um Personal und Material zwischen Syrien und dem Irak zu bewegen (Wing 7.6.2021). Die Region ist daher üblicherweise relativ ruhig. Die Zunahme an sicherheitsrelevenaten Vorfällen im August 2021 wird als Zeichen einer Kampagne des sog. IS gesehen. Die Mehrheit der Vorfälle betraf Sabotage an Strommasten und den Einsatz von Sprengsätzen (IEDs) (Wing 6.9.2021). Im Februar 2021 wurden in Ninewa vier sicherheitsrelevante Vorfälle mit drei Toten verzeichnet. Es handelt sich bei den drei Toten um Zivilisten (Wing 8.3.2021). Im März 2021 wurden in Ninewa fünf sicherheitsrelevante Vorfälle mit zwei Toten und vier Verletzten verzeichnet. Bei einem der Toten und bei den vier Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 5.4.2021). Im April 2021 wurden in Ninewa acht sicherheitsrelevante Vorfälle mit vier Toten und 18 Verletzten verzeichnet. Bei einem der Toten und 13 der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 3.5.2021). Im Mai 2021 wurden in Ninewa neun sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten und neun Verletzten verzeichnet. Bei fünf der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 7.6.2021). Im Juni 2021 wurden im Gouvernement Ninewa sechs sicherheitsrelevante Vorfälle mit elf Verletzten verzeichnet. Vier davon waren Zivilisten (Wing 6.7.2021). Unter anderem wurden zwei Strommasten im Südosten Mossuls gesprengt (Wing 6.7.2021; vergleiche NINA 13.6.2021). Im Juli 2021 wurden im Gouvernement Ninewa 13 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zwei zivilen Toten und 18 Verletzten, davon drei ISF- und acht PMF-Angehörige, verzeichnet (Wing 2.8.2021). Außerdem wurden im Süden Mossuls Strommasten gesprengt (Wing 2.8.2021; vergleiche NINA 1.7.2021). Im August 2021 wurden 14 sicherheitsrelevante Vorfälle mit vier Toten und sieben Verletzten verzeichnet. Bei drei der Toten und sieben der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 6.9.2021).
Gouvernement Salah ad-Din
Das Gouvernement Salah ad-Din zählt neben Kirkuk zu den Schwerpunkten des sog. Islamischen Staates (IS) (Wing 2.8.2021). Der IS hat durch Sprengungen von Strommasten zunehmend Angriffe auf das irakische Stromnetz ausgeführt (Wing 6.9.2021). Im Februar 2021 wurden in Salah ad-Din vier sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten und sieben Verletzten verzeichnet. Bei zwei der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 8.3.2021). Im März 2021 wurden in Salah ad-Din 14 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 16 Toten und sechs Verletzten verzeichnet. Bei acht der Toten und einem der Verletzten handelt es sich um Zivilisten. Drei der Vorfälle, zwei davon IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA und Raketenbeschüsse der Balad Luftwaffenbasis, werden pro-iransichen Milizen zugeschrieben (Wing 5.4.2021). Im April 2021 wurden in Salah ad-Din 19 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zehn Toten und 14 Verletzten verzeichnet. Bei vier der Toten und sieben der Verletzten handelt es sich um Zivilisten. Drei der Vorfälle, ein IED-Angriff auf einen Versorgungskonvoi der USA sowie zwei Raketenbeschüsse der Luftwaffenbasis, werden pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 3.5.2021). Im Mai 2021 wurden in Salah ad-Din 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit neun Toten und 22 Verletzten verzeichnet. Bei einem der Toten und zwei der Verletzten handelt es sich um Zivilisten (Wing 7.6.2021). Im Juni 2021 wurden im Gouvernement Salah ad-Din zwölf sicherheitsrelevante Vorfälle mit zwei Toten und fünf Verletzten verzeichnet. Bei den Toten handelt es sich um Zivilisten. Drei der Vorfälle, zwei davon IED-Angriffe auf Versorgungskonvois der USA, werden pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 6.7.2021). Im Juli 2021 wurden im Gouvernement Salah ad-Din 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 24 Toten und 41 Verletzten verzeichnet. Bei 13 der Toten und 29 der Verwundeten handelte es sich um Zivilisten. Einer der Vorfälle, ein IED-Angriff auf einen Versorgungskonvoi der USA, wird pro-iranischen Milizen zugeschrieben (Wing 2.8.2021). Im August 2021 wurden in Salah ad-Din 32 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 17 Toten und 31 Verletzten verzeichnet. Bei zwei der Toten und drei der Verletzten handelt es sich um Zivilisten. Ein IED-Angriff auf einen Versorgungskonvoi der USA, wird proiranischen Milizen zugeschrieben (Wing 6.9.2021).
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• Wing, Joel, Musings on Iraq (6.9.2021): Islamic State’s Summer Offensive In Iraq Ends In August, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/09/islamic-states-summer-offensive-in-ir aq.html , Zugriff 7.9.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (2.8.2021): Violence Picks Up Again In Iraq In July 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/08/violence-picks-up-again-in-iraq-in-july.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (6.7.2021): Security In Iraq June 2021, http://musingsoniraq. blogspot.com/2021/07/security-in-iraq-june-2021.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (7.6.2021): Islamic State’s Offensive Appears Over While Pro-Iran Groups Maintain Campaign In May 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2 021/06/islamic-states-offensive-appears-over.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (3.5.2021): Islamic State Ramadan Offensive Begins, Pro-Iran Groups Increase Attacks In April 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/05/islam ic-state-ramadan-offensive-begins.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (5.4.2021): Violence In Iraq, March 2021, http://musingsonira q.blogspot.com/2021/04/violence-in-iraq-march-2021.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (8.3.2021): IS Winter Break Continues In Feb While Pro-Iran Groups Picking Up Attacks, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/03/is-winter-break-c ontinues-in-feb-while.html , Zugriff 25.8.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (4.2.2021): Violence Continues To Decline In Iraq Winter 2020-21, https://musingsoniraq.blogspot.com/2021/02/violence-continues-to-decline-in-ir aq.html , Zugriff 25.8.2021 32
Sicherheitskräfte und Milizen
Letzte Änderung: 15.10.2021
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause.Statt des bisherigen warein politisch neutrales Militär vorgesehen. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische (Fanack 8.7.2020). Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur sowie die dem Premierminister unterstellten 36 Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS). Neben den staatlichen Sicherheitskräften gibt es das Volksmobilisierungskomitee, eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, der etwa 60 Milizen angehören, die als Volksmobilisierungskräfte (PMF) bekannt sind. PMF operieren im ganzen Land, oft außerhalb der Kontrolle der Regierung und in Opposition zur Regierungspolitik (USDOS 30.3.2021).
Militäreinheiten verschiedener Zweige der irakischen Sicherheitskräfte und der PMF, einschließlich Stammeseinheiten, aus mehreren Provinzen, nehmen gemeinsam an Sicherheitsoperationen gegen den sog IS teil, unterstützt durch Luftstreitkräfte der irakischen Armee und der internationalen Koalition (NI 18.5.2021). Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle, insbesondere über bestimmte, mit dem Iran verbündete Einheiten der Volksmobilisierungskräfte (PMF) und das Popular Mobilization Committee (USDOS 30.3.2021). Seit Anfang 2021 gibt es ein Koordinationsabkommen zwischen den ISF und den Peschmerga der Kurdischen Regionalregierung (KRG). Die Zusammenarbeit soll sich auf die Koordinierung und das Sammeln von Informationen zur Bekämpfung des sog. IS in den sogenannten „umstrittenen Gebieten“ beschränken und die Lücken zwischen den Sicherheitskräften schließen, die bisher vom IS ausgenutzt werden konnten. Es gibt auch Stimmen, die für die Bildung einer gemeinsamen Truppe einstehen (Rudaw 23.5.2021).
Quellen:
• Fanack (8.7.2020): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-a nd-politics-of-iraq/ , Zugriff 28.1.2021
• NI - Newlines Institute (18.5.2021): ISIS in Iraq: Weakened but Agile, https://newlinesinstit ute.org/iraq/isis-in-iraq-weakened-but-agile/?ref=nl , Zugriff 20.5.2021
• Rudaw (23.5.2021): Peshmerga-Iraq cooperation will ‘close that gap,’ cut off ISIS: Coalition, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/230520212 , Zugriff 3.6.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Kurdische Sicherheitskräfte (Peshmerga) und Nachrichtendienste
Letzte Änderung: 15.10.2021
Nach der irakischen Verfassung hat die Kurdische Regionalregierung (KRG) das Recht, ihre eigenen Sicherheitskräfte (Polizei und die militärischen Peshmega) sowie jene des Inlandsgeheimdienstes (Asayish) zu unterhalten (USDOS 30.3.2021). Die beiden wichtigsten kurdischen politischen Parteien, die Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotischen Union Kurdistans (PUK), unterhalten jeweils einen unabhängigen Sicherheitsapparat (AA 22.1.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021). Zusätzlich kontrollieren sie auch getrennt voneinander militärische Einheiten der Peshmerga und der Asayish. Nominell unterstehen sie dem Innenministerium der KRG (USDOS 30.3.2021; vergleiche AA 22.1.2021).
Die beiden Einheiten, die den Großteil der Peshmerga-Kräfte ausmachen und über 100.000 Mann stark sind, werden von der KDP und PUK kontrolliert. Die Kräfte der Einheit Nr.70 gehören zur PUK und die Kräfte der Einheit Nr.80 werden von der KDP kontrolliert. Seit der territorialen Niederlage des sogenannten Islamischen Staates Ende 2017 haben die internationalen Koalitionspartner im Rahmen eines 2018 begonnenen Reformprogramms auf die Zusammenlegung der kurdischen Kräfte unter dem Peshmerga-Ministerium gedrängt. US-amerikanische, deutsche und britische Militärberater helfen bei der Umstrukturierung. Am 17.6.2021 kündigte der Peshmerga-Minister die Vereinigung der Truppen an (Rudaw 21.6.2021).
Die Kurdischen Sicherheitskräfte sind nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert (AA 22.1.2021). Im April 2021 wurde die Einrichtung gemeinsamer Koordinationszentren zum Austausch von Informationen zur Bekämpfung des sog. IS zwischen den Irakischen Sicherheistkräften (ISF) und den Peshmerga-Kräften beschlossen. Diese sollen dazu dienen, die Sicherheitslücken, zwischen deren Einsatzgebieten zu schließen, die vom sog. IS ausgenutzt werden. Die Koordinationszentren befinden sich in Diyala, Kirkuk, Makhmour und Ninewa (Rudaw 23.5.2021).
Im Kampf gegen den IS hatten die Peshmerga über die ursprünglichen Grenzen von 2003 der KRI hinaus Gebiete befreit. Aus diesen zwischen Bagdad und Erbil seit jeher umstrittenen Gebieten hat die irakische Armee die Peshmerga nach Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 größtenteils zurückgedrängt. In weiten Teilen haben die Peshmerga sich kampflos zurückgezogen, es gab jedoch auch teils schwere bewaffnete Auseinandersetzungen mit Opfern auf beiden Seiten (AA 14.10.2020).
Die Sicherheitsdienste der KRI halten in den von ihnen kontrollierten Gebieten bisweilen Verdächtige fest. Die schlecht definierten administrativen Grenzen zwischen den kurdischen Gouvernements sowie dem (nicht-kurdischen) Rest des Landes führen zu anhaltender Verwirrung über die Zuständigkeit der Sicherheitskräfte und der Gerichte. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass Angehörige der Peshmerga und der Asayish häufig widerrechtlich handeln (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf, Zugriff 3.3.2021
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.10.2020): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2040689/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_M%C3%A4rz_2020%29%2C_14.10.2020.pdf, Zugriff 3.3.2021
Rudaw (21.6.2021): Coalition ‘very happy’ with Peshmerga reform, Kurdish-Iraqi coordination: colonel, https://www.rudaw.net/english/kurdistan/210620212, Zugriff 21.6.2021
Rudaw (23.5.2021): Peshmerga-Iraq cooperation will ‘close that gap,’ cut off ISIS: Coalition, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/230520212, Zugriff 25.8.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html, Zugriff 1.4.2021
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Letzte Änderung: 13.09.2021
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämp37 fung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 30.3.2021). Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 150.000 bis 185.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Es gibt kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitreichend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 22.1.2021). Straffreiheit für Angehörige der Sicherheitskräfte ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 30.3.2021). Den Sicherheitskräften werden zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen („forced disappearance“) zur Last gelegt: Im Zuge von Antiterror-Operationen, aber auch an Checkpoints, wurden nach 2014 junge, vorwiegend sunnitische Männer gefangen genommen (AA 22.1.2021). Internationale Militär-und Polizeiausbildung unterstützt die irakischen Sicherheitskräfte bei ihrer Professionalisierung (AA 22.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.202
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi
Letzte Änderung: 15.10.2021
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (arab: al-Hashd ash-Sha‘bi, engl.: Popular Mobilization Forces - PMF oder auch Popular Mobilization Units - PMU) bezeichnet eine Dachorganisation, ein loses Bündnis von etwa 40 bis 70 Milizen (USDOS 30.3.2021; vergleiche FPRI 19.8.2019, Clingendael 6.2018, S.1f, Wilson Center 27.4.2018), die, je nach Quelle, zwischen 45.000 und 142.000 Kämpfer umfassen (ICG 30.7.2018). Die PMF formierten sich 2014 infolge eines Rechtsgutachtens, einer sogenannten Fatwa, durch Ayatollah Ali as-Sistani, welcher darin zum Kampf gegen den vorrückenden, sog. Islamischen Staat (IS) aufrief (SWP 8.2016; S.2-4; vergleiche TCF 5.3.20218, S.2, EPIC 5.2020). Die irakische Regierung bemühte sich hernach, die Kontrolle über diese zu bewahren, indem sie am 15.6.2014 eine Kommission (auch Komitee genannt) der Volksmobilisierung bildete, das formal dem Ministerpräsidenten untersteht (SWP 8.2016; S.4). 38 Die PMF, deren Wurzeln teilweise auf die Zeit vor 2003 zurückgehen, sind keine einheitliche Organisation, sondern bestehen aus einer Reihe von Netzwerken, die sich in ihrer Struktur und ihren Verbindungen zueinander und zu anderen Akteuren im Staat unterscheiden (CH 2.2021, S.9). Sie haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat (Clingendael 6.2018, S.3f).
Die PMF weisen ein breites Spektrum auf, sowohl organisatorisch und ideologisch als auch in Bezug auf die religiöse Zusammensetzung der einzelnen Formationen. Die PMF bestehen aus Einheiten mit unterschiedlicher Geschichte, Zugehörigkeit und Loyalität (TCF 5.3.2018, S.3).
Die PMF werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Erstens die pro-iranischen schiitischen Milizen und zweitens die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen. Letztere nehmen eine positivere Haltung gegenüber der irakischen Regierung ein und sprechen sich für die Auflösung der PMF und die Eingliederung ihrer Mitglieder in die irakische Armee bzw. Polizei aus. Und drittens gibt es die heterogene Gruppe der nicht-schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Sinjar Widerstandseinheiten“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018, S.3f). Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist somit schiitisch, was auch die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 30.3.2021). Die PMF wurden im Dezember 2016 (erstmals) formell in die irakischen Streitkräfte integriert (AA 22.1.2021, S.16; vergleiche FPRI 19.8.2019). Allerdings hat die gewählte offizielle Formulierung, welche die PMF als Teil der Sicherheitskräfte des Landes bezeichnet und sie gleichzeitig als „unabhängig“ definiert, viel Raum für Interpretationen gelassen (ICSR 1.11.2018, S.5). Seit 2017 unterstehen die PMF formell dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 22.1.2021, S.16; vergleiche FPRI 19.8.2019). Am 8.3.2018 brachte der damalige irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi eine Proklamation ein, mit der die Mitglieder der PMF in die irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert wurden, wobei sie dasselbe Gehalt wie die Angehörigen des Militärs erhalten, denselben Gesetzen unterworfen werden und Zugang zu Militärschulen und Militärinstituten erhalten sollten (EPIC 5.2020). Am 1.7.2018 folgte ein dementsprechendes Dekret, wonach der Regierungschef als Oberkommandierender der PMF deren Vorsitzenden ernennt. Bewaffneten Gruppen, die offen oder verdeckt außerhalb der Bestimmungen des Dekrets arbeiten, gelten demnach als illegal und werden entsprechend verfolgt (1000 IT 11.7.2019). Trotz dieser und weiterer Versuche der Regierung, die PMF zu regulieren und zu kontrollieren, operieren viele der mächtigsten Gruppierungen der PMF weiterhin außerhalb der formalen Befehlskette und führen illegale, politische, wirtschaftliche und sicherheitsrelevante Aktivitäten durch (EPIC 5.2020). Verschiedene PMF-Einheiten haben sogar Militärindustrien im Irak aufgebaut, von simpler Ausrüstung und Munition bis mutmaßlich zur Produktion von Artilleriegranaten (WI 23.3.2020, S.70f). Die begrenzten Einflussmöglichkeiten des Premierministers haben es den PMF erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen (AA 22.1.2021, S.19).
Die PMF-Netzwerke stehen in einer symbiotischen Beziehung zu den irakischen Sicherheitsdiensten, den politischen Parteien und der Wirtschaft. Zu ihren Mitgliedern gehören nicht nur Kämpfer, sondern auch Parlamentarier, Kabinettsminister, lokale Gouverneure, Mitglieder von Provinzräten, Geschäftsleute in öffentlichen und privaten Unternehmen, hohe Beamte, humanitäre Organisationen und Zivilisten. Politische Entscheidungsträger, die die PMF reformieren oder einschränken wollen, haben sich auf eine Reihe von Optionen verlassen: die einzelnen Gruppen gegeneinander ausspielen, alternative Sicherheitsinstitutionen aufbauen, Sanktionen gegen Einzelpersonen verhängen oder mit militärischer Gewalt vorgehen. Diese Optionen haben jedoch weder zu einer Reform der PMF-Netzwerke noch zu einer Reform des irakischen Staates geführt (CH 2.2021, S.2). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen (FPRI 19.8.2019). In diesem Zusammenhang kommt vor allem der sog. Badr-Organisation eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von der Badr-Organisation dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann (Süß 21.8.2017). Die Kontrolle der Badr-Organisation über das Innenministerium verstärkte deren Einfluss auf die Zuteilung der staatlichen Mittel und deren Weitergabe an die einzelnen PMF-Milizen (Clingendael 6.2018, S.6). Insbesondere mit dem Iran verbündete Einheiten operieren im ganzen Land oft außerhalb der Kontrolle der Regierung oder gar in Opposition zur Regierungspolitik. Selbiges gilt auch für die (offizielle) PMF-Kommission (USDOS 30.3.2021), welche wiederum tendenziell pro-iranische Gruppen bevorzugt hat (ICG 30.7.2018). In der Praxis sind etliche Einheiten auch dem Iran und dessen Korps der Islamischen Revolutionsgarden unterstellt (USDOS 30.3.2021). Überdies haben einige bewaffnete Gruppen, wie die der pro-iranischen Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Hizbollah und Harakat Hizbollah an-Nujaba sowohl Kämpfer innerhalb als auch außerhalb der PMF. Diejenigen, die sich außerhalb der Truppe befinden, beteiligen sich an Aktivitäten, wie zum Beispiel Kämpfen in Syrien, die nicht zum Auftrag der Volksmobilisierungskräfte gehören (WoR 11.11.2019), denn das Wirken der PMF ist laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teile der PMF sind (USDOS 13.3.2019).
Die Präsenz pro-iranischer PMF-Milizen, namentlich der Kata’ib Hizbollah und der Kata’ib Sayyid ash-Shuhada, in Syrien nahe oder an der Grenze zum Irak belegen Berichte über Angriffe auf Einrichtungen der US-Armee und Vergeltungsmaßnahmen seitens der US-Streitkräfte im Verlaufe des Jahres 2021 (RFE/RL 27.6.2021; vlg. BBC 28.6.2021). Die PMF sind vor allem Sicherheitsakteure. Ihr Beitrag im Kampf gegen den sog. IS und beim Halten von Gebieten nach der Vertreibung des IS sind wichtige Faktoren für ihren aktuellen, mächtigen Status. Als staatlich anerkannte Sicherheitskräfte kontrollieren ihre Mitglieder ein bedeutendes Territorium und strategische Gebiete im Irak, größtenteils in Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Sicherheitsbehörden. Manchmal nützen die PMF jedoch ihre Position bei der Kontrolle lokaler Gebiete aus, um ihre eigenen Interessen, auch in finanzieller Hinsicht, durchzusetzen. Sie agieren als Lückenbüßer, wenn sich die staatlichen Stellen als unzureichend in ihrem Handeln im Bereich der Sicherheit erweisen. In einigen Gebieten sind die PMF der wichtigste Sicherheitsakteur, an den sich die Einheimischen wenden, wenn sie Schutz oder einen Fürsprecher bei Streitigkeiten oder bei der Strafverfolgung benötigen (CH 2.2021, Sitzung 18f).
Die wirtschaftliche/finanzielle Macht der einzelnen PMF-Gruppen setzt sich zusammen aus: ihrem Anteil an staatlich zugewiesenen Mitteln, autonomen einkommengenerierenden Aktivitäten und externer Finanzierung (vor allem durch den Iran). Autonome einkommenschaffende Aktivitäten erfolgen in der Regel in Form von religiösen Steuern, Einnahmen aus Heiligtümern und Unterstützung durch religiöse Wohltätigkeitsorganisationen. Diese Mittel sind jedoch relativ bescheiden (Clingendael 6.2018, S.7f). Den Löwenanteil machen die offiziellen Zuwendungen aus. 2020 betrugen die Budgetmittel der PMF-Kommission 2,6 Mrd. US-Dollar (CH 2.2021, S.19). - Darüberhinaus aquirieren PMF-Milizen Einnahmen aus halb-legalen Quellen und in krimineller Weise (FPRI 19.8.2019). Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017). Neben diesen illegalen Methoden erwerben die PMF beispielsweise im ganzen Land Grundstücke, was ihnen ermöglicht, Unternehmen anzusiedeln und von diesen dann Abgaben zu lukrieren. Einnahmen werden, auch in Kooperation mit anderen Sicherheitskräften, an Grenzübergängen und Checkpoints an wichtigen Verkehrsverbindungen generiert (CH 2.2021, S.29-31).
Außer durch die Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat (Posch 8.2017). Trotz des Schutzes, den die PMF bieten, sind sie aufgrund ihrer strategischen Kontrolle und ihrer sich wandelnden Rolle weiterhin eine Quelle lokaler Auseinandersetzungen und Polarisierungen. Für mehrere Befragte sind die PMF-Milizen Helden, die ihr Leben geopfert haben, um den IS zu besiegen - ganz im Gegensatz zu den Regierungstruppen und den kurdischen Peshmerga, die sich als unzuverlässig erwiesen und die Christen und Assyrer im Stich gelassen haben, als sich der IS näherte. Für andere kontrollieren die PMF weiterhin gewaltsam Gebiete gegen den Willen der Anwohner. Tatsächlich wurden in den letzten Jahren mehrere Berichte von Anwohnern, Menschenrechtsbeobachtern und internationalen Organisationen über das Fehlverhalten der PMF laut (Clingendael 5.2021, S.17). So klagten nach der Rückkehr der Zentralregierung nach Kirkuk Ende 2017 mehrere Gemeinschaften ethnischer und religiöser Minderheiten über Diskriminierung, Vertreibung und gelegentliche Gewalt durch PMF-Gruppen und Sicherheitskräfte der Regierung (DFAT 17.8.2020, S.20). Einige PMF gehen auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 30.3.2021). Die Medien meldeten zahlreiche Vorfälle, bei denen schiitische PMF in die Häuser ethnischer und religiöser Minderheiten im gesamten Gouvernement Kirkuk eindrangen, sie plünderten und niederbrannten (DFAT 17.8.2020, S.20, 26, 32). In Ninewa, beispielsweise, nahmen mit dem Iran verbündete PMF willkürlich bzw. unrechtmäßig Kurden, Turkmenen, Christen und Angehörige anderer Minderheiten fest. Es gab zahlreiche Berichte über die Beteiligung der 30. und 50. PMF-Brigaden an Erpressungen, illegalen Verhaftungen, Entführungen und Festnahmen von Personen ohne Haftbefehl. Glaubwürdige Informationen der Strafverfolgungsbehörden wiesen darauf hin, dass die 30. PMF-Brigade an mehreren Orten in der Provinz Ninewa geheime Gefängnisse unterhielt, in denen 1.000 Gefangene untergebracht waren, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen aus konfessionellen Gründen festgenommen wurden. Die Anführer der 30. PMF-Brigade sollen die Familien der Inhaftierten gezwungen haben, im Gegenzug für die Freilassung ihrer Angehörigen hohe Geldbeträge zu zahlen (USDOS 30.3.2021).
Jesiden und Christen sowie lokale und internationale NGOs berichteten von anhaltenden verbalen und körperlichen Übergriffen durch Mitglieder der PMF, welche auch für etliche Angriffe auf, und Vertreibungen von Sunniten, angeblich aus Rache für Verbrechen seitens des sog. IS an Schiiten, verantwortlich gemacht werden (USDOS 12.5.2021). Einige PMF-Einheiten in den südlichen Gouvernements Najaf und al-Qadisiya sollen Kinder rekrutiert und militärische Ausbildungslager für Schüler unter 18 Jahren gesponsert haben. Einige mit dem Iran verbündete PMF-Gruppen, insbesondere Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH) und Harakat Hizbollah an-Nujaba (HHN), rekrutierten weiterhin Burschen unter 18 Jahren für den Kampf in Syrien und im Jemen (DFAT 17.8.2020, S.47). Mehrere Quellen geben an, dass zu den PMF gehörende Kräfte, oft von Iran unterstützte Milizen, 2019 für viele der tödlichen Angriffe auf Demonstranten, auch durch Scharfschützen, verantwortlich waren (EASO 10.2020, S.31; vergleiche WI 23.3.2020, S.91), namentlich die pro-iranischenSaraya Talia al-Khorasani, Kata’ib Sayyid ash-Shuhada, Asa’ib Ahl al-Haqq und die Badr-Organisation.
Die PMF wurden international auch für illegale Massenverhaftungen und Folter, Einschüchterungsversuche gegen Demonstranten und Journalisten, Attentate, Bombenanschläge und Plünderungen von Fernsehsendern kritisiert. Nach Angaben des irakischen Hochkommissariats für Menschenrechte wurden über 500 Menschen getötet und über 23.500 verwundet (Stand März 2020). Im Januar 2020 waren auch Kämpfer von Saraya as-Salam an Angriffen auf Demonstranten und an der Erstürmung von Proteststätten durch die Badr-Milizen beteiligt, die die Zeltlager der Demonstranten niederbrannten (WI 23.3.2020, S.91). Im Laufe des Jahres 2020 haben unbekannte Bewaffnete und Mitglieder der PMF Aktivisten ermordet oder entführt und mindestens 30 Menschen in Bagdad, Nasriya und Basra getötet. Auf mehr als 30 weitere wurden Mordanschläge verübt, sie kamen mit Verletzungen davon. Bis zum Ende des Jahres wurden 56 Aktivisten gewaltsam zum Verschwinden gebracht. Diejenigen, die während der Proteste 2019 gewaltsam verschwunden sind, werden weiterhin vermisst (AI 7.4.2021).
Anfang Jänner 2021 belegten die USA den Vorsitzenden der PMF-Kommission, Faleh al-Fayyadh, mit Sanktionen, da dieser für die Anordnung und Ausführung der Ermordung friedlicher Demonstranten und der Durchführung einer gewaltsamen Aktionen gegen die irakische Demokratie verantwortlich sei (Al Monitor 8.1.2021). Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben, jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor (DIS/Landinfo 5.11.2018, S.23).
Anlässlich der sozialen Proteste zeigten die PMF ihre Fähigkeit Kritiker zu verfolgen. Beispielsweise können kritische Kommentare in sozialen Medien zur Verfolgung seitens Asa‘ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Hizbollah oder der Saraya as-Salam führen, welche im Stande sind, die Personen ausfindig zu machen und sie anschließend zu bedrohen und zu attackieren. Namentlich Kata’ib Hizbollah kann jeden ins Visier nehmen und kennt etwa die Namen aller, die über den Internationalen Flughafen einreisen (AQ1 27.5.2021). Präsident der PMF-Kommission ist - auf dem Papier - Faleh al-Fayyadh. Er hat jedoch keinen großen Mitarbeiterstab und unterliegt häufig den Anweisungen der Mittelsmänner im weiteren Netzwerk der PMF (CH 2.2021, S.7). Inoffizieller Spiritus Rector und strategische Kopf der Volksmobilisierung war Jamal Ebrahimi alias Abu Mahdi al-Muhandis, Vize-Kommandeur der PMF (Zenith 3.1.2020) und zugleich Begründer sowie Anführer der pro-iranischen Kata’ib Hizbollah, welche von den USA als Terrororganisation eingestuft ist (Guardian 3.1.2020; vergleiche Wilson Center 27.4.2018). Abu Mahdi Al-Muhandis galt als rechte Hand des iranischen Generalmajors der Revolutionsgarden, Qassem Soleimani. Beide wurden am 3.1.2020 bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 21.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahestehen (MEE 16.2.2020). Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 21.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi, Kommandeur der Kata’ib Hizbollah, zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 21.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020). Die Ernennung erfolgte einseitig durch die Vertreter des inneren Zirkels innerhalb der Hashd ash-Sha’bi, deren fünf (pro-iranische) Milizen dem sogenannten „Muhandis-Kern“ zugeordnet werden (Warsaw Institute 9.7.2020). Die vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahestehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 21.2.2020). Formal wurde der Loslösungsprozess der vier Atabat- bzw. Schrein-Milizen mit einer Entscheidung des scheidenden Regierungschefs Mahdi am 22.4.2020 eingeleitet, wonach diese Einheiten vom PMF-Kommando getrennt werden und von nun an direkt dem Premierminister verantwortlich sind (Warsaw Institute 9.7.2020; vergleiche AAA 23.4.2020, Al Monitor 29.4.2020). Laut Aussagen aus dem Kreise der Schrein-Milizen auf einer Koordinierungskonferenz im Dezember 2020 wollten diese die irakische Regierung unterstützen, sich von Fraktionen und politische Parteien zu trennen, welche die Interessen eines anderen Staates, gemeint ist der Iran, verfolgen (Al Monitor 4.12.2020; vergleiche Diyaruna 22.2.2021). Erklärtes Ziel der vier Schrein-Milizen sei auch die Eingrenzung und Isolation der pro-iranischen PMF (Diyaruna 22.2.2021).
Diese fortschreitende Zersplitterung der PMU lässt sich auf viele Faktoren zurückführen. Einer der Hauptgründe ist das Fehlen eines einheitlichen Ziels, das zuvor der Sieg über den sog. IS darstellte. Ein weiterer Katalysator war der Tod von Abu Mahdi al Muhandis, der in der Lage war, die unterschiedlichen Fraktionen zu einen (AIIA 12.1.2021). Und obwohl der Nachfolger Muhandis, Abu Fadak Al-Mohammedawi, enge Beziehungen zu Iran unterhält, gibt es eine breite Opposition gegen seine Führung in seiner eigenen Miliz, Kata’ib Hizbollah, die ihn als den unrechtmäßigen Chef der PMF betrachtet (Manara 10.3.2021). Die neueste Erscheinung, welche als Zeichen einer weiteren Aufsplitterung der PMF gewertet wird, ist das Auftreten mehrerer kleinerer Splittergruppen im Verlaufe des Jahres 2020, die mit größeren, vom Iran unterstützten Gruppierungen verbunden sind, die sich sowohl durch Gewalt gegen Zivilisten als auch gegen Einrichtungen der US-geführten Militärallianz hervortun (AIIA 12.1.2021). Innerhalb der schiitischen PMF gibt es Formationen, die mit den religiösen Lehrstätten im Irak bzw. den schiitischen religiösen Autoritäten (Marji’iya) verbunden sind (TCF 5.3.2018, S.4), und deshalb auch gelegentlich als Hashd al-Marji’i bezeichnet werden (TCF 5.3.2018, S.4; vergleiche ICSR 1.11.2018, S.24).
Geläufiger sind die Termini „Schrein“-Milizen bzw. Saraya al-’Atabat (kurz: Atabat) (WI 5.2.2021; vergleiche ICSR 1.11.2018, S.24). Prominenter und umstrittener sind die mit dem Iran verbündeten Formationen, die oft als Hashd al-Wala’i bezeichnet werden - wala’ ist das arabische Wort für Loyalität - eine Anspielung auf die Loyalität dieser Formationen gegenüber dem iranischen Obersten Führer Ali Khamenei. Die erstgenannten Gruppen sind in der Regel kleiner und wurden nach dem Fall von Mossul im Jahr 2014 als direkte Reaktion auf Sistanis Aufruf zur Massenmobilisierung gegen die Bedrohung durch den sog. IS gebildet. Bei den letztgenannten, stärker auf Iran ausgerichteten Formationen handelt es sich eher um erfahrenere Gruppen mit einer längeren Geschichte paramilitärischer Aktivitäten im Irak und in einigen Fällen auch in Syrien (TCF 5.3.2018, S.3f). Pro-iranische Milizen: al-Hashd al-Wala’i / al-Muqawama al-Islamiyya Das Lager, welches u.a. als al-Hashd al-Wala’i bezeichnet wird, umfasst jene PMF-Formationen, die entweder mit dem Iran verbündet sind oder mit ihm zusammenarbeiten, und die innerhalb der PMF sowohl quantitativ als auch qualitativ die Oberhand haben (EUI 6.2020, S.3).
Die vom Iran unterstützten irakischen Milizen bezeichnen sich selbst auch als al-Muqawama al-Islamiyya - der islamische Widerstand - Widerstand vor allem gegen die US-geführten Koalitionstruppen, meist in Form von Raketen- und Sprengstoffangriffen (JS 12.4.2021). Jene PMF (bzw. deren Vertreter), welche im Februar 2020 das Wahlkomitee zur Bestimmung eines neuen stellvertretenden Vorsitzenden nach dem Tode Muhandis bildeten, gelten als die wichtigsten Iran-affinen Milizen. Diese sind: Kata’ib Hizbollah, die Badr-Organisation, Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Sayyid ash-Shuhada und Kata’ib Jund al-Imam (WI 23.3.2020, S.23; vergleiche ICG). Hinzu kommen noch Harakat Hizbollah an-Nujaba (Bewegung der Partei Gottes der Noblen) (ICG 30.7.2018, S.3), mit mindestens 1.500 Kämpfern, auch in Syrien aktiv (WI 23.3.2020, S.110, 204) und eine der kampferfahrensten Milizen und stark seitens des Iran gefördert (ITIC 8.1.2020), sowie die Kata’ib Imam Ali (Bataillone des Imam Ali), deren Anführer, Shibl al Zaydi, 2018 von den USA wegen seiner Verbindungen zu den Iranischen Revolutionsgarden als Terrorist eingestuft wurde (LWJ 15.12.2020). Zudem war Kata’ib Imam Ali auch 2021 in Syrien präsent (AAA 22.3.2021). Dazu 44 gesellen sich noch die Saraya Talia al-Khorasani, die auch in Syrien aktiv waren (WI 23.3.2020, S.110, 205; vergleiche ICG 30.7.2018, S.27).
Einige der pro-iranischen PMF sicherten sich bei den letzten Wahlen auch ihren Einfluss im Parlament. Innerhalb der 2018 gewonnenen Parlamentssitze des Wahlbündnisses „Fatah“ sind 22 Abgeordnete der Badr-Organisation zugehörig und 15 dem politischem Flügel der Asai‘b Ahl al-Haqq, Sadiqoun (CH 2.2021, S.21f; vergleiche EPIC 5.2020). Die Badr-Organisation, die mächtigste schiitische Miliz, gilt als Irans ältester Stellvertreter im Irak. Sie wurde 1982 im Iran gegründet, um Saddam Hussein zu bekämpfen, und wurde zunächst vom Korps der Iranischen Revolutionsgarden (IRGC) finanziert, ausgebildet, ausgerüstet und geführt (Soufan 20.3.2020; vergleiche Wilson Center 27.4.2018). Nach der US-Invasion im Jahr 2003 kehrte sie in den Irak zurück und wurde in die neue irakische Regierung integriert. Ihre Kräfte wurden zur größten Fraktion innerhalb der staatlichen Sicherheitskräfte, insbesondere der Polizei (Wilson Center 27.4.2018), die wiederum zu einem Instrument der Badr-Organisation erwuchs (SWP 2.7.2021, S.26). Sie nahm an Wahlen teil; ihre Führer wurden in die neue Regierung in Kabinettspositionen aufgenommen. Sie behielt jedoch ihre Miliz bei (Wilson Center 27.4.2018). Sie umfasst rund 20.000 Kämpfer (Soufan 20.3.2020) und unterhält mindestens zehn Brigaden der staatlich finanzierten PMF, möglicherweise sogar siebzehn. Badr schickte ihre Kämpfer auch nach Syrien, um das Assad-Regime zu unterstützen (WI 2.9.2021). Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt. Viele Badr-Mitglieder waren oder sind Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). So haben einige Mitglieder der PMF auch Doppelpositionen inne. Abu Dergham al-Maturi, beispielsweise, führte die 5. PMF-Brigade, eine Badr-Brigade, und fungierte gleichzeitig als stellvertretender Kommandeur der Bundespolizei im Innenministerium (CH 2.2021, S.18f). Oder das Badr-Führungsmitglied Qassim al-Araji war Innenminister (2017-2018) und ist nun der nationale Sicherheitsberater.
Die Badr ist eine große und komplexe Organisation, die sowohl einen militärischen als auch einen politischen Flügel und viele Unterfraktionen hat. Im Großen und Ganzen hat sich Badr durch seine Wahlerfolge, seine paramilitärische Macht und seine Patronagenetzwerke tief in den irakischen Staat eingebettet. Badr war die Quelle für viele jüngere und und radikalere Gruppen, einschließlich Kata’ib Hisbollah. Zwar setzt sich die Badr-Organisation für den Abzug der US-Kampftruppen aus der Region ein, doch hat sie sich im Gegensatz zu den anderen pro-iranischen PMF von Angriffen auf die USA und deren Verbündete öffentlich distanziert. Innerhalb der Muqawama nimmt die Badr-Organisation weiterhin eine wichtige Rolle ein und bleibt gleichzeitig ihren Wurzeln als iranischer Stellvertreter treu, mit weiterhin engen institutionellen und personellen Beziehungen zum IRGC (WI 2.9.2021).
Die Kata’ib Hizbollah (Brigaden der Partei Gottes) umfassen etwa 3.000 bis 7.000 Kämpfer (Al Arabiya 31.5.2020), anderen Schätzungen zufolge sogar 20.000 (Soufan 20.3.2020). Die Kata’ib Hisbollah haben enge konfessionelle, ideologische und finanzielle Bindungen zum Iran (Al Arabiya 31.5.2020). Keine andere Miliz steht den IRGC näher (Soufan 20.3.2020). Sie sind für zahlreiche Angriffe auf die von den USA geführte Militärallianz verantwortlich, und riefen u.a. auch zu Terrorattacken gegen Saudi-Arabien auf. Menschenrechtsorganisationen werfen der Miliz schwere Menschenrechtsverletzungen vor, insbesondere gegen Sunniten (Al Arabiya 45 31.5.2020). Sie arbeiten intensiv mit der Badr-Organisation und der libanesischen Hizbollah zusammen. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017). Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH) (Liga der Rechtschaffen) mit ihrem Anführer Qais Al-Khaz’ali verfügt über etwa 15.000 Kämpfer (Soufan 20.3.2019). Die AAH ist eine mächtige schiitische Muslim-Miliz, die sich 2007 von Sadrs damaligen Mahdi-Armee abgespalten hat (Clingendael 6.2018; vergleiche EPIC 5.2020). Die AAH wurde ursprünglich von den IRGC mit Unterstützung der libanesischen Hisbollah in iranischen Lagern ausgerüstet, finanziert und ausgebildet und war auch in Syrien präsent (Wilson Center 27.4.2018). Die militärische und finanzielle Unterstützung durch die Al-Quds-Einheit der IRGC hält weiterhin an (ITIC 8.1.2020). Sie richtete politische Büros, religiöse Schulen und soziale Dienste ein, vor allem im Süden Iraks und in Bagdad (Wilson Center 27.4.2018). Ihr Anführer, Qais al-Khazali, wurde von den US-Behörden im Irak wegen seiner Rolle bei tödlichen Angriffen auf US-Truppen im Jahr 2007 für fünf Jahre inhaftiert. Er gilt den für die USA als einer der Verantwortlichen für den Anschlag auf die US-Botschaft in Bagdad zu Silvester 2019. Am 3.1.2020 stufte das US-Außenministerium die AAH als terroristische Organisation und Khaz’ali als „Specially Designated Global Terrorist“ ein (EPIC 5.2020). Innerhalb der Volksmobilisierung erwarb sich die Organisation den Ruf, politisch-weltanschauliche mit kriminellen Motiven zu verbinden und besonders gewalttätig zu sein. Sie wird für zahlreiche Verbrechen gegen sunnitische Zivilisten verantwortlich gemacht (SWP 2.7.2021, S.25). Die seit 2020 vermehrt in Erscheinung tretenden pro-iranischen Splittergruppen haben ein zweifelhaftes Maß an Autonomie. Es ist nicht klar, ob es sich bei diesen um unabhängige Gruppen handelt, die von den größeren „Mutter“-Milizen unterstützt werden, oder ob sie lediglich eine Fassade für diese größeren Milizen bilden, um sich den US-Sanktionen durch die Einstufung als terroristische Organisation zu entziehen (AIIA 12.1.2021; vergleiche JS 10.3.2021). Sie werden diesbezüglich insbesondere Kata’ib Hizbollah, Asa’ib Ahl al-Haqq, Kata’ib Sayyid ash-Shuhada und der Harakat Hizbollah an-Nujaba zugeordnet (JS 10.3.2021). Ihre Anzahl ist vage und wird auf 10 bis 20 Gruppen geschätzt (Al Arabiya 18.11.2020).
Die neuen Splittergruppen treten durch primär zwei unterschiedliche Handlungsweisen in Erscheinung: Zum einen bewaffnete Milizen, die in der Lage sind, Anschläge auf US-Einrichtungen im Irak zu verüben, und zum anderen Straßenbanden, die eine Art sozialen Krieg auf den Straßen Bagdads führen. Zu den ersteren gehören Usbat al-Tha’ireen (Liga der Revolutionäre) und Ashab al-Kahf (die Gefährten der Höhle), die sich regelmäßig zu Raketen- oder IED-Angriffen auf US-Ziele bekennen (AIIA 12.1.2021). Usbat al-Tha’ireen übernahm beispielsweise die Verantwortung für den Angriff auf Camp Taji im März 2020, bei dem zwei amerikanische Soldaten und ein britischer Soldat getötet wurden (WI 10.4.2020; vergleiche Al Arabiya 18.11.2020), während Ashab al-Kahf zahlreiche Angriffe auf Konvois sowie einen Raketenangriff auf die US-Botschaft im November 2020 für sich reklamierte (JS 10.3.2021). Zur zweiten Gruppe gehören Raba Allah/Rab’Allah (das Volk Gottes), Jund Soleimani (die Soldaten Soleimanis) und Jabhat Abu Jadahah (eng. People of the Lighter’s Front), die, getragen von stark religiösen Anwandlungen, als Sittenpolizei agieren und das liberalere Leben Bagdads unterdrücken, indem sie beispielsweise Massagesalons angriffen oder Bombenanschläge auf Geschäfte verübten, die Alkohol verkauften (AIIA 12.1.2021; vergleiche WI 9.4.2021). Rab’Allah gilt als wichtigste Gruppe. Im Oktober 2020 verübte sie Brandanschläge 46 auf Büros von Fernsehsendern sowie der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP). Weiters führte sie Hetzkampagnen gegen Personen aus Politik und Medien durch und drohte ihnen mit Gewalt. Zudem organisierte sie Proteste vor ausländischen Vertretungen (WI 9.4.2021). Iran-kritische Milizen: Atabat / Schrein-Milizen / Hashd al-Marji‘i Bei den „Schrein“- oder Atabat-Milizen (andere Bezeichnungen: Hashd al-Atabat/ Saraya alAtabat/ al-Atabat al-Muqadasa) oder auch Hashd al-Marji‘i handelt es sich um paramilitärische Gruppen, die mit den schiitischen Heiligtümern in Najaf und Kerbala verbunden sind, deshalb auch die Bezeichnung „Schrein-Milizen“ (ICSR 1.11.2018, S.24; vergleiche WI 28.5.2020, Diyaruna 1.3.2021).
Liwa Ansar al-Marjaiya, Liwa Ali al-Akbar, Firqat al-Abbas al-Qitaliyah, letztere bekannter unter der Bezeichnung Abbas Kampfdivision (Abbas Combat Division) und Firqat al-Imam Ali al-Qitaliyah haben keine Verbindungen zum Korps der Islamischen Revolutionsgarde (IRGC) des Iran, sondern zu Ayatollah Ali as-Sistani, dem irakischen schiitischen Kleriker, den sie als ihr Vorbild betrachten. Insgesamt verfügen die Atabat über rund 18.000 aktive Soldaten und Zehntausende von Reservisten. Die Abbas Kampfdivision (Firqat al-Abbas) ist die militärisch fähigste der vier Gruppen, gestärkt durch die logistische Ausbildung und die Zusammenarbeit mit dem irakischen Verteidigungsministerium. Mehrere Merkmale unterscheiden die Atabat von den proiranischen Einheiten der PMF: Erstens arbeiten sie nur mit nationalen irakischen Institutionen zusammen und dürfen nicht mit IRGC-Kommandeuren oder anderen ausländischen Militärs in Verbindung treten. Zweitens halten sie sich aus der Politik heraus, während die iran-freundlichen Gruppen sogar ihre eigenen politischen Parteien gegründet haben. Drittens betrachten die Atabat-Einheiten die Vereinigten Staaten nicht als Feind, trotz anlassbezogener Verurteilungen von US-Aktionen. Viertens wurden die Atabat nicht der Verletzung von Menschenrechten beschuldigt. Tatsächlich haben sie kein Interesse daran, in den sunnitisch-arabischen Gebieten präsent zu sein, in denen viele solcher Verstöße begangen wurden. Ihr Hauptinteresse gilt den schiitischen heiligen Städten Karbala und Najaf und dem Wüstengebiet, die diese Städte mit Anbar verbindet. Die Atabat wurden auch nicht der Erpressung beschuldigt, im Gegensatz zu den vielen PMF-Gruppen, die solche Taktiken anwenden, um sich selbst zu erhalten, und damit den Unmut der sunnitischen Bevölkerung verschärfen (WI 28.5.2020).
Die Schrein-Milizen spielten eine wichtige Rolle bei der Verteilung von Hilfsgütern im Rahmen einer Kampagne von Großayatollah as-Sistani mit dem Namen Maraji’yat al-Takaful (Solidarität der Marji’i) zur wirtschaftlichen Unterstützung der Menschen, die unter der von der Regierung verhängten Ausgangssperre während der COVID-Krise litten (EUI 6.2020, S.3).
Saraya as-Salam / Friedenskompanien Die Saraya as-Salam mobilisierten sich 2014 aus den Rängen der vormaligen Mahdi-Armee, die dem irakischen Kleriker Muqtada as-Sadr untersteht. Sie verfolgen eine nationalistische Ideologie und eigene politische Ziele (Clingendael 6.2018, S.3). Sadr und seine Anhänger lehnen die pro-Khamenei paramilitärischen Führer und Gruppen entschieden ab. Dennoch bleiben sie Teil der Gesamtstruktur der PMF. Sie sind hinsichtlich einer Integration in die Sicherheitskräfte aufgeschlossen (ICG 30.7.2018, S.3f; vergleiche FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels 47 ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert (Süß 21.8.2017). Hinsichtlich der im Herbst 2019 aufflammenden Proteste vollzog Muqtada as-Sadr eine zwiespältige Politik. - Schon in der Anfangsphase der Oktober-Demonstrationen 2019 waren Sadristen aktiv an den Demonstrationen beteiligt, und deren Paramilitärs verteidigten andere Demonstranten vor der Gewalt staatlicher und mit dem Iran verbündeter bewaffneter Kräfte. Im Frühjahr 2020 allerdings, nachdem Sadr die Demonstranten wegen ihres Auftreten gegenüber den religiösen Autoritäten tadelte, ihre „Abweichung“ vom „richtigen Weg“ kritisierte und parallel die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Saraya as-Salam und der pro-iranischen Asa’ib Ahl al-Haqq eingestellt wurden, gingen die Sadr-Miliz bzw. seine Anhänger in Bagdad und weiteren Städten im Südirak gewaltsam gegen Demonstranten vor und besetzten Protestlager (FPRI, 3.2020, S.2, 17; vergleiche BAMF 5.2020, S.9f, 22).
Quellen:
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Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit (AA 22.1.2021; vergleiche GIZ 1.2021a), Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung (AA 22.1.2021). Die Verfassungswirklichkeit weicht jedoch vielfach von diesen Prinzipien ab. Unabhängige Institutionen, die stark genug wären, die Einhaltung der Verfassung zu kontrollieren und zu gewährleisten, existieren nicht (GIZ 1.2021a). Der Irak hat auch wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft, und die unabhängige Menschenrechtskommission ist in der Vergangenheit wenig in Erscheinung getreten. Im Zuge der Proteste seit Oktober 2019 versucht die Kommission jedoch sich unabhängig ein Bild von der Lage zu machen und die Zahlen von Toten und Verletzten zu sammeln, zu verifizieren und zu veröffentlichen, da sich die Regierung einer Veröffentlichung verweigert (AA 22.1.2021).
Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; erzwungene Rückkehr von Binnenvertriebenen (IDPs);Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 30.3.2021). Auch Menschenhandel ist ein Problem. IDPs sind davon besonders gefährdet.
Die Bemühungen der Regierung, die Gesetze gegen den Menschenhandel durchzusetzen, sind unzureichend (FH 3.3.2021). Im Irak kam es 2020 zu einer Reihe von Morden an zivilgesellschaftlichen, politischen und Menschenrechtsaktivisten sowie zu vermehrten Drohungen gegen Journalisten (FCO 8.7.2021). 53 Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 12.5.2021). Tausende IDPs, die aus Gebieten geflohen sind, die unter der Kontrolle des Islamischen Staats (IS) standen, wurden von Irakischen Sicherheitskräften (ISF) und Volksmobilisierungskräften (PMF) willkürlich verhaftet und sind nach wie vor verschwunden (AI 7.4.2021). Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt, ohne Kompensationen für die Besitzer (USDOS 30.3.2021). Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, die durch die Irakischen Sicherheitskräfte (ISF) begangen wurden, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten. Es fehlt an Rechenschaftspflicht für Gewalt gegen Frauen und Gewaltverbrechen, die sich gegen Angehörige ethnischer Minderheiten richten. Der sog. IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• AI - Amnesty International (7.4.2021): Amnesty International Report 2020/21; The State of the World’s Human Rights; Iraq 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2048571.html , Zugriff 10.4.2021
• FCO - UK Foreign, Commonwealth and Development Office (8.7.2021): Human Rights and Democracy: 2020 Foreign, Commonwealth & Development Office report, https://ww w.ecoi.net/en/document/2056823.html , Zugriff 14.8.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/ , Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2051589.html , Zugriff 15.5.2021
Meinungs- und Pressefreiheit
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Verfassung garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit, solange diese nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzen (AA 22.1.2021; vergleiche FH 3.3.2021, GIZ 1.2021a, USDOS 30.3.2021). Unterstützung für die verbotene Ba‘ath-Partei sowie das Befürworten einer gewaltsamen Änderung der Grenzen des Landes sind jedoch verboten. Einzelpersonen und Medien betreiben Selbstzensur aufgrund der begründeten Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionelle Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden.Kontrolle und Zensur der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung behindern manchmal den Medienbetrieb, was mitunter die Schließung von Medien, Einschränkungen der Berichterstattung und Behinderung von Internetdiensten zur Folge hat. Einzelpersonen können die Regierung öffentlich oder privat kritisieren, jedoch nicht ohne Angst vor Vergeltung. Sicherheitskräfte haben Demonstranten und Aktivisten, die der Zentralregierung kritisch gegenüberstanden, verhaftet bzw. festgenommen (USDOS 30.3.2021). Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen (AA 22.1.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Die meisten der mehreren hundert Printmedien, die im Irak täglich oder wöchentlich erscheinen, sowie dutzende Radio- und Fernsehsender, werden von politischen Parteien stark beeinflusst oder vollständig kontrolliert (USDOS 30.3.2021). Es gibt nur wenige politisch unabhängige Nachrichtenquellen. Journalisten, die sich nicht selbst zensurieren, können mit rechtlichen Konsequenzen oder gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen rechnen (FH 3.3.2021). Medienorganisationen sehen sich als Reaktion auf ihre Berichterstattung Einschränkungen und Behinderungen ausgesetzt (FH 3.3.2021). Einige Medienorganisationen berichteten über Verhaftungen von und Schikanen gegenüber Journalisten sowie darüber, dass die Regierung sie davon abhielt, politisch heikle Themen zu behandeln, darunter Sicherheitsfragen, Korruption und das Unvermögen der Regierung öffentliche Dienstleistungen sicherzustellen (USDOS 30.3.2021).
Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält unter anderem mehrere Kategorien des Straftatbestands der Verleumdung aufrecht, die in ihrem Strafmaß zum Teil unverhältnismäßig hoch sind. Klagen gegen das Gesetz sind anhängig (AA 22.1.2021). Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen ist der Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt (AA 22.1.2021). Auf ihrem Index für Pressefreiheit kommt der Irak im Jahr 2021 auf Platz 161 von 180, eine Verschlechterung um einen Platz im Vergleich zum Vorjahr (RSF 2021). Irakische Journalisten riskieren ihr Leben, wenn sie über Proteste berichten oder über Korruption recherchieren. Seit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 hat sich die Lage verschlechtert. Journalisten müssen damit rechnen, von nicht identifizierten Milizen schikaniert, entführt, körperlich angegriffen oder sogar getötet zu werden (RSF 2021). Vom Iran unterstützte Milizen haben vermeintliche Kritiker bedroht, entführt, gefoltert und ermordet, darunter den bekannten 55 irakischen Analysten Hisham al-Hashimi, der im Juli 2020 erschossen wurde. Mehr als 30 Privatpersonen, die an den Protesten 2019 und 2020 beteiligt waren, darunter mindestens ein Minderjähriger, wurden in den Jahren 2019 und 2020 entführt; ihr Verbleib war zu Jahresende 2020 unbekannt (FH 3.3.2021). Im Lauf des Jahres 2020 wurden mehrere Journalisten wegen ihrer Tätigkeit verhaftet, entführt oder getötet (FH 3.3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021).
Berichten zufolge von Milizen oder Sicherheitskräften (USDOS 30.3.2021). Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (RSF) wurden im Jahr 2020 vier Journalisten und ein Medienmanager getötet (FH 3.3.2021). Das Land nimmt im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2010-2020) des „Committee to Protect Journalists“ zudem den weltweit dritten Platz in Bezug auf nicht aufgeklärte Journalistenmorde ein (AA 22.1.2021). Auch Lehrer sind im Irak seit langem mit der Gefahr von Gewalt oder anderen Auswirkungen konfrontiert, wenn sie Themen unterrichten oder besprechen, die mächtige staatliche oder nichtstaatliche Akteure für verwerflich halten. Politischer Aktivismus von Universitätsstudenten kann zu Schikane oder Einschüchterung führen (FH 3.3.2021). Sozialer, religiöser und politischer Druck schränken die Entscheidungsfreiheit in akademischen und kulturellen Angelegenheiten ein. In allen Regionen des Landes versuchen verschiedene Gruppen die Ausübung der formalen Bildung und die Vergabe von akademischen Positionen zu kontrollieren (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
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• RSF - Reporters sans frontiers (2021): Iraq, Still dangerous for journalists, https://rsf.org/ en/iraq , Zugriff 2.8.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Internet und soziale Medien
Letzte Änderung: 15.10.2021
Es gibt offene staatliche Einschränkungen beim Zugang zum Internet und Berichte (jedoch kein offizielles Eingeständnis), dass die Regierung E-Mail- und Internetkommunikation ohne entsprechende rechtliche Befugnisse überwacht (USDOS 30.3.2021). Es gibt Fälle von Vergeltungsmaßnahmen aufgrund von Aussagen bzw. Beiträgen in sozialen Medien. Bestimmte Themen, darunter Korruption, und, in etwas geringerem Maße, Kritik am Iran, werden als Tabu angesehen und führten zuweilen zu Verhaftungen, Gehaltskürzungen, Folter oder Strafverfolgung. Nutzer sozialer Medien sowie Blogger wurden wegen Kritik an Behörden wegen deren „schlechter“ Reaktion auf die COVID-19-Pandemie mit Verleumdungsklagen konfrontiert (FH 3.3.2021). Vom Iran unterstützte Milizen haben viele vermeintliche Kritiker bedroht, entführt, gefoltert und ermordet, darunter den bekannten irakischen Analysten Hisham al-Hashimi, der im Juli 2020 erschossen wurde. Mehr als 30 Privatpersonen, die an den Protesten 2019 und 2020 beteiligt waren, darunter mindestens ein Minderjähriger, wurden in den Jahren 2019 und 2020 entführt; ihr Verbleib war am Jahresende unbekannt. Viele lautstarke Aktivisten haben das Land verlassen oder sind in die Region Kurdistan umgezogen, da sie um ihr Leben fürchten (FH 3.3.2021).
Trotz Einschränkungen nutzen politische Persönlichkeiten und Aktivisten das Internet, um korrupte und ineffektive Politiker zu kritisieren, Demonstranten zu mobilisieren und sich über soziale Medien für Kandidaten zu engagieren bzw. Wahlkampf zu betreiben (USDOS 30.3.2021). Die Regierung räumt ein, in manchen Gebieten den Internetzugang beschränkt zu haben, angeblich aufgrund von Sicherheitsfragen, wie der Nutzung von Social Media-Plattformen durch den sog. IS (USDOS 30.3.2021). Der Internetzugang wurde mit Beginn der Demonstrationen im Oktober 2019 tagelang blockiert. Soziale Medien blieben für mehrere Wochen, bis in den November hinein, gesperrt, bzw. eingeschränkt nutzbar (AA 2.3.2020; vergleiche USDOS 30.3.2021).
Quellen:
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 10.2.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition Versammlungsfreiheit
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Verfassung sieht das Recht auf Versammlung und friedliche Demonstration nach den Regeln des Gesetzes vor (USDOS 30.3.2021; vergleiche FH 3.3.2021), allerdings nur unter der Vorgabe, dass nicht gegen die öffentliche Ordnung und Moral verstoßen wird (AA 22.1.2021; vergleiche GIZ 1.2021a). Ein Gesetzesentwurf von 2014 für eine nähere Ausgestaltung der Regelung wurde bislang nicht verabschiedet (AA 22.1.2021). Die gesetzlichen Regelungen schreiben vor, dass die Veranstalter sieben Tage vor einer Demonstration um Genehmigung ansuchen und detaillierte Informationen über Veranstalter, Grund des Protests und Teilnehmer einreichen müssen. Die Vorschriften verbieten jegliche Slogans, Schilder, Druckschriften oder Zeichnungen, die Konfessionalismus, Rassismus oder die Segregation der Bürger zum Inhalt haben. Die Vorschriften verbieten auch alles, was gegen die Verfassung oder gegen das Gesetz verstößt; alles, was zu Gewalt, Hass oder Mord ermutigt; und alles, was eine Beleidigung des Islam, der Ehre, der Moral, der Religion, heiliger Gruppen oder irakischer Einrichtungen im Allgemeinen darstellt. Die Behörden erteilen Genehmigungen in der Regel in Übereinstimmung mit diesen Vorschriften (USDOS 30.3.2021). Demonstranten sind häufig der Gefahr von Gewalt oder Verhaftung ausgesetzt (FH 3.3.2021).
Als die Demonstrationen ab Oktober 2019 eskalierten, versäumten es die Behörden, die Demonstranten vor Gewalt zu schützen (USDOS 30.3.2021). Sicherheitskräfte gingen teils mit großer Härte gegen Demonstranten vor. Es gibt Berichte über Entführung, Folter und Tötung von Demonstranten, Aktivisten und Journalisten, von denen angenommen wird, dass diese der Einschüchterung der Demonstranten und der Beendigung der Proteste dienen sollten (AA 22.1.2021). Im Zuge der ab Oktober 2019 stattfindenden Protestbewegung wurden Ausgangssperren und Versammlungsverbote verhängt (FH 3.3.2021; vergleiche GIZ 2021a) und Sicherheitskräfte setzten Tränengas und scharfe Munition gegen Demonstranten ein. Bis Mitte Dezember 2020 wurden bei den Protesten etwa 25.000 Menschen verletzt, mindestens 700 wurden getötet. Irakische Sicherheitskräfte und pro-iranische Milizen schossen routinemäßig mit scharfer Munition auf Demonstranten. Irakische Beamte und Journalisten berichteten auch, dass Scharfschützen unter dem Kommando von iranisch unterstützten Milizeinheiten mit scharfer Munition von Dächern aus auf Demonstranten schossen und eine Welle von Entführungen von Protestorganisatoren und Aktivisten durchführten. Iranische und irakische Medien, die mit den vom Iran unterstützten Milizen in Verbindung stehen, verbreiteten falsche Berichte über Aktivisten, um diese Angriffe zu rechtfertigen (FH 3.3.2021). Im Jänner 2021 griff in Nasiriya, der Hauptstadt des Gouvernements Dhi Qar, eine Armee-Einheit ein, um Demonstranten vor der Polizei zu schützen. Dabei kam es zu Schusswechseln zwischen den Sicherheitskräften, bei denen ein Polizist getötet wurde (Wing 11.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
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• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021a): Irak - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/ , Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021 59
• Wing, Joel, Musings on Iraq (11.1.2021): Iraqi Army Intervenes To Protect Nasiriya Protesters From Police, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/01/iraqi-army-intervenes-to-pr otect.html , Zugriff 25.8.2021
Allgemeine Menschenrechtslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)
Letzte Änderung: 13.09.2021
Es gibt eine unabhängige kurdische Menschenrechtskommission, die sich aber auf die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen beschränkt. Sie kann selten eine volle Aufklärung oder gar Ahndung von Menschenrechtsverletzungen gewährleisten (AA 22.1.2021).
Sicherheitskräfte der Kurdischen Regionalregierung (KRG) wie Peshmerga und Asayish verstoßen bisweilen gegen die Gesetze (USDOS 30.3.2021).
Kurdischen Sicherheitskräften werden Gewalt, Drohungen und willkürliche Inhaftierung von Journalisten und Medienvertretern vorgeworfen (USDOS 30.3.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Es gibt auch Vorwürfe von willkürlichen Verhaftungen, sowie von Missbrauch und Folter von Gefangenen und Häftlingen (USDOS 30.3.2021). Es liegen keine zuverlässigen Statistiken über die Anzahl solcher Vorfälle vor. Peshmerga und Asayish wird vorgeworfen Vorschriften selektiv umzusetzen, auch aus ethno-konfessionellen Gründen. Die Vorwürfe umfassen auch Erpressung und die Verweigerung einer Rückkehr von Zivilisten in ihre Heimat, insbesondere sunnitischer Araber sowie Angehöriger ethno-konfessioneller Minderheiten (USDOS 30.3.2021).
Es besteht quasi Straffreiheit für Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte, einschließlich bestimmten Einheiten der kurdischen Sicherheitsdienste, wie der Asayish (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.202
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html, Zugriff 1.4.2021
Protestbewegung
Letzte Änderung: 13.09.2021
Versorgungsengpässe bei Strom und Wasser sowie die mangelnde Arbeitsbeschaffung sind die Gründe für die andauernden Proteste in Iraks großen Städten (GIZ 1.2021a). Bereits von Juli bis September 2018 kam es in Basra und im übrigen Südirak zu Protesten (DFAT 17.8.2020). Im Oktober 2019 begannen landesweite Massenproteste (ICG 26.7.021; vergleiche AI 7.4.2021). Diese betrafen vor allem die schiitischen Gebiete des Südirak und Bagdad. Die Forderungen umfassten bessere Beschäftigungsmöglichkeiten und öffentliche Dienstleistungen sowie ein Ende der Korruption in der Regierung (DFAT 17.8.2020; vergleiche ICG 26.7.2021, AI 7.4.2021). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des Muhasasa-Systems, d.h. der ethnischkonfessionellen Postenbesetzung in der Regierung und Verwaltung (ICG 26.7.2021). Sie waren außerdem gegen die Einmischung ausländischer Mächte, insbesondere des Iran gerichtet (DFAT 17.8.2020). Diese Proteste wurden auch in den ersten Monaten des Jahres 2020 fortgesetzt, bis sie durch den Ausbruch von COVID-19 vorübergehend unterbrochen wurden. Seit Mai 2020 kommt es wieder zu kleineren Demonstrationen, vor allem in den Städten Bagdad, Basra und Nasriyah (AI 7.4.2021). Es wurden Ausgangssperren und Versammlungsverbote verhängt (GIZ 1.2021a). Fernsehsender, die über die Proteste berichteten, wurden von bewaffneten Männern überfallen (ICG 27.7.2021).
Staatliche Sicherheitskräfte (ISF) und mit dem Iran verbündete Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) waren an gewaltsamer Unterdrückung der Proteste beteiligt (DFAT 17.8.2020; vergleiche ICG 26.7.2021). Im Zuge der Proteste kam es seit Ende 2019 bis ins Jahr 2020 hinein zu willkürlichen Verhaftungen, gewaltsamem Verschwindenlassen und außergerichtlichen Tötungen von Demonstranten durch ISF und PMF (HRW 13.1.2021). Dutzende Aktivisten wurden im Zuge der Protestbewegung Ziel von Entführungen, Mordversuchen und Morden (MEE 25.7.2021). Mindestens 560 Demonstranten wurden während der Proteste getötet (HRW 13.1.2021). Andere Quellen sprechen von etwa 600 getöteten Demonstranten und über 20.000 Verletzten in den ersten sechs Monaten der Proteste (ICG 26.7.2021). Diese Vorfälle führten zum Rücktritt der Regierung unter Premierminister Adil Abdul al-Mahdi und zur Ernennung eines neuen Premierministers, Mustafa al-Kadhimi, im Mai 2020 (HRW 13.1.2021; vergleiche ICG 26.7.2021). Die Demonstranten fordern, dass die Sicherheitskräfte für ihre Übergriffe zur Rechenschaft gezogen werden, einschließlich der Tötung und des gewaltsamen Verschwindenlassens von Demonstranten (AI 7.4.2021).
Trotz der anfänglichen, scheinbaren Bereitschaft, einige der gravierendsten Menschenrechtsprobleme des Irak anzugehen, gelang es der Regierung al-Kadhimi nicht, die Übergriffe auf Demonstranten zu beenden. Ein im Mai 2020 eingerichteter Ausschuss zur Untersuchung der Tötung von Demonstranten hat bis Ende 2020 noch keine Ergebnisse 60 öffentlich bekannt gegeben. Im Juli 2020 kündigte die Regierung al-Kadhimi an, die Familien der bei den Protesten Getöteten zu entschädigen (HRW 13.1.2021). Im Oktober 2019 wurden mehrere hochrangige Militärkommandanten wegen des gewaltsamen Vorgehens gegen Demonstranten von ihren Posten entfernt (FH 3.3.2021). Es wurden jedoch bislang keine hochrangigen Kommandanten strafrechtlich verfolgt. Nach einer Reihe von Tötungen und versuchten Tötungen von Demonstranten in Basra wurden im August 2020 der Polizeichef von Basra und der Direktor für nationale Sicherheit des Gouvernements entlassen. Es wurde jedoch keine Strafverfolgung eingeleitet (HRW 13.1.2021). Diese Maßnahmen wurden von vielen Irakern als unzureichend abgelehnt und hatten wenig abschreckende Wirkung auf Mitglieder der Sicherheitskräfte, die im Laufe des Jahres zahlreiche Demonstranten tödlich verletzten. Trotz eines öffentlichen Versprechens von Premierminister al-Kadhimi im August 2020, die Verantwortlichen für das Verschwindenlassen und die Ermordungen zu untersuchen und zu bestrafen, befinden sich die Täter weiterhin auf freiem Fuß (FH 3.3.2021).
Quellen:
• AI - Amnesty International (7.4.2021): Amnesty International Report 2020/21; The State of the World’s Human Rights; Iraq 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2048571.html , Zugriff 10.4.2021
• DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (17.8.2020): DFAT Country Information Report Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/203 6511/country-information-report-iraq.pdf , Zugriff 3.3.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021a): Irak - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 16.3.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html, Zugriff 10.2.2021
• ICG - International Crisis Group (26.7.2021): Iraq’s Tishreen Uprising: From Barricades to Ballot Box, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056850/223-iraq-tishreen.pdf , Zugriff 2.8.2021
• MEE - Middle East Eye (25.7.2021): Iraq: Son of prominent women’s rights activist found shot dead near Basra, https://www.middleeasteye.net/news/iraq-son-prominent-iraqi-righ ts-activist-shot-dead-near-basra , Zugriff 2.8.2021
Versammlungsfreiheit in der Kurdischen Region im Irak (KRI)
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die im Oktober 2019 begonnenen Demonstrationen gegen die zentralirakische Regierung haben in der KRI keinen Widerhall in der Bevölkerung gefunden. Solidaritätskundgebungen für Kurden in Nord-Ost-Syrien sowie kleine Demonstrationen mit spezifischen Anliegen, wie beispielsweise von Studenten gegen die zentrale Vergabe von Studienplätzen, verliefen friedlich (AA 22.1.2021).
Im Mai 2020 gingen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten in Dohuk vor, die eine Verbesserung der Lebensbedingungen, ein Ende der Korruption und die Auszahlung nicht gezahlter Staatsgehälter forderten. Sicherheitskräfte sind gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen und haben einige willkürlich verhaftet (FH 3.3.2021; vergleiche HRW 13.1.2021).
Die Behörden im Irak, insbesondere in Kurdistan, nutzten COVID-19-Maßnahmen aus, um Proteste zu verbieten und die Möglichkeiten von Einzelpersonen die Schauplätze von Protesten zu erreichen, einzuschränken. Im Mai 2020 eröffneten Sicherheitskräfte der KRG in Dohuk das Feuer und nahmen Demonstranten fest, die eine Verbesserung der Lebensbedingungen, ein Ende der Korruption und die Auszahlung nicht gezahlter Staatsgehälter forderten (FH 3.3.2021).
Im Sommer 2020 kam es in der KRI zu weitreichenden Protesten, bei denen ein Ende der Korruption, bessere öffentliche Dienstleistungen und die Zahlung überfälliger Gehälter für Regierungsangestellte gefordert wurden (AI 15.6.2021; vergleiche AA 22.1.2021). Unter dem Vorwand die nationale Sicherheit zu schützen, kam es zu Verhaftungen von Demonstranten und Aktivisten, sowie von Journalisten, die über die Proteste berichteten (AI 15.6.2021).
Zwischen März 2020 und April 2021 nahmen kurdische Sicherheitskräfte Berichten zufolge allein im Gouvernement Duhok, insbesondere in der Region Badinan im Nordwesten des Gouvernements, über 100 Personen fest. Bis auf 30 Personen, wurden die meisten kurz darauf wieder freigelassen. Asayish und Parastin wird im Zusammenhang mit den Verhaftungen das Verschwindenlassen von sechs Personen zur Last gelegt (AI 15.6.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf, Zugriff 3.3.2021
AI - Amnesty International (15.6.2021): Kurdistan region of Iraq: Authorities must end protests-related repression [MDE 14/4233/2021], https://www.ecoi.net/en/file/local/2053869/MDE1442332021ENGLISH.pdf, Zugriff 18.8.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043505.html, Zugriff 10.2.2021
Todesstrafe
Letzte Änderung: 13.09.2021
Die Todesstrafe ist in Artikel 15 der Verfassung auf Grundlage einer von einer zuständigen Justizbehörde erlassenen Entscheidung erlaubt (DFAT 17.8.2020). Sie ist auchim irakischen Strafrecht vorgesehen, wird verhängt und vollstreckt (AA 22.1.2021). Der Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen (HRW 13.1.2021). Die Todesstrafe kann bei 48 verschiedenen Delikten, darunter Mord, terroristische und staatsfeindliche Aktivitäten, Hochverrat, Einsatz von chemischen Waffen und Vergewaltigung verhängt werden (AA 22.1.2021). Nach dem Antiterrorismusgesetz (2005) kann die Todesstrafe gegen jeden verhängt werden, der terroristische Handlungen begeht, dazu anstiftet, sie plant, finanziert oder unterstützt (DFAT 17.8.2020). Der Großteil der Hinrichtungen erfolgt wegen Terrorismusvorwürfen (AA 22.1.2021; vergleiche DFAT 17.8.2020). Viele Personen werden im Rahmen der Anti-Terror-Gesetzgebung wegen ihrer IS-Angehörigkeit verurteilt (HRW 13.1.2021). Die Todesstrafe stößt in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz (AA 22.1.2021). Aktuelle Zahlen zu den vollstreckten Hinrichtungen liegen nicht vor (HRW 13.1.2021; vergleiche AA 22.1.2021). Die Behörden berichten diese nicht mehr regelmäßig an die Vereinten Nationen und machen auch auf Nachfrage keine verlässlichen Angaben (AA 22.1.2021). Amnesty International zufolge wurden 2020 mindestens 27 Todesurteile ausgesprochen (AI 4.2021). Mindestens 50 Hinrichtungen wurden vollzogen (AI 7.4.2021). 21 dieser Hinrichtungen fanden während einer Massenexekution am 17.11.2020 statt (AI 4.2021; vergleiche DW 16.11.2020, HRW 13.1.2021). Unter den Verurteilen waren elf Franzosen und ein Belgier. Bis dahin wurde im Irak noch nie ein ausländisches IS-Mitglied hingerichtet (DW 16.11.2020). 8.022 Gefangene saßen im August 2019 in der Todeszelle (HRW 13.1.2021). Ende 2020 waren es über 7.900 Personen, die zum Tode verurteilt waren (AI 4.2021). Vor allem gegen mutmaßliche IS-Kämpfer werden in fragwürdigen Prozessen zunehmend Todesurteile verhängt und vollstreckt (AA 22.1.2021). Das irakische Strafgesetzbuch verbietet das Verhängen der Todesstrafe gegen jugendliche Straftäter, d.h. Minderjährige und Personen im Alter von 18 bis 21 Jahren zum Zeitpunkt der Begehung der mutmaßlichen Straftat sowie gegen schwangere Frauen und Frauen bis zu vier Monaten nach einer Geburt. In diesem Fall wird die Todesstrafe in eine lebenslange Haft umgewandelt (HRC 5.6.2018).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• AI - Amnesty International (4.2021): Death Sentences and Executions 2020, https://www. ecoi.net/en/file/local/2049793/ACT5037602021ENGLISH.PDF , Zugriff 2.5.2021
• AI - Amnesty International (7.4.2021): Amnesty International Report 2020/21; The State of the World’s Human Rights; Iraq 2020, https://www.ecoi.net/en/document/2048571.html , Zugriff 10.4.2021
• DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (17.8.2020): DFAT Country Information Report Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/203 6511/country-information-report-iraq.pdf , Zugriff 3.3.2021
• DW - Deutsche Welle (16.11.2020): Irak lässt 21 Todesurteile vollstrecken, https://www. dw.com/de/irak-l%C3%A4sst-21-todesurteile-vollstrecken/a-55619212, Zugriff 13.8.2021
• HRC - Human Rights Council (5.6.2018): Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions on her mission to Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefwe b.int/files/resources/A_HRC_38_44_Add.pdf , Zugriff 3.3.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 10.2.2021
Todesstrafe in der Kurdischen Region im Irak (KRI)
Letzte Änderung: 13.09.2021
In der Kurdischen Region im Irak (KRI) wurde die Todesstrafe im Jahr 2008 in einem De-facto-Moratorium ausgesetzt, außer für wesentliche Fälle, wie zur Bekämpfung des Terrorismus (HRW 13.1.2021; vergleiche AA 22.1.2021). In den Jahren 2015 und 2016 wurde dieses Moratorium zweimal gebrochen, wobei vier Hinrichtungen vorgenommen wurden. Im Jahr 2020 saßen fast 400 zum Tode verurteilte Personen in kurdischen Gefängnissen (AA 22.1.2021).
Berichten zufolge hat die Kurdische Regionalregierung (KRG) damit begonnen, Morde an Frauen, einschließlich Ehrenmorde, als Tötungsdelikte zu verfolgen, was bedeutet, dass die Schuldigen mit Strafen bis hin zur Todesstrafe belegt werden können (DFAT 17.8.2020).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf, Zugriff 3.3.2021
DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (17.8.2020): DFAT Country Information Report Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2036511/country-information-report-iraq.pdf, Zugriff 3.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043505.html, Zugriff 10.2.2021
Minderheiten
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die genaue ethno-konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung des Iraks ist unklar, da die letzten Volkszählungen manipulativ waren und beispielsweise nur die Angaben „Araber“ und „Kurde“ zuließen. Andere Bevölkerungsgruppen wurden so statistisch marginalisiert. Laut Schätzungen teilen sich die Einwohner Iraks folgendermaßen auf: in etwa 75-80% Araber, 15- 20% Kurden und etwa 5%, Tendenz fallend, Minderheiten, zu denen unter anderem Assyrer, Armenier, Mandäer/Sabäer und Turkmenen zählen (GIZ 1.2021c). Die wichtigsten ethno-konfessionellen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 22.1.2021). Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 22.1.2021). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 3.3.2021). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der NinewaEbene (USDOS 30.3.2021). 65 Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt (AA 22.1.2021).
Die Hauptsiedlungsgebiete der meisten religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des Islamischen Staates (IS) standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer/Sabäern, Kaka‘i, Schabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 22.1.2021). In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 22.1.2021). Es gibt jedoch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Schabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten „umstrittenen Gebieten“ (USDOS 12.5.2021). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und vor allem der schiitischen Milizen (AA 22.1.2021). Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden besonders in den zwischen der Zentralregierung und der KRI sogenannten „umstrittenen Gebieten“ (Gouvernement Kirkuk, sowie Teile von Ninewa, Salah Ad-Din und Diyala) Tendenzen zur gewaltsamen ethnisch-konfessionellen Homogenisierung festgestellt. Die Mission der Vereinten Nationen für den Irak (UNAMI) und Amnesty International haben dokumentiert, wie angestammte Bevölkerungsgruppen vertrieben bzw. Binnenvertriebene an der Rückkehr gehindert wurden. Dabei handelte es sich oft um die sunnitische Bevölkerung, die häufig unter dem Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit dem IS steht, aber auch um Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen. Beschuldigt werden sowohl kurdische Peshmerga als auch PMF-Milizen und in geringerem Ausmaß auch Armee und Polizei (AA 22.1.2021).
Dazu muss hervorgehoben werden, dass ein und dieselbe Gruppe in einer Gegend die Minderheit, in einer anderen jedoch die Mehrheitsbevölkerung stellen kann und umgekehrt (Lattimer EASO 26.4.2017). Die territoriale Niederlage des sog. IS im Jahr 2017 beendete dessen Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes. Dennoch können Hunderttausende Iraker, die vom IS vertrieben wurden nicht in ihre Häuser zurückkehren, sowohl aus Sicherheits- als auch aus wirtschaftlichen Gründen (FH 3.3.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• BMI - Bundesministerium für Inneres; BMLVS - Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport (2016): Atlas: Middle East & North Africa, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1 487770786_2017-02-bfa-mena-atlas.pdf , Zugriff 15.5.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021 • GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021c): Irak - Gesellschaft, https://www.liportal.de/irak/gesellschaft/ , Zugriff 16.3.2021
• Lattimer EASO - Lattimer, Mark in EASO - European Asylum Support Office (26.4.2017): Minorities and Vulnerable Groups - EASO COI Meeting Report Iraq: Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Brussels, https://www.ecoi.net/en/file/local/1404903/90_15015 70991_easo-2017-07-iraq-meeting-report.pdf , Zugriff 25.8.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2051589.html , Zugriff 15.5.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Sunnitische Araber
Letzte Änderung: 13.09.2021
Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt (AA 22.1.2021). Oft werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Auch unbeteiligte Familienangehörige tatsächlicher oder vermeintlicher IS-Anhänger sind davon betroffen (AA 22.1.2021). Berichten zufolge halten die Behörden Ehepartner und andere Familienangehörige von Flüchtigen Personen, zumeist sunnitische Araber, die wegen Terrorismusvorwürfen gesucht werden, fest, damit diese sich stellen (USDOS 30.3.2021). Unter Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes können Personen ohne ordnungsgemäßes Verfahren inhaftiert werden. Die Behörden berufen sich auf dieses Gesetz, wenn sie junge sunnitische Männer festnehmen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zum IS zu haben (USDOS 12.5.2021). Wie in den Vorjahren gibt es auch weiterhin glaubwürdige Berichte darüber, dass Regierungskräfte, einschließlich der Bundespolizei, des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) und der PMF, Personen, insbesondere sunnitische Araber, während der Festnahme, in der Untersuchungshaft und nach der Verurteilung misshandeln und foltern (USDOS 30.3.2021). Einige schiitische Milizen, darunter auch solche, die unter dem Dach der PMF operieren, sind für Angriffe auf sunnitische Zivilisten verantwortlich, mutmaßlich als Vergeltung für IS-Verbrechen an Schiiten (USDOS 12.5.2021).
Im Zuge von Anti-Terror-Operationen, aber auch an Kontrollpunkten, wurden seit 2014 junge, vorwiegend sunnitische Männer festgenommen. Den Sicherheitskräften werden dabei zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen zur Last gelegt (AA 22.1.2021). Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, den NSS, PMF, Peshmerga und Asayish (USDOS 30.3.2021). Über eine Million sunnitische Araber sind vertrieben. Viele von ihnen werden verdächtigt den IS zu unterstützen und fürchten Vergeltungsmaßnahmen, wenn sie in ihre Häuser in den früher vom IS-kontrollierten Gebieten zurückkehren (USCIRF 4.2021). Die kurdischen Behörden haben Tausende von Arabern daran gehindert, in ihre Dörfer im Unterbezirk Rabia und im Bezirk Hamdaniya im Gouvernement Ninewa zurückzukehren, Gebiete, aus denen kurdische Einheiten 2014 den IS vertrieben und dort die territoriale Kontrolle übernommen hatten. Gleichzeitig jedoch erlaubte die KRG kurdischen Dorfbewohnern, in diese Gebiete zurückzukehren (HRW 13.1.2021). Im August 2020 berichtet ein sunnitischer ehemalige Parlamentsabgeordneter aus Bagdad, dass regierungsnahe schiitische Milizen (PMF) sunnitische Bewohner des Bezirks al-Madain am Stadtrand von Bagdad gewaltsam vertreiben würden und versuchen, die Demografie des Bezirks zu verändern. Im September 2020 erklärte ein sunnitischer Parlamentarier aus dem Gouvernement Diyala, dass regierungsnahe schiitische Milizen weiterhin Sunniten in seiner Provinz gewaltsam vertreiben würden, was zu einem weitreichenden demografischen Wandel entlang der irakisch-iranischen Grenze führt (USDOS 12.5.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.202
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html, Zugriff 28.1.2021
• USCIRF – US Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2021): United States Commission on International Religious Freedom 2021 Annual Report; USCIRF – Recommended for Special Watchlist: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052974/Ira q+Chapter+AR2021.pdf , Zugriff 2.2.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2051589.html , Zugriff 15.5.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, als Reaktion auf Sicherheitsbedrohungen und Angriffe, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 30.3.2021).
In vielen Teilen des Landes, die von der IS-Kontrolle befreit wurden, kam es zu Bewegungseinschränkungen für Zivilisten, darunter sunnitische Araber sowie ethnische und religiöse Minderheiten, aufgrund von Kontrollpunkten von Sicherheitskräften (ISF, PMF, Peshmerga) (USDOS 30.3.2021). Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der sog. Islamische Staat (IS) richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019; vergleiche Zeidel/al-Hashimis 6.2019). Kämpfer des sog. IS haben ihre Entführungsaktivitäten in den zwischen der kurdischen und irakischen Regierung umstrittenen Gebieten verstärkt (Rudaw 1.2.2020). So wurden beispielsweise Anfang 2020 bei zwei Vorfällen in den umstrittenen Gebieten von Diyala und Salah ad-Din, in der Garmiyan Region, mehrere Zivilisten an IS-Checkpoints entführt (Rudaw 1.2.2020; vergleiche K24 31.1.2020, K24 2.2.2020). Die Garmiyan-Verwaltung ist eine inoffizielle Provinz der Kurdischen Region im Irak (KRI), die die drei Distrikte Kalar, Kifri und Chamchamal umfasst. Regionale kurdische Peshmerga- und Asayish-Kräfte sind für die Sicherheit in Garmiyan zuständig, während nationale irakische Kräfte die Region im Süden und Westen kontrollieren (K24 2.2.2020).
Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, welche Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 30.3.2021).
Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS zwischen 2014 und 2017 führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschafts-Anforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen sind, insbesondere sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren. Die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen sind nicht immer klar definiert und/oder die Umsetzung kann je nach Sicherheitslage variieren oder sich ändern. Bürgschafts-Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.1.2021). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom sog. IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 3.3.2021).
Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 30.3.2021). Eine Einreise in den Irak ist mit einem gültigen und von der irakischen Regierung anerkannten irakischen Nationalpass möglich. Die irakische Botschaft stellt zudem Passersatzpapiere an irakische Staatsangehörige zur einmaligen Einreise in den Irak aus. Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren (AA 22.1.2021).
Nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie im März 2020 führten die Behörden auf nationaler und regionaler Ebene eine Reihe von Beschränkungen ein, darunter auch für die interne Bewegungsfreiheit (UNHCR 11.1.2021. So war etwa die Bewegungsfreiheit in den großen Städten und zwischen den einzelnen Gouvernements zum Teil stark eingeschränkt (GIZ 1.2021a). Die Vorgehensweise der lokalen Behörden bei der Durchsetzung dieser Beschränkungen war in den einzelnen Gouvernements unterschiedlich. Die meisten Beschränkungen wurden ab August 2020 wieder aufgehoben (UNHCR 11.1.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf, Zugriff 3.3.2021
AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 16.3.2021
FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
FIS - Finnish Migrations Service [Finnland] (17.6.2019): Irak: Tiendonhankintamatka Bagdadiin Helmikuussa 2019 Paluut Kotialueille (Entisille ISIS-Alueille); Ajankohtaista Irakilaisista Asiakirjoista, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf/c5019f7f-e3f7-981b-7cea-3edc1303aa78/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf, Zugriff 13.3.2020
GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021a): Irak - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
K24 - Kurdistan 24 (31.1.2020): ISIS kidnaps 7 civilians at fake checkpoint in Kurdistan’s Garmiyan region, https://www.kurdistan24.net/en/story/21800-ISIS-kidnaps-7-civilians-at-fake-checkpoint-in-Kurdistan%E2%80%99s-Garmiyan-region, Zugriff 16.3.2021
K24 - Kurdistan 24 (2.2.2020): ISIS abducts two brothers at fake checkpoint in Garmiyan, https://www.kurdistan24.net/en/story/21816-ISIS-abducts-two-brothers-at-fake-checkpoint-in-Garmiyan, Zugriff 16.3.2021
NYT - New York Times, The (2.4.2018): In Iraq, römisch eins Found Checkpoints as Endless as the Whims of Armed Men, https://www.nytimes.com/2018/04/02/magazine/iraq-sinjar-checkpoints-militias.html, Zugriff 13.3.2020
Rudaw (1.2.2020): ISIS kidnaps 9 civilians in two nights in disputed areas of Diyala, Saladin provinces, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/010220201, Zugriff 16.3.2021
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (11.1.2021): Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Iraq; Ability of Persons Originating from Formerly ISIS-Held or Conflict-Affected Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Internal Relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2043432/5ffc243b4.pdf, Zugriff 1.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html, Zugriff 1.4.2021
Zeidel, Ronan/ al-Hashimis, Hisham in: Terrorism Research Initiative (6.2019): A Phoenix Rising from the Ashes? Daesh after its Territorial Losses in Iraq and Syria, https://www.jstor.org/stable/26681907, Zugriff 3.3.2021
Einreise und Einwanderung in den Irak unter der Zentralregierung
Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 30.3.2021). Eine Einreise in den Irak ist mit einem gültigen und von der irakischen Regierung anerkannten irakischen Nationalpass möglich. Die irakische Botschaft stellt zudem Passersatzpapiere an irakische Staatsangehörige zur einmaligen Einreise in den Irak aus. Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren (AA 22.1.2021).
Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Dhi-Qar, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadissiyah und Wassit. Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Maysan und Muthanna wurden 2020 aufgehoben (UNHCR 11.1.2021). Lokale PMF-Gruppen verhinderten in gewissen Gebieten die Rückkehr von Binnenvertriebenen, beispielsweise nach Salah ad-Din oder von Christen in mehrere Städte in der Ninewa-Ebene, darunter Bartalla und Qaraqosh (USDOS 30.3.2021).
Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom sog. IS kontrollierten Gebieten, insbesondere für sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren, unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar Anmerkung, etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Ausnahmen stellen der nördliche Bezirks Muqdadiyah, der Unterbezirk Saadiyah im Bezirk Khanaqin, sowie der Norden des Unterbezriks Al-Udhim im Bezirk Khalis dar, in denen Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar, des nationalen Sicherheitsdiensts (National Security Service, NSS) und des Nachrichtendienstes notwendig sind. Für die Ansiedlung in der Stadt Kirkuk wird ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar benötigt (UNHCR 11.1.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf, Zugriff 3.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html, Zugriff 1.4.2021
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (11.1.2021): Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Iraq; Ability of Persons Originating from Formerly ISIS-Held or Conflict-Affected Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Internal Relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2043432/5ffc243b4.pdf, Zugriff 1.3.2021
Einreise und Einwanderung in die Kurdische Region im Irak (KRI)
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Kurdischen Region im Irak (KRI) schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten für Nicht-Einheimische ein (USDOS 30.3.2021). Es wird für die Einreise in die Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah wird kein Bürge benötigt (UNHCR 11.1.2021).
Inner-irakische Migration aus dem Zentralirak in die KRI ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug jedoch kontrolliert (AA 21.1.2021). Wer dauerhaft bleiben möchte, muss sich bei der kurdischen Geheimpolizei (Asayish-Behörde) des jeweiligen Bezirks anmelden (AA 21.1.2021; vergleiche UNHRC 11.1.2021). Eine Sicherheitsfreigabe durch die Asayish ist dabei in allen Regionen der KRI notwendig (UNHCR 11.1.2021). Die Behörden verlangen von Nicht-Ortsansässigen, dass sie einen in der Region ansässigen Bürgen vorweisen können (USDOS 11.3.2020). Eine zusätzliche Anforderung für alleinstehende arabische und turkmenische Männer ist, dass sie eine feste Anstellung und ein Unterstützungsschreiben ihres Arbeitgebers vorweisen müssen. In Dohuk muss eine Person in Begleitung des Bürgen, der die Einreise ermöglicht, vorstellig werden, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten (UNHCR 11.1.2021). Die Aufenthaltsgenehmigung ist in der Regel einjährig erneuerbar (UNHCR 11.1.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021). Personen ohne feste Anstellung erhalten jedoch nur eine einmonatige, erneuerbare Genehmigung. Auch alleinstehende arabische und turkmenische Männer erhalten generell nur eine monatlich erneuerbare Aufenthaltsgenehmigung. Unter Vorlage des Nachweises einer regulären Beschäftigung und eines Unterstützungsschreibens ihres Arbeitgebers können sie auch eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung beantragen (UNHCR 11.1.2021). Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht (AA 21.1.2021). Bürger, die aus dem Zentral- oder Südirak in die KRI einreisen (egal welcher ethno-religiösen Gruppe sie angehörten, auch Kurden) müssen Checkpoints passieren und Personen- und Fahrzeugkontrollen über sich ergehen lassen (USDOS 30.3.2021).
Die kurdischen Behörden wenden Beschränkungen regional unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt (USDOS 30.3.2021). Die kurdischen Behörden haben Tausende von Arabern daran gehindert, in ihre Dörfer im Unterbezirk Rabia und im Bezirk Hamdaniya im Gouvernement Ninewa zurückzukehren, Gebiete, aus denen kurdische Einheiten 2014 den IS vertrieben und die territoriale Kontrolle übernommen hatten. Gleichzeitig jedoch erlaubte die KRG kurdischen Dorfbewohnern, in diese Gebiete zurückzukehren (HRW 13.1.2021). Checkpoints werden manchmal für längere Zeit geschlossen. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf, Zugriff 3.3.2021
HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043505.html, Zugriff 28.1.2021
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (11.1.2021): Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Iraq; Ability of Persons Originating from Formerly ISIS-Held or Conflict-Affected Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Internal Relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2043432/5ffc243b4.pdf, Zugriff 1.3.2021
USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048100.html, Zugriff 1.4.2021
USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 2.2.2021
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Letzte Änderung: 15.10.2021
In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% im Parlament verankert. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) sind es 30% (AA 70 22.1.2021; vergleiche FH 3.3.2021, USDOS 30.3.2021). Diese formale Repräsentation hat geringe Auswirkungen auf die staatliche Politik gegenüber Frauen, die von politischen Debatten und Führungspositionen üblicherweise ausgeschlossen sind (FH 3.3.2021). Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben einschränkt. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und andere einflussreiche Positionen ernannt (AA 22.1.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt weniger Möglichkeiten für Frauen, sich im Studium oder beruflich weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil aus der religiösen Tradition begründet, aber auch patriarchalische Strukturen sind weit verbreitet (AA 22.1.2021). Frauen sind gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt (AA 22.1.2021; vergleiche FH 3.3.2021).
Zwar ist laut Artikel 14 und 20 der Verfassung jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Artikel 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit als eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung (AA 22.1.2021). Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erbund Strafrecht sowie im Staatsbürgerschaftsrecht (AA 22.1.2021; vergleiche FH 3.3.2021). So können Frauen in Bezug auf das Erbrecht unter Druck geraten, ihre Rechte an männliche Verwandte abzutreten (FH 3.3.2021). Die Stellung der Frau hat sich jedenfalls im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert (AA 22.1.2021; vergleiche FIS 22.5.2018). Auch die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen, insbesondere unter Binnenflüchtlingen (IDPs) (AA 22.1.2021). In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen durch gesetzliche Beschränkungen stärker eingeschränkt als für Männer (FH 3.3.2021). So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen (FH 3.3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021), oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist (FH 3.3.2021 ). Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen liegt bei etwa 11,5% (Stand 2019) (WB 29.1.2021a). Die geschätzte Arbeitslosigkeit bei Frauen, die an der Arbeitswelt teilhaben, liegt laut Weltbank bei etwa 30,6% (Stand 2019) (WB 29.1.2021b).
Der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak zufolge liegt sie bei 13% (UNIraq 2021). Die Jugendarbeitslosigkeit bei Frauen und Mädchen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren wird auf etwa 63,3% geschätzt (Stand 2017) (CIA 15.6.2021). Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind (Frontine 12.11.2019). Die genauen Zahlen unterscheiden sich je nach Statistik und Erhebungsmethode (FIS 22.5.2018). Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Buben und Männer (GIZ 1.2021c; vergleiche AA 14.10.2020). Im Alter 71 von zwölf Jahren aufwärts sind Mädchen stärker von Analphabetismus betroffen als Buben (GIZ 1.2021c). Etwa 79,9% der Frauen im Alter von über 15 Jahren können lesen und schreiben (Stand 2017) (UNESCO 2021; vergleiche WB 9.2020). In der Altersgruppe der 15 bis 24 jährigen Mädchen und Frauen liegt die Rate bei 92,1% (Stand 2017) (UNESCO 2021). In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate bei Mädchen (rund 77%) weit niedriger als jene der Buben (rund 90%). Je höher die Bildungsstufe ist, desto geringer ist der Anteil an Mädchen. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für die Mädchen ab oder ziehen eine frühe Ehe für sie vor (GIZ 1.2021c).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.10.2020): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: März 2020), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2040689/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCb er_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_M %C3%A4rz_2020%29%2C_14.10.2020.pdf , Zugriff 3.3.2021
• CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2021): The World Factbook – Iraq, https://www.ci a.gov/the-world-factbook/countries/iraq/ , Zugriff 20.6.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• Frontline (12.11.2019): How Conflict in Iraq Has Made Women and Girls More Vulnerable, https://www.pbs.org/wgbh/frontline/article/how-conflict-in-iraq-has-made-women-and-girls -more-vulnerable/ , Zugriff 1.4.2021
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021c): Irak - Gesellschaft, https://www.liportal.de/irak/gesellschaft/ , Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
• FIS - Finnisch Immigration Service [Finnland] (22.5.2018): Overview of the status of women living without a safety net in Iraq, https://coi.easo.europa.eu/administration/finland/Plib/R eport_Women_Iraq_Migri_CIS.pdf , Zugriff 14.1.2021
• UNESCO - United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (2021): Iraq, Education and Literacy, http://uis.unesco.org/en/country/iq , Zugriff 1.4.2021
• UNIraq (2021): Country Profile, http://www.uniraq.com/index.php?option=com_k2&view= item&layout=item&id=941&Itemid=472&lang=en , Zugriff 18.3.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
• WB - World Bank (29.1.2021a): Labor force participation rate, female (% of female population ages 15+) (modeled ILO estimate), https://data.worldbank.org/indicator/SL.TLF.CA CT.FE.ZS?locations=IQ , Zugriff 1.4.2021
• WB - World Bank (29.1.2021b): Unemployment, female (% of female labor force) (modeled ILO estimate) - Iraq, https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.TOTL.FE.ZS?locations =IQ , Zugriff 1.4.2021
• WB - World Bank (9.2020): Literacy rate, adult female (% of females ages 15 and above) - Iraq, https://data.worldbank.org/indicator/SE.ADT.LITR.FE.ZS?end=2017&locations=IQ&start=2017&view=bar , Zugriff 1.4.2021
Häusliche Gewalt, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Vergewaltigung
Letzte Änderung: 13.09.2021
Häusliche Gewalt ist weiterhin ein allgegenwärtiges Problem (USDOS 30.3.2021; vergleiche HRW 13.1.2021). Im Jahr 2020 kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt (FH 3.3.2021). Auch Tötung von Frauen und Mädchen durch ihre Familien und Ehemänner wurden 2020 verzeichnet (HRW 13.1.2021).Das irakische Strafgesetz enthält zwar Bestimmungen zur Kriminalisierung von Körperverletzung, aber nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches hat der Ehemann das Recht, seine Frau, sowie seine Kinder innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren (HRW 13.1.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021). Diese Grenzen sind recht vage definiert, sodass verschiedene Arten von Gewalt als rechtmäßig interpretiert werden können (FIS 22.5.2018). Nach Artikel 128, Absatz 1 des Strafgesetzbuches können Straftaten, die aufgrund der Ehre oder vom Opfer provoziert begangen wurden, ungestraft bleiben, bzw. kann in solchen Fällen die Strafe gemildert werden (FIS 22.5.2018; vergleiche HRW 13.1.2021, USDOS 30.3.2021). Täter, die Gemeinschaft, aber auch Opfer selbst sehen häusliche Gewalt oft als normal und rechtfertigen sie aus kulturellen und religiösen Gründen. Frauen tendieren dazu, häusliche Gewalt aus Scham oder Angst vor Konsequenzen nicht zu melden, manchmal auch um den Täter zu schützen. Viele Frauen haben kein Vertrauen in die Polizei und halten den von ihr gebotenen Schutz für nicht angemessen (FIS 22.5.2018). Während sexuelle Übergriffe, wie z.B. Vergewaltigung, sowohl gegen Frauen als auch gegen Männer strafbar sind, sieht Artikel 398 des irakischen Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen aufgrund von Vergewaltigung fallen gelassen werden können, wenn der Angreifer das Opfer heiratet (USDOS 30.3.2021; vergleiche FH 3.3.2021, UNSC 30.3.2021, StC 25.6.2021). Dies gilt sowohl im Irak als auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI) (StC 25.6.2021). Eine Bestimmung verhindert hierbei eine Scheidung innerhalb der ersten drei Ehejahre (USDOS 30.3.2021). Dies trifft auch zu, wenn das Opfer minderjährig ist (FIS 22.5.2018).
Vergewaltigung innerhalb der Ehe stellt keine Straftat dar (USDOS 30.3.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Es gab keine zuverlässigen Schätzungen über die Häufigkeit von Vergewaltigungen oder Informationen über die Effektivität der staatlichen Durchsetzung des Gesetzes (USDOS 30.3.2021). Berichten zufolge sind besonders binnenvertriebene Frauen und Mädchen, insbesondere solche, die mit dem sog. IS in Verbindnung gebracht werden, sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt (EMHRM 6.2021). Fälle von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt bleiben weitgehend ungemeldet. Gründe dafür sind fehlender Zugang zu gerichtlichen oder administrativen Mechanismen, Angst vor Stigmatisierung und Repressalien (EMHRM 6.2021; vergleiche UNSC 30.3.2021) sowie fehlende strafrechtliche Verantwortung der Täter und Schutzmechanismen für Opfer (EMHRM 6.2021).
Auch Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte haben Frauen in den von ihnen kontrollierten Lagern, wie z. B. in Ninewa, belästigt und sexuell missbraucht. 2020 wurden 30 Fälle von konfliktbezogener sexueller Gewalt durch bewaffnete Akteure, hauptsächlich gegen Frauen verzeichnet, einer gegen einen inhaftierten Mann (UNSC 30.3.2021). Frauen die infolge einer Vergewaltigung Kinder geboren haben, haben Probleme für ihre Kinder Identitätspapiere zu erhalten und damit einhergehend Zugang zu Dienstleistungen (UNSC 30.3.2021). Der Irak hat zwar eine nationale Strategie gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen angenommen, die Verabschiedung eines Gesetzesentwurfs zum Schutz vor häuslicher Gewalt steht jedoch noch aus (UNFPA 2020). Bemühungen des irakischen Parlaments, einen Gesetzesentwurf gegen häusliche Gewalt zu verabschieden, sind 2019 und 2020 ins Stocken geraten (HRW 13.1.2021). Die erneuten Bemühungen irakischer Frauenrechtsorganisationen, das Parlament zur Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot geschlechtsspezifischer Gewalt zu bewegen, blieben erfolglos (FH 3.3.2021).
Obwohl der sog. IS ein System organisierter Vergewaltigungen, sexueller Sklaverei und Zwangsheirat von jesidischen Frauen und Mädchen und anderen Minderheiten etablierte, wurde kein IS-Mitglied wegen dieser spezifischen Verbrechen strafrechtlich verfolgt oder verurteilt (HRW 13.1.2021). Im Zuge des IS-Vormarsches auf Sinjar sollen über 5.000 jesidische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als Trophäen an IS-Kämpfer übergeben oder nach Syrien verkauft wurden. Diese Frauen wurden anschließend oftmals von ihren Familien aus Gründen der Tradition verstoßen oder sie wurden gezwungen, die aus den Zwangsehen entstandenen Kinder zu verstoßen (AA 22.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• EMHRM - Euro-Mediterranean Human Rights Monitor (6.2021): Exiled At Home: Internal displacement resulted from the armed conflict in Iraq and its humanitarian consequences, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/IraqReportEN.pdf , Zugriff 1.7.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
• FIS - Finnisch Immigration Service [Finnland] (22.5.2018): Overview of the status of women living without a safety net in Iraq, https://coi.easo.europa.eu/administration/finland/Plib/Report_Women_Iraq_Migri_CIS.pdf, Zugriff 14.1.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 10.2.2021
• StC - Save the Children (25.6.2021): Married by exception: Child marriage policies in the Middle East and North Africa, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/marrie d_by_exception.pdf , Zugriff 28.6.2021 • UNFPA - United Nations Population Fund (2020): The National Strategy to Combat Violence against Women and Girls 2018-2030, https://iraq.unfpa.org/sites/default/files/pub-p df/the_national_strategy_to_combat_violence_against_women_and_girls_2018-2030.pdf , Zugriff 1.4.2021
• UNSC - UN Security Council (30.3.2021): Conflict-related sexual violence; Report of the Secretary-General [S/2021/312], https://www.ecoi.net/en/file/local/2049397/S_2021_312 _E.pdf , Zugriff 1.4.2021 74 • USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Schutzmaßnahmen, Schutzeinrichtungen, Frauenhäuser
Letzte Änderung: 15.10.2021
Das Innenministerium unterhält 16 Familienschutzeinheiten im ganzen Land, die dafür bestimmt sind, häusliche Streitigkeiten zu lösen und sichere Zufluchtsorte für Opfer sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt zu schaffen. Diese Einheiten tendieren jedoch dazu, der Familienversöhnung Vorrang vor dem Opferschutz einzuräumen und verfügen nicht über die Fähigkeit, Opfer zu unterstützen. NGOs zufolge meiden es Opfer häuslicher Gewalt, sich an die Familienschutzeinheiten zu wenden, weil sie vermuten, dass die Polizei ihre Familien über ihre Aussage informieren würde. Einige Stammesführer im Süden des Irak haben Berichten zufolge ihren Stammesmitgliedern verboten, sich an Familienschutzeinheiten der Polizei zu wenden (USDOS 30.3.2021). Die meisten Familienschutzeinheiten unterhalten keine Schutzräumlichkeiten für Opfer häuslicher Gewalt (USDOS 30.3.2021). NGOs ist es nicht explizit verboten Schutzhäuser zu betreiben. Per Gesetz muss der Betrieb von Schutzhäusern durch das Arbeits- und Sozialministerium genehmigt werden. NGOs wurde ein solcher Betrieb jedoch nicht erlaubt (USDOS 11.3.2020). Manche NGOs betreiben daher inoffizielle Schutzhäuser unter der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung (USDOS 11.3.2020; vergleiche Al Jazeera 12.2.2021). So betreibt die Organisation für die Freiheit der Frauen im Irak mehrere Frauenhäuser in Bagdad. Im Jahr 2020 hat die Regierung ein gerichtliches Auflösungsverfahren gegen die Organisation eingeleitet. Ihr wird die Spaltung von Familien, die Ausbeutung von Frauen und Fluchthilfe vorgeworfen (Al Jazeera 12.2.2021). UNFPA unterstützt fünf Frauenhäuser im gesamten Irak, davon eines in Bagdad, mit einem Aufnahmevermögen von 80 Personen in zehn Schlafräumen, sowie einem Beratungsraum und einem Raum für psychosoziale Unterstützung (UNFPA 20.2.2019). Aufgrund von Druck durch die Gemeinschaften, die Frauenhäuser häufig als Bordelle ansehen, werden diese regelmäßig durch das Ministerium geschlossen, um später an anderer Örtlichkeit wieder eröffnet zu werden. Manchmal werden Schutzhäuser Ziel von Gewalt. (USDOS 11.3.2020). Kurdische Region im Irak (KRI) Im Jahr 2011 wurde vom kurdischen Regionalparlament Gesetz Nr. 8 zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt erlassen (PKI 21.6.2011). Häusliche Gewalt, einschließlich physischer und psychischer Misshandlung, Gewaltandrohung und Vergewaltigung in der Ehe stehen unter Strafe, und die Behörden setzen das Gesetz um (USDOS 30.3.2021).
Die Richtlinien werden in der Praxis jedoch nicht durchgängig umgesetzt (AA 22.1.2021). Es gibt eine spezielle Polizeieinheit zur Untersuchung von Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt und ein Familienversöhnungskomitee innerhalb des Justizsystems. Lokale NGOs berichten jedoch, dass diese Programme bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt nicht effektiv sind (USDOS 30.3.2021). Die kurdische Regionalregierung hat ihre Anstrengungen zum Schutz von Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie drei staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NGOs betrieben (AA 22.1.2021). Nach anderen Angaben gibt es in der KRI zwei privat betriebene und vier staatliche Frauenhäuser. Letztere werden vom Arbeits- und Sozialministerium betrieben (USDOS 30.3.2021), bzw. vom Direktorat für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Um dort aufgenommen zu werden, benötigen Frauen grundsätzlich einen Gerichtsbeschluss. In dringenden Fällen kann eine Frau jedoch direkt das Frauenhaus betreten, wobei ein Gerichtsbeschluss nachträglich beantragt werden muss. Die Frauen in den Frauenhäusern dürfen die Schutzeinrichtungen nicht ohne Gerichtsbeschluss verlassen. Familienangehörige dürfen die Frauen auch ohne deren Zustimmung sehen (UK Home Office 3.2021).
Die vier behördlichen kurdischen Frauenhäuser befinden sich in Dohuk, Erbil, Sulaymaniyah und Germian und werden von UNFPA unterstützt (UNFPA 2019). Es gibt jedenfalls nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen (USDOS 30.3.2021) mit Kapazitäten von 20 bis 40 Plätzen (UNFPA 2019; vergleiche UK Home Office 3.2021). Psychologische und therapeutische Dienste für betroffene Frauen sind unzureichend. NGOs spielen bei der Bereitstellung von Dienstleistungen, einschließlich Rechtshilfe für Opfer häuslicher Gewalt, eine wichtige Rolle. Die Behörden setzen auf Familienversöhnung (USDOS 30.3.2021). Vereinzelt werden Frauen „zum eigenen Schutz“ inhaftiert. Einige Frauen werden mangels Notunterkünften obdachlos. Frauen, die in Frauenhäusern oder Notunterkünften untergebracht sind, verfügen nur über wenige Alternativen, abgesehen von einer Eheschließung oder der Rückkehr zu ihren Familien, was oft zu weiterer Bestrafung oder Diskriminierung durch die Familie oder die Gemeinschaft führt (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• Al Jazeera (12.2.2021): Iraqi women struggle to escape abuse as domestic violence rises, https://www.aljazeera.com/features/2021/2/12/iraqi-women-struggle-to-escape-abuse-as -domestic-violence-rises , Zugriff 3.3.2021
• PKI - The Parliament of Kurdistan – Iraq [Irak] (21.6.2011): Act No. 8 from 2011, The Act of Combating Domestic Violence in Kurdistan Region-Iraq, http://www.ekrg.org/files/pdf/c ombat_domestic_violence_english.pdf , Zugriff 1.4.2021
• UK Home Office [UK] (3.2021): Country Policy and Information Note Iraq: ‘Honour’ crimes, https://www.ecoi.net/en/file/local/2048206/Iraq_-_Honour_Crimes_-_CPIN_-_v2.0_-_Mar ch_2021_-_EXT.pdf , Zugriff 1.4.2021
• UNFPA - United Nations Population Fund (2019): UNFPA-Supported Women Shelters - Offering Women a Second Chance, https://iraq.unfpa.org/sites/default/files/resource-pd f/Women%20shelters%3B%20Giving%20survivors%20a%20second%20chance.pdf , Zugriff 3.3.2021
• UNFPA - United Nations Population Fund (20.2.2019): The First Lady of Iraq and the UN SRSG visit the UNFPA-Supported Women Shelter in Baghdad, https://iraq.unfpa.org/en/ news/first-lady-iraq-and-un-srsg-visit-unfpa-supported-women-shelter-baghdad , Zugriff 3.3.2021 76
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
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Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya)
Letzte Änderung: 13.09.2021
Zwangs- und Kinderehen sind weit verbreitet, insbesondere im Zusammenhang mit Vertreibung und Armut (FH 3.3.2021; vergleiche AA 14.10.2020). Traditionelle Formen von arrangierten, frühen und erzwungenen Ehen sind besonders unter der überwiegend ungebildeten ländlichen und der Stammesbevölkerung vertreten (UK Home Office 3.2021). Fast jede vierte irakische Frau im Alter von 20 bis 24 Jahren war bereits mit 18 Jahren verheiratet (FH 3.3.2021). Rund 20% der Frauen werden als Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren (AA 14.10.2020). Das gesetzliche Mindestalter für eine Eheschließung beträgt mit elterlicher Erlaubnis 15 Jahre, ohne Erlaubnis 18 Jahre (USDOS 30.3.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Berichten zufolge unternimmt die Regierung jedoch wenig Anstrengungen, um dieses Gesetz durchzusetzen. Traditionelle Zwangsverheiratungen von Mädchen, Kinderehen und sogenannte Ehen auf Zeit (zawaj al-mut‘a) finden im ganzen Land statt (USDOS 30.3.2021). Zwangs-Kinderehen werden als passive Bewältigungsmechanismen für vertriebene, in Armut lebende Familien mit nachteiligen Lebensumständen eingesetzt (EMHRM 6.2021). Ehen auf Zeit oder sogenannte Vergnügungs-Ehen sind ein Problem im Irak (StC 25.6.2021). Ehe auf Zeit ist eine im zwölferschiitischen Islam erlaubte Möglichkeit auf religiös gebilligten Geschlechtsverkehr. Im sunnitischen Islam sind diese Ehen nicht erlaubt, auch wenn manche sunnitische Geistliche eine ähnliche Form der Ehe auf Zeit, misyar, gestatten (BBC 4.10.2019). Dabei werden junge Mädchen und Frauen für kurze Zeit mit älteren Männern verheiratet (StC 25.6.2021). Zwangsehen und Ehen auf Zeit werden benutzt, um Frauen und Mädchen innerhalb des Irak zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zu verkaufen (OHCHR 11.11.2019; vergleiche USDOS 30.3.2021 ). Dabei zahlt ein Mann der Familie der Betroffenen eine Mitgift für die Erlaubnis sie für einen bestimmten Zeitraum zu heiraten. Besonders junge Frauen, die durch den Konflikt mit dem sog. IS verwitwet oder verwaist sind, werden für diese Art der Ausbeutung als anfällig angesehen (USDOS 30.3.2021). Viele Frauen und Mädchen sind durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass Mädchen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen, oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Mädchen (AA 22.1.2021).
Fasliya bezeichnet eine traditionelle Stammespraxis zur Schlichtung von Konflikten, bei der Frauen eines Stammes mit Männern eines verfeindeten Stammes als Entschädigung für Mord bzw. für die Verletzung von Mitgliedern des anderen Stammes verheiratet werden (USDOS 30.3.2021; vergleiche Musawah 11.2019). Dies geschieht ohne die Zustimmung der betreffenden Frauen (Musawah 11.2019). Ende der 1950er Jahre wurde die Blutgeld-Ehe gesetzlich verboten (Al-Monitor 18.6.2015). Es kommt jedoch nach wie vor zu Blutehen zur Beilegung von Stammeskonflikten (UK Home Office 3.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021). Diese Tradition wird besonders in Gebieten fortgesetzt, in denen der Einfluss der Stämme größer als der staatlicher Institutionen ist.
Großayatollah as-Sistani fordert ein Ende dieser Praxis (USDOS 30.3.2021). Im Jahr 2011 hat das kurdische Regionalparlament mit Gesetzt Nr. 8 ein Gesetz zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt erlassen, das auch die Zwangsehe, die Kinderehe und die Blutgeld-Ehe unter Strafe stellt (PKI 21.6.2011). Das gesetzliche Mindestalter für eine Eheschließung mit elterlicher Erlaubnis beträgt in der Kurdischen Region im Irak (KRI) 16 Jahre, ohne Erlaubnis 18 Jahre (USDOS 30.3.2021). Nach Angaben des Hohen Rates für Frauenangelegenheiten der kurdischen Regionalregierung (KRG) tragen Flüchtlinge und IDPs in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu einer zunehmenden Zahl an Kinderehen und Polygamie bei. Die Kurdische Regionalregierung hat die Polizei und Beamte des Büros zur Bekämpfung häuslicher Gewalt beauftragt, Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder zwangszuverheiraten und führt Aufklärungskampagnen zur Bekämpfung sexueller Gewalt durch (USDOS 30.3.2021). Der kurdische Hohen Rat für Frauenangelegenheiten hat mit Unterstützung von UNFPA einen Plan zur Verringerung der Kinderheirat entwickelt, der sich auf Aufklärung konzentriert (StC 25.6.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.10.2020): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: März 2020), https: //www.ecoi.net/en/file/local/2040689/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCb er_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_M %C3%A4rz_2020%29%2C_14.10.2020.pdf , Zugriff 3.3.2021
• Al-Monitor (18.6.2015): Blood money marriage makes comeback in Iraq, https://www.al -monitor.com/pulse/originals/2015/06/iraq-tribes-women-blood-money-marriage-disputesettlement.html , Zugriff 3.3.2021 • BBC News (4.10.2019): The teenager married too many times to count, https://www.bbc. co.uk/news/extra/iuKTEGjKgS/teenage_iraq_brides , Zugriff 3.3.2021
• EMHRM - Euro-Mediterranean Human Rights Monitor (6.2021): Exiled At Home: Internal displacement resulted from the armed conflict in Iraq and its humanitarian consequences, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/IraqReportEN.pdf , Zugriff 1.7.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
• Musawah, publiziert durch CEDAW - UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women (11.2019): Thematic Report on Article 16, Muslim Family Law and Muslim Women’s Rights in Iraq; 74th CEDAW Session, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared Documents/IRQ/INT_CEDAW_CSS_IRQ_37333_E.docx , Zugriff 1.4.2021
• OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (11.11.2019): UN women’s rights experts issue findings on Andorra, Bosnia and Herzegovina, Cambodia, Iraq, Ka78 zakhstan, Lithuania, and Seychelles, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/Disp layNews.aspx?NewsID=25277&LangID=E , Zugriff 1.4.2021
• PKI - The Parliament of Kurdistan – Iraq [Irak] (21.6.2011): Act No. 8 from 2011, The Act of Combating Domestic Violence in Kurdistan Region-Iraq, http://www.ekrg.org/files/pdf/c ombat_domestic_violence_english.pdf , Zugriff 1.4.2021
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Ehrenverbrechen an Frauen
Letzte Änderung: 13.09.2021
Die Familien- und die individuelle Ehre wird ausschließlich von Männern gehalten und kann verloren oder wiedergewonnen werden. Frauen dagegen können nur eine Quelle der Familienoder individuellen „Schande“ sein, und können nicht aktiv Ehre in ihre Familie oder ihren Stamm bringen (TCF 7.11.2019). Als Ehrenverbrechen werden Praktiken beschrieben, die zur Verhaltenskontrolle innerhalb von Familien oder sozialen Gruppen eingesetzt werden, um wahrgenommene kulturelle und religiöse Überzeugungen und/oder die Ehre zu schützen. Ehrenverbrechen können auftreten, wenn die Täter der Meinung sind, dass ein Verwandter die Familie und/oder die Gemeinschaft beschämt hat, indem er ihren Ehrenkodex gebrochen hat (CPS o.D.). Sogenannte Ehrenverbrechen sind Gewalttaten, die von Familienmitgliedern gegen Verwandte ausgeübt werden, weil diese „Schande“ über die Familie oder den Stamm gebracht haben. Ehrenverbrechen werden oft in Form von Mord begangen, obwohl sie auch andere Arten der Gewalt umfassen können wie z.B. körperliche Misshandlung, Einsperren, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Entzug von Bildung, Zwangsverheiratung, erzwungener Selbstmord und öffentliche Schändung bzw. „Entehrung“. Ehrendelikte werden überwiegend von männlichen Familienmitgliedern gegen weibliche Familienmitglieder verübt, obwohl gelegentlich auch Männer Opfer solcher Gewalt werden können. Ehrenverbrechen werden meist begangen, nachdem eine Frau eines der folgenden Dinge getan hat bzw. dessen verdächtigt wird: Freundschaft oder voreheliche Beziehung mit einem Mann; Weigerung, einen von der Familie ausgewählten Mann zu heiraten; Heirat gegen den Willen der Familie; Ehebruch; Opfer einer Vergewaltigung oder Entführung geworden zu sein. Solche Verletzungen der Ehre werden als unverzeihlich angesehen. In den meisten Fällen wird die Tötung der Frau, manchmal auch die des Mannes, als der einzige Weg gesehen, die Ehrverletzung zu sühnen (MRG 11.2015). Ehrenmorde bleiben auch weiterhin ein ernstes Problem im ganzen Land (USDOS 11.3.2020; vergleiche EASO 1.2021, AA 22.1.2021).
Ehrenverbrechen kommen in allen Teilen des Landes vor und beschränken sich nicht auf bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen (EASO 1.2021). Das Ausmaß der Ehrenmorde ist aufgrund einer hohen Dunkelziffer nicht bekannt (UK Home Office 3.2021). UNAMI berichtete 2018, dass jedes Jahr mehrere hundert Frauen durch Ehrenmorde sterben. Einige Familien sollen Ehrenmorde so arrangiert haben, dass sie wie Selbstmord aussehen (UK Home Office 3.2021, vergleiche USDOS 30.3.2021). Obwohl einige Gemeinschaften Dekrete erlassen und Schritte unternommen haben, um Frauen von der vermeintlichen Schuld freizusprechen, die mit ihrer sexuellen Ausbeutung durch IS-Kämpfer verbunden ist, bleiben Ehrenmorde ein Risiko (USDOS 30.3.2021). Das Strafgesetzbuch des Irak sieht für Gewalttaten aus „ehrenhaften Motiven“, inklusive Ehrenmorde, milde, reduzierte Strafen vor (FH 3.3.2021; vergleiche HRW 13.1.2021, StC 25.6.2021, AA 22.1.2021).
In Fällen von Gewalt gegen Frauen erlaubt das irakische Recht zudem den Grund der „Ehre“ als rechtmäßige Verteidigung. Wenn ein Mann des Mordes an einer Frau angeklagt wird, die er getötet haben soll, weil sie des Ehebruchs verdächtigt worden war, begrenzt das Gesetz seine mögliche Strafe auf maximal drei Jahre Gefängnis (USDOS 30.3.2021). Strafen für Ehrenverbrechen sind selten (FH 3.3.2021; vergleiche EASO 1.2021). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) wurden „Ehrenmorde“ durch eine Abänderung des irakischen Strafrechts im Jahr 2015 anderen Morden strafrechtlich gleichgestellt. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der „Ehrenmord“ aber immer noch als rechtfertigbar (AA 22.1.2021). Die Generaldirektion für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen des Innenministeriums der Kurdischen Regionalregierung (KRG) hat unter 26 weiblichen Mordopfern in der Kurdischen Region im Irak (KRI) bis September 2020 drei Fälle von Ehrenmord bestätigt. Eine Quelle der Vereinten Nationen vermutet, dass die tatsächliche Anzahl jedoch höher sei (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• CPS - The Crown Prosecution Service [UK] (o.D.): Honour Based Violence and Forced Marriage, https://www.cps.gov.uk/publication/honour-based-violence-and-forced-marria ge, Zugriff 1.4.2021
• EASO – European Asylum Support Office (1.2021): Country Guidance: Iraq; Common analysis and guidance note, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045437/Country_Guidanc e_Iraq_2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html, Zugriff 3.3.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 10.2.2021
• MADRE, The Organization of Women’s Freedom in Iraq (OWFI), Human RightsandGender Justice Clinic (HRGJ) (2020): Seeking Accountability for Gender Based Violence and Human Rights Violations In Iraq, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CAT/Shared%20D ocuments/IRQ/INT_CAT_ICO_IRQ_42514_E.pdf, Zugriff 1.4.2021
• MRG - Minority Rights Group (11.2015): The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, https://minorityrights.org/wp-content/uploads/2015/11/MRG-report -A4_OCTOBER-2015_WEB.pdf , Zugriff 1.4.2021
• StC - Save the Children (25.6.2021): Married by exception: Child marriage policies in the Middle East and North Africa, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/marrie d_by_exception.pdf , Zugriff 28.6.2021
• TCF - The Century Foundation (7.11.2019): Tribal Justice in a Fragile Iraq, https://tcf.org/ content/report/tribal-justice-fragile-iraq/?agreed=1 , Zugriff 2.2.2021
• UK Home Office [UK] (3.2021): Country Policy and Information Note Iraq: ‘Honour’ crimes, https://www.ecoi.net/en/file/local/2048206/Iraq_-_Honour_Crimes_-_CPIN_-_v2.0_-_Mar ch_2021_-_EXT.pdf , Zugriff 1.4.2021
• UNHRC - UN Human Rights Council (5.6.2018): Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions on her mission to Iraq, https://www.refworld .org/docid/5b7ad39d4.html, Zugriff 1.4.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation)
Letzte Änderung: 13.09.2021
Das Thema der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen im Irak war lange Zeit ein Tabu, über das kaum gesprochen wurde (UK Home Office 2.2020; vergleiche MRG 11.2015). Erst als durch Studien die alarmierend hohe FGM-Rate im kurdischen Norden aufgezeigt wurde, hat sich dies geändert (MRG 11.2015). Seit 2011 stellt ein Gesetz in der Kurdischen Region im Irak (KRI) die Genitalverstümmelung unter Strafe (AA 22.1.2021; vergleiche PKI 21.6.2011). Die UNO arbeitet mit Regierungsinstitutionen und lokalen NGOs zusammen, um FGM durch Sensibilisierungskampagnen zu verhindern (UNICEF 6.2.2019). NGOs berichten jedoch, dass die Praxis weiter betrieben wird, vor allem in ländlichen Gebieten, insbesondere in den KRI-Gouvernments Erbil und Sulaymaniyah, sowie in Kirkuk (USDOS 30.3.2021; vergleiche DFAT 17.8.2020). Eine Umfrage aus dem Jahr 2016 ergab, dass fast 45% der befragten Frauen in der KRI FGM ausgesetzt waren, (DFAT 17.8.2020). In Erbil waren 2018 etwa 50,1% der Frauen vom FGM betroffen, in Sulaymaniyah waren es 45,1%. In Dohuk hingegen nur etwa 3,1% (UNICEF 6.12.2018; vergleiche BMC 1.4.2021). Auch unter IDPs wird FGM noch praktiziert (DFAT 17.8.2020). Allerdings geht die FGM-Rate kontinuierlich zurück (USDOS 30.3.2021; vergleiche BMC 1.4.2021). Außerhalb der KRI ist FGM nicht üblich (USDOS 30.3.2021). Einer Untersuchung aus 2018 zufolge wurden etwa 7,4% der irakischen Frauen im Alter von 15- 49 Jahren einer FGM unterzogen. In der KRI waren es 37,5%, im Zentral- und Südirak hingegen nur 0,4%. Bei Mädchen im Alter von 0 bis 14 Jahren ist der Prozentsatz mittlerweile auf 1% gesunken, bzw. auf 3% in der KRI (UNICEF 6.12.2018). Außerhalb der KRI gibt es bisher keine staatlichen Anstrengungen zur Bekämpfung von FGM. Dabei gibt es laut einer Studie in Kirkuk auch Betroffene in der arabischen und turkmenischen Bevölkerung, wenn auch in geringerem Ausmaß (AA 22.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% 81 C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• BMC Women’s Health (1.4.2021): Changes in the prevalence and trends of female genital mutilation in Iraqi Kurdistan Region between 2011 and 2018, https://bmcwomenshealth.bi omedcentral.com/articles/10.1186/s12905-021-01282-9 , Zugriff 10.4.2021
• DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (17.8.2020): DFAT Country Information Report Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/203 6511/country-information-report-iraq.pdf, Zugriff 3.3.2021
• MRG - Minority Rights Group (11.2015): The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, https://minorityrights.org/wp-content/uploads/2015/11/MRG-report -A4_OCTOBER-2015_WEB.pdf , Zugriff 1.4.2021
• PKI - The Parliament of Kurdistan – Iraq [Irak] (21.6.2011): Act No. 8 from 2011, The Act of Combating Domestic Violence in Kurdistan Region-Iraq, http://www.ekrg.org/files/pdf/c ombat_domestic_violence_english.pdf , Zugriff 1.4.2021
• UK Home Office [UK] (2.2020): Country Policy and Information Note Iraq: Blood feuds, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025236/Iraq_-_Blood_Feuds_-_CPIN_v2.0_-_Feb_202 0_-_EXT__004_.pdf , Zugriff 1.4.2021
• UNICEF - United Nations International Children’s Emergency Fund (6.2.2019): Protecting Girls in Iraq from Female Genital Mutilation, https://www.unicef.org/iraq/press-releases/p rotecting-girls-iraq-female-genital-mutilation , Zugriff 1.4.2021
• UNICEF - United Nations International Children’s Emergency Fund (6.12.2018): 2018 Muliple Indicator Cluster Survey (MICS6) Briefing, https://www.unicef.org/iraq/media/481/ file/MICS6.pdf , Zugriff 1.4.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Verwestlichung, westlicher bzw. nicht-konservativer Lebensstil
Letzte Änderung: 15.10.2021
Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft (FH 3.3.2021). Personen, die als nicht konform mit den lokalen sozialen und kulturellen Normen angesehen werden, weil sie ein „westliches“ Verhalten an den Tag legen, sind Drohungen und Angriffen von Einzelpersonen aus der Gesellschaft sowie von Milizen ausgesetzt. Volksmobilisierungskräfte (PMF) haben es auf Personen abgesehen, die Anzeichen für eine Abweichung von ihrer Auslegung der schiitischen Normen zeigen, manchmal mit Unterstützung der schiitischen Gemeinschaft (EASO 1.2021). Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken (AA 22.1.2021). Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer 84 Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (USDOS 12.5.2021; vergleiche DFAT 17.8.2020). Nicht-schiitische Muslime und nicht-muslimische Frauen berichten, dass sie sich gesellschaftlich unter Druck gesetzt fühlen, bspw. während des heiligen Monats Muharram, insbesondere während Ashura, den Hijab und schwarze Kleidung zu tragen, um Belästigungen zu vermeiden (DFAT 17.8.2020).
Im Jahr 2018 gab es einige Morde an Frauen aus der Schönheits- und Modebranche, die in der Öffentlichkeit standen. Die Angreifer blieben unbekannt, aber die Regierung machte extremistische Gruppen für die Morde verantwortlich (FH 3.3.2021). Für Frauen außerhalb des Hauses zu arbeiten, wird in weiten Teilen der Gesellschaft als inakzeptabel angesehen. Berufe, wie die Arbeit in Geschäften, Restaurants oder in den Medien, wurden als etwas Schändliches angesehen. Gleiches gilt für die Teilnahme an lokaler und nationaler Politik (IWPR 8.3.2021). Weibliche Aktivisten, die an den Protesten teilnahmen, wurden in politischen Kampagnen als promiskuitiv verunglimpft (ICG 26.7.2021). Entsprechend sprach sich as-Sadr im Februar 2020 für eine Geschlechtertrennung auf den öffentlichen Plätzen aus (ICG 26.7.2021; vergleiche AIIA 1.4.2020). Im Zuge des darauffolgenden Frauenmarsches am 13.2.2020 wurden weibliche Demonstranten mit Tränengas angegriffen, bedroht, attackiert, entführt und in einigen Fällen getötet (AIIA 1.4.2020).
Im August 2020 verübten Unbekannte eine Reihe von Attentaten auf regierungskritische Demonstranten. Die gewalttätigsten Angriffe ereigneten sich im Gouvernement Basra und führten zur Tötung von drei Aktivisten und zwei Zivilisten (MEMO 17.9.2020).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• AIIA - Australian Institute of International Affairs (1.4.2020): The Pink and Purple Protest: Iraqi Women Invert the Gender Game, https://www.internationalaffairs.org.au/australi anoutlook/the-pink-and-purple-protest-iraqi-women-invert-the-gender-game/ , Zugriff 15.5.2021
• DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (17.8.2020): DFAT Country Information Report Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/203 6511/country-information-report-iraq.pdf , Zugriff 3.3.2021
• EASO – European Asylum Support Office (1.2021): Country Guidance: Iraq; Common analysis and guidance note, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045437/Country_Guidanc e_Iraq_2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• ICG - International Crisis Group (26.7.2021): Iraq’s Tishreen Uprising: From Barricades to Ballot Box, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056850/223-iraq-tishreen.pdf , Zugriff 2.8.2021 85
• IWPR - Institute for War & Peace Reporting (8.3.2021): Iraq: Justice for Survivors as Activists Overturn Taboos, https://iwpr.net/global-voices/iraq-justice-survivors-activists-ov erturn-taboos , Zugriff 15.5.2021
• MEMO - Middle East Monitor (17.9.2020): Iraq: Female activist and family slaughtered in Baghdad, https://www.middleeastmonitor.com/20200917-iraq-female-activist-and-family -slaughtered-in-baghdad/ , Zugriff 15.5.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2051589.html , Zugriff 15.5.2021
Kinder
Letzte Änderung: 15.10.2021
Artikel 29 und 30 der irakischen Verfassung enthalten Kinderschutzrechte. Der Irak ist dem Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten beigetreten (AA 22.1.2021). Nach Artikel 41, Absatz 1 des Strafgesetzbuches haben Eltern das Recht, ihre Kinder innerhalb der durch Gesetz oder Gewohnheit vorgeschriebenen Grenzen zu disziplinieren (HRW 13.1.2021). Kinder sind einerseits in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage, andererseits durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen (AA 22.1.2021). Laut UNICEF machen Kinder fast die Hälfte der durch den Konflikt vertriebenen Iraker aus (USDOS 30.3.2021). Vor der COVID-19-Krise lebte laut UNICEF eines von fünf Kindern in Armut. Über 1,16 Millionen Kinder im Alter von unter fünf Jahren waren unterernährt (AA 22.1.2021). Ende 2020 lag die Zahl der Kinder im Irak, die humanitäre Hilfe benötigen, bei 1,89 Million (UNICEF 20.1.2021). Nach dem Gesetz ist der Vater der Vormund seiner Kinder, aber auch einer geschiedenen Mutter kann das Sorgerecht für ihre Kinder bis zum Alter von zehn Jahren zugesprochen werden, verlängerbar durch ein Gericht bis zum Alter von 15 Jahren, wobei die Kinder zu diesem Zeitpunkt wählen können, bei welchem Elternteil sie leben möchten (USDOS 30.3.2021). Das irakische Familienrecht unterscheidet zwischen zwei Arten der Vormundschaft (wilaya und wasiya), sowie der Pflege bzw. Sorge (hanada). Dem Vater kommt immer die Vormundschaft (wilaya) zu. Wenn dieser nicht mehr lebt, dem Großvater bzw. nach Entscheidung eines Shari‘a-Gerichts einem anderen männlichen Verwandten. Nur ein Mann kann demnach wali sein. Die Fürsorgeberechtigung (hanada), d.h. die Verantwortung für die Erziehung, Sicherheit und Betreuung eines Kindes, kommt im Falle einer Scheidung der Mutter zu. D.h. die Kinder leben bei der Mutter, im Falle von Knaben bis zum 13. Lebensjahr und im Falle von Mädchen bis zum 15. Lebensjahr (Migrationsverket 15.8.2018). Im Falle einer Nichtregistrierung der Geburt eines Kindes werden diesem staatliche Leistungen, wie Bildung, Lebensmittelbeihilfe und Gesundheitsversorgung vorenthalten. Alleinstehende Frauen und Witwen hatten oft Probleme bei der Registrierung ihrer Kinder. Kinder, die nicht die irakische Staatsbürgerschaft besitzen, haben ebenfalls keinen Anspruch auf staatliche Leistungen. Humanitäre Organisationen berichten von einem weit verbreiteten Problem bezüglich 86 Kindern, die im Gebiet des sog. Islamischen Staates (IS) geboren worden sind und keine von der Regierung ausgestellte Geburtsurkunden erhalten. Etwa 45.000 Kinder sind davon betroffen (USDOS 30.3.2021). Gewalt gegen Kinder/Minderjährige Gewalt gegen Kinder bleibt ein großes Problem (USDOS 30.3.2021). Berichten zufolge verkaufen Menschenhändlernetze irakische Kinder zur kommerziellen sexuellen Ausbeutung. Letztere erfolgt im In- und Ausland (USDOS 1.7.2021). Verbrecherbanden sollen Kinder zwingen, im Irak zu betteln (USDOS 1.7.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Sie werden auch gezwungen Drogen zu verkaufen (USDOS 1.7.2021).
Ebenso ist Kinderprostitution ein Problem, insbesondere unter Flüchtlingen. Aufgrund der Strafmündigkeit ab einem Alter von neun Jahren im Irak, bzw. elf Jahren in der KRI, behandeln die Behörden sexuell ausgebeutete Kinder oft wie Kriminelle und nicht wie Opfer (USDOS 30.3.2021). Kinderarbeit Die Verfassung und das Gesetz verbieten die schlimmsten Formen von Kinderarbeit (USDOS 30.3.2021; vergleiche AA 21.1.2021). In den Gebieten, die unter die Zuständigkeit der Zentralregierung fallen, beträgt das Mindestbeschäftigungsalter 15 Jahre. Das Arbeitsgesetz begrenzt für Personen unter 18 Jahren die tägliche Arbeitszeit auf sieben Stunden und verbietet Arbeiten, die der Gesundheit, Sicherheit oder Moral schaden können. Dieses Gesetz gilt jedoch nicht für Jugendliche, die in Familienbetrieben arbeiten, die ausschließlich Waren für den Hausgebrauch herstellen. Es gibt daher Berichte über Kinder, die in Familienbetrieben gefährliche Arbeiten verrichten. Kinderarbeit, auch in ihren schlimmsten Formen, wie erzwungenes Betteln und kommerzielle sexuelle Ausbeutung, manchmal als Folge von Menschenhandel, kommt im ganzen Land vor (USDOS 30.3.2021). Trotz des Verbotes der Kinderarbeit arbeiten etwa 500.000 Kinder vorrangig in der Landwirtschaft oder im Straßenverkauf. Armut begünstigt Kindesentführungen und Kinderhandel (AA 21.1.2021). Das Ministerium für Arbeit und Soziales der Kurdischen Regionalregierung (KRG) schätzt, dass mehrere hundert Kinder in der KRI arbeiten, oft als Straßenverkäufer oder Bettler, was sie besonders gefährdet. Das Ministerium betrieb eine 24-Stunden-Hotline zur Meldung von Arbeitsmissbrauch, einschließlich Kinderarbeit, bei der monatlich etwa 200 Anrufe eingingen (USDOS 30.3.2021). Strafverfolgung von Kindern/Minderjährigen Die Strafmündigkeit im Irak in den Gebieten unter der Verwaltung der Zentralregierung beträgt neun Jahre und elf Jahre in der Kurdischen Region im Irak (KRI) (USDOS 30.3.2021; vergleiche HRW 13.1.2021). Laut Berichten der Vereinten Nationen sind zahlreiche Jugendliche wegen Terrorismusvorwürfen angeklagt oder verurteilt (AA 21.1.2021; vergleiche HRW 13.1.2021). Bei einigen von ihnen handelt es sich um ehemalige Opfer von Zwangsrekrutierungen (USDOS 1.7.2021). Es mangelt nach wie vor an Jugendstrafanstalten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) berichtet jedoch, dass jugendliche Häftlinge mittlerweile vorwiegend von erwachsenen Straftätern getrennt inhaftiert werden (AA 21.1.2021). Einem Bericht des IHRCKR zufolge sind außerdem bspw. über 50 Minderjährige gemeinsam mit ihren Müttern in der Erziehungsanstalt für Frauen und Kinder in Erbil untergebracht (USDOS 30.3.2021),
Kindersoldaten, Rekrutierung von Kindern/Minderjährigen
Die Regierung und schiitische religiöse Führer verbieten Kindern unter 18 Jahren ausdrücklich den Kriegsdienst. Es gibt keine Berichte, wonach Kinder von staatlicher Seite zum Dienst in den Sicherheitskräften einberufen oder rekrutiert werden (USDOS 30.3.2021). Rekrutierung von Kindern ist ein Problem (FH 3.3.2021). Kinder sind nach wie vor anfällig für Zwangsrekrutierung und den Einsatz durch diverse bewaffnete Gruppen, die im Irak operieren. Dazu zählen der sog. Islamische Staat (IS), Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF), Stammesmilizen, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und andere vom Iran unterstützte Milizen (USDOS 1.7.2021).
Es gibt Berichte, wonach der sog. IS in den vergangenen Jahren Kinder als Soldaten eingesetzt hat (AA 21.1.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021), ebenso als menschliche Schutzschilde, Informanten, Bombenbauer, Henker und Selbstmordattentäter (USDOS 1.7.2021). Unter anderem aufgrund der territorialen Niederlage des sog. IS liegen für das Jahr 2020 nur wenige Informationen über den Einsatz von Kindern durch den IS vor (USDOS 30.3.2021). Mehrere Quellen berichten, dass die PKK und die Volksschutzeinheiten (YPG), die in der Kurdischen Region im Irak (KRI) und in Sinjar, Ninewa operieren, weiterhin Kinder rekrutieren und einsetzen. Im Jahr 2021 berichtete eine nicht verifizierte Quelle, dass die PKK Dutzende von Kindern rekrutiert habe, um sie auf den Kampf vorzubereiten, darunter auch Kinder aus Kirkuk (USDOS 1.7.2021). Laut den Vereinten Nationen wurden im Jahr 2020 keine neuen Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) dokumentiert (USDOS 30.3.2021). [Anm.: Informationen zu Kinderehen können dem Kapitel Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya) entnommen werden, Informationen zu Kindern, die unter dem IS geboren sind finden sich in Kapitel (Mutmaßliche) IS-Mitglieder, IS-Sympatisanten und IS-Familien (Dawa‘esh).]
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 10.2.2021
• Migrationsverket [Schweden] (15.8.2018): Irak - familjerätt och vårdnad, https://www.ecoi .net/en/file/local/1442095/4792_1535708243_180815601.pdf , Zugriff 25.8.2021
• UNICEF - UN Children’s Fund, Central Statistical Organization (20.1.2021): Iraq Humanitarian Situation Report (IDP Crisis): End-Year 2020, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.in t/files/resources/UNICEF%20Iraq%20Humanitarian%20Situation%20Report%20%28IDP %20Crisis%29%20-%20End-Year%202020.pdf , Zugriff 25.8.2021
• UNICEF - UN Children’s Fund, Central Statistical Organization, Kurdistan Region Statistical Office (2.2019): 2018 Multiple Indicator Cluster Survey, Survey Findings Report, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/English_7.pdf , Zugriff 5.8.2021
• USDOS – US Department of State [USA] (1.7.2021): 2021 Trafficking in Persons Report: Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2055124.html , Zugriff 25.8.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Bildungszugang
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die irakischen Bildungseinrichtungen unterstehen dem Bildungsministerium in Bagdad, welches durch Direktorate in allen Gouvernements vertreten ist (GIZ 1.2021c). Die Grundschulbildung für Kinder mit irakischer Staatsbürgerschaft in den ersten sechs Schuljahren verpflichtend und wird für diese kostenfrei angeboten (USDOS 30.3.2021). Es existieren vier Schulstufen: Die nicht verpflichtende Vorschule, die verpflichtende Grundschule (Alter 6-11 Jahre), die Sekundarausbildung und die Hochschulausbildung (GIZ 1.2021c). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) ist ein eigenes, der Kurdischen Regionalregierung (KRG) unterstehendes Bildungsministerium zuständig. Der Lehrplan in der KRI ähnelt dem zentralirakischen Lehrplan weitgehend, es wird jedoch großteils auf Kurdisch gelehrt (GIZ 1.2021c). Schulpflicht besteht hier bis zum Alter von 15 Jahren. Auch sie ist kostenlos (USDOS 30.3.2021). Neben den staatlichen Schulen gibt es auch private, meist mit ausländischer Beteiligung aufgebaute Schulen (GIZ 1.2021c).
Eine flächendeckende Sicherung der Grundbildung konnte nicht gewährleistet werden (GIZ 1.2021c). Die Sicherheitslage, das Einquartieren von Binnenvertriebenen in Schulgebäuden und eine große Zahl zerstörter Schulen verhinderten und verhindern mancherorts den Schulbesuch, sodass die Alphabetisierungsrate seit 2003 drastisch gefallen ist, besonders in ländlichen Gebieten. Nach Angaben von UNESCO auf 85,6%, laut dem irakischen Planungsministerium auf 87%. Zum Unterschied dazu sind in der Kurdischen Region im Irak (KRI) fast alle Menschen des Lesens und Schreibens mächtig. Laut UNESCO waren 2017 79,9% der Frauen und 91,2% der Männer über 15 Jahre des Lesens und Schreibens mächtig. Nach Angaben des Planungsministeriums von Januar 2020 liegt die Alphabetisierungsrate von Frauen bei 83% im Vergleich zu 92% bei den Männern (AA 22.1.2021). Laut Schätzungen sind etwa 22% der Erwachsenen nie zur Schule gegangen. Während mehr als 90% der Kinder eine Grundschule besuchen, fällt die Schülerzahl in der Altersklasse 15-17 unter die Hälfte (GIZ 1.2021c). Ein gleichberechtigter Zugang von Mädchen zu Bildung bleibt eine Herausforderung, insbesondere in ländlichen und unsicheren Gebieten (USDOS 30.3.2021). Es gibt eine Benachteiligung von Mädchen im Bildungssystem, die nach wie vor einen schlechteren Zugang zu Bildung haben. So sind Mädchen im Alter ab zwölf Jahren doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Buben (GIZ 1.2021c). Auf dem Land fällt die Einschulungsrate von Mädchen (77%) weit niedriger aus als die von Buben (90%). Je höher die Bildungsstufe, desto weniger Mädchen sind vertreten. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für die Mädchen ab oder ziehen eine frühe Ehe für sie vor (GIZ 1.2021c; vergleiche UN OCHA 2019).
Eine 2018 durchgeführte Umfrage zur Situation von Kindern im Irak hat ergeben, dass 91,6% der Kinder im Irak in der Grundschule eingeschrieben sind (92,7% der Buben, 90,4% der Mädchen). Im Zentralirak sind dies 90,8% (92,2% der Buben, 89,3% der Mädchen), in der KRI sind es 96% (95,8% der Buben, 96,2% der Mädchen). Der Anteil der Kinder aus urbanen Gebieten, die eine Grundschule besuchen, ist dabei mit 93% höher als jener in ruralen Gebieten mit 88,6%. Entsprechend sinkt auch der Anteil der Buben von 93,8% auf 90,5% und der der Mädchen von 92,2% auf 86,7%. Der Anteil der Kinder, die die untere Sekundarstufe (Unterstufe) besuchen liegt bei 57,5%, wobei der Anteil von Buben und Mädchen gleich ist. Im Zentralirak sind dies 55,6% (56,5% der Buben, 54,7% der Mädchen), in der KRI sind es 67,1% (63,1% der Buben, 70,6% der Mädchen). Auch hier ist der Anteil der Kinder aus urbanen Gebieten mit 64,5% (63,7% der Buben, 65,2% der Mädchen) höher als der in ruralen Gebieten mit 43,8% (45,2% der Buben, 42,4% der Mädchen). Der Anteil der Kinder, die die obere Sekundarstufe (Oberstufe) besuchen, liegt bei 24,2% (31% der Buben, 35,3% der Mädchen. Im Zentralirak sind dies 28,8 (28,0% der Buben, 29,7% der Mädchen), in der KRI sind es 52% (44,4% der Buben, 60,7% der Mädchen). Auch hier ist der Anteil der Kinder aus urbanen Gebieten mit 37% (34,4% der Buben, 39,6% der Mädchen) höher als der in ruralen Gebieten mit 24,9% (24,1% der Buben, 25,7% der Mädchen) (UNICEF 2.2019). Aktuelle, verlässliche Statistiken über Einschreibungen, Anwesenheit oder Abschlüsse sind nicht verfügbar (USDOS 30.3.2021).
Aufgrund der COVID-19-Pandemie waren die Schulen in den von Bagdad kontrollierten Gebieten von März bis November 2020 geschlossen, in der KRI von März 2020 bis zum Ende des Schuljahres (HRW 13.1.2021). Schulen wurden vom irakischen Bildungsministerium angewiesen, den Lehrbetrieb aus der Ferne fortzusetzen, einschließlich der Ablegung von Prüfungen. In den Abschlussjahrgängen müssen die Schüler ihre Prüfungen jedoch in Anwesenheit ablegen. Einige Schulen haben hybride Unterrichtsmodelle eingerichtet, bei denen die Schüler an 2-3 Tagen pro Woche den Unterricht in Anwesenheit besuchen konnten. Ab Mai 2021 wurden jedoch alle Schulen wieder auf Fernstudien umgestellt (IOM 18.6.2021). Familien, die durch den IS-Konflikt vertrieben wurden, sind am meisten durch die Schulschließungen betroffen, da die meisten von ihnen keinen Zugang zu digitalen Lernmöglichkeiten haben (HRW 13.1.2021). Ebenso stehen Familien mit geringem Einkommen oder aus entlegenen Gebieten hinsichtlich eines Fernstudiums vor einem Hindernis, aufgrund der Erfordernis an eine stabile Internetleitung und an ein adäquates Equipment zu kommen (IOM 18.6.2021).
Quellen:
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• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021c): Irak - Gesellschaft, https://www.liportal.de/irak/gesellschaft/ , Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und abrufbar]
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• IOM - International Organization for Migration (18.6.2021): Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Iraq and in the Kurdish Region, requested by the Austrian Federal Office for Immigration and Asylum, Zugriff 21.6.2021
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• UNICEF - UN Children’s Fund, Central Statistical Organization, Kurdistan Region Statistical Office (2.2019): 2018 Multiple Indicator Cluster Survey, Survey Findings Report, https://mics.unicef.org/files?job=W1siZiIsIjIwMTkvMDMvMDEvMTkvMjMvMTgvNTg5L0V uZ2xpc2gucGRmIl1d&sha=aea1de7cc6f6ec09 , Zugriff 5.8.2021
• UN OCHA (2019): Iraq - Education Cluster Strategy, https://reliefweb.int/sites/reliefwe b.int/files/resources/1_Education-Cluster-Strategy-Iraq-2019-2019_02_10.pdf , Zugriff 16.3.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Menschen mit Behinderung oder besonderen Bedürfnissen
Letzte Änderung: 15.10.2021
Der Irak hat das internationale Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2012 ratifiziert (UN 30.1.2012; vergleiche AA 22.1.2021). Laut Verfassung garantiert die Regierung durch Gesetze und Verordnungen die soziale und gesundheitliche Sicherheit von Menschen mit Behinderungen, unter anderem durch den Schutz vor Diskriminierung und die Bereitstellung von Wohnraum und speziellen Pflege- und Rehabilitationsprogrammen. Trotz dieser Verfassungsgarantien gibt es keine Gesetze, welche die Diskriminierung von Menschen mit körperlichen, sensorischen, geistigen oder psychischen Behinderungen verbieten (USDOS 30.3.2021). Der Irak hat eine der weltweit höchsten Raten an Menschen mit Behinderungen. Die WHO schätzt, dass bis zu einem Drittel der Iraker in irgendeiner Form körperlich oder psychisch beeinträchtigt ist. Dabei haben die lang anhaltenden Kriege und Konflikte zu dieser hohen Zahl beigetragen, unter anderem auch durch konfliktbedingte Verletzungen, durch Kämpfe, terroristische Angriffe sowie Sprengsätze und Minen. Weitere Faktoren sind Geburtsfehler, die durch mit Uran angereicherte Waffen verursacht wurden, die während der Konflikte von 1990 und 2003 zum Einsatz kamen, sowie chronische Krankheiten. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung leidet an psychischen Beeinträchtigungen (DFAT 17.8.2020). Insgesamt haben Menschen mit Behinderungen nur begrenzten Zugang zu Bildung, Beschäftigung und Gesundheitsdiensten, Informationen, Kommunikation, Gebäuden, Verkehrsmitteln, dem Justizsystem oder anderen staatlichen Dienstleistungen (USDOS 30.3.2021).
Stigmatisierung, geografische Entfernung und Zugänglichkeit halten Berichten zufolge viele Menschen mit Behinderungen davon ab, sich für Leistungen zu registrieren (DFAT 17.8.2020). Es gibt im Irak eine 5%-Quote für die Beschäftigung von invaliden Personen im öffentlichen Sektor (USDOS 30.3.2021; vergleiche DFAT 17.8.2020). Im privaten Sektor gilt eine 3%-Quote (DFAT 17.8.2020). Dieselbengesetzlichen Quoten gelten in der Kurdischen Region im Irak (KRI). Im Jahr 2020 meldete die Kurdische Regionalregierung (KRG) 12.068 Beschäftigte mit Behinderungen im öffentlichen Dienst (USDOS 30.3.2021). Menschen mit Behinderungen haben Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung, öffentlichen Einrichtungen, Verkehrsmitteln und medizinischer Versorgung, weil diese meist nicht barrierefrei sind. Darüber hinaus haben sie Probleme beim Zugang zu Hilfsmitteln und barrierefreier Kommunikation, da diese nicht verfügbar sind und hohe Kosten verursachen (IOM 2021a). Das Arbeitsministerium des Irak leitet eine Unabhängige Kommission für die Betreuung von Menschen mit Behinderungen. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) leitet der stellvertretende Minister für Arbeit und Soziales eine vergleichbare Kommission, die von einem eigenen Direktor innerhalb des Ministeriums verwaltet wird (USDOS 30.3.2021; vergleiche DFAT 17.8.2020). Jeder irakische Staatsbürger, der sich um staatliche Dienstleistungen im Zusammenhang mit Behinderungen bewirbt, muss zunächst eine Komissionsbewertung erhalten (USDOS 30.3.2021; vergleiche DFAT 17.8.2020).
Die meisten Menschen mit Behinderungen verfügen über ein geringes oder gar kein Einkommen. Sie sind von Möglichkeiten zur Sicherung ihres Lebensunterhalts, wie Berufsausbildung, Beschäftigung und Unterstützung bei der Unternehmensentwicklung, weitgehend ausgeschlossen. Darüber hinaus haben viele von ihnen keinen Zugang zu Sozialleistungen (IOM 2021a). Menschen mit Behinderungen sind in Höhe von 10% ihres Einkommens von der Steuer befreit und haben Anspruch auf zinsgünstige Darlehen und monatliche Geldleistungen, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Vollzeitpflegekräfte, die nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, erhalten ein monatliches Gehalt in der Höhe des Mindestlohns des öffentlichen Dienstes (DFAT 17.8.2020). Im Jahr 2009 wurde Gesetz 20 erlassen (Änderungen 2015 und 2019), das erstmals Opfern u.a. von Militäroperationen, militärischen Irrtümern und terroristischen Akten Kompensationen zuspricht. Dies gilt auch für teilweise oder vollständige Invalidität. Bei einer Invalidität von 75- 100% kann den Opfern entweder eine einmalige Zahlung von 5 Millionen Irakischen Dinar (IQD) Anmerkung, ca. 2.894 EUR) oder eine monatliche Zuwendung gewährt werden. Bei einer Invalidität von 50-75% beträgt der Zuschuss 3 bis 4,5 Millionen IQD Anmerkung, ca. 1.737-2.605 EUR), bei einer Invalidität von weniger als 50% beträgt der Zuschuss 2,5 Millionen IQD Anmerkung, ca. 1.447 EUR) (MRG 21.1.2020). Das Gesundheitsministerium stellt, sofern verfügbar, medizinische Versorgung, Leistungen und Rehabilitation für Menschen mit Behinderungen bereit. Auch andere Stellen, einschließlich des Amtes des Premierministers, können solche Leistungen gewähren. Das Arbeitsministerium stellt Darlehensprogramme für Menschen mit Behinderungen für die Berufsausbildung bereit 92 (USDOS 30.3.2021). Der Prozess nach dem entschieden wird, wer Unterstützung bekommt, wird von Behindertenanwälten als politisiert beschrieben. Wer z.B. im Dienst der PMF verletzt wird, bekommt leichter Unterstützung, während jemand, der im Iran-Irak-Konflikt der 1980er Jahre gegen den Iran gekämpft hat, Gefahr läuft, seine Leistungen zu verlieren (DFAT 17.8.2020).
Obwohl ein Dekret des Ministerrats aus dem Jahr 2016 den Zugang zu Gebäuden sowie zu Bildungs- und Arbeitseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen anordnet, schränkt die unvollständige Umsetzung den Zugang weiterhin ein (USDOS 30.3.2021). Eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist Berichten zufolge im Bildungsbereich weit verbreitet. Ein Gesetz aus den 1950er Jahren, das immer noch in Kraft ist, schreibt vor, dass gehörlose Kinder die Schule nach der vierten Klasse verlassen müssen, während andere Gesetze und Praktiken Menschen mit anderen Formen von Behinderungen den Zugang zur Bildung auf allen Ebenen verwehren. Ein weiteres Bildungshindernis stellt der Mangel an geeigneten Lernmaterialien und Lehrern dar, welche qualifiziert sind mit Kindern mit Entwicklungsstörungen oder geistigen Behinderungen zu arbeiten (DFAT 17.8.2020). Das Arbeitsministerium betreibt jedoch mehrere Einrichtungen für Kinder und junge Erwachsene mit Behinderungen (USDOS 30.3.2021). Auf offizieller oder gesellschaftlicher Ebene gibt es wenig Verständnis oder Bewusstsein für die Herausforderungen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung (DFAT 17.8.2020; vergleiche IOM 2021a). Dies führt zu Stigmatisierung, Isolierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen (IOM 2021a). Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist nach wie vor weit verbreitet, insbesondere wenn es sich um Personen mit psychischen Behinderungen oder um Frauen mit Behinderungen handelt (CRPD 23.10.2019). Frauen mit Behinderungen sind mit einem besonderen Stigma konfrontiert, da ihre Behinderung allgemein als „Schande für die Familie“ angesehen wird. Vielen ist es nicht erlaubt, das Haus zu verlassen oder von Außenstehenden gesehen zu werden (DFAT 17.8.2020).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• DFAT - Australian Government - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (17.8.2020): DFAT Country Information Report Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/203 6511/country-information-report-iraq.pdf , Zugriff 3.3.2021
• CRPD - UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities (23.10.2019): Concluding observations on the initial report of Iraq [CRPD/C/IRQ/CO/1], https://www.ecoi.net/en/file/l ocal/2019535/G1931119.pdf , Zugriff 25.8.2021
• IOM - International Organization for Migration (2021a): Persons with diabilities and their representative organizations in IRaq: Barriers, challenges, and priorities, https://iraq.iom.i nt/files/publications/OPDs%20report%20English.pdf , Zugriff
• MRG - Minority Rights Group International (21.1.2020): Mosul after the Battle: Reparations for civilian harm and the future of Ninewa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2023155/M RG_CFR_Iraq_EN_Jan201.pdf , Zugriff 25.8.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021 93
Berufsgruppen & Menschen, die einer bestimmten Beschäftigung nachgehen
Letzte Änderung: 14.09.2021
Journalisten, Blogger, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte sowie Mitglieder des Sicherheitsapparats, wie Polizisten und Soldaten, sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von Entführungen und gezielten Attentaten. Die Täter sind meist Angehörige von Milizen oder des Islamischen Staates (IS) (AA 21.1.2021).
Es sind fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, die Alkohol verkaufen, vor allem Jesiden und Christen (AA 21.1.2021; vergleiche USDOS 12.5.2021), sowie Mandäer/Sabäer (USDOS 12.5.2021). Das Verbot des Alkoholkonsums für Muslime hindert muslimische Geschäftsinhaber daran, Genehmigungen für den Alkoholverkauf zu beantragen. Christen werden deshalb als Strohmänner benutzt, um dieses Verbot zu umgehen (USDOS 12.5.2021). Läden, die Alkohol verkaufen, bzw. deren Inhaber und Angestellte, werden immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen (AA 14.10.2020). Im Oktober 2020 wurde beispielsweise ein Bombenanschlag auf ein von Christen betriebenes Spirituosengeschäft in Bagdad verübt. Nach Angaben von Anwohnern handelte es sich bei den Angreifern um mit der PMF verbündete Milizionäre (USDOS 12.5.2021). Auch Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal werden ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen (AA 21.1.2021). Im Juli 2021 gab es 13 Angriffe mit Bomben (IED) auf Konvois, die Nachschub für die USA transportierten. Vier in Dhi Qar, je zwei in Anbar, Babil und Diwaniyah, sowie je einen in Bagdad, Basra und Salah ad-Din (Wing 2.8.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2051589.html , Zugriff 15.5.2021
• Wing, Joel, Musings on Iraq (2.8.2021): Violence Picks Up Again In Iraq In July 2021, http://musingsoniraq.blogspot.com/2021/08/violence-picks-up-again-in-iraq-in-july.html , Zugriff 25.8.2021 Ex-
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, als Reaktion auf Sicherheitsbedrohungen und Angriffe, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 30.3.2021).
In vielen Teilen des Landes, die von der IS-Kontrolle befreit wurden, kam es zu Bewegungseinschränkungen für Zivilisten, darunter sunnitische Araber sowie ethnische und religiöse Minderheiten, aufgrund von Kontrollpunkten von Sicherheitskräften (ISF, PMF, Peshmerga) (USDOS 30.3.2021). Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der sog. Islamische Staat (IS) richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019; vergleiche Zeidel/al-Hashimis 6.2019). Kämpfer des sog. IS haben ihre Entführungsaktivitäten in den zwischen der kurdischen und irakischen Regierung umstrittenen Gebieten verstärkt (Rudaw 1.2.2020). So wurden beispielsweise Anfang 2020 bei zwei Vorfällen in den umstrittenen Gebieten von Diyala und Salah ad-Din, in der Garmiyan Region, mehrere Zivilisten an IS-Checkpoints entführt (Rudaw 1.2.2020; vergleiche K24 31.1.2020, K24 2.2.2020). Die Garmiyan-Verwaltung ist eine inoffizielle Provinz der Kurdischen Region im Irak (KRI), die die drei Distrikte Kalar, Kifri und Chamchamal umfasst. Regionale kurdische Peshmerga- und Asayish-Kräfte sind für die Sicherheit in Garmiyan zuständig, während nationale irakische Kräfte die Region im Süden und Westen kontrollieren (K24 2.2.2020).
Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, welche Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 30.3.2021). Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS zwischen 2014 und 2017 führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschafts-Anforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen sind, insbesondere sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren. Die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen sind nicht immer klar definiert und/oder die Umsetzung kann je nach Sicherheitslage variieren oder sich ändern. Bürgschafts-Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.1.2021).
Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom sog. IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 3.3.2021). Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 30.3.2021). Eine Einreise in den Irak ist mit einem gültigen und von der irakischen Regierung anerkannten irakischen Nationalpass möglich. Die irakische Botschaft stellt zudem Passersatzpapiere an irakische Staatsangehörige zur einmaligen Einreise in den Irak aus. Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren (AA 22.1.2021). Nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie im März 2020 führten die Behörden auf nationaler und regionaler Ebene eine Reihe von Beschränkungen ein, darunter auch für die interne Bewe97 gungsfreiheit (UNHCR 11.1.2021. So war etwa die Bewegungsfreiheit in den großen Städten und zwischen den einzelnen Gouvernements zum Teil stark eingeschränkt (GIZ 1.2021a). Die Vorgehensweise der lokalen Behörden bei der Durchsetzung dieser Beschränkungen war in den einzelnen Gouvernements unterschiedlich. Die meisten Beschränkungen wurden ab August 2020 wieder aufgehoben (UNHCR 11.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/M DE1499012019ENGLISH.pdf , Zugriff 16.3.2021 • FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• FIS - Finnish Migrations Service [Finnland] (17.6.2019): Irak: Tiendonhankintamatka Bagdadiin Helmikuussa 2019 Paluut Kotialueille (Entisille ISIS-Alueille); Ajankohtaista Irakilaisista Asiakirjoista, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Irak+Tiedonhankintamatk a+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29 %3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf/c5019f7f-e3f7-981b-7cea-3edc1303aa 78/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+% 28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf , Zugriff 13.3.2020 • GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021a): Irak - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/ , Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
• K24 - Kurdistan 24 (31.1.2020): ISIS kidnaps 7 civilians at fake checkpoint in Kurdistan’s Garmiyan region, https://www.kurdistan24.net/en/story/21800-ISIS-kidnaps-7-civilians-at -fake-checkpoint-in-Kurdistan%E2%80%99s-Garmiyan-region , Zugriff 16.3.2021
• K24 - Kurdistan 24 (2.2.2020): ISIS abducts two brothers at fake checkpoint in Garmiyan, https://www.kurdistan24.net/en/story/21816-ISIS-abducts-two-brothers-at-fake-checkpoin t-in-Garmiyan , Zugriff 16.3.2021
• NYT - New York Times, The (2.4.2018): In Iraq, römisch eins Found Checkpoints as Endless as the Whims of Armed Men, https://www.nytimes.com/2018/04/02/magazine/iraq-sinjar-checkp oints-militias.html , Zugriff 13.3.2020
• Rudaw (1.2.2020): ISIS kidnaps 9 civilians in two nights in disputed areas of Diyala, Saladin provinces, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/010220201 , Zugriff 16.3.2021
• UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (11.1.2021): Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Iraq; Ability of Persons Originating from Formerly ISIS-Held or Conflict-Affected Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Internal Relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2 043432/5ffc243b4.pdf , Zugriff 1.3.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html, Zugriff 1.4.2021
• Zeidel, Ronan/ al-Hashimis, Hisham in: Terrorism Research Initiative (6.2019): A Phoenix Rising from the Ashes? Daesh after its Territorial Losses in Iraq and Syria, https://www.js tor.org/stable/26681907 , Zugriff 3.3.2021 98
Einreise und Einwanderung in den Irak unter der Zentralregierung
Letzte Änderung: 14.09.2021
Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 30.3.2021). Eine Einreise in den Irak ist mit einem gültigen und von der irakischen Regierung anerkannten irakischen Nationalpass möglich. Die irakische Botschaft stellt zudem Passersatzpapiere an irakische Staatsangehörige zur einmaligen Einreise in den Irak aus. Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren (AA 22.1.2021). Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Dhi-Qar, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadissiyah und Wassit. Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Maysan und Muthanna wurden 2020 aufgehoben (UNHCR 11.1.2021). Lokale PMF-Gruppen verhinderten in gewissen Gebieten die Rückkehr von Binnenvertriebenen, beispielsweise nach Salah ad-Din oder von Christen in mehrere Städte in der Ninewa-Ebene, darunter Bartalla und Qaraqosh (USDOS 30.3.2021). Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom sog. IS kontrollierten Gebieten, insbesondere für sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren, unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar Anmerkung, etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Ausnahmen stellen der nördliche Bezirks Muqdadiyah, der Unterbezirk Saadiyah im Bezirk Khanaqin, sowie der Norden des Unterbezriks Al-Udhim im Bezirk Khalis dar, in denen Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar, des nationalen Sicherheitsdiensts (National Security Service, NSS) und des Nachrichtendienstes notwendig sind. Für die Ansiedlung in der Stadt Kirkuk wird ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar benötigt (UNHCR 11.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
• UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (11.1.2021): Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Iraq; Ability of Persons Originating from Formerly ISIS-Held or Conflict-Affected Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Internal Relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2 043432/5ffc243b4.pdf, Zugriff 1.3.2021
Einreise und Einwanderung in die Kurdische Region im Irak (KRI)
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die Kurdischen Region im Irak (KRI) schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten für Nicht-Einheimische ein (USDOS 30.3.2021). Es wird für die Einreise in die Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah wird kein Bürge benötigt (UNHCR 11.1.2021). Inner-irakische Migration aus dem Zentralirak in die KRI ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug jedoch kontrolliert (AA 21.1.2021). Wer dauerhaft bleiben möchte, muss sich bei der kurdischen Geheimpolizei (Asayish-Behörde) des jeweiligen Bezirks anmelden (AA 21.1.2021; vergleiche UNHRC 11.1.2021). Eine Sicherheitsfreigabe durch die Asayish ist dabei in allen Regionen der KRI notwendig (UNHCR 11.1.2021). Die Behörden verlangen von Nicht-Ortsansässigen, dass sie einen in der Region ansässigen Bürgen vorweisen können (USDOS 11.3.2020). Eine zusätzliche Anforderung für alleinstehende arabische und turkmenische Männer ist, dass sie eine feste Anstellung und ein Unterstützungsschreiben ihres Arbeitgebers vorweisen müssen. In Dohuk muss eine Person in Begleitung des Bürgen, der die Einreise ermöglicht, vorstellig werden, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten (UNHCR 11.1.2021). Die Aufenthaltsgenehmigung ist in der Regel einjährig erneuerbar (UNHCR 11.1.2021; vergleiche USDOS 30.3.2021). Personen ohne feste Anstellung erhalten jedoch nur eine einmonatige, erneuerbare Genehmigung. Auch alleinstehende arabische und turkmenische Männer erhalten generell nur eine monatlich erneuerbare Aufenthaltsgenehmigung. Unter Vorlage des Nachweises einer regulären Beschäftigung und eines Unterstützungsschreibens ihres Arbeitgebers können sie auch eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung beantragen (UNHCR 11.1.2021).
Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht (AA 21.1.2021). Bürger, die aus dem Zentral- oder Südirak in die KRI einreisen (egal welcher ethno-religiösen Gruppe sie angehörten, auch Kurden) müssen Checkpoints passieren und Personen- und Fahrzeugkontrollen über sich ergehen lassen (USDOS 30.3.2021). Die kurdischen Behörden wenden Beschränkungen regional unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt (USDOS 30.3.2021). Die kurdischen Behörden haben Tausende von Arabern daran gehindert, in ihre Dörfer im Unterbezirk Rabia und im Bezirk Hamdaniya im Gouvernement Ninewa zurückzukehren, Gebiete, aus denen kurdische Einheiten 2014 den IS vertrieben und die territoriale Kontrolle übernommen hatten. Gleichzeitig jedoch erlaubte die KRG kurdischen Dorfbewohnern, in diese Gebiete zurückzukehren (HRW 13.1.2021). Checkpoints werden manchmal für längere Zeit geschlossen. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen (USDOS 30.3.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% 100 C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 28.1.2021
• UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (11.1.2021): Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Iraq; Ability of Persons Originating from Formerly ISIS-Held or Conflict-Affected Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Internal Relocation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2 043432/5ffc243b4.pdf , Zugriff 1.3.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html , Zugriff 2.2.2021
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 15.10.2021
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Einige Städte und Siedlungen sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 22.1.2021). Wiederaufbauprogramme liefen vor der Corona-Krise vorsichtig an (GIZ 1.2021b). Versorgungsengpässe bei Strom und Wasser sowie die mangelnde Arbeitsbeschaffung sind die Gründe für die andauernden Proteste in Iraks großen Städten (GIZ 1.2021b). Die Versorgungslage für die irakische Wohnbevölkerung stellt sich, je nach Region, sehr unterschiedlich dar. Die Knappheit an Strom und sauberem Trinkwasser hat 2018 zu mehreren, zum Teil gewalttätigen Protesten im Süden geführt (GIZ 1.2021d). Nach Angaben der Weltbank (2018) leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung ist prekär, ohne ausreichenden Zugang zu grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen. Die über Jahrzehnte durch internationale Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 22.1.2021).
Wirtschaftslage
Die größtenteils staatlich geführte Wirtschaft Iraks wird vom Ölsektor dominiert (Fanak 5.6.2020). Dieser erwirtschaftet seit Jahren rund 90 bis 95% der Staatseinnahmen (AA 22.1.2021; vergleiche GIZ 1.2021b). Abseits des Ölsektors besitzt der Irak kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 22.1.2021). Die seit 2020 sinkenden Ölpreise und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben sich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung niedergeschlagen, die wirtschaftlichen Probleme des Iraks verstärkt und zwei Jahre der stetigen Erholung zunichtegemacht (WB 5.4.2021; vergleiche GIZ 1.2021b). Der Ölpreis fiel im April 2020 auf einen Tiefststand von 13,8 US-Dollar (Wing 2.6.2021). Im Zuge dessen haben sich auch die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Schwachstellen vertieft und den öffentlichen Unmut, der bereits vor COVID-19 bestand, noch verstärkt. Die Fähigkeit der irakischen Regierung ein Konjunkturpaket für eine Wirtschaft zu schnüren, die in hohem Maße von Ölexporten abhängig ist, um Wachstum und Einnahmen zu erzielen, wird durch den fehlenden fiskalischen Spielraum eingeschränkt. Infolgedessen hat das Land die größte Schrumpfung seiner Wirtschaft seit 2003 erlebt (WB 5.4.2021). Die Prognosen der ökonomischen Entwicklung im Irak sind schlechter denn je (GIZ 1.2021b). Die wirtschaftlichen Aussichten des Irak hängen von der weiteren Entwicklung der COVID-19-Pandemie, den globalen Aussichten am Ölmarkt und von der Umsetzung von Reformen ab (WB 5.4.2021). Seit Februar 2021 liegt der Ölpreis wieder über 60 US-Dollar/Barrel (Wing 2.6.2021). Es wird daher erwartet, dass sich die irakische Wirtschaft allmählich erholen wird (WB 5.4.2021).
Ein wichtiger Faktor für die Landwirtschaft, vor allem im Süden des Irak, sind die Umweltzerstörung und der Klimawandel. Abnehmende Niederschläge, höhere Temperaturen und flussaufwärts gelegene Staudämme in der Türkei und im Iran haben den Wasserfluss im Euphrat und Tigris Becken verringert, in dem die Gouvernements Basra, Dhi Qar und Missan liegen. Die Verringerung des Wasserflusses hat Auswirkungen auf den Zugang zu Wasser, der für den Anbau von Pflanzen entscheidend ist (Altai 14.6.2021). Die Arbeitslosenquote im Irak stieg von 12,76% im Jahr 2019 auf 13,74% im Jahr 2020 (TE 2021). Laut Schätzung der Vereinten Nationen beträgt die Arbeitslosenquote 11%, bei Jugendlichen unter 24 Jahren ist sie doppelt so hoch und liegt bei 22,8%. Unter den IDPs sind fast 24% arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 18% im Landesdurchschnitt) (GIZ 1.2021b). Verschiedene Quellen geben, mit Verweis auf Regierungsquellen, Arbeitslosenquoten im Land zwischen 13,8% und 40% an (ACCORD 28.9.2021). Darüber hinaus ist fast ein Viertel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nicht ausgelastet, also entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt. Bei Frauen, die am Arbeitsmarkt teilnehmen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie arbeitslos, unter- oder teilzeitbeschäftigt sind (ILO 2021). Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit bei IDPs, die in Lagern leben, wo 29% der Haushalte angaben, dass mindestens ein Mitglied arbeitslos ist und aktiv nach Arbeit sucht. Bei IDPs, die außerhalb von Lagern leben, sind es 22% und 18% bei Rückkehrern (OCHA 2.2021). Die Arbeitsmarktbeteiligung im Irak war mit 48,7% im Jahr 2019 bereits vor der Ausbreitung des COVID-19-Virus eine der niedrigsten der Welt (IOM 18.6.2021; vergleiche ILO 2021). Der wirtschaftliche Abschwung im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hat die Beschäftigungsmöglichkeiten deutlich reduziert und die Löhne gesenkt (IOM 18.6.2021). Die Weltbank schätzt den Anteil der Arbeitssuchenden unter 24-Jährigen auf ca. 32%. Die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen liegt wesentlich unter dem Durchschnitt der MENA-Region (GIZ 1.2021b). Je nach Quelle liegt sie bei rund 12% (DFAT 17.8.2020), bzw. wird sie auf rund 20% geschätzt (ILO 2021). Die Frauenarbeitslosigkeit liegt bei etwa 29,7% (DFAT 17.8.2020).
Einer Befragung vom Februar 2021 zufolge liegt das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte im Irak bei 384 USD (~ 561.180 IQD), das für ungelernte Arbeiter bei 215 USD (~ 314.200 IQD). Es zeigt sich dabei ein deutlicher Unterschied im Lohnniveau zwischen den vom Islamischen Staat (IS) zurückeroberten Gebieten und jenen, die nicht durch den IS besetzt waren. Für Fachkräfte liegt das Durchschnittsgehalt in den zurückeroberten Gebieten bei 289 USD (~ 422.350 IQD) 102 und in Gebieten, die nicht vom Konflikt betroffen waren, bei 460 USD (~ 672.250 IQD). Für ungelernten Arbeitskräften betragen die Durchschnittslöhne in den zurückeroberten Gebieten 158 USD (~ 230.900 IQD) und in Gebieten die nicht vom Konflikt betroffen waren 263 USD (~ 384.350 IQD). Die Armutsrate ist infolge der Wirtschaftskrise bis Juli 2020 auf ca. 30% angestiegen (AA 22.1.2021; vergleiche ILO 2021), Laut Weltbank lag sie Anfang 2021 bei 22,5% (WB 5.4.2021). Dabei ist die Armutsrate in ländlichen Gebieten deutlich höher als in städtischen (ILO 2021). Aufgrund der COVID-19-Pandemie hatte die irakische Regierung Schwierigkeiten, die Gehälter der sechs Millionen Staatsbediensteten zu zahlen, und Millionen von Menschen, die im privaten und informellen Sektor arbeiten, haben ihre Beschäftigung und ihre Lebensgrundlage verloren. Nach Schätzungen von UNICEF und der Weltbankgruppe fielen im Jahr 2020 schätzungsweise 4,5 Millionen Iraker unter die Armutsgrenze von 1,90 US-Dollar pro Tag (IOM 18.6.2021). Einhergehend mit dem neuerlichen Ansteigen der Ölpreise wird auch eine Reduktion der Armutsrate um 7 bis 14% erwartet (WB 5.4.2021). Die Löhne liegen zwischen 200 und 2.500 USD (163,8 und 2.047,45 EUR), je nach Qualifikation und Ausbildung. Für ungelernte Arbeitskräfte liegt das Lohnniveau etwa zwischen 200 und 400 USD (163,8 und327,59 EUR) pro Monat (IOM 18.6.2021). Nahrungsmittelversorgung Der Irak ist in hohem Maße von Nahrungsmittelimporten (schätzungsweise 50% des Nahrungsmittelbedarfs) abhängig (FAO 30.6.2020). Grundnahrungsmittel sind in allen Gouvernements verfügbar (IOM 18.6.2021). Aufgrund von Panikkäufen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie kam es in den letzten beiden Märzwochen 2020 zu einem vorübergehenden Preisanstieg für Lebensmittel. Strenge Preiskontrollmaßnahmen der Regierung führten ab April 2020 zuerst zu einer Stabilisierung der Preise und ab Mai 2020 wieder zu einer Normalisierung (FAO 30.6.2020). Die lokalen Märkte haben sich in allen Gouvernements als widerstandsfähig angesichts der Pandemie bewährt (OCHA 2.2021).
Vor der Covid-19-Krise war eines von fünf Kindern unter fünf Jahren unterernährt. 3,3 Millionen Kinder sind laut UNICEF immer noch auf humanitäre Unterstützung angewiesen (AA 21.1.2021). Etwa 4,1 Millionen Iraker benötigen humanitäre Hilfe (FAO 11.6.2021). Alle Iraker, die als Familie registriert sind und über ein monatliches Einkommen von höchstens 1.000.000 IQD (558,14 EUR) verfügen, haben Anspruch auf Zugang zum Public Distribution System (PDS) (IOM 18.6.2021). Das PDS ist ein universelles Lebensmittelsubventionsprogramm der irakischen Regierung, das als Sozialschutzprogramm kostenlose Lebensmittel subventioniert oder verteilt (WB 2.2020). Formal erfordert die Registrierung für das PDS die irakische Staatsbürgerschaft sowie die Anerkennung als „Familie“, die durch einen rechtsgültigen Ehevertrag oder eine Verwandtschaft ersten Grades (Eltern, Kinder) erreicht wird. Alleinstehende Rückkehrer können sich bei ihren Verwandten ersten Grades registrieren lassen, z.B. bei ihrer Mutter oder ihrem Vater. Sollten alleinstehende Rückkehrer keine Familienangehörigen haben, 103 bei denen sie sich anmelden können, erhalten sie keine PDS-Unterstützung (IOM 18.6.2021). Die angeschlagene finanzielle Lage des Irak wirkt sich auch auf das PDS aus (WB 5.4.2021), insbesondere der niedrige Ölpreis schränkt die Mittel ein (USDOS 30.3.2021). Der Anteil der Haushalte, der im Rahmen des PDS Überweisungen erhalten hat, ist um etwa 8% gesunken. Der Verlust von Haushaltseinkommen und Sozialhilfe hat die Anfälligkeit für Ernährungsunsicherheit erhöht (WB 5.4.2021). Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Die Behörden verteilen nicht jeden Monat alle Waren, und nicht in jedem Gouvernement haben alle Binnenvertriebenen (IDPs) Zugang zum PDS. Es wird berichtet, dass IDPs den Zugang zum PDS verloren haben, aufgrund der Voraussetzung, dass Bürger nur an ihrem registrierten Wohnort PDS-Rationen und andere Dienstleistungen beantragen können (USDOS 30.3.2021).
Aufgrund der Dürre kam es 2021 zu Ernteausfällen im Gouvernement Ninewa, sodass das Landwirtschaftsministerium (MoA) im April 2021 den Transport von Weizen und Gerste zwischen der KRI und dem Rest des Landes einschränkte, mit Ausnahme des Transfers in die Lagerhäuser des MoA, um Spekulanten und Schmuggler einzudämmen (FAO 11.6.2021).
Wasserversorgung
Die Hauptwasserquellen des Irak sind der Euphrat und der Tigris, die 98% des Oberflächenwassers des Landes liefern (AGSIW 27.8.2021). Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes (GRI 24.11.2019). Beide Flüsse entspringen in der Türkei, während der Euphrat durch Syrien fließt und einige Nebenflüsse durch den Iran fließen (AGSIW 27.8.2021). Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark, um etwa 80% reduziert (GRI 24.11.2019; vergleiche AGSIW 27.8.2021). Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt, die rund 13 der 38 Millionen Einwohner des Landes ernährt (GRI 24.11.2019). 2019 berichtete die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM), dass 21.314 Iraker in den südlichen und zentralen Gouvernements des Irak aufgrund von Trinkwassermangel vertrieben wurden. Spannungen zwischen den Stämmen um Wasser nehmen zu. Der Wassermangel in den südlichen Gouvernements wie Missan und Dhi Qar und die immer wiederkehrenden Dürreperioden sind bereits die Hauptursache für lokale Konflikte (AGSIW 27.8.2021). Da die Niederschlagsperiode 2020/2021 die zweit niedrigste seit 40 Jahren war, kam es zu einer Verringerung der Wassermenge im Tigris und Euphrat um 29% bzw. 73% (UNICEF 29.8.2021). Trinkwasser ist in allen Gouvernements verfügbar (IOM 18.6.2021).
Fast drei von fünf Kindern im Irak haben jedoch keinen Zugang zu einer sicheren Wasserversorgung, und weniger als die Hälfte aller Schulen im Land haben Zugang zu einer grundlegenden Wasserversorgung (UNICEF 29.8.2021). Die Wasserversorgung im Irak wird durch marode und teilweise im Krieg zerstörte Leitungen in Mitleidenschaft gezogen. Dies führt zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. (Industrie)abfälle führen zusätzlich zu Verschmutzung (AA 22.1.2021).
Stromversorgung
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 22.1.2021). Die meisten irakischen Städte haben keine 24-Stunden-Stromversorgung (DW 8.7.2021). Die Stromversorgung deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Die verfügbare Kapazität variiert je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 2020). Besonders in den Sommermonaten wird die Versorgungslage strapaziert (DW 8.7.2021). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen (AA 22.1.2021). Das irakische Stromnetz verliert bei der Stromübertragung zwischen 40 und 50%. Dieser Verlust hat sowohl technische Gründe, z.B. beschädigte, unzureichend funktionierende oder veraltete Stromübertragungsanlagen, als auch nichttechnische Gründe wie Diebstahl oder Manipulation. So wird zum Beispiel dem Islamischen Staat (IS) vorgeworfen Strommasten sabotiert zu haben (DW 8.7.2021).
Der IS hat im Jahr 2021 vermehrt das irakische Stromnetz angegriffen, indem er wiederholt Strommasten gesprengt hat (Wing 6.9.2021; vergleiche Anadolu 2.7.2021). Allein im August 2021 wurden Masten in Bagdad, Babil, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din sabotiert (Wing 6.9.2021). Sabotageakte werden in jüngster Zeit zunehmend an Umspannwerken in Städten verübt und zielen auch auf die Trinkwasserversorgung, die Wasseraufbereitung und auf den Krankenhausbetrieb ab (VOA 14.8.2021). Am 2.7.2021 kam es zu einem stundenlangen, landesweiten Stromausfall (Anadolu 2.7.2021; vergleiche BBC 2.7.2021). Nur die Kurdische Region im Irak war davon nicht betroffen (BBC 2.7.2021). Häufige Stromausfälle führen zu Protesten. Mitte 2021 haben wütende Iraker Kraftwerke in Bagdad und Diyala gestürmt. Ende Juni 2021 ist der irakische Elektrizitätsminister, Majed Mahdi Hantoush, zurückgetreten (DW 8.7.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (28.9.2021): Anfragebeantwortung zum Irak: Kirkuk: Arbeitsmarktlage [a-11674-2], https: //www.ecoi.net/en/document/2061064.html , Zugriff 1.10.2021
• AGSIW - The Arab Gulf States Institute bin Washington (27.8.2021): Iraq’s Water Crisis: An Existential But Unheeded Threat, https://agsiw.org/iraqs-water-crisis-an-existential-bu t-unheeded-threat/ , Zugriff 1.9.2021
• Altai Consulting (14.6.2021): Economic relief, recovery, and resilience - Assessment for Southern Iraq, https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---arabstates/---ro-beirut/docu ments/publication/wcms_802486.pdf , Zugriff 25.8.2021
• Anadolu Agency (2.7.2021): دعبءابرهكلاةموظنملماكليغشتةداعإ .. قارعلا تاعاسلاهفقوت] Irak.. Neustart des gesamten Stromsystems nach stundenlangem Stillstand], https://www.aa.com.tr/ar/%D8%A7%D9%84%D8%AF%D9%88%D9%84-%D 8%A7%D9%84%D8%B9%D8%B1%D8%A8%D9%8A%D8%A9/%D8%A7%D9%84%D8 105 %B9%D8%B1%D8%A7%D9%82-%D8%A5%D8%B9%D8%A7%D8%AF%D8%A9-%D8 %AA%D8%B4%D8%BA%D9%8A%D9%84-%D9%83%D8%A7%D9%85%D9%84-%D9 %85%D9%86%D8%B8%D9%88%D9%85%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D9%83%D9% 87%D8%B1%D8%A8%D8%A7%D8%A1-%D8%A8%D8%B9%D8%AF-%D8%AA%D9% 88%D9%82%D9%81%D9%87%D8%A7-%D9%84%D8%B3%D8%A7%D8%B9%D8%A 7%D8%AA/2292230 , Zugriff 30.8.2021
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• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021d): Irak - Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/, Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
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Grundversorgung und Wirtschaft im Zentral- und Nordirak
Letzte Änderung: 15.10.2021
Anbar
Anbar gehört zu den Gouvernements, in denen die kritische Infrastruktur infolge des Konflikts mit dem sog. Islamischen Staat (IS) stark beeinträchtigt wurde. Dies gilt insbesondere für Schäden an Wohnhäusern, in der Landwirtschaft, an wichtigen kommunalen Dienstleistungen sowie in Industrie und Handel. Wiederaufbau und Sanierungsmaßnahmen wurden in den Jahren 2019 und 2020 fortgesetzt (EASO 1.2021). Laut einer Befragung im Distrikt Al-Qa’im vom Februar 2021 liegen die derzeitigen Durchschnittsgehälter für Fachkräfte bei 162 USD (~ 236.750 IQD) und reichen von unter 100 bis 345 USD (~ 146.141 bis 504.190 IQD). Nur wenige Arbeitgeber gaben an, auch ungelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen, die im Durchschnitt 106 USD (~ 154.910 IQD) erhielten (IOM 9.2021h). Im Distrikt Fallujah ist das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte wegen der COVID-19-Pandemie von 347 USD (~ 507.110 IQD) auf 220 USD (~ 321.510 IQD) gesunken, für ungelernte Arbeitskräfte von 290 USD (~ 423.810 IQD) auf 207 USD (~ 302.510 IQD) (IOM 9.2021i). Im Jahr 2018 waren etwa 1,31% der Bevölkerung des Gouvernements Anbar von akuter Armut betroffen und 4,65% waren armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) nennt Anbar als eines von fünf irakischen Gouvernements mit hoher Ernährungsunsicherheit (WFP 1.2021). Etwa 18,45% der Bevölkerung Anbars (rund 330.900 Personen) sind unzureichend ernährt. Für rund 34,33% (rund 615.700 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Anbar im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten (WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020). Die Bevölkerung der Anbars ist in erster Linie auf den Euphrat als Wasserquelle für häusliche, industrielle und landwirtschaftliche Verwendung angewiesen (NAS 16.2.2021). Im Jahr 2017 lag der Anteil der Bevölkerung mit Trinkwasserversorgung in Anbar bei 80% (CSO 2018k). Die Dürreperiode bedroht den Wasserzugang. Einige Familien in Anbar, die keinen Zugang zu Flusswasser haben, geben bis zu 80 USD (~ 116.860 IQD) pro Monat für Wasser aus (NRC 23.8.2021). Die Stromversorgung in Anbar ist in einigen Städten auf weniger als zwei Stunden pro Tag gesunken. Die Einwohner sind fast ausschließlich auf Besitzer privater Generatoren angewiesen. Einwohner zahlen ein Viertel, bis zu einem Drittel ihres Monatsgehaltes, um generatorenerzeugten Strom zu kaufen (Shafaq 4.6.2021). UNDP hat den Bau eines Umspannwerks in al-Qa’im finanziert, das 2021 fertiggestellt wurde (UNIraq 15.9.2021).
Diyala
Diyala hat durch den Konflikt mit dem sog. IS erhebliche Schäden an seiner Infrastruktur erlitten. Der Agrarsektor, Schulen, der Energiesektor, die Wasserressourcen sowie der Hygiene- und Gesundheitssektor sind betroffen. Es wird über Wiederaufbau und die Instandsetzungsmaßnahmen berichtet (EASO 1.2021). Einer Umfrage zufolge gingen 29% der befragten Personen in Diyala einer formellen Beschäftigung nach, 28% einer informellen und 42% gingen keiner Beschäftigung nach. Als Gründe für Arbeitslosigkeit werden ein Mangel an Startkapital, der Lockdown aufgrund von COVID-19 (22%) und ein Mangel an verfügbaren Jobs genannt (DRC 4.2020). Einer Umfrage im Distrikt Al-Khalis vom Februar 2021 zufolge haben die meisten Arbeitgeber Gehälter wegen COVID-19 gekürzt. Einige zahlten monatelang keine Gehälter, und manche reduzierten die Anzahl ihrer Beschäftigten. Die Durchschnittsgehälter für Fachkräfte liegen bei 170 USD (~ 248.440 IQD) und reichen von unter 100 bis 350 USD (~ 146.140 bis 511.490 IQD). Vor der Pandemie war der Durchschnittslohn mit 224 USD (~ 327.360 IQD) höher. Nur wenige Arbeitgeber gaben an ungelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen (IOM 9.2021j). Auch im Distrikt Al-Muqdadiya haben Arbeitgeber Löhne gekürzt, und es kam auch zu Entlassungen. Im Privatsektor beschäftigte Frauen waren Berichten zufolge stärker betroffen als Bedienstete im öffentlichen Sektor. Die Durchschnittsgehälter für Fachkräfte liegen zwischen 322 USD und 433 USD (~ 470.580 bis 632.790 IQD) (IOM 9.2021k). Im Distrikt Khanaqin haben Arbeitgeber etwa 70% ihrer Angestellten gehalten. Einige Angestellte haben gekündigt, entweder weil ihre Gehälter nicht gezahlt, oder weil sie gekürzt wurden. Die Durchschnittsgehälter von Fachkräften liegen bei USD 228 (~ 333.200 IQD), zwischen 200 und 300 USD (~ 292280 bis 438.420 IQD). Vor der COVID-19- Pandemie lag das Durchschnittsgehalt bei 292 USD (~ 426.730 IQD). Nur wenige Arbeitgeber gaben an ungelernte Arbeitskräfte mit einem Durchschnittsgehalt von 178 USD (~ 260.130 IQD) zu beschäftigen, etwas niedriger als vor COVID-19 (IOM 9.2021l). 117 Im Jahr 2018 waren etwa 0,21% der Bevölkerung des Gouvernements Diyala von akuter Armut betroffen und 3,64% waren armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). Etwa 14,46% der Bevölkerung Diyalas (rund 207.600 Personen) leidet unter unzureichender Nahrungsmittelaufnahme. Für rund 10,84% (rund 155.700 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Diyala im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten (WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020). Im Jahr 2017 lag der Anteil der Bevölkerung mit Trinkwasserversorgung in Diyala bei 89,3% (CSO 2018l). Wegen des niedrigen Wasserpegels des Khurasan-Flusses, der Hauptwasserquelle im Distrikt Baquba, mussten Ende Mai 2021 vier Wasseraufbereitungsanlagen in Baquba, Buhriz, al-Abbara und al-Tahrir abgeschaltet werden. Durch die Abschaltungen waren fast 400.000 Bewohner von der Wasserversorgung abgeschnitten (Shafaq 25.5.2021). Dem sog. Islamischen Staat (IS) werden Sabotageakte auf Strommasten, unter anderem auch im Gouvernement Diyala vorgeworfen. Die meisten solcher Anschläge finden in den nordirakischen Gouvernements Diyala, Kirkuk und Ninewa statt (New Arab 6.7.2021). Anfang August 2021 kam es in einigen Gebieten des Gouvernements zu einem totalem Stromausfall, verursacht durch die häufigen Sabotageakte des IS gegen Strommasten (Kirkuk Now 7.8.2021). Mitte 2021 haben wütende Iraker aufgrund von häufigen Stromausfällen unter anderem ein Kraftwerk in Diyala gestürmt (DW 8.7.2021).
Kirkuk
Einer Umfrage im Distrikt Hawija vom Februar 2021 zufolge ist das Durchschnittsgehalt im Vergleich zum Niveau vor der COVID-19-Pandemie gesunken. Für Fachkräfte ist der Durchschnittslohn von 282 USD (~ 412.120 IQD) auf unter 200 USD (~ 292.280 IQD) gefallen, für ungelernte Arbeitskräfte von 165 USD (~ 241.130 IQD) auf 105 USD (~ 153.450 IQD). Arbeitgeber haben durchschnittlich nur etwa 44% ihrer Angestellten gehalten (IOM 9.2021m). Im Jahr 2018 waren etwa 0,44% der Bevölkerung des Gouvernements Kirkuk von akuter Armut betroffen und 1,9% waren armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). Etwa 9,8% der Bevölkerung Kirkuks (rund 152.200 Personen) sind unzureichend ernährt. Für rund 3,92% (rund 60.900 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren liegt Kirkuk hinter allen anderen irakischen Gouvernements. Außer Kirkuk haben alle Gouvernements bei der Frage von Verfügbarkeit von Waren zehn von zehn möglichen Punkten erhalten, Kirkuk nur 8,3 Punkte (ACCORD 28.9.2021; vergleiche WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020). Im Jahr 2017 lag der Anteil der Bevölkerung mit Trinkwasserversorgung in Kirkuk bei 89,7% (CSO 2018m). Über 2.000 Familien im kurdischen Viertel der Stadt Kirkuk waren im Mai 2021 von Auswirkungen einer Wasserknappheit betroffen. Berichte zufolge erfolgte die Versorgung mit Wasser, welches unsauber war, nur alle zwei bis sieben Tage. Einwohner mussten Wasser kaufen, das jedoch zu salzhaltig zum trinken gewesen sei (Rudaw 29.5.2021). Das Gouvernement Kirkuk ist für seinen Wasserbedarf für Bewässerung, als Trinkwasser und für industriellen Gebrauch hauptsächlich auf Grundwasser angewiesen. Eine Untersuchung der Wasserqualität von 60 Brunnen im Gouvernement hat bei 30 der getesteten Brunnen eine Kontaminierung des Wassers mit Coliformen- und E-coli Bakterien ergeben. Die Untersuchung der entnommenen Proben hat außerdem ergeben, dass die meisten Parameter für eine Verwendung als Trinkwasser nicht erreicht wurden. Die Qualität hat sich im Untersuchungszeitraum von 2017 bis 2019 verschlechtert (Tameemi 2020). Die Stromversorgung der Stadt Kirkuk durch das nationale Energienetz ist laut dem Pressesprecher der Direktion für Elektrizität in Kirkuk abwechselnd für drei Stunden aktiv und für drei Stunden inaktiv. In manchen Stadtvierteln Kirkuks, wie Qadisiya, Nasir und Askari, stehen den Einwohnern weniger als zehn Stunden Strom am Tag zur Verfügung (Kirkuk Now 7.8.2021). Im Mai 2021 hat mangelhafte Stromversorgung die Versorgung mit Wasser in der Stadt Kirkuk beeinträchtigt (Rudaw 29.5.2021). Mangelnde Stromversorgung durch das nationale Stromnetz und durch den Ausfall von Generatoren beeinträchtigt auch die Erbringung gewisser medizinischer Dienste, die beständige Stromzufuhr erfordern, z.B. im Rahimawa-Gesundheitszentrum, einem der größten staatlichen Krankenhäuser der Stadt Kirkuk (Kirkuk Now 20.4.2021). Dem IS werden Sabotageakte auf Strommasten, unter anderem auch im Gouvernement Kirkuk vorgeworfen (New Arab 6.7.2021). Anfang August 2021 kam es in einigen Gebieten des Gouvernements zu einem totalem Stromausfall, verursacht durch die häufigen Sabotageakte des IS gegen Strommasten (Kirkuk Now 7.8.2021).
Ninewa
Im Jahr 2018 waren etwa 1,54% der Bevölkerung des Gouvernements Ninewa von akuter Armut betroffen und 3,01% waren armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). In drei Distrikten des Gouvernement Ninewa, Hamdaniya, Tal Afar und Sinjar wird die hohe Arbeitslosigkeit als größere Bedrohung als der IS angesehen. Viele sind der Ansicht, dass sich die Einwohner ihrer Gemeinden aus wirtschaftlicher Not den diversen Sicherheitsakteuren anschließen würden (USIP 22.6.2021).
Einer Umfrage im Distrikt Al-Bakir vom Februar 2021 zufolge liegt das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte zwischen 34 und 612 USD (~ 49.690 bis 894.390 IQD), das für ungelernte Arbeiter zwischen 82 und 408 USD (~ 119.840 bis 596.260 IQD). Der Umfrage zufolge ist etwa die Hälfte der Familien sehr bedürftig, und mehr als 80% der jungen Menschen sind arbeitslos (IOM 9.2021n).
Im Distrikt Al-Shikhan liegt das Durchschnittsgehalt bei 275 USD (~ 401.890 IQD), zwischen 100 und 690 USD (~ 146140 bis 1.008.380 IQD). Etwa die Hälfte der Arbeitgeber gibt an, ungelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen, die im Durchschnitt 200 USD (~ 292.280 IQD) erhalten, wobei die Löhne von unter 100 bis zu 480 USD (~ 146.140 bis 701.480 IQD) reichten. (IOM 9.2021o).
Im Distrikt Ba’aj Markaz liegt das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte bei 168 USD (~ 245.520 IQD), und reicht von etwa 100 bis zu 310 USD (~ 146.140 bis 453.0450 IQD). Allerdings gab nur ein Drittel der befragten Arbeitgeber an Fachkräfte zu beschäftigen. Nur ein Unternehmen gab an ungelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen (IOM 9.2021p). In Tel Azer im Distrikt Ba’aj verdient eine Fachkraft durchschnittlich 185 USD (270.360 IQD), wobei 119 die Spanne zwischen unter 100 bis 345 USD (~ 146.140 bis 504.190 IQD) reicht. Es gaben jedoch nur 71% der befragten Arbeitgeber an, qualifizierte Arbeitskräfte zu beschäftigen, und einige wenige haben ungelernte Arbeitskräfte. Manche beschäftigen auch Verwandte, die nicht bezahlt werden (IOM 9.2021q). In Bab Lakash, in Mossul erhalten Fachkräfte im Durchschnitt 188 USD (~ 274750 IQD), ungelernte Arbeitnehmer 122 USD (~ 178.290 IQD). Mehr als die Hälfte der Familien in der Gemeinde wird als vulnerable eingestuft. Etwa 75% der Jugendlichen sind arbeitslos (IOM 9.2021r).
In Qayrawan im Distrikt Sinjar liegen die Durchschnittslöhne für qualifizierte Arbeitskräfte zwischen 61 und 102 USD (~ 89.150 bis 149.060), mit einem Durchschnitt von 85 USD (~ 124.220 IQD). Nur ein Drittel der Unternehmen gibt an Fachkräfte zu beschäftigen. Ungelernte Arbeitskräfte werden der Umfrage zufolge von keinem Unternehmen angestellt. Frauen verdienen nach Schätzungen im Durchschnitt 42 USD (~ 61.380 IQD) (IOM 9.2021s). In den Ortschaften Tel Banat und Tel Qassab in Sinjar reicht die Gehaltsspanne für Fachkräfte von 100 und 600 USD (~ 146.140 bis 876.850 IQD), wobei das Durchschnittsgehalt bei 234 USD (~ 341.970 IQD) liegt. Nur 67% der Arbeitgeber geben jedoch an Fachkräfte zu beschäftigen. Wenige haben ungelernte Arbeitskräfte angestellt (IOM 9.2021t).
Im Distrikt Tel Afar liegt das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte bei 233 USD (~ 340.510 IQD), reicht von 100 bis 544 USD (~ 146.140 bis 795.010 IQD). Etwa die Hälfte der Arbeitgeber gibt an auch ungelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen, deren Durchschnittsgehalt bei 162 USD (~ 236.750 IQD) liegt. Die Spanne reicht von unter 85 USD bis zu 340 USD (~ 124.220 bis 496.880 IQD). Der Umfrage zufolge leben etwa 30% bis 40% der Familien in Tel Afar unterhalb der Armutsgrenze. Etwa 60% der Jugendlichen sind arbeitslos. Arbeitslosigkeit ist besonders unter Frauen und Menschen mit Behinderungen besonders hoch (IOM 9.2021u).
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) nennt Ninewa als eines von fünf irakischen Gouvernements mit hoher Ernährungsunsicherheit (WFP 1.2021). Etwa 10,28% der Bevölkerung Ninewas (rund 375.500 Personen) sind unzureichend ernährt. Für rund 11,7% (rund 427.300 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Ninewa im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten (WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020). Im Sommer 2021 kam es in NInewa zu dürrebedingten Ernteausfällen. Das Landwirtschaftsministerium (MOA) schränkte daher den Handel von Weizen und Gerste zwischen der KRI und dem Rest des Landes ein, mit Ausnahme des Transfers in Lagerhäuser des MOA, um spekulative Händler und Schmuggler davon abzuhalten, von den höheren Inlandspreisen zu profitieren (FAO 11.6.2021). Im Jahr 2017 lag der Anteil der Bevölkerung mit Trinkwasserversorgung in Ninewa bei 87,1% (CSO 2018n).
Fehlender Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasser- und Stromversorgung, bleibt eine Herausforderungen für ländliche Gebiete der Ninewa Ebene und den Distrikt Sinjar (EASO 1.2021). Dem IS werden Sabotageakte auf Strommasten, unter anderem auch im Gouvernement Ninewa vorgeworfen (New Arab 6.7.2021).
Salah ad-Din
Salah ad-Din ist eines der Gouvernements, in denen infolge des Konflikts mit dem sog. IS besonders hohe Schäden an der Infrastruktur entstanden sind, darunter in der Landwirtschaft, in der Wasserversorgung, sowie im Sanitär- und Hygienesektor. Der Wiederaufbau ging im Jahr 2019 nur langsam voran (EASO 1.2021). Die Erwerbsquote in Salah ad-Din ist von 10,8% im Jahr 2016 auf 9,5% im Jahr 2017 gefallen. Auch die Arbeitslosenrate ist gefallen, von 40,8% im Jahr 2016 auf 38,2% im Jahr 2017 (CSO 2018c; vergleiche ACCORD 10.9.2021). Einer Umfrage zufolge gingen 21% der befragten Personen in Salah ad-Din einer formellen Beschäftigung nach, 36% einer informellen und 49% gingen keiner Beschäftigung nach. Als Gründe für Arbeitslosigkeit werden ein Mangel an Startkapital, der Lockdown aufgrund von COVID-19 (22%) und ein Mangel an verfügbaren Jobs genannt (DRC 4.2020). Einer Umfrage im Distrikt Baiji vom Februar 2021 zufolge liegt das Durchschnittseinkommen für Fachkräfte bei 189 USD und reicht von 68 bis 282 USD (~ 99.380 bis 412.120 IQD). Für ungelernte Arbeiter liegt das Durchschnittsgehalt bei 115 USD (~ 168.060 IQD) (IOM 9.2021v). Im Jahr 2018 waren etwa 0,27% der Bevölkerung des Gouvernements Salah ad-Din von akuter Armut betroffen und 2,58% waren armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) nennt Salah ad-Din als eines von fünf irakischen Gouvernements mit hoher Ernährungsunsicherheit (WFP 1.2021). Etwa 1,85% der Bevölkerung Salah ad-Dins (rund 26.200 Personen) sind unzureichende ernährt. Für rund 6,17% (rund 87.100 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Salah ad-Din im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten (WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020). Im Jahr 2017 lag der Anteil der Bevölkerung mit Trinkwasserversorgung in Salah ad-Din bei 63,2% (CSO 2018o). Anfang August 2021 kam es in einigen Gebieten des Gouvernements Salah ad-Din zu einem totalem Stromausfall, verursacht durch die häufigen Sabotageakte des IS gegen Strommasten (Kirkuk Now 7.8.2021).
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• IOM - International Organization for Migration (9.2021v): Labour Market Assessment, Baiji District, Salah Al-Din Governorate, https://iraq.iom.int/files/Baiji%20District%20-%20Sala h%20Al-Din%20Governorate.pdf , Zugriff 1.10.2021 • Kirkuk Now (7.8.2021): War of power transmission towers, https://kirkuknow.com/en/new s/66203 , Zugriff 29.9.2021
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Grundversorgung und Wirtschaft in der Kurdischen Region im Irak (KRI)
Letzte Änderung: 15.10.2021
Wirtschaftslage
Wie im gesamten Land ist auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI) das Erdöl die Haupteinnahmequelle und trägt fast 80% zum BIP der Region bei. Die Landwirtschaft macht etwa 10% des BIP aus, der Tourismus 4% und Dienstleistungen und sonstige Industrie 6%. Öl macht auch bis zu 90% der Exporte aus der Region aus (IRIS 5.2021). Die kurdische Regionalregierung (KRG) kann für ihren aufgeblähten öffentlichen Sektor und die Ölindustrie nicht zahlen. Die KRG hat Gehaltszahlungen mehrfach verzögert und im Mai 2021 eine Gehaltskürzung von 21% angekündigt. Darüberhinaus hat sie mehrfach die Zahlungen verpasst. Eine Studie der Vereinten Nationen hat ergeben, dass diese Probleme zu einem Rückgang des monatlichen Familieneinkommens in Kurdistan von 31% führten, höher als im Rest des Landes (Wing 9.6.2021).
Die Arbeitslosenrate in der KRI wird für das Jahr 2018 auf 9% geschätzt. Dabei lag im Jahr 2017 die Arbeitslosigkeit bei Männern bei 8,1% im Vergleich zu 20,1% bei Frauen (KRSO 2021). Die Arbeitsmarktbeteiligung wird in der Kurdischen Region im Irak (KRI) auf etwa 40% geschätzt (ILO 2021).
Nahrungsmittelversorgung
Grundnahrungsmittel sind in allen Gouvernements verfügbar. Das Lebensmittelrationierungsprogramm (PDS) des irakischen Handelsministeriums ist noch nicht abgeschlossen (IOM 18.6.2021). Ungünstige Niederschlagsmengen haben 2021 die Getreideproduktion im Nordirak und auch in der KRI beeinträchtigt. Die Ernte soll rund 50% unter jener im Jahr 2020 liegen (FAO 11.6.2021).
Wasserversorgung
In der KRI herrscht wegen einer Dürre, im Zusammenspiel mit Staudämmen im Iran, Wasserknappheit. Die KRG hat deswegen zusätzliche 1,7 Millionen Dollar (2,5 Mrd IQD) für Trinkwasser bereitgestellt (Rudaw 5.8.2021; vergleiche Rudaw 4.7.2021). Grundsätzlich ist Trinkwasser in allen Gouvernements verfügbar (IOM 18.6.2021).
Stromversorgung
Die Stromversorgung in der KRI erfolgt durch Betrieb eigener Kraftwerke (AA 14.10.2020). Der Großteil des Stroms wird durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe erzeugt. Etwa 9% des Stroms werden aus Wasserkraft gewonnen (Rudaw 18.9.2021).
Die Stromversorgung unterliegt erheblichen Schwankungen (AA 14.10.2020). Sie ist nur für bis zu 20 Stunden pro Tag gegeben (AA 14.10.2020; vergleiche K24 15.5.2021). Im Sommer 2021 konnten die drei kurdischen Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah nur etwa zwölf Stunden lang Strom am Tag liefern. Darüber hinaus werden Generatoren verwendet, die jedoch nicht den gesamten Bedarf abdecken können (Anadolu 8.7.2021). Insbesondere im Sommer und im Winter ist der Strombedarf wegen Klimatisierung bzw. Heizung höher (AA 14.10.2020). Nach Angaben des KRG-Ministeriums für Elektrizität beträgt der Strombedarf im Sommer mindestens 4.500 MW (Rudaw 3.7.2021). Es werden jedoch nur bis zu 3.500 MW Strom produziert (K24 15.5.2021). Die Kraftwerke laufen jedoch vor allem wegen Brennstoffmangel nicht mit voller Kapazität (Rudaw 3.7.2021). Die KRG plant die Steigerung der Stromversorgung durch die Implementierung mehrerer Energieprojekte (K24 15.5.2021).
Erbil
Einer Umfrage zufolge gehen 29% der befragten Personen in Erbil einer formellen Beschäftigung nach, 28% einer informellen und 42% gingen keiner Beschäftigung nach. Als Gründe für Arbeitslosigkeit werden ein Mangel an Startkapital, der Lockdown aufgrund von COVID-19 (22%) und ein Mangel an verfügbaren Jobs genannt (DRC 4.2020). Die Arbeitslosenrate in Erbil wird für das Jahr 2017 auf 9,2% geschätzt (KRSO 2021). Die Arbeitsmarktbeteiligung in Erbil lag 2018 bei 65,9% bei den Männern und 14,8% bei den Frauen (IOM 7.2018; vergleiche EASO 9.2020). Laut einer Umfrage von Februar 2021 im Distrikt Khabat liegt das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte bei 244 USD (~356.590 IQD). Der Lohn für ungelernte Arbeiter reicht von 34 bis 500 USD (~49.690 bis 730.710 IQD), wobei der Durchschnitt bei 168 USD liegt (~245.520 IQD). Etwa 10% der Frauen sind berufstätig (IOM 9.2021w). Im Distrikt Makhmur mussten viele Arbeitgeber aufgrund der COVID-19-Pandemie vorübergehend schließen. Nach der Wiedereröffnung fiel die Nachfrage geringer aus und Arbeitgeber haben etwa 73% der Beschäftigten gehalten. Das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte ist im Vergleich zu vor COVID-19 um etwa 20 USD gesunken von 335 USD (~489.570 IQD) auf 315 (~460.350 IQD). Bei ungelernten Arbeitskräften ist der Durchschnittslohn jedoch gestiegen, von 159 USD (~232.360 IQD) auf 171 USD (~249.900 IQD) (IOM 9.2021x).
Im Jahr 2018 waren etwa 5,32% der Bevölkerung des Gouvernements Erbil armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). Einer anderen Quelle zufolge betrug die Armutsrate in Erbil im Jahr 2018 6,7% (KRSO 2021). Etwa 2,63% der Bevölkerung Erbils (rund 128.700 Personen) sind unzureichend ernährt. Für rund 3,3% (rund 77.200 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Erbil im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten (WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020).
Das Gouvernement Erbil und insbesondere die Stadt Erbil sind wegen der Dürre des Sommers 2021 besonders hart von Wasserknappheit betroffen (Rudaw 4.7.2021). Der Zab-Fluss und das Brunnenwasser der Stadt Erbil sind durch die Dürre beeinträchtigt, weswegen Trinkwasser seit Juli 2021 knapp ist. Die Bewohner sind gezwungen, abgefülltes Wasser zu kaufen. Eine Tankfüllung kostet über 50 Dollar (~72.970 IQD) und reicht für höchstens eine Woche. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Haushalts in der KRI liegt nach Angaben von NRT bei weniger als 250 Dollar (~364.870 IQD) pro Monat (Al Monitor 12.8.2021). Wasserknappheit tritt jedes Jahr erneut auf (Al Monitor 29.7.2021).
In Erbil herrscht Stromknappheit (Rudaw 4.7.2021). Stromausfälle beeinträchtigen auch die Wasserversorgung in Erbil (Al-Monitor 29.7.2021).
Dohuk
Die Arbeitslosenrate in Dohuk wird für das Jahr 2017 auf 13,8% geschätzt (KRSO 2021). Einer Umfrage vom Februar 2021 im Distrikt Zakho zufolge ist die Beschäftigungsquote aufgrund der COVID-19-Pandemie zurückgegangen, welche auch Auswirkungen auf das Durchschnittsgehalt hat. So ist das Durchschnittsgehalt für Fachkräfte von 418 USD (~610.870 IQD) auf 356 USD (~520.260 IQD) gefallen. Ungelernte Arbeitnehmer verdienten hingegen unverändert durchschnittlich 254 USD (~371.200 IQD).
Im Jahr 2018 waren etwa 0,98% der Bevölkerung des Gouvernements Dohuk von akuter Armut betroffen und 2,95% waren armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). Einer anderen Quelle zufolge betrug die Armutsrate in Dohuk im Jahr 2018 8,6% (KRSO 2021). Etwa 5,49% der Bevölkerung Dohuks (rund 330.900 Personen) hat unzureichende Nahrungsaufnahme. Für rund 34,33% (rund 615.700 Personen) ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Dohuk im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten (WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020).
Die Wasserversorgung im Gouvernement Dohuk ist stabilisiert und Flüchtlinge, Binnenvertriebene und die Bevölkerung in den Aufnahmegemeinden haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (GIZ 2021)
Aufgrund von Stromversorgungsproblemen hat die Regierung des Gouvernements eine Vereinbarung mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) unterzeichnet, um einen Solarenergiepark zu errichten (Al Monitor 20.2.2020). Bewohner des Deralok Sub-Distrikt berichten, dass sie nur etwa zehn bis zwölf Stunden Energie aus dem nationalen Stromnetz erhalten (Rudaw 3.7.2021)..
Sulaymaniyah
Schlechte Infrastruktur und Korruption behindern die wirtschaftliche Entwicklung des Gouvernements Sulaymaniyah (IOM 9.2021). Die Arbeitslosenrate in Sulaymaniyah wird für das Jahr 2017 auf 9,4% geschätzt (KRSO 2021). Im Jahr 2018 waren etwa 0,28% der Bevölkerung des Gouvernements Sulaymaniyah von akuter Armut betroffen und 2,69% waren armutsgefährdet (OPHI 10.9.2020). Einer anderen Quelle zufolge betrug die Armutsrate in Sulaymaniyah im Jahr 2018 4,46% (KRSO 2021).
Einer Umfrage vom Febraur 2021 im Distrikt Halabja zufolge liegen die Durchschnittsgehälter für Facharbeiter bei 273 USD (~398.440 IQD) und reichen von 82 USD bis über 600 USD (~119.680 bis 875.690 IQD). Die Durchschnittslöhne für ungelernte Arbeitskräfte waren vor COVID-19 mit 290 USD (~423.250 IQD) höher und liegen nach den letzten Schätzungen der Arbeitgeber derzeit bei etwa 221 USD (~322.550). Allerdings gab nur die Hälfte der Arbeitgeber an, ungelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen (IOM 9.2021). Im Distrikt Kalar verdienen Fachkräfte durchschnittlich 396 USD (~539.260 IQD) und reichen von etwa 100 USD bis 1000 USD (~146.140 bis 1.461.410 IQD). Mehr als zwei Drittel der Arbeitgeber gaben an, auch ungelernte Arbeitskräfte zu beschäftigen, die im Durchschnitt 241 USD (~352.200 IQD) erhielten, wobei die Löhne zwischen 100 und 600 USD (~146.140 bis 876.850 IQD) lagen (IOM 9.2021A).
Für je etwa 15,2% der Bevölkerung Sulaymaniyahs (rund 30.000 Personen) ist die Nahrungsaufnahme unzureichend, bzw. ist die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs kritisch (WFP 9.2021). Bei der Verfügbarkeit von Lebensmitteln und anderen Waren hat Sulaymaniyah im Zuge einer Untersuchung vom Juli 2020 zehn von zehn möglichen Punkten erhalten (WB, WFP, FAO, IFAD 9.2020).
Der Fluss Chami Rokhana im Süden der Sulaymaniyahs ist aufgrund der Dürre und wegen iranischer Dammbauten ausgedrocknet (Rudaw 5.8.2021). Vertreter der Gesundheitsbehörden warnen davor, dass durch die Wasserknappheit in Sulaymaniyah Krankheiten, die durch verunreinigtes Wasser verursacht werden, zunehmen könnten (K24 10.6.2021).
Im Jahr 2020 wurde laut der Generaldirektion für Elektrizitätsversorgung in Sulaymaniyah täglich Strom für 20 Stunden geliefert. Auch für 2021 wurde diese Menge anvisiert, jedoch sorgte rückgängiger Wasserstand dafür, dass die Kraftwerke am Dukan-Damm und in Darbandikhan nicht wie bisher Energie produzieren konnten (Shafaq 20.5.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (14.10.2020): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: März 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2040689/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28Stand_M%C3%A4rz_2020%29%2C_14.10.2020.pdf, Zugriff 3.3.2021
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Rückkehr
Letzte Änderung: 15.10.2021
Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten, auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, unter anderem von ihrer ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort (AA 22.1.2021). 132 Zu den größten Herausforderung für Rückkehrer zählen die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychische und psychologische Probleme, sowie negative Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018). Reintegration und Sicherheit werden durch Schutz, Stabilisierung, Rechtsstaatlichkeit und sozialen Zusammenhalt beeinflusst. An vielen Orten bleiben auch nach der Niederlage des sog. Islamischen Staates (IS) Quellen der Gewalt bestehen, die Rückkehrer betreffen können. In einigen Fällen kann Gewalt sogar durch die tatsächliche Rückkehr verschiedener Bevölkerungsgruppen an einen bestimmten Ort geschürt werden. Gewaltrisiken bleiben anhaltende Angriffe des IS oder anderer bewaffneter Gruppen, aber auch soziale Konflikte in Form von ethnischkonfessionellen oder stammesbedingten Spannungen und Gewalt, darunter auch Racheakte. Auch politische Konkurrenz spielt bei diesem Risiko eine Rolle, da verschiedene Sicherheitsakteure in der fragmentierten Sicherheitskonfiguration nach dem Konflikt im Irak um territoriale Vorherrschaft ringen (IOM 2021). Eine Untersuchung von 2020, zu der fast 7.000 Binnenvertriebene und 2.700 Rückkehrer befragt wurden, hat ergeben, dass die Zahl der Rückkehrerhaushalte, die mehr als 20% ihrer monatlichen Gesamtausgaben für Gesundheit oder Medikamente ausgeben, im Jahr 2020 stark, auf 38% gestiegen ist (im Vergleich zu 7% im Jahr 2019) (IOM 18.6.2021). Hinsichtlich der Beschäftigung berichteten etwa 12% der befragten Rückkehrerhaushalte von vorübergehender und 1% von dauerhafter COVID-19-bedingter Arbeitslosigkeit. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) waren mehrere Distrikte im Gouvernement Erbil besonders von COVID-19-bedingter Arbeitslosigkeit betroffen. 71% der IDP- und Rückkehrerhaushalte im Distrikt Rawanduz meldeten vorübergehende oder dauerhafte Arbeitslosigkeit aufgrund von COVID-19, im Distrkt Shaqlawa waren es 56%.
Im Gouvernement Sulaymaniyah war der Distrikt Dokan mit 52% am stärksten betroffen. Im föderalen Irak war der Distrikt Al-Kut im Gouvernement Wassit am stärksten von COVID-19-bedingter Arbeitslosigkeit betroffen. 56% seiner IDP- und Rückkehrerhaushalte meldeten vorübergehende oder dauerhafte Arbeitslosigkeit aufgrund von COVID-19 (IOM 18.6.2021). Im Jahr 2020 hatten 59% der Rückkehrer ein durchschnittliches Monatseinkommen von weniger als 480.000 Irakischen Dinar (IQD) (~ 267,90 EUR) (im Vergleich zu 55% im Jahr 2019 und 71% im Jahr 2018). Bei Rückkehrerhaushalten, die von alleinstehenden Frauen geführten wurden, lag der Anteil sogar bei 79%. In der KRI waren die Haushaltseinkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrerhaushalten im Jahr 2020 besonders niedrig: In den Bezirken Chamchamal, Halabcha, Rania und und Dokan im Gouvernement Sulaymaniyah und im Bezirk Koysinjag im Gouvernement Erbil hatten im Berichtszeitraum der MCNA-VIII-Erhebung (Juli - September 2021) zwischen 92% und 93% der Rückkehrerhaushalte ein Monatseinkommen von weniger als 480.000 IQD (IOM 18.6.2021). Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussein sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 1.2021d).
Um die Rückkehr von Flüchtlingen in die Herkunftsgebiete zu erleichtern, fianziert das UNDP die Umsetzung von Projekten zur Wiederherstellung der Infrastruktur, der Existenzgrundlagen und des sozialen Zusammenhalts in Anbar, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din. Darüber hinaus führte das Programm der Vereinten Nationen für Won- und Siedlungswesen (UN-Habitat) Schnellbewertungen von zerstörten Häusern in Gebieten von Ninewa durch und unterstützte 2.190 Familien, deren Häuser zerstört wurden, bei der Registrierung von Entschädigungsansprüchen. UN-Habitat stellte weiterhin Wohnberechtigungsscheine für jesidische Rückkehrer in Sinjar aus (UNSC 3.8.2021). Es gibt mehrere Organisationen, die Unterstützung bei der Wiedereingliederung anbieten, darunter ETTC (Europäisches Technologie- und Ausbildungszentrum), IOM (Internationale Organisation für Migration) und GMAC (Deutsche Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration). Ebenso gibt es mehrere NGOs, die bedürftigen Menschen finanzielle und administrative Unterstützung bereitstellen sowie Institutionen, die Darlehen für Rückkehrer anbieten. Beispielsweise Bright Future Institution in Erbil, die Al-Thiqa Bank, CHF International/Vitas Iraq, die National Bank of Iraq, die Al-Rasheed Bank und die Byblos Bank (IOM 18.6.2021). In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 22.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf , Zugriff 3.3.2021
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2021d): Irak - Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/ , Zugriff 16.3.2021 [Anm.: Der Link ist nicht mehr abrufbar. Die Daten sind jedoch bei der Staatendokumentation archiviert und einsehbar.]
• IOM - International Organization for Migration (18.6.2021): Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Iraq and in the Kurdish Region, requested by the Austrian Federal Office for Immigration and Asylum, Zugriff 21.6.2021
• IOM - International Organization for Migration (2021): Home Again? Categorising Obstacles to Returnee Reintegration in Iraq, https://iraq.iom.int/files/IOM%20Iraq%20Home%2 0Again%2C%20Categorising%20Obstacles%20to%20Returnee%20Reintegration%20i n%20Iraq.pdf , Zugriff 13.3.2021
• IOM - International Organization for Migration (2.2018): Iraqi returnees from Europe: A snapshot report on Iraqi Nationals upon return in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb. int/files/resources/DP.1635%20-%20Iraq_Returnees_Snapshot-Report%20-%20V5.pdf , Zugriff 21.6.2021
• UNSC - UN Security Council (3.8.2021): Implementation of resolution 2576 (2021); Report of the Secretary-General [S/2021/700], https://www.ecoi.net/en/file/local/2058500/S_202 1_700_E.pdf , Zugriff 15.5.2021 134
Staatsbürgerschaft und Dokumente
Letzte Änderung: 15.10.2021
Artikel 18 der irakischen Verfassung besagt, dass jede Person, die zumindest über einen irakischen Elternteil verfügt, die Staatsbürgerschaft erhält und somit Anspruch auf Ausweispapiere hat (Irakische Nationalversammlung 15.10.2005; vergleiche USDOS 30.3.2021). Dies wird in Artikel 3 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2006 bestätigt, jedoch wird in Artikel 4 darauf hingewiesen, dass Personen, die außerhalb des Iraks von einer irakischen Mutter geboren werden und deren Vater entweder unbekannt oder staatenlos ist, vom Minister für die irakischen Staatsbürgerschaft in Betracht gezogen werden können. Dies geschieht, wenn sich die besagte Person innerhalb eines Jahres nach ihrer Vollmündigkeit für die irakische Staatsbürgerschaft entscheidet. Wenn dies aus schwierigen Gründen unmöglich ist, kann die Person trotzdem noch um die irakische Staatsbürgerschaft ansuchen. In jedem Fall muss der Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Bewerbung aber im Irak ansässig sein (Irakische Nationalversammlung 7.3.2006). Eine Doppelstaatsbürgerschaft ist per Staatsbürgerschaftsgesetz No.26/2006, Artikel 10 erlaubt (RoI MoFA 2021b). Für die Ausstellung einer Geburtsurkunde für ein im Ausland geborenes Kind ist eine Registrierung bei der Konsularabteilung einer irakischen Botschaft notwendig. Der Vater der Kindes muss in der Konsularabteilung der Botschaft anwesend sein. Im Fall seines Ablebens ist der Ehevertrag ein erforderliches Dokument, um die Vaterschaft des Kindes zu belegen. Innerhalb von zwei Monaten nach dem Geburtstermin muss eine beglaubigte Geburtsbestätigung von der zuständigen Behörde des Landes, in dem die Geburt erfolgte, vorgelegt werden. Bei Verspätung ist eine Gebühr für die verzögerte Registrierung in Höhe von zehntausend irakischen Dinar [Anm.: 5,69 € (Stand April.2021)] zu bezahlen (RoI MoFA 2021a). Laut dem irakischen Passgesetz kann jede Person über 18 Jahren, unabhängig von ihrem Geschlecht und ohne Erlaubnis des Vormunds einen Pass erhalten (Irakisches Innenministerium 2017). Ein Personalausweis wird etwa für den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung und Wohnen benötigt (USDOS 30.3.2021; vergleiche FIS 17.6.2019). Er wird auch für die Beantragung anderer amtlicher Dokumente, wie den Reisepass, benötigt (FIS 17.6.2019). Im Oktober 2015 ist ein neues nationales Ausweisgesetz in Kraft getreten. Laut diesem soll ein neuer biometrischer Personalausweis vier Karten ersetzen: den alten Personalausweis, den Staatsangehörigkeitsnachweis, den Aufenthaltsnachweis und den Lebensmittelausweis. Seit der Jahreswende 2015/2016 werden die neuen Ausweise sukzessive ausgestellt, bisher mehr als zehn Millionen (FIS 17.6.2019). In den seit 2016 ausgestellten Personalausweisen ist die Religionszugehörigkeit des Inhabers nicht mehr vermerkt, obwohl bei der Online-Beantragung immer noch nach dieser Information gefragt wird, und ein Datenchip auf dem Ausweis weiterhin Angaben zur Religion enthält (USDOS 12.5.2021). Viele Iraker besitzen nach wie vor ihren alten Personalausweis und den erforderlichen Staatsbürgerschaftsnachweis. Zwar haben die alten Ausweise kein Ablaufdatum, doch werden sie laut irakischen Behörden im Jahr 2024 ihre Gültigkeit verlieren. Die alten Ausweise werden dabei nach wie vor an Orten ausgegeben, an denen die notwendigen Gegebenheiten für die Ausstellung der neuen Dokumente nicht vorhanden sind. Da Ausweise in der Regel nur an 135 den Orten der Aufenthaltsmeldung ausgestellt werden, benötigen IDPs häufig die Hilfe anderer, um zumindest an einen alten Ausweis zu kommen (FIS 17.6.2019). Jedoch können Frauen ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters weder einen Reisepass beantragen (USDOS 30.3.2021; vergleiche FH 3.3.2021) noch einen Personalausweis bekommen, der etwa für den Zugang zu Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung und Wohnen benötigt wird (USDOS 30.3.2021). Auch Personen, denen ein Naheverhältnis zum sog. Islamischen Staat (IS) vorgeworfen wird, in der Regel aufgrund ihres Familiennamens, ihrer Stammeszugehörigkeit oder ihres Herkunftsgebiets, sind von Auswirkungen der Verweigerung eines Passes betroffen (HRW 13.1.2021). Der sog. IS konfiszierte und zerstörte routinemäßig zivile und andere staatlich ausgestellte Dokumente und stellte stattdessen eigene Dokumente aus, die vom irakischen Staat nicht anerkannt werden. Heiratsurkunden, die in den vom sog. IS kontrollierten Gebieten ausgestellt wurden, werden zum Beispiel von der irakischen Regierung nicht anerkannt (CCiC 1.4.2021; vfl. NRC 4.2019).
Viele Familien haben ihre Dokumente während der Kämpfe verloren oder sie wurden von Sicherheitskräften konfisziert - entweder nachdem sie aus den vom IS kontrollierten Gebieten geflohen waren oder als sie in den Lagern für Binnenvertriebene (IDPs) ankamen. Fehlende Sicherheitsfreigaben hindern Familien daran, zivile Dokumente zu erhalten oder zu erneuern. Bis heute fehlen schätzungsweise 37.980 Irakern, die in Binnenvertriebenenlagern leben, diverse zivile Dokumente (CCiC 1.4.2021). Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind in Umlauf. Zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 22.1.2021).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.1.2021): Auswärtiges Amt, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), https://www. ecoi.net/en/file/local/2057645/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_% C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Irak_%28St and_Januar_2021%29%2C_22.01.2021.pdf ,Zugriff 3.3.2021
• CCiC - Center for Civilians in Conflict (1.4.2021): Ignoring Iraq’s Most Vulnerable: The Plight of Displaced Persons, https://civiliansinconflict.org/wp-content/uploads/2021/04/C IVIC_Iraq_Report_Final-Web.pdf , Zugriff 8.6.2021
• FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 – Iraq, https://www.ecoi.net /en/document/2046520.html , Zugriff 3.3.2021
• FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (17.6.2019): Irak: Tiendonhankintamatka Bagdadiin Helmikuussa 2019 Paluut Kotialueille (Entisille ISIS-Alueille); Ajankohtaista Irakilaisista Asiakirjoista, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Irak+Tiedonhankin tamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueill e%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf/c5019f7f-e3f7-981b-7cea-3edc 1303aa78/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialue ille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf , Zugriff 13.3.2020 136
• HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Iraq, https://www.ecoi.net /de/dokument/2043505.html , Zugriff 10.2.2021
• Irakische Nationalversammlung [Irak] (9.9.2015): Iraq: Passports Law (2015), inoffizielle englische Übersetzung, https://www.refworld.org/docid/5c755e247.html , Zugriff 10.2.2021
• Irakische Nationalversammlung [Irak] (7.3.2006): Iraqi Nationality Law, Law 26 of 2006,inoffizielle englische Übersetzung, https://www.refworld.org/docid/4b1e364c2.html , Zugriff 10.2.2021
• Irakische Nationalversammlung [Irak] (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, inoffizielle englische Übersetzung, http://www.refworld.org/topic,50ffbce524d,50ffbce525 c,454f50804,0,,LEGISLATION,IRQ.html , Zugriff 10.2.2021
• NRC - Norwegian Refugee Council [Norwegen] (4.2019): Barriers from birth: Undocumented children in Iraq sentenced to a life on the margins, https://reliefweb.int/sites/reliefweb. int/files/resources/barriers-from-birth---report.pdf , 1.4.2021
• RoI MoFA - Republic of Iraq, Ministry of Foreign Affairs [Irak] (2021a): Birth Certificate, https://www.mofa.gov.iq/birth-certificate , Zugriff 3.3.2021
• RoI MoFA - Republic of Iraq, Ministry of Foreign Affairs [Irak] (2021b): Passport Issuance, https://www.mofa.gov.iq/passport-issuance , Zugriff 8.6.2021
• USDOS - US Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on International Religious Freedom: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2051589.html , Zugriff 15.5.2021 • USDOS - US Department of State [USA] (30.3.2021): 2020 Country Report on Human Rights Practices: Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2048100.html , Zugriff 1.4.2021
Aus dem im Rahmen der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachten Referat von Inga ROGG: Notiz Irak, die Lage in den kurdischen Gebieten, vom 04.12.2018 ergibt sich:
Hintergrund: Der Nordirak 1991 bis 2003
Viele und vor allem die Kurden behaupten, der Irak sei ein gescheiterter Staat. Fast jeder Kurde sagt mir, dass Sykes und Picot im Jahre 1916, als sie sich auf neue Grenzen im Nahen Osten einigten, dies ohne Rücksicht auf die Realitäten und vor allem auf die Kurden taten. Dadurch sei «Gross-Kurdistan», von dem viele Kurden träumen, geteilt worden. Später, als Woodrow Wilson seinen 14-Punkte-Plan aufstellte, sei ihnen ein eigener Staat versprochen worden, ein Versprechen, das nicht erfüllt worden sei. Die Realität ist etwas anders, differenzierter, komplizierter. Ich sage das so, weil es frustriert, dass historische Fakten nicht darüber entscheiden, wie sich Konflikte entwickeln. Sie entscheiden vor allem nicht darüber, wie sich Minderheiten, Mehrheiten im Nahen Osten definieren. Den kurdischen Nationalismus und das kurdische Unabhängigkeitsstreben gibt es. Im Irak und selbst in der Türkei, wo viele Kurden mit minimalen Rechten zufrieden wären, wird Ihnen jeder Kurde auf die Frage «Wollt ihr einen eigenen Staat?» antworten: «Das ist unser grosser Traum.» Solange es nicht zumindest eine gewisse Form der Autonomie oder eine sonstige Festschreibung der Rechte der Kurden gibt, wird es auch im Nahen Osten kurdische Aufstände in irgendeiner Form geben – sei es im Irak, im Iran oder in der Türkei.
Die Kurden im Irak kamen ihrem Ziel, einen eigenen Staat zu gründen, von allen kurdischen Gruppen am nächsten. 1991/92 zog der damalige irakische Präsident Saddam Hussein aus dem Nordirak ab, worauf die Region unter kurdische Verwaltung kam. Darauf bekämpften sich Mitte der 1990er Jahre die beiden grossen kurdischen Parteien – die Kurdistan Democratic Party (KDP) von Masud Barzani und die Patriotic Union of Kurdistan (PUK) von Jalal Talabani – gegenseitig. So viel zur kurdischen Einheit. Unter dem Druck der US-Amerikaner legten die Kurden den Konflikt zwischen KDP und PUK bei. Wirklich Frieden gab es in den kurdischen Gebieten jedoch nicht. Es gab einen Waffenstillstand und zwei getrennte Verwaltungen: Die eine in er heutigen Regionalhauptstadt Erbil sitzend, die andere in Suleimaniya. Suleimaniya im Osten der Region ist bis heute PUK-Hochburg. Der Westen um Erbil und der Norden um Dohuk sind KDP-Hochburgen. Der Konflikt war eingefroren.
Als die US-Amerikaner Saddam 2003 stürzten, wurden die Kurden in die Entwicklung des neuen Staates (des «Post-Saddam-Iraks») eingebunden. Die Kurden haben eine sehr wichtige Rolle bei der Ausarbeitung der Verfassung gespielt. Sie haben hohe Regierungspositionen eingenommen, z. B. Ministerämter oder in den Sicherheitskräften. Den innerkurdischen Konflikt exportierten PUK und KDP in gewisser Weise nach Bagdad. Talabani wurde Staatspräsident des Iraks, und Barzani Präsident von Kurdistan, in der irakischen Verfassung nun offiziell als förderale «Region Kurdistan» anerkannt. Die innerkurdische Machtfrage zwischen PUK und KDP war damit erst einmal gelöst.
Die «umstrittenen Gebiete» und die irakische Region Kurdistan
Nicht gelöst wurde mit dieser Neuordnung und der Verfassung von 2005 die grosse Streitfrage, aufgrund derer alle kurdischen Aufstände im Irak niedergeschlagen worden sind und an der eine Lösung des Konfliktes mit dem Saddam-Regime gescheitert war: die Frage der «umstrittenen Gebiete» und dabei vor allem von Kirkuk. Die Kurden betrachten Kirkuk, wo ausser Kurden auch Araber und Turkmenen leben, als kurdische Stadt. In den letzten 50 Jahren haben sie verschiedene Anläufe mit dem Ziel unternommen, Kirkuk an Kurdistan anzugliedern. Der Widerstand der US-Amerikaner war jedoch viel zu gross. Man einigte sich darauf auf einen «Normalisierungsprozess» einzuleiten, welcher in Artikel 140 der Verfassung enthalten ist. Saddam Hussein hatte Araber angesiedelt, Kurden waren vertrieben, kurdische Kleinstädte und Dörfer im Umland zerstört worden («Arabisierung»). Dieses Unrecht sollte wiedergutgemacht werden. Später sollte ein Zensus abgehalten werden, da die letzte Volkszählung 1957 stattgefunden hatte. Auf dieser Basis sollte ein Referendum darüber abgehalten werden, ob Kirkuk Bagdad unterstehen oder Teil der Region Kurdistan werden soll. Die Kurden beklagen, dass Artikel 140 nie umgesetzt wurde. Das ist nicht ganz richtig. Er wurde zum Teil umgesetzt. Um das erlittene Unrecht «wiedergutzumachen», vertrieben die Kurden teilweise Araber, die dort angesiedelt und deren Kinder in Kirkuk geboren worden waren, aus Kirkuk. In dieselbe Zeit fällt das Gemisch von Aufstand, Unruhen, Anschlägen, welches den Boden für den Aufstieg der Terrororganisation al-Qaida im Irak führte. Den US-Amerikanern ging es vor allem darum zu verhindern, dass Kirkuk explodiert, weshalb sie die Kurden gewähren liessen.
Seit den Lokalwahlen 2005 waren die Kurden an der Provinzregierung in Kirkuk beteiligt. Am Wahltag wurden massenhaft Kurden aus der Region Kurdistan nach Kirkuk geschickt. Ich war an mehreren Wahlgängen dabei und habe das gesehen. Kurden erzählten mir stolz: «Ich habe zwanzigmal gewählt. » Auf diese Weise gewannen sie einen überproportional hohen Anteil an Sitzen. Diesen Einfluss haben sie genutzt, um zentrale Posten (z. B. Gouverneur) zu besetzen. Gleichzeitig musste auch dem Konflikt zwischen KDP und PUK Rechnung getragen werden. Wurde z. B. ein PUK-Mitglied Polizeichef, so besetzte die KDP den Posten des Geheimdienstchefs.
Zeitgleich haben die Kurden eine parallele Sicherheitsinfrastruktur in Kirkuk aufgebaut. Sunniten und Araber wurden unter dem Vorwurf des Terrorismus verhaftet und verschwanden zum Teil jahrelang. Man konnte Familien treffen, die nach ihren Angehörigen suchten, dabei von Pontius zu Pilatus geschickt wurden, ohne diese zu finden. Die Verhafteten wurden aber nicht einfach umgebracht, wie das jetzt im Zuge des Kriegs gegen die Organisation «Islamischer Staat» (IS) zum Teil passiert ist, wo Gefangene einfach erschossen wurden. Vielmehr verschwanden sie einfach, und man wusste nicht, wo sie waren. Damit haben die Kurden in Kirkuk zur Destabilisierung des Iraks beigetragen, indem sie den Unmut der Sunniten mitschürten. Ungefähr 20 km südwestlich von Kirkuk liegt die Kreisstadt Hawija, welche eine Hochburg der Untergrundkämpfer war. Von dort aus war es einfach, Autobomben nach Kirkuk zu schicken. Indem die Kurden mit harter Hand gegen die Araber vorgingen, um zu ihrem Recht zu kommen, haben sie diesen sunnitischen Aufstand und damit auch den sunnitischen Terrorismus mitgeschürt.
Von den «umstrittenen Gebieten» zu unterscheiden ist die Region Kurdistan. Im Prinzip handelt es sich dabei um die drei Provinzen Erbil, Dohuk und Suleimaniya, welche von den Kurden kontrolliert wurden, als die US-Amerikaner 2003 in den Irak einmarschierten. Kurdistan ist als eigene Region in der Verfassung anerkannt und mehr als ein Autonomiegebiet. Sie ist eine Art Freistaat. Im Umland von Mosul und Kirkuk gibt es Gegenden, die mehrheitlich kurdisch sind. Weder Araber noch Turkmenen haben dort mit der kurdischen Kontrolle ein Problem. In Kirkuk sowie den ethnisch und religiös gemischten Gebieten gibt es dagegen Widerstand, da die Kurden hier mit ihrer harten Politik für Unmut gesorgt haben. Nach 2003 blühte Kurdistan auf. Die Kurdische Regionalregierung (KRG) betreibt heute eine eigene Ölpolitik und schliesst Ölverträge unabhängig von Bagdad ab. Firmen und Investitionen kamen aus dem Ausland, wodurch sehr viel Geld in die Region floss. Manche Araber sagen: «Wenn man nach Bagdad kommt, funktioniert nichts. Wenn man nach Kurdistan kommt, funktionieren die Dinge.» Die Grundversorgung war zwar jahrelang nicht gewährleistet. Aber die Verwaltung funktioniert grundsätzlich und man sah den Wiederaufbau – im Gegensatz zur Lage in Kirkuk. Obwohl die Stadt neben Basra die zweitwichtigste Ölproduzentin des Landes ist, hat es in Kirkuk jahrelang gedauert, bis irgendetwas vorwärtsging. In Kurdistan hat die Stabilität den Konflikt zwischen PUK und KDP zwar nicht gelöst, aber es gab Wahlen, das Parlament funktionierte, beide Parteien haben gemeinsam regiert. Sobald man die Region verliess, änderte sich das Bild: Dort stellten die Kurden keinen Stabilitätsfaktor, sondern einen destabilisierenden Faktor dar – was sie meines Erachtens auch bis heute weiter tun. Auch die Nachbarländer spielen eine Rolle: Der Iran im Osten, die Türkei im Norden, die sunnitischen Herrscher am Golf, die jeweils «ihre» Parteien oder Ethnien unterstützten und damit die innerethnischen oder zwischenreligiösen Konflikte mitgeschürt haben.
Ursprünge des Wiedererstarkens der al-Qaida
Nach dem Abzug der US-Amerikaner herrschte bei den Schiiten die Angst vor einem wiedererstarkenden, autoritären, sunnitischen Staat. Kaum waren die US-Soldaten im Dezember 2011 abgezogen, ging Preminierminister Nuri Maliki (2006-2014), ein schiitischer Hardliner, hart gegen die Sunniten vor. Es ging um die eigene Machtsicherung im schiitisch-sunnitischen Konflikt, wobei Maliki zu keinerlei Kompromissen bereit war. Dies zeigte sich bei seinem Umgang mit sunnitischen Protesten in der westirakischen Provinz Anbar, vor allem aber in Hawija. Maliki liess diese Proteste niedergeschlagen. In Hawija kamen dabei über 50 Personen ums Leben.
Diese Politik Bagdads – Verteidigung der schiitischen Vorherrschaft – gepaart mit den Anstrengungen der Kurden, die «umstrittenen Gebiete» unter ihre Kontrolle zu bringen und diese zu zementieren, haben zur Radikalisierung des sunnitischen Aufstandes und dem Erstarken der al-Qaida beigetragen. Die Terrororganisation war beim Abzug der US-Amerikaner weitgehend geschlagen. Nur in einem kleinen Tal am Euphrat im West-Irak, an der irakisch-syrischen Grenze, gab es noch versprengte al-Qaida-Zellen. Gebannt war die von ihr ausgehende Gefahr hingegen nicht. Wäre man politische Kompromisse eingegangen und hätte man in den Wiederaufbau investiert, so hätte sich die Situation eher positiv entwickelt. Stattdessen verfolgten sowohl Maliki wie die Kurden ihre eigenen Ziele.
Zu diesen innerirakischen Entwicklungen kamen die Aufstände in der arabischen Welt, besonders in Syrien (ab 2011). Die Schiiten im Irak gerieten in Panik, da sie Angst vor einem Rollback im eigenen Land hatten. Diese Kombination aus inner- und ausserirakischen Faktoren hat dazu geführt, dass al-Qaida im Irak wieder erstarken konnte: Führungskräfte der al-Qaida wurden aus Gefängnissen befreit und konnten sich reorganisieren. Andere sunnitische Gruppen aus dem Umfeld des ehemaligen Regimes taten sich mit der al-Qaida zusammen. Auf diese Weise entstand die Gruppierung, welche wir heute als «Islamischer Staat» (IS) kennen.
Der Fall Mosuls (2014) und die Folgen
Ende April 2014 wurde im Irak ein neues Parlament gewählt. Wir Beobachter wussten, dass der Irak auf der Kippe stand und befürchteten, ein ähnlich gravierendes Ereignis wie der Anschlag 2006 auf den Schrein in Samarra, ein grosses, wichtiges Heiligtum der Schiiten nördlich von Bagdad, könnte zu einer Explosion der Spannungen führen. Im Vergleich zur täglichen Gewalt in Bagdad oder im Irak hatte der Angriff auf dieses symbolisch wichtige Heiligtum zwar nicht so viele Tote gefordert, doch hatte es die Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten entfacht. Die Schleusen des Bürgerkriegs waren aufgebrochen.
2014 hatten wir in Bagdad ein ähnliches Gefühl: Wird es wieder einen Anschlag auf ein schiitisches Heiligtum geben? Wird der gleiche Krieg wie 2006 aufflammen? Unter diesen Vorzeichen fanden die Wahlen vom 30. April 2014 statt und gingen gut über die Bühne. Die Iraker haben viel Erfahrung, unter absolutem Ausnahmezustand zu wählen. Es wird immer gesagt, der Irak sei keine Demokratie. Ich sehe das ein bisschen anders. Die Leute wollen eine Demokratie und nehmen Wahlen ernst. Maliki erzielte mit den schiitischen Parteien zusammen eine Mehrheit.
Damals sagten man über Mosul: «Tagsüber wird die Stadt von der Regierung und nachts von der Qaida kontrolliert. » Als Journalisten hatten wir Probleme, überhaupt in die Stadt hineinzukommen, sofern wir es überhaupt schafften. Nachts bewegte sich da niemand auf der Strasse. Diese war absolut ausgestorben. Schiitische Sicherheitskräfte gängelten die Sunniten an den Checkpoints. In Mosul war eigentlich ein Grossaufgebot von 30'000 Soldaten und Polizisten stationiert: Bundespolizei, Armeeeinheiten, Eliteeinheiten.
Plötzlich mitten in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 2014 - irgendwann zwischen 23 Uhr und 4 Uhr morgens - griffen Extremisten die Stadt an. Die Zahl der Angreifer - 500 ist die höchste Zahl, die ich verifizieren konnte - stand in keinem Verhältnis zu den 30'000 Sicherheitskräften. Aber diese Soldaten und Polizisten sind einfach abgezogen - nicht alle, aber viele. Mir sagten Leute: «Ich bin ins Bett gegangen. Da gab’s noch die Checkpoints. Die Armee war noch da. Ein paar Stunden später guckte ich zum Fenster raus, da war niemand mehr da.» Was war genau passiert? Zum Teil kam der Befehl zum Rückzug von oben. Dennoch gab es Einheiten, die bis zum Schluss gekämpft haben. Generell jedoch zogen sich die irakischen Sicherheitskräfte zurück, was ISIS (wie der «IS» zu jener Zeit hiess) den Weg zur Eroberung der bevölkerungsmässig zweitgrössten Stadt des Landes sowie den Durchmarsch bis Tikrit bahnte. Anbar und der West-Irak waren damals schon seit längerem nicht mehr unter Regierungskontrolle.
Die Regionen nördlich von Mosul, wo viele Christen leben, östlich und westlich der Stadt sowie Sinjar (Siedlungsgebiet der Jesiden) waren offiziell unter der Kontrolle Bagdads. Dort hatte man sich auf gemeinsame Checkpoints mit Peshmerga (wie sich die kurdischen Kämpfer nennen) und irakischen Soldaten geeinigt. Unmittelbar nach dem Fall Mosuls und dem Rückzug der irakischen Sicherheitskräfte aus der Stadt haben die Kurden die «umstrittenen Gebiete» definitiv unter ihre Kontrolle gebracht. Um Mosul herum sind Barzanis Peshmerga vorgerückt, um den Mosul-Staudamm zu besetzen, sodass im Prinzip bis kurz vor Mosul alles kurdisch kontrolliert war. Kirkuk kam komplett unter kurdische Kontrolle, womit die Kurden eigentlich an ihrem Ziel waren. Die Gebiete, die sie für sich beanspruchten, waren jetzt – nicht offiziell, aber faktisch – Teil des kurdischen Teilstaats.
Ich bin Anfang Juni 2014 mit einem Kollegen durch die Ninive-Ebene – so nennt sich das Gebiet um Mosul herum – gefahren. Diese muss man sich so vorstellen: Die Landschaft ist hüglig, sehr weit, abgesehen von kleinen Ortschaften nicht dicht besiedelt, somit nur schwer kontrollierbar. An strategischen Punkten hatten Peshmerga-Einheiten Checkpoints errichtet. Wir fragten den Kommandanten einer Peshmerga-Eliteeinheit: «Wie wollt ihr euch verteidigen, wenn der IS angreift?» «Wir rücken hier nicht ab», lautete die Antwort. Mit stolz geschwellter Brust erklärte man uns: «Wir sind die Peshmerga. Peshmerga heisst ‹die, die dem Tod ins Auge sehen›, und das werden wir auch tun. Wir werden vor diesen Terroristen, keinen Millimeter zurückweichen.» Freiwillige unter den Kurden wurden zu den Waffen gerufen.
Letztlich entstand eine Art unausgesprochenes Gentlemen’s agreement: Die Peshmerga haben den IS nicht angegriffen, und umgekehrt griff der IS die Kurden nicht an, d. h. es gab einen faktischen Waffenstillstand. Mit dem Kollegen fuhr ich bis zum letzten Checkpoint in den Osten Mosuls, von wo wir dem IS zuwinken konnten. Nördlich von Mosul haben wir das gleiche mit Begleitschutz gemacht. Da wurde der IS allerdings etwas nervös, weil zu viele Leute an den Checkpoints waren. Irgendwann rief dann auch jemand von der IS-Seite an und warnte uns vor Scharfschützen. Abgesehen von solchen Vorfällen war es an den Fronten ruhig. In Kirkuk war es so, dass auch die Araber und die Turkmenen froh waren, dass die Peshmerga die Stadt übernommen hatten, weil sie nicht unter IS-Kontrolle kommen wollten. Das haben mir damals alle bescheinigt. Zu diesem Zeitpunkt haben wir auch keine Klagen über illegale Festnahmen gehört.
Zusammengefasst: In Kirkuk waren alle froh, dass die Kurden die Kontrolle übernommen hatten und um Mosul herum herrschte diese Art Waffenstillstand. Als wir der Frontlinie im Juni 2014 entlangfuhren, war uns jedoch auch klar, dass die Peshmerga diese Gebiete nicht würden halten können, sollte der IS sie angreifen.
Der IS-Vorstoss auf Sinjar (August 2014) und die Milizen (al Hashd al-Shabi, Popular Mobilisation Units)
Am 3. August 2014 erfolgte der Grossangriff des IS auf die Jesiden in Sinjar sowie auf die Christen um Mosul, wobei die Terrororganisation fast bis Erbil vorrückte. Fünf Tage später griff der US-amerikanische Präsident Obama in den Konflikt ein, indem er die Bombardierung des IS befahl. Gleichzeitig rückten alle Bewaffneten, die man sich in Kurdistan vorstellen kann, gegen den IS vor. In Sinjar geschah dies vor allen Dingen von Syrien her durch die syrischkurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). Die türkisch-kurdische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hatte schon immer (neben ihrem Hauptquartier in den Qandil-Bergen im Nordosten der Region Kurdistan) einen kleinen Stützpunkt in Sinjar. Nun taten die PKK-Kämpfer und -Kämpferinnen, was jahrelang nicht vorstellbar war: Sie kamen aus den Bergen herunter und kämpften u. a. einen Korridor aus Sinjar nach Syrien frei. Über diesen Umweg konnten viele Jesiden nach Dohuk fliehen. Auch nördlich von Kirkuk beteiligte sich die PKK am Kampf gegen den IS. Darüber hinaus beteiligten sich auch iranisch-kurdische Kämpfer.
Der IS wurde im Irak am Ende unter hohen Verlusten besiegt. Er kontrolliert heute kein Territorium mehr. Die irakische Antiterroreinheit soll ein Viertel ihrer Männer verloren haben, die Armee- und Polizeieinheiten sowie die Milizen erlitten ebenfalls hohe Verluste, genaue Opferzahlen gibt es allerdings nicht. Auf kurdischer Seite wurden ungefähr 1’800 Peshmerga getötet. Zum Vergleich: Die US-Amerikaner haben während ihrer achtjährigen Präsenz von 2003 bis 2011 knapp 4’500 Soldaten verloren. Nicht zu vergessen sind die enormen Verluste unter der Zivilbevölkerung und die Zerstörungen: Der Westen von Mosul, die Altstadt, ist komplett zerstört. Der Ostteil ist weniger beschädigt.
Einige der Gebiete, in denen der IS herrschte, werden heute von schiitischen Milizen kontrolliert. Diese verdanken dem IS die Massenmobilisierung, welche verhinderte, dass der IS Bagdad einnehmen konnte. Manche strategisch wichtigen Orte sind heute unter Kontrolle dieser Milizen selbst, oder sie haben lokal unter den einheimischen Minderheiten – sei es den Christen, den Jesiden oder den Shabak – rekrutiert und ihre Protomilizen aufgebaut. Diese stehen im Grunde genommen unter dem Oberkommando der grossen Milizen wie z. B. den Badr-Einheiten, die mit dem Iran verbündet sind.
Das Unabhängigkeitsreferendum (September 2017)
Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage des IS hielten die Kurden im September 2017 ein Referendum über die Unabhängigkeit vom Irak ab. Treibende Kraft hinter diesem Vorstoss war der Präsident der kurdischen Partei KDP und damaliger Regionalpräsident von Kurdistan, Masud Barzani. Das Resultat war ein Destaster. Vergleichen wir die Zahlen: Da die Bewohner der «umstrittenen Gebiete» ins Referendum einbezogen wurden, betrug die Zahl der Wahlberechtigen rund 4.5 Millionen. Bei den Regionalwahlen vom September 2018, die nur innerhalb von Kurdistan abgehalten wurden, gab es hingegen 3.5 Millionen Wahlberechtigte. Daran zeigt sich, dass diesem Referendum jegliche rechtliche Grundlage fehlte: Leute wurden zur Abstimmung gerufen, die zum Teil gar nicht in der offiziell anerkannten Region Kurdistan lebten.
Für die Kurden war der Verlust enorm. Als Reaktion auf das Referendum wurden die Grenzen und Flughäfen kurzfristig geschlossen. Der irakische Premierminister Haider al-Abadi (2014- 2018) schickte Truppen nach Kirkuk, vertrieb die Kurden aus der Stadt und eroberte sie zurück. Die Kurden haben teuer für ihr Referendum bezahlt. Viele unter ihnen sagen heute: «Wir Public 8/12 hatten doch eigentlich einen eigenen Staat. Und dann hatten wir auf einmal nichts mehr. » Etliche Rechte, die sich die Kurden auf politischem Weg oder im langen bewaffneten Kampf gesichert hatten, haben sie nach dem Referendum wieder verloren.
Inzwischen haben die USA, die Europäer und die UNO vermittelt, was zu einer Normalisierung geführt hat. Man kann wieder nach Erbil fliegen. Aber Turkish Airlines zum Beispiel fliegt nach wie vor nicht nach Suleimaniya.1 Mir wurde gesagt, dass die Wirtschaft in Suleimaniya um 25% eingebrochen sei. Bestätigen kann ich dies nicht, aber die Veränderungen sind spürbar. Der ganze Bauboom ist vorbei, es herrscht Stillstand, unfertige Ruinen bleiben zurück. Der wichtigste Arbeitgeber ist mit der KRG der Staat, welcher zum Teil keine Gehälter bezahlen kann.
Weder die Türkei noch der Iran haben die Grenzen wirklich je ganz dichtgemacht. Die Türkei hat den Grenzverkehr zwar gedrosselt, aber nie ganz eingestellt. Dies wäre auch nicht im Interesse der Türkei gewesen, da beide Seiten gute Geschäfte machen. Da es der Türkei inzwischen wirtschaftlich selbst nicht so gut geht, braucht sie diese Exporte. Die Gefahr, dass die Grenze vollständig geschlossen wird, sehe ich deshalb nicht. Die Normalisierung der Lage wird jedoch noch einige Zeit dauern. Obwohl Masud Barzani die Unabhängigkeit forderte, hat die KDP im Mai 2018 an den irakischen Parlamentswahlen teilgenommen und ist auch an der neuen Regierung beteiligt. Sein ehemaliger Stabschef Fuad Hussein ist heute Finanzminister. Für die PUK hat Barham Salih das Amt des Staatspräsidenten übernommen. Somit haben wir eigentlich wieder die Konstellation von ante IS.
Es gibt keine Minderheitenverfolgung in der Region Kurdistan. Die Minderheiten – z. B. die Christen in Erbil – sind geschützt. Die Jesiden jedoch werden jetzt das fünfte Jahr in Folge in Flüchtlingslagern leben. Sie können und werden nicht nach Sinjar zurückgehen. Die Peshmerga haben sie nicht vor dem Überfall des IS beschützt, arabische Nachbarn waren an den Verbrechen gegen sie beteiligt. Dadurch ist das Vertrauen in die Araber und teilweise auch in die kurdische Regionalregierung verloren gegangen. Die meisten Jesiden wollen nicht, dass die arabischen Nachbarn zurückkehren; viele ihrer Häuser sind zerstört. Die Stadt Sinjar ist eine Trümmerwüste. Der Wiederaufbau wird viel Geld erfordern. Eigentlich müsste der irakische Staat für den Wiederaufbau sorgen. Doch in Sinjar machen sich nun drei Kräfte den Einfluss streitig: Barzanis KDP, die PKK und schiitische Milizen. Die Jesiden werden dazwischen zerrissen. Parallel dazu macht die Türkei von Norden Druck, indem sie die PKK in Sinjar bombardiert und Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder mit einem militärischen Einmarsch in den Irak droht. Wer ein Trauma wie den Angriff des IS auf die Jesiden in Sinjar erlebt hat, geht nicht dahin zurück, wo ihm neue Gefahren drohen können. Die Jesiden wollen Sicherheitsgarantien und internationalen Schutz – aber sie wissen, dass sie diesen nicht bekommen werden. Viele sehen deshalb keine Zukunft für sich und ihre Kinder im Irak. Deshalb flieht, wer kann, ins Ausland.
Die Lage der Christen ist eine andere. Sie erhalten viel finanzielle Unterstützung (z. B. aus der Diaspora, durch Investitionen, Geldsammlungen), wie ich vor ein paar Wochen östlich der Stadt Mosul sehen konnte. Es gibt kirchliche Netzwerke, über welche Gelder fliessen. Als ich 2017 in dem Gebiet war, sah ich keine Menschenseele, überall waren Sprengfallen, die Kirchen zerstört. Nun sind Leute zurückgekehrt, wenn auch nur maximal ein Drittel der Bevölkerung. Die meisten werden auch dorthin nicht zurückkehren.
In den «umstrittenen Gebieten» haben wir die Situation, dass die KDP in Kleinstädten versucht, ihre eigenen Bürgermeister zu installieren, wobei teilweise auch gewählte Bürgermeister mit Gewalt abgesetzt wurden. Dies hat zu einer sehr prekären Situation geführt, ohne dass eine Lösung in Sicht wäre. In anderen Gebieten bestehen nach wie vor IS Schläferzellen. Der IS ist zwar nicht mehr in der Lage, grosse Gebiete zu erobern. Terroristen können jedoch immer Bomben bauen, sie finden Unterschlupf und sorgen damit für Destabilisierung.
Halabja
Halabja, zuvor Teil des Gouvernorates Suleimaniya, erhielt von der kurdischen Regionalregierung 2014 den Status einer eigenständigen Provinz. Zwar stimmte die Regierung in Bagdad einer entsprechenden Gesetzesvorlage zu, das Gesetz wurde aber vorm irakischen Parlament nicht bestätigt, so dass die neue Provinz weiterhin keinen legalen Status geniesst. Halabja war 1988 Schauplatz eines Giftgasangriffes der irakischen Regierung auf die Kurden, dem mehr als 3’000 Tote unmittelbar, sodann Hunderte an Spätfolgen zum Opfer fielen.
Beim Unabhängigkeitsreferendum vom September 2017 soll die Wahlbeteiligung laut unabhängigen Wahlbeobachtern maximal 20% erreicht haben. Dies mag überraschen, wenn man bedenkt, wie stark Halabja als Symbol für das kurdische Leiden gesehen wird. Die Ursache für das geringe Interesse der Bewohner an der Unabhängigkeit ist im Gefühl der Leute zu suchen, bloss Spielball der Politik zu sein. Jeder kurdische Politiker wird sofort auf Halabja zu sprechen kommen, eine Wiedergutmachung haben die betroffenen Menschen vor Ort aber nie erhalten. Dennoch hat sich die Gegend entwickelt. Es gibt inzwischen geteerte Strassen, einen Park. Eine kleine Hilfsorganisation hat ein Bürgerradio ins Leben gerufen und bietet seit Jahren Beratungen an. Hingegen gibt es in Halabja keine Hotels, Unterhaltung- oder Jugendzentren. Viele Initiativen gehen von Hilfsorganisationen und nicht vom Staat aus. Dadurch haben viele Einwohner das Gefühl, als Opfer missbraucht zu werden, um das Leiden der Kurden zu illustrieren, ohne dass sich die Regierung um sie kümmert. Dies erklärt, weshalb die Mehrheit entweder nicht am Referendum teilgenommen oder gar mit Nein zur Unabhängigkeit gestimmt hat.
Quelle:
Inga Rogg: Notiz Irak, die Lage in den kurdischen Gebieten, Referat im Staatssekretariat für Migration SEM vom 4. Dezember 2018, in https://www.google.at/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwjZiuun3Nj0AhXWSfEDHe0CCrgQFnoECAUQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.ejpd.admin.ch%2Fdam%2Fsem%2Fde%2Fdata%2Finternationales%2Fherkunftslaender%2Fasien-nahost%2Firq%2FIRQ-lage-kurdische-gebiete-d.pdf.download.pdf%2FIRQ-lage-kurdische-gebiete-d.pdf&usg=AOvVaw3uGmgitYRveSj8i5CA-N1K [abgerufen am 30.11.2021]
Aus dem im Rahmen der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachtem Bericht des Auswärtigen Deutschen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Irka vom 25.10.2021 ergibt sich:
römisch eins. Allgemeine politische Lage
1. Die Verfassung
Gemäß der aktuellen Verfassung von 2005 ist Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat. Der Islam ist Staatsreligion und „eine“ (nicht „die“) Hauptquelle der Gesetzgebung. Artikel 19, Absatz eins und Artikel 86, ff. der Verfassung bezeichnen die Rechtsprechung als unabhängige Gewalt. Der Oberste Föderale Gerichtshof („Federal Supreme Court“) erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts.
2. Innenpolitische Lage
Der aktuelle Premierminister Mustafa al-Kadhimi wurde nach einer fast sechs Monate andauernden Regierungskrise am 7. Mai 2020 durch das irakische Parlament bestätigt. Am 10. Oktober 2021 sind vorgezogene Parlamentswahlen durchgeführt worden. In der Gesamtschau ist der Wahlprozess professionell und technisch sauber gelaufen. Dank der gut organisierten IRQ Sicherheitskräfte traten weder der sog. Islamische Staat noch die IRN-nahen schiitischen Milizen mit durchschlagenden Aktionen in Erscheinung. Nach den ersten Wahlberechnungen sind als Wahlsieger die schiitischen Anhänger der Sairoon-Bewegung des Klerikers Muqtada al-Sadr, die Bewegung des sunnitischen Parlamentspräsidenten Mohamad al-Halbousi sowie die kurdische KDP aus den Wahlen hervorgegangen. Die IRN-nahe FatahBewegung hat dagegen eine Niederlage eingefahren und zahlreiche Sitze im Parlament verloren. Traditionell bestimmen Stammesstrukturen und ethnisch-religiöse Zugehörigkeiten die gesellschaftlichen und politischen Loyalitäten bzw. Konfliktlinien. Die wichtigsten ethnischreligiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22 %) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20 %). Insgesamt ist die Bevölkerung Iraks sehr jung, das Durchschnittsalter liegt geschätzt bei unter 20 Jahren. 60 % der irakischen Bevölkerung sind 25 Jahre alt oder jünger. Exakte Zahlen zur Bevölkerungsgröße und ihrer Verteilung gibt es nicht; die letzte reguläre Volkszählung fand 1957 statt. Auch verlässliche Zahlen zu Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit liegen nicht vor.
3. Parteien
In Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften). Für die Neuwahlen am 10. Oktober 2021 hatten sich 267 Parteien (davon traten 126 bei den Wahlen an) und 21 Wahlbündnisse registriert.
4. Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen
Im gesamten Irak existierten zuletzt über 440 offiziell registrierte NROs im Bereich Menschenrechte. Ein Gesetz zu NROs existiert seit 2010. Menschenrechts-NROs unterliegen für ihre Registrierung keinen Beschränkungen. Die schwierige Sicherheitslage und bürokratische Hindernisse erschweren die Arbeit vieler NROs. Sie unterliegen der Kontrolle durch die Behörde für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft; zahlreiche unter ihnen berichten glaubhaft von bürokratischen und intransparenten Registrierungsverfahren, willkürlichem Einfrieren von Bankkonten sowie unangekündigten und einschüchternden „Besuchen“ durch Vertreter des Ministeriums. Die Kontrollen ergeben sich auch aus der teilweisen Steuer- und Zollfreiheit für NROs, die zur Gründung von zahlreichen Schein-NROs geführt hat. - 9 - VS - Nur für den Dienstgebrauch
5. Die Rolle der Sicherheitskräfte
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften ca. 150.000-185.000 Armee-Angehörige (ohne PMF-Milizen und Peschmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Es gibt kein Polizeigesetz; die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Den Sicherheitskräften werden zahlreiche Fälle von Verschwundenen („forced disappearance“) zur Last gelegt. Im Zuge von Antiterror-Operationen, aber auch an Checkpoints, wurden nach 2014 junge, vorwiegend sunnitische Männer gefangen genommen. Bei der Einstellung in den Polizeidienst hängt viel von persönlichen Kontakten ab. Die mehrheitlich schiitischen sog. Volksmobilisierungskräfte („Popular Mobilization Forces“, PMF) waren ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen und – neben den Peschmerga – maßgeblich für den Erfolg von Bodenoperationen beim Zurückschlagen des „IS“. Die weiterführende Professionalisierung der Armee und vor allem auch der Bundes- und lokalen Polizei wird im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition, bei der Sicherheitssektorreform und mit Hilfe internationaler Militär- und Polizeiausbildung aktiv und umfassend unterstützt. Die kurdischen Sicherheitskräfte (Peschmerga) unterstehen formal der kurdischen Regionalregierung und sind nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert. Die kurdischen Sicherheitskräfte bilden ihrerseits keine homogene Einheit, sondern unterstehen teilweise den beiden großen Parteien KDP und PUK in ihren jeweiligen Einflussgebieten. Nur ein kleinerer Teil untersteht dem Peschmergaministerium.
römisch II. Asylrelevante Tatsachen
1. Staatliche Repressionen
Staatliche Stellen sind nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten werden nicht gewährleistet. Derzeit ist es staatlichen Stellen zudem nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Dies gilt insbesondere für den Zentralirak außerhalb der Hauptstadt. PMF-Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig und weitgehend unkontrolliert. Im Sinjar haben sich zudem PKK bzw. PKK-nahe Strukturen entwickelt. Diese Entwicklungen gehen nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen sowie der VN einher mit Repressionen, mitunter auch extralegalen Tötungen sowie Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession. Bei den seit Oktober 2019 immer wieder stattfindenden Demonstrationen in Bagdad und im Südirak kommt es weiterhin zu Gewalttaten, auch wenn sich die bisherige Regierung Kadhimi mehrfach für den Schutz der Demonstranten und die Strafverfolgung der Täter ausgesprochen hat. Die VN-Mission UNAMI spricht für den Zeitraum Oktober 2019 bis April 2020 von mind. 487 Toten und 7.715 Verletzten unter den Demonstranten, zählt damit sogar noch weniger Opfer als die Regierung, die von mindestens 560 Todesopfern ausgeht.
1.1. Politische Opposition
Es existiert im parlamentarischen Konkordanzsystem keine parlamentarische Opposition in unserem Sinne. Über eine gezielte Unterdrückung außerparlamentarischer politischer Oppositionskräfte durch staatliche Organe liegen zwar keine Erkenntnisse vor. Politische Aktivisten berichten jedoch von Einschüchterungen und Gewalt durch staatliche, - 10 - VS - Nur für den Dienstgebrauch nichtstaatliche oder paramilitärische Akteure, die abschrecken sollen, neue politische Bewegungen zu etablieren, und die freie Meinungsäußerung teils massiv einschränken. In der RKI ist im Raum Erbil und Dohuk eine Oppositionsbewegung kaum existent. Die KDP gilt in weiten Teilen als alternativlos. In der Region um Sulaymania und Halabdscha haben sich in den vergangenen Jahren auch Gruppen von der PUK abgewandt, allerdings ohne großen politischen Einfluss gewinnen zu können.
1.2. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit
Die Verfassung vom 15.10.2005 (Artikel 38, Absatz 3 und 39) sieht die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung vor und stellt die nähere Ausgestaltung durch ein Gesetz in Aussicht. Anfang 2014 wurde zwar ein Gesetzesentwurf vorgelegt, jedoch nicht verabschiedet. Gegen die seit Anfang Oktober 2019 stattfindenden Demonstrationen in Bagdad und im Südirak gingen die Sicherheitskräfte mit großer Härte vor und reagierten mit weiteren repressiven Maßnahmen. Im Kontext der Demonstrationen seit Ende 2019 mehrten sich Fälle von Entführungen, Folter und Tötungen von Aktivisten der Proteste und Journalisten, die auf Einschüchterung der Demonstranten und Beendigung der Proteste abzielten. UNAMI zufolge soll es im Zeitraum 1. Oktober 2019 bis 15. Mai 2021 zu 81 Tötungsversuchen gegen Protestierende und Aktivisten gekommen sein, davon 32 tatsächliche Tötungen. Seit dem erneuten Ausbruch von Demonstrationen im Sommer 2020 soll es über 150 Fälle von Entführungen und Ermordungen gegeben haben. In der RKI haben die Proteste gegen die zentralirakische Regierung von Oktober 2019 keinen Widerhall in der Bevölkerung gefunden. Solidaritätskundgebungen für Kurden in Nordostsyrien sowie kleine Demonstrationen mit spezifischen Anliegen etwa von Studenten gegen die zentrale Vergabe von Studienplätzen verliefen friedlich. Jedoch nahmen seit Sommer 2020 Proteste und Demonstrationen, die teilweise auch gewalttätig waren, aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage insbesondere in Sulaymania und Halabdscha, aber auch vereinzelt in Dohuk, zu. Artikel 38, A und B der Verfassung garantieren die Freiheit der Meinungsäußerung, solange die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt wird. Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält u. a. mehrere Kategorien des Straftatbestands der „Diffamierung“ aufrecht, die in ihrem Strafmaß z. T. unverhältnismäßig hoch sind. Klagen gegen das Gesetz sind anhängig. Das Gesetz bietet die Möglichkeit, Gerichtsverfahren gegen Journalisten wegen Verleumdung, oft wegen Reportagen über Korruption, anzustrengen. Dies erfolgt insbesondere in Fällen von Korruptionsvorwürfen von bekannten, einflussreichen Persönlichkeiten. In Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen. Der öffentliche Diskurs hat sich daher zum großen Teil in die sozialen Medien verlagert (insb. Facebook, Twitter, Instagram). Selbstzensur ist jedoch auch dort weit verbreitet. Die „Journalistenvereinigung“ ist tendenziell staatsnah. Überdies wird die journalistische Arbeit durch Übergriffe auf Journalisten behindert. Nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ ist Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder. Auf ihrem Index für Pressefreiheit ist Irak im Jahr 2021 auf Platz 163 von 180 weiter gefallen (2020: 162; 2019: 156). Das Land nahm im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007 - 2016) des “Committee to Protect Journalists” zudem weltweit den drittletzten Rang in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Es kommt regelmäßig zu Einschüchterungen, Gewalt und Entführungen von Journalisten. In der RKI sind die meisten Fernsehsender oder Radiostationen inhaltlich von politischen Parteien beeinflusst. Eine systematische Einschränkung der freien Meinungsäußerung oder Zensur in digitalen Medien ist hingegen nicht bekannt. Oppositionelle Medien werden aber in ihrer Arbeit beeinträchtigt. Wiederholt kam und kommt es zu Verhaftungen von kritischen Journalisten, teilweise mit unverhältnismäßigen Freiheitsstrafen.
1.3. Minderheiten
In Irak kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Versuchen gewaltsamer ethnischkonfessioneller Homogenisierung, zuletzt durch den Terror des „IS“, aber auch im Zuge der Befreiung der vom „IS“ besetzten Gebiete 2014 - 2017. Das Misstrauen unter den verschiedenen ethnischen Gruppen ist groß, gerade in den ethnisch sehr heterogenen Provinzen Kirkuk, Diyala, Teilen von Ninewa und Salah Al Din. Die arabisch-sunnitische Bevölkerung wird vielfach unter den Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit dem „IS“ gestellt. Der Diskriminierung und Gewalt beschuldigt werden dabei auch Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte, insbesondere der von der Regierung nur teilweise kontrollierbaren Milizen und, in der RKI, der kurdischen Peschmerga/des kurdischen Sicherheitsdienstes (Asayisch).
1.4. Religionsfreiheit Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Artikel 2, Absatz eins, ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung. In Absatz 2, wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Artikel 3, legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung Iraks fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Artikel 43, verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Mit Einführung eines neuen Personalausweises im Jahr 2015 wurde der Eintrag zur Religionszugehörigkeit dauerhaft abgeschafft. Allerdings wurde auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen: Artikel 26, des Gesetzes zum Personalausweis stipuliert, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden. Darüber hinaus gilt, dass Kinder mit einem muslimischen Elternteil oder einem unbekannten Elternteil automatisch als muslimischen Glaubens registriert werden. Dies führt zu rechtlichen Schwierigkeiten und verstärkt soziale Ausgrenzung von Kindern aus „IS“-Zwangsehen bzw. -Vergewaltigungen. Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Religiöse Minderheiten können im Alltag jedoch gesellschaftliche Diskriminierung erfahren. Übergriffe werden selten strafrechtlich geahndet. Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des „IS“ standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäern, Kakai, Schabak und Christen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonvertierungen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit unterschiedlicher Milizen zum Teil erheblich erschwert. In der RKI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden.
1.5. Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis
Es liegen keine belastbaren Erkenntnisse zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis vor. Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt. Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern; eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen erheblich ausgedehnt. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Hinzu kommt eine Stigmatisierung, unter der Sunniten oftmals automatisch als „IS“-Unterstützer gesehen werden. Ehemalige „IS“-Kämpfer oder Personen, die dessen beschuldigt werden, werden aktuell in großer Zahl (Details werden von der Regierung nicht preisgegeben) mit unzulänglichen Prozessen zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilt und häufig auch hingerichtet vergleiche unter römisch III.3. zur Todesstrafe). Auch in der RKI gibt es Defizite in der rechtsstaatlichen Praxis, wenngleich das Justizsystem grundsätzlich funktional ist. Der kurdische Geheimdienst (Asayisch) operiert seit der Gründung des RKI-Sicherheitsrates im Jahr 2012 außerhalb der Kontrolle des Innenministeriums und übernimmt teilweise die Arbeit der regulären Polizei. Untersuchungen von Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte bleiben oft ohne Ergebnis.
1.6. Militärdienst
Es gibt seit 2003 keine Wehrpflicht. Am 31. August 2021 beschloss die irakische Regierung aber die Annahme eines Gesetzesentwurfs zur Wiedereinführung der Wehrpflicht. Sollte das Gesetz auch vom Parlament angenommen werden (kurzfristig nicht absehbar), könnte Irak erstmals nach 18 Jahren wieder Wehrpflichtige einziehen. Angehörige des irakischen Militärdienstes, die sich nach 2014 erstmalig unerlaubt vom Dienst entfernt haben (Desertion), können sich auf der Grundlage eines Beschlusses des Ministerrates vom Juni 2019 wieder der irakischen Armee verpflichten und so einer Strafverfolgung auf der Grundlage des Militärstrafgesetzes entgehen. Nach Regierungsangaben kommt diese Option für über 52.000 Soldaten und 2.000 Angehörige von Spezialkräften in Betracht.
1.7. Handlungen gegen Kinder
Artikel 29 und 30 der Verfassung enthalten Kinderschutzrechte. Irak ist dem Zusatzprotokoll zur VN-Kinderrechtskonvention zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten beigetreten. Kinder sind nach Angaben der Vereinten Nationen in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage betroffen. Vor der Corona-Krise lebte laut UNICEF eins von fünf Kindern in Armut, über 1,16 Mio. Kinder unter 5 Jahren waren unterernährt. 3,3 Mio. Kinder sind laut UNICEF immer noch auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Mit dem Anstieg der Armutsrate infolge der mit Corona zusammenhängenden Wirtschaftskrise auf ca. 30 % der Bevölkerung (Juli 2020) dürfte sich die Situation für Kinder verschärfen. Sehr viele Kinder und Jugendliche sind durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen. Es gibt Berichte, nach denen eine Vielzahl an Kindern vom „IS“ als Kindersoldaten eingesetzt wurde und von Umerziehungskampagnen traumatisiert ist. Zahlreiche Jugendliche sind nach Angaben der Vereinten Nationen wegen Terrorvorwürfen angeklagt oder verurteilt. Es fehlt an Jugendstrafanstalten; laut IKRK werden jugendliche Häftlinge mittlerweile meist getrennt von erwachsenen Straftätern inhaftiert, ihnen wird aber oft der regelmäßige Kontakt zu ihren Familien verwehrt. Die Sicherheitslage, die Einquartierung von Binnenvertriebenen und die große Zahl zerstörter Schulen verhindern mancherorts den Schulbesuch, besonders in ländlichen Gebieten. Im Unterschied dazu sind in der RKI fast alle Menschen des Lesens und Schreibens kundig. In den vom „IS“ beherrschten Gebieten fand kein regulärer Schulunterricht statt. 2020 waren infolge der Corona-Pandemie öffentliche Schulen mehrere Monate lang geschlossen. Kinderarbeit ist in Irak untersagt, dennoch arbeitet ca. eine halbe Million Kinder, vorrangig in der Landwirtschaft oder im Straßenverkauf. Die Armut begünstigt Entführungen und Kinderhandel.
1.8. Geschlechtsspezifische Verfolgung
Irak war das erste Land im Mittleren Osten, welches Anfang 2014 einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der VN-Sicherheitsratsresolution 1325 (2000) zu Frauen, Frieden und Sicherheit (NAP) verabschiedete. Die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans für die Jahre 2014 - 2018 zur Resolution 1325 kam über Ankündigungen jedoch kaum hinaus. Der zweite NAP wurde am 24.12.2020 von der irakischen Regierung verabschiedet. Die RKI hatte bereits 2013 eine Strategie zum Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verabschiedet. In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25 % im Parlament (RKI: 30 %) verankert. Dadurch sind im irakischen Parlament derzeit 83 Frauen vertreten (von insgesamt 328 Abgeordneten). Im Präsidium des Parlaments ist keine Frau vertreten. Im Regierungskabinett gibt es seit Juni 2020 zwei Frauen, die Ministerin für Wohnungswesen und Wiederaufbau sowie die Ministerin für Migration und Vertreibung. In der RKI ist eine Frau Parlamentspräsidentin, es gibt drei Ministerinnen und einige hochrangige Richterinnen. Gleichwohl stellen diese Frauen eher Ausnahmen in einer männerdominierten Berufswelt dar. Laut Artikel 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Artikel 41, bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben in Irak verhindert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenvertriebenen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Nach Angaben des Planungsministeriums von Januar 2020 liegt die Alphabetisierungsrate von Frauen bei 83 % und von Männern bei 92 %. In den Familien sind patriarchalische Strukturen weit verbreitet; Frauen werden immer noch in Ehen gezwungen. 24,3 % der 20-24jährigen Frauen wurden laut UNICEF (2018) vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Häusliche Gewalt ist in Irak weit verbreitet; im Rahmen der Ausgangsbeschränkungen während der Corona-Pandemie hat diese noch zugenommen. Die Regierung hat im Juli 2020 einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung häuslicher Gewalt ins Parlament eingebracht (bislang noch nicht verabschiedet). Darin wird auch Gewalt gegen Kinder und Senioren explizit berücksichtigt. Kritik kommt von konservativen Kräften, die auf (religiöse) Traditionen verweisen und vor internationaler Einflussnahme warnen. Auch sind „Ehrenmorde“ gegen Frauen weiterhin in der irakischen Gesellschaft verbreitet. Im Jahre 2015 haben Regierung und Parlament der RKI in Abänderung des irakischen Strafrechts den "Ehrenmord" anderen Morden strafrechtlich gleichgestellt. Im Zentralirak gelten bei "Ehrenmord" hingegen mildernde Umstände. Sowohl Politik als auch Rechtslage der RKI sprechen sich ausdrücklich gegen "Ehrenmorde" aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der "Ehrenmord" allerdings immer noch als rechtfertigbar. Die kurdische Regionalregierung hat ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie vier staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NROs betrieben. Zusätzlich unterstützt der Hohe Frauenrat (High Council of Women Affairs – HCWA) der kurdischen Regionalregierung den Schutz von Frauenrechten. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis allerdings nicht durchgängig umgesetzt. Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Im Rahmen einer Ehescheidung wird das Sorgerecht für Kinder ganz überwiegend den Vätern (und ihren Familien) zugesprochen. Viele Frauen und Mädchen sind auch durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. NROs berichten über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion. Im Zuge des „IS“-Vormarschs auf Sinjar sollen über 5.000 jesidische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als „Trophäen“ an „IS“-Kämpfer gegeben oder nach Syrien „verkauft“ wurden. Diese Frauen wurden anschließend oftmals von ihren Familien aus Gründen der Tradition verstoßen oder sie wurden gezwungen, die aus den Zwangsehen entstandenen Kinder zu verstoßen.
1.8.1. Genitalverstümmelung
In Teilen des stark patriarchalisch strukturierten Nordirak kommt es immer noch zu Genitalverstümmelung bei Frauen. Seit 2011 stellt ein Gesetz in der RKI die Genitalverstümmelung unter Strafe. Genitalverstümmlung ist jedoch kein ausschließlich kurdisches Problem. Eine empirische Studie in Kirkuk fand auch Betroffene in der arabischen und turkmenischen Bevölkerung, wenn auch in geringerem Ausmaß. Außerhalb der RKI gibt es bisher keine staatlichen Anstrengungen zur Bekämpfung dieser Praktiken.
1.8.2. LGBTI
Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert werden, werden Fragen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. LGBTI-Personen leben ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sehen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung und körperlicher Gewalt bis hin zu „Ehrenmorden“. Milizen haben in den letzten Jahren wiederholt LGBTI-Personen bedroht und verfolgt und werden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht. Die Polizei wird eher als Bedrohung denn als Schutz empfunden. Staatliche Rückzugsorte für LGBTI-Personen gibt es nicht, die Anzahl privater Schutz-Initiativen ist sehr beschränkt. Das Hissen der Regenbogenfahne auf dem gemeinsamen Gelände der britischen, kanadischen und EU-Botschaft im Mai 2020 führte zu einem „Shitstorm“ in den sozialen Medien. Nach Angaben von LGBTI-Aktivisten wurden in der Folge bis zu elf LGBTI-Personen mutmaßlich wegen ihrer sexuellen Orientierung ermordet. In dem seit 2003 gültigen irakischen Strafgesetzbuch stellen im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführte homosexuelle Handlungen erwachsener Personen keinen Straftatbestand mehr dar. Es ist unklar, in wieweit andere Paragraphen des Strafgesetzbuches wie beispielsweise §400 – 402, die sich mit unsittlichen Handlungen auseinandersetzen, theoretisch auch auf homosexuelle Handlungen Anwendung finden könnten. Dem Auswärtigen Amt sind bisher keine Fälle einer solchen Anwendung in der Rechtsprechung oder Rechtspraxis bekannt. Gleichgeschlechtliche Ehen sind im irakischen Recht nicht vorgesehen. Sofern einer oder beide Partner mit einer dritten Person verheiratet sind, fällt auch eine homosexuelle Beziehung unter den Straftatbestand des Ehebruchs.
1.9. Exilpolitische Aktivitäten
Die Wahl, ins Exil zu gehen, haben in den vergangenen Jahren insbesondere Aktivisten und Journalisten getroffen, die in der Regel nicht vom Staat verfolgt werden, sondern von nichtstaatlichen Akteuren wie den PMF oder Milizen. Dem irakischen Staat gelingt es nicht, diesem Personenkreis ausreichend Schutz zu bieten. Rückkehr aus dem Exil führt nicht zu staatlichen Repressionen; es besteht aber die Gefahr von Entführung, Ermordung oder Verfolgung durch Milizen. Einzelne ehemalige Politiker sind in der Vergangenheit ins Exil gegangen, um der Strafverfolgung (z.B. wegen Korruption) zu entgehen.
2. Repressionen durch nicht-staatliche Akteure
Neben die staatliche tritt die Repression durch nicht-staatliche Akteure, vor der Regierung und Staat die Bürger nicht schützen können. Auch wenn das „Kalifat“ des „IS“ in Irak territorial besiegt ist, bleibt der „IS“ weiterhin aktiv, insbesondere durch Angriffe auf irakische Sicherheitskräfte oder Selbstmordattentate gegen die einfache Bevölkerung. Auch die im Kampf gegen den „IS“ mobilisierten, mehrheitlich schiitischen und zum Teil von Iran unterstützten PMF-Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen je nach Einsatzort und gegebenen lokalen Strukturen eine erhebliche Bedrohung für die dortige Bevölkerung dar. Die PMF finanzieren sich auch durch Schutzgelderpressung oder Schmuggel. Durch die teilweise Einbindung der PMF in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Im Süden des Landes, z. B. in der Wirtschaftsmetropole Basra, können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten.
2.1. Militante Opposition, Milizen, Terrorgruppen
2.1.1. Sicherheitslage
Die Terrormiliz „IS“ ist – wenn auch im „Verborgenen“ – weiterhin aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mosul und Tal Afar. Der „IS“ hat einen Strategiewechsel vorgenommen und setzt diesen in Form einer asymmetrischen Kriegsführung aus dem Untergrund mit kleineren Anschlägen auch nach dem Tod des „IS“-Führers al-Baghdadi fort. Die Türkei führt regelmäßig Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak durch. Vereinzelt gibt es auch Berichte über zivile Opfer dieser Angriffe. Auch die iranischen Sicherheitskräfte führen Luftschläge gegen kurdische Gruppierungen im Nordirak aus. Irannahe Milizen haben, als Drohgebärde gegenüber der Regierung, in den vergangenen Monaten mehrfach in Teilen Bagdads das öffentliche Leben vorübergehend lahmgelegt.
2.1.2 Militante Gruppen
Größere „IS“-Anschläge mit mehreren Toten ereigneten sich am 21.01.2021 in Bagdad mit 32 Toten und am 19.07.2021 im Nordosten Bagdads mit 39 Toten. Vom Sicherheitsrat der VN 2017 eingesetzt, untersucht das Ermittlungs-Team der Vereinten Nationen („United Nations Investigative Team to Promote Accountability for Crimes Committed by Da’esh / ISIL“ – UNITAD) die Verbrechen des „IS“, von forensischer Arbeit inkl. Exhumierungen im Nordirak bis hin zur Untersuchung der Finanzströme der Terrororganisation. Zu den Volksmobilisierungskräften (PMF) werden ca. 60 paramilitärische Gruppen mit geschätzt 120.000-160.000 bewaffneten Mitgliedern gerechnet. Traditionell als pro-iranisch gelten die Badr-Brigaden, Asa’ib Ahl a-Haq und Kata’ib Hisbollah. Daneben gibt es aber auch nationalistisch ausgerichtete, wie z. B. die Abbas Combat Division, bzw. aus Minderheiten (Christen, Jesiden, Turkmenen, Schabak) rekrutierte Einheiten. Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten. Dies hat es den PMF erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen und sich ökonomische Vorteile und lukrative Einkommensquellen zu sichern. Es gibt eine Vielzahl an Vorwürfen von Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF, auch im Umfeld der Demonstrationen ab Oktober 2019. Die PMF-Milizen verfügen zudem zum Teil über eigene Parteien und damit über eine parlamentarische Machtbasis. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den „IS“ zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Mio. Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, die sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegeln und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beitragen.
2.2. Besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen
Journalisten, Blogger, Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte sowie alle Mitglieder des Sicherheitsapparats (Polizisten, Soldaten) sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden mitunter Opfer von Entführungen oder Attentaten. Täter sind meist Angehörige von Milizen oder des „IS“. Seit der gestiegenen Zahl an Prozessen gegen mutmaßliche „IS“-Kämpfer sind auch die Anwälte dieser Angeklagten vermehrt Bedrohungen ausgesetzt. Human Rights Watch berichtete, dass einige Anwälte den Rechtsbeistand aus Furcht um ihr Leben einstellten. Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird (fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten, sowie medizinisches Personal werden ebenfalls immer wieder Ziel von Anschlägen oder Entführungen. LGBTI-Personen sind umfassender Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt (siehe hierzu Abschnitt römisch II. 1.8.2). Eine Vielzahl von ehemaligen Mitgliedern der seit 2003 verbotenen Baath-Partei Saddam Husseins ist, soweit nicht ins Ausland geflüchtet, häufig auf Grund der Anschuldigung terroristischer Aktivitäten in Haft. Laut der VN-Mission haben viele von ihnen weder Zugang zu Anwälten noch Kontakt zu ihren Familien.
2.3. Diskriminierung ethnisch-religiöser Gruppen und Minderheiten
Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten im Zentralirak unter weitreichender faktischer Diskriminierung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen. Im Zuge des „IS“-Vormarsches seit Mitte 2014 kam es zu kollektiven Vertreibungen (Jesiden, Christen, Schabak, Turkmenen) oder sogar Versklavung (Jesiden). Im Zuge der Rückeroberung von durch den „IS“ besetzten Gebieten waren besonders in den zwischen der RKI und der Zentralregierung umstrittenen Gebieten (Provinz Kirkuk, Teile von Ninewa, Salah Al Din und Diyala) Tendenzen zur gewaltsamen ethnisch-konfessionellen Homogenisierung festzustellen. Die VN-Mission UNAMI und Amnesty International haben dokumentiert, wie angestammte Bevölkerungsgruppen vertrieben bzw. Binnenvertriebene an der Rückkehr gehindert wurden. Dabei handelte es sich oft um die sunnitische Bevölkerung, die vielfach unter dem Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit dem „IS“ steht, aber auch um Angehörige vieler anderer Gruppen. Beschuldigt wurden sowohl kurdische Peschmerga als auch die PMF-Milizen sowie, in geringerem Umfang, Armee und Polizei.
Sunniten
Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003 insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 - 2014) aus öffentlichen Positionen gedrängt. In Nachwirkung der „IS“-Gräueltaten können Sunniten in Teilen Iraks vereinzelt aufgrund ihrer Glaubensrichtung als „IS“-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt werden. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher „IS“-Anhänger.
Kurden
Von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen sind auch Kurden betroffen, soweit sie außerhalb der RKI leben. Im Nachgang zum rechtlich nicht bindenden Unabhängigkeitsreferendum hat die zentralirakische Armee die sog. umstrittenen Gebiete, die nach dem Zurückdrängen des „IS“ unter kurdischer Kontrolle standen, im Oktober/November 2017 größtenteils wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Seither ist die Lage dort zwischen Kurden und Arabern generell angespannt. Es gibt Meldungen von Landbesetzungen und Vertreibungen kurdischer Bevölkerungsteile durch Araber und v. a. seitens der dort lebenden Kurden und religiösen Minderheiten große Vorbehalte gegen die schiitischen PMF-Milizen.
3. Ausweichmöglichkeiten
Innerirakische Migration aus dem Zentralirak in die Region Kurdistan-Irak ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug kontrolliert. Wer dauerhaft bleiben möchte, muss sich bei der kurdischen Geheimpolizei des jeweiligen Bezirks anmelden. Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht. Durch die noch immer große Zahl von Binnenvertriebenen ist die RKI stark betroffen; etwa 730.000 Binnenvertriebene und ca. 243.000 syrische Flüchtlinge (Zahlen von August 2021) leben in der RKI. Rückkehrbewegungen haben durch die kurzfristigen Campschließungen im Zentralirak stark zugenommen, obwohl eine Grundversorgung in den aufnehmenden Gemeinden nicht immer sichergestellt ist. Bei einigen Binnenvertriebenen kommt es, da eine Rückkehr nicht möglich ist, zum sog. „secondary or third displament“. Die Versorgung der Binnenvertriebenen wird durch die Campschließungen auch in der nahen Zukunft nur durch umfangreiche internationale Unterstützung möglich sein.
römisch III. Menschenrechtslage
Es kommt weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte.
1. Schutz der Menschenrechte in der Verfassung
In der Verfassung vom 15. Oktober 2005 sind wichtige demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung verankert. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Irak hat folgende wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert:
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Übereinkommen über die Rechte des Kindes
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung
Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten
Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, Kinderprostitution und Kinderpornographie
Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen
Es bestehen allerdings noch Vorbehalte gegen einzelne Bestimmungen, u. a. auch sogenannte Scharia-Vorbehalte. Dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist Irak nicht beigetreten. Die bereits in der irakischen Verfassung (Artikel 102,) vorgesehene Einrichtung einer unabhängigen Menschenrechtskommission erfolgte im April 2012 mit der Berufung der 11 Kommissionsmitglieder durch das irakische Parlament. Das Mandat der aktuellen Kommission ist am 4. August 2021 abgelaufen. Es ist unklar, wann es erneuert wird. Mangelnde Sacharbeit und Effektivität wird dem Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament vorgeworfen. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft. Es gibt zwar eine unabhängige kurdische Menschenrechtskommission, in der auch Minderheiten repräsentiert sind. Sie beschränkt sich aber eher auf die Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen und kann selten eine volle Aufklärung oder gar Ahndung gewährleisten.
2. Folter
Folter und unmenschliche Behandlung werden von der irakischen Verfassung in Artikel 37, ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die VN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren eingesetzt. Es kommt immer wieder zu systematischer Anwendung von Folter bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte. Sie wird dabei meist als Mittel zur Erzwingung von Geständnissen eingesetzt. Dies liegt auch an der großen Bedeutung, die ein Geständnis im irakischen Recht zur Beweisführung hat. Laut Informationen der VN sollen u. a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören. Bei den Massenprotesten 2019/2020 und in der Folge wurden nach Angaben des Hohen Kommissars für Menschenrechte der VN insgesamt 76 Personen entführt. 22 Personen wurden nach Folter, Erpressung und Bedrohung wieder frei gelassen. Das Schicksal der 54 weiteren Personen ist bis jetzt unbekannt. Eine Beteiligung staatlicher Stellen ist in einer Reihe von Fällen wahrscheinlich. Der im Mai 2020 veröffentlichte UNAMI-Bericht zur Meinungsfreiheit in der RKI berichtet von Folter und Einschüchterung in Asayisch-Gefängnissen, um Geständnisse zu erzwingen. Besonders besorgniserregend sind die Vorwürfe bzgl. durch Folter und Druck erpresster Geständnisse während der Haftzeit. Mehrere Berichte von Human Rights Watch sowie der UNAMI-Bericht von August 2021 für den Zeitraum Juli 2019 bis April 2021 schildern Misshandlungen in irakischen Gefängnissen, u.a. mittels Elektroschocks. Anzeichen von Folter würden jedoch ignoriert, Täter nicht zur Rechenschaft gezogen. Es fehlen Gesetze und Richtlinien, an denen sich Richter orientieren könnten. Nach glaubwürdigen Berichten von Human Rights Watch kommt es in Gefängnissen der kurdischen Geheimpolizei in der RKI zur Anwendung von Folterpraktiken gegen Terrorverdächtige, z. B. durch Schläge mit Kabeln, Wasserschläuchen, Holzstöcken und Metallstangen, durch das Halten von Gefangenen in Stresspositionen über längere Zeiträume, tagelanges Fesseln und Verbinden der Augen sowie ausgedehnte Einzelhaft. Die Haftbedingungen sind dort insgesamt sehr schlecht. Die Haftbedingungen in regulären Haftanstalten sind besser. Das IKRK hat Zugang zu den Gefängnissen in der RKI. Der VN-Sonderberichterstatter über Folter hatte bereits im Jahr 2011 einen Besuch angefragt, den Irak auch akzeptiert hatte. Allerdings wurde dieser immer wieder verschoben, so dass bis heute noch kein Besuch stattfand.
3. Todesstrafe
Im irakischen Strafrecht ist die Todesstrafe vorgesehen. Sie wird auch verhängt und vollstreckt. Sie kann bei 48 verschiedenen Delikten (vorsätzlicher Mord, terroristische Aktivitäten, Hochverrat etc.) verhängt werden. Faktisch erfolgt der Großteil von Hinrichtungen wegen Terrorismusvorwürfen. Die Anti-Terrorgesetze wählen dabei eine sehr weite und vage Definition terroristischer Handlungen. Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen. Die Todesstrafe stößt in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz. Derweil werden vor allem gegen mutmaßliche „IS“-Kämpfer, die in fragwürdigen Prozessen überführt wurden, zunehmend Todesurteile verhängt und vollstreckt. Aktuelle Daten liegen nicht vor, da die irakische Regierung die Zahlen nicht mehr regelmäßig an die Vereinten Nationen berichtet und auch auf Nachfrage keine verlässlichen Angaben macht. Offizielle Zahlen über Hinrichtungen werden nicht veröffentlicht. Die VN gehen von mindestens 269 Hinrichtungen in Zentralirak seit 2015 aus. Die tatsächliche Zahl könnte höher liegen, Amnesty International geht allein für 2019 von 100 Hinrichtungen aus. In den Gefängnissen sollen über 8.000 Menschen auf die Hinrichtung warten (Stand Februar 2021). Im August und November 2020 wurden Berichten zufolge an drei Terminen bis ca. 25 Todesurteile gegen letztinstanzlich verurteilte Terroristen aus der Zeit vor der „IS“-Herrschaft vollstreckt. Nach Angaben des Justizministers ist die Vollstreckung weiterer Todesurteile möglich. Problematisch sind bereits seit Jahren die Vielzahl und die mitunter fehlende rechtliche Klarheit der Straftatbestände, für die die Todesstrafe verhängt werden kann: neben Mord und Totschlag u. a. auch wegen des Verdachts auf staatsfeindliche Aktivitäten, Vergewaltigung, Einsatz von chemischen Waffen und insbesondere wegen terroristischer Aktivitäten unterschiedlicher Art. In der RKI wurde nach dem Fall des Regimes Saddam Hussein die Todesstrafe abgeschafft, später aber zur Bekämpfung des Terrorismus wieder eingeführt. Am 12. August 2015 wurden erstmals seit 2008 wieder drei Menschen hingerichtet. Auch im November 2016 wurde ein Todesurteil durch den Präsidenten der RKI zur Vollstreckung freigegeben und kurz danach vollstreckt. Im Jahr 2020 saßen fast 400 zur Todesstrafe verurteilte Menschen in den Gefängnissen der RKI.
4. Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen
Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen. Eine festgenommene Person muss zwar innerhalb von 24 Stunden einem Richter vorgeführt werden, doch diese Frist wird nicht immer eingehalten. Sie wird teilweise bis auf über 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Männer und Jungen, die im Verdacht standen, Mitglieder des „IS“ zu sein, „verschwanden“ aus Gefängnissen des irakischen Innen- oder Verteidigungsministeriums, der kurdischen Regionalregierung oder aus Geheimgefängnissen. Die Haftbedingungen entsprechen nicht internationalen Standards, wobei die Situation in den Haftanstalten erheblich variiert. Durch die erfolgreiche militärische Bekämpfung des „IS“ hat sich die Zahl der Inhaftierten in den vergangenen Jahren deutlich erhöht, was in vielen Teilen des Landes zu einer weiteren dramatischen Verschlechterung der Haftbedingungen geführt hat. Gemäß Berichten von Inhaftierten wurden innerhalb der Haftanstalten keine oder kaum ausreichende Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 ergriffen. Während der Covid-19-Krise wurden die Hürden für Haftbesuche deutlich erhöht. Das auf Völkerrecht basierende Mandat der VN-Mission UNAMI, irakische Haftanstalten zu besuchen, wird auf Grund komplexer bürokratischer Hürden auf irakischer Seite erschwert. Das IKRK hat hingegen regelmäßigen und flächendeckenden Zugang. In den Haftanstalten der RKI herrschen nach Informationen von UNAMI etwas bessere Bedingungen, insbesondere in der neugebauten Modellanstalt Dohuk. Diskriminierung gegenüber Familienangehörigen mutmaßlicher „IS“-Mitglieder Insbesondere in der Provinz Ninewa sind Familienangehörige mutmaßlicher „IS“-Mitglieder Diskriminierung und Schikanen durch irakische Behörden und Sicherheitskräfte ausgesetzt. Personenstandsämter und Passbehörden lehnen die Ausstellung von Personenstandsurkunden, Scheidungsurteilen oder Identitätspapieren für diesen Personenkreis ab. Dies hat zur Folge, dass die Betroffenen grundlegender Rechte beraubt werden. Ohne Besitz einer ID sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt, können bei Polizeikontrollen festgenommen und verhört werden. Die vom „IS“ ausgestellten Urkunden werden von den irakischen Behörden grundsätzlich nicht anerkannt. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen insbesondere für Frauen und Mütter, die für die Beantragung von Geburtsurkunden ihrer Kinder die Heiratsurkunde und ggf. die Sterbeurkunde des Vaters benötigen. Da die Ausstellung der vorgenannten Urkunden abgelehnt wird, können sie ihre Kinder nicht einschulen. Ohne Sterbeurkunde ihres Ehemannes haben sie weder das Recht erneut zu heiraten, noch können sie ihren Ehemann beerben. Die Anwendung dieser Kollektivstrafe bedeutet für die betroffenen Personen Perspektivlosigkeit im privaten wie beruflichen Bereich. Es ist auch ein Einfallstor für Korruption und Erpressung, insbesondere in den Lagern für Binnenvertriebene.
5. Lage ausländischer Flüchtlinge
Unter den etwa 335.000 ausländischen Flüchtlingen sind etwa 243.000 Syrer und ca. 40.000 Flüchtlinge aus anderen Gebieten, sowie knapp 50.000 Staatenlose. Ihren Status regelt das „Gesetz über politische Flüchtlinge“, Nr. 51 (1971). Der Entwurf einer Novellierung des Gesetzes wurde bislang nicht verabschiedet. Die Flüchtlinge befinden sich überwiegend in der RKI, in und um Bagdad sowie unmittelbar im Grenzbereich zu Syrien und Jordanien. Die Zahl der Staatenlosen (sog. „Bidouns“) wird vom UNHCR auf mehrere Zehntausende geschätzt. Es handelt sich überwiegend um Beduinen, die aus Kuwait und Saudi-Arabien stammen, sowie um Personen kurdischer und iranischer Abstammung.
römisch IV. Rückkehrfragen
Europa – neben Schweden vor allem Deutschland – gilt als derzeit besonders erstrebenswerte Zielregion für Flucht und Migration, wobei über die Lebensbedingungen in Europa idealisierte Vorstellungen verbreitet sind. 1. Situation für Rückkehrerinnen und Rückkehrer
1.1. Grundversorgung
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht durchgehend und auch nicht in allen Landesteilen gewährleisten. Jenseits des Ölsektors – daraus stammen 90 % der Staatseinnahmen – verfügt Irak kaum über eigene Industrie. Der Hauptarbeitgeber ist die öffentliche Hand. Über 4 Mio. der geschätzt 40 Mio. Iraker sind Staatsbedienstete. Nach Angaben der Weltbank (2018) leben über 70 % der Iraker in Städten, wobei die Mehrzahl der Stadtbewohner in prekären Verhältnissen lebt, ohne ausreichenden Zugang zu öffentlichen Basis-Dienstleistungen. Bedürftige erhalten Lebensmittelgutscheine, mit denen sie in speziellen staatlichen Geschäften einkaufen können. Die vom „IS“ befreiten Gebiete sind immer noch stark durch improvisierte Sprengfallen oder nicht-explodierte Kampfmittel kontaminiert. Einige Städte und Siedlungen sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv von UNDP und internationalen Gebern unterstützt. Deutschland ist seit 2014 mit kumuliert ca. 3 Mrd. Euro einer der größten Geber. Über die befreiten Gebiete hinaus ist im gesamten Land die durch Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur stark sanierungsbedürftig. Die Versorgungslage ist für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Nach Angaben der Weltbank (2020) leben insg. 6,9 Mio. Iraker (rd. 17 % der Bevölkerung) unterhalb der internationalen Armutsgrenze. Aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der CoronaPandemie rechnen internationale Beobachter mit einer seitdem gestiegenen Armutsrate. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Die Stromversorgung ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen. Hinzu kommen Anschläge des „IS“ auf Strommasten. Die Wasserversorgung leidet unter völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen. Sie führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Hinzu kommt Verschmutzung durch (Industrie-)Abfälle. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser. Kritisch wird die Wasserversorgung in den Sommermonaten immer wieder in der Hafenstadt Basra (ca. 2 Mio. Einwohner), die insbesondere im Sommer 2018 unter einer Wasserkrise litt. Über 100.000 Fälle von registrierten Magen-Darm-Erkrankungen waren auf die schlechte Wasserqualität zurückzuführen.
1.2. Rückkehr und Reintegrationsprojekte im Herkunftsland
Von den ca. 6 Mio. durch den „IS“ Vertriebenen sind ca. 4,8 Mio. in ihre Herkunftsorte zurückgekehrt. Gründe für Nichtrückkehr sind überwiegend mangelnde Sicherheit, Kontaminierung durch Sprengfallen, Bedrohung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure (Milizen) sowie innergesellschaftliche Spannungen. Die Regierung hat Anfang November 2020 überraschend angekündigt, dass alle Camps für Binnenvertriebene in Zentralirak bis Ende 2020 aufgelöst werden. Die Aufnahmegemeinden sind auf die Aufnahme der Rückkehrer größtenteils nicht vorbereitet. Von der Regierung organisierte Rückkehrfahrten für mehrere hundert Binnenvertriebene in den vergangenen Monaten sahen sich großem Widerstand der Bevölkerung der Heimatgemeinden ausgesetzt. Die Sicherheit von Rückkehrern aus dem Ausland ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u. a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zwischen Deutschland und Irak gibt es bisher kein Rückübernahmeabkommen. Irak lehnt unfreiwillige Rückführungen bisher mit Hinweis auf verfassungsrechtliche Vorgaben im Grundsatz ab, ist aber in Einzelfällen bereit, Straftäter zurückzunehmen. 2020 wurden 27 irakische Staatsangehörige auf dem Luftweg in ihr Heimatland zurückgeführt. 2021 konnte bislang kein einziger Rückführungsflug durchgeführt werden. Das irakische Außenministerium betont aber die grundsätzliche Durchführbarkeit von Rückführungsflügen mit freiwilligen Rückkehrern und Straftätern. Die freiwillige Rückkehr irakischer Staatsangehöriger aus anderen Staaten liegt auf einem, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten, relativ hohen Niveau. Bis Ende Oktober kehrten im Jahr 2020 insgesamt 474 irakische Staatsangehörige freiwillig mit Unterstützung aus REAG/GARP-Mitteln in ihre Heimat zurück. Im gleichen Zeitraum wurden 473 Irakerinnen und Iraker mit Mitteln aus dem Starthilfe-Plus-Programm unterstützt. Freiwillige Rückkehrer werden von der Bundesregierung durch die von der GIZ betriebenen Beratungszentren in Erbil (eröffnet April 2018) und Bagdad (eröffnet Juni 2019) zur sozialen und wirtschaftlichen Wiedereingliederung unterstützt. In der RKI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Ob sich diese Tendenzen verstetigen, wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der RKI kurz- und mittelfristig verbessern wird.
1.3. Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt: In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. In den vergangenen Monaten kam es aufgrund von Missmanagement zu zwei Großbränden in Krankenhäusern mit insgesamt 175 Toten. Die große Zahl von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Die staatliche medizinische Versorgung in der RKI ist kostenlos bzw. sehr kostengünstig, allerdings qualitativ schlecht und mit langen Wartezeiten verbunden. Private Krankenhäuser auf hohem medizinischem Niveau sind kostspielig und sind nur für die obere Mittelschicht erschwinglich.
2. Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern
Es liegen derzeit keine Erkenntnisse vor, die auf eine systematische Diskriminierung aus Deutschland zurückgeführter Iraker schließen lassen. Vielmehr werden Auslandsaufenthalte und -erfahrungen bei Bewerbungen positiv vermerkt.
3. Einreisekontrollen
Eine Einreise nach Irak ist mit einem gültigen und von der irakischen Regierung anerkannten irakischen Nationalpass möglich. Die irakische Botschaft stellt zudem Passersatzpapiere an irakische Staatsangehörige zur einmaligen Einreise nach Irak aus. Die Türkei erkennt grundsätzlich jedes Dokument, das zur Einreise in die Türkei berechtigt, auch für den Transit nach Irak an. Iraker brauchen für die Türkei kein Transitvisum. Personen, die aus EU-Mitgliedstaaten in die Türkei eingereist sind und in ihren Reisedokumenten (z. B. in Flüchtlingsausweisen) Vermerke wie „nicht gültig für Irak“ tragen, wird die Ausreise aus der Türkei Richtung Irak nicht gestattet. Nachdem die Übergänge an der Landgrenze zur Türkei und nach Iran zur Eindämmung der Corona-Pandemie für mehrere Monate geschlossen waren, sind sie seit Ende 2020 wieder offen und werden genutzt. Aufgrund von ungeklärten Zuständigkeiten zwischen der Zentralregierung und der RKI gibt es weiterhin Unklarheiten über die Kontrolle der Außengrenzen, u.a. zur Türkei. Die angesprochenen Dispute können in der grenzpolizeilichen Kontrollpraxis zu Verzögerungen führen, aber nicht zu Ein- und Ausreiseverhinderungen, jedenfalls nicht aus Gründen, die sich aus Differenzen mit der Zentralregierung ergeben.
4. Abschiebewege
Bei den von der Bundespolizei durchgeführten Rückführungen wird regelmäßig angestrebt, den Zielstaat möglichst direkt zu erreichen, so dass andere Reisewege allenfalls für besonders begründete Ausnahmefälle genutzt werden. Die Nutzbarkeit von Flugverbindungen hängt von den Regularien der jeweiligen Luftverkehrsgesellschaften ab. Daneben sind weitere Verpflichtungen zu beachten, wie beispielsweise bei einer Rückführung in den Zentralirak die Ankündigung durch die deutsche Botschaft bei den irakischen Behörden. Organisatorische Voraussetzung für eine begleitete Rückführung ist ferner, dass die Gefährdungslage eine Reise der deutschen Begleitbeamten zulässt. Die letzte geplante begleitete Rückführung am 2. Dezember 2020 nach Bagdad wurde mit einem Charter-Flug durchgeführt. Nach Bagdad gibt es derzeit keine kommerziellen Direktflüge. Direktflüge von Deutschland nach Erbil bietet derzeit nur FlyErbil an. Indirekte Verbindungen nach Erbil bieten u. a. Austrian Airways, Turkish Airways und Qatar Airways an.
römisch fünf. Sonstige Erkenntnisse über asyl- und abschieberechtlich relevante Vorgänge
1. Echtheit der Dokumente / Zugang zu gefälschten Dokumenten
Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden. Es werden keine Legalisationen durch die Deutsche Botschaft Bagdad oder das Generalkonsulat Erbil vorgenommen. Inhaltliche Urkundenüberprüfungen durch die Botschaft oder das GK Erbil sind derzeitig nicht möglich; die irakischen Behörden leisten keine Amtshilfe. Die von der Botschaft Bagdad durchgeführte Prüfung der formellen Echtheit durch Inaugenscheinnahme irakischer Urkunden im Amtshilfeverfahren für deutsche Behörden wurde im Februar 2013 eingestellt.
2. Meldewesen und Register
Es gibt in Irak weder ein dem deutschen vergleichbares Meldewesen noch ein zentrales Personenstandsregister. Auch existiert kein einheitliches oder übliches Adressenformat. Ein zentrales Fahndungsregister existiert hingegen; Haftbefehle können entweder über eine offizielle Anfrage per Verbalnote beim Außenministerium der Republik Irak oder gegen eine Gebühr über Kontaktanwälte der Botschaft überprüft werden. Auch ein zentrales Strafregister existiert – die irakischen Polizeibehörden, einschließlich der Grenzpolizei, haben sowohl auf das Fahndungs- als auch auf das zentrale Strafregister Zugriff.
3. Zustellungen
Die Deutsche Botschaft Bagdad kann auf Grund der Sicherheitslage nur eingeschränkt tätig werden, ebenso ist die Tätigkeit des Generalkonsulats Erbil begrenzt. Zustellungen durch die Botschaft oder das Generalkonsulat können nur im Wege der persönlichen Aushändigung bewirkt werden. Hierzu muss eine Mobiltelefonnummer/E-Mailadresse des Zustellungsempfängers vorliegen, und dieser muss zur Abholung bereit sein. In Fällen, in denen eine formlose dokumentierte Zustellung gewünscht wird und die genaue Anschrift des Empfängers bekannt ist, kann eine Zustellung durch einen von der Botschaft beauftragten Kurierdienst erfolgen. Hierzu ist eine vorherige Kostenübernahmeerklärung der beauftragenden Behörde erforderlich. Die Bearbeitung von öffentlichen Zustellungen über das irakische Außenministerium scheitert regelmäßig an der fehlenden Kooperation der irakischen Seite; eine Bestätigung der erfolgten Zustellung erfolgt meist nicht.
4. Feststellung der Staatsangehörigkeit
Artikel 18, der Verfassung enthält Bestimmungen zur Staatsangehörigkeit. Gesetz Nr. 26 vom 07.03.2006 (Staatsangehörigkeitsgesetz) enthält folgende Regelungen:
Jede Person irakischer Nationalität soll als irakischer Staatsangehöriger angesehen werden (Artikel 18, Absatz eins, der Verfassung).
Jeder Iraker hat das Recht, mehr als eine Staatsangehörigkeit zu besitzen. Hohe Positionen in Politik, Verwaltung oder dem Sicherheitssektor setzen die Aufgabe der anderen Staatsangehörigkeit voraus (Artikel 18, Absatz 4, der Verfassung; diese Regelung wird nicht konsequent umgesetzt).
Jeder Iraker, der seine irakische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat, weil er eine andere Staatsangehörigkeit angenommen hat, kann auf Antrag wieder eingebürgert werden (Artikel 18, Absatz 3, Litera a, der Verfassung i.V.m. Artikel 10 Absatz 3, des irakischen Staatsangehörigkeitsgesetzes).
Jeder Iraker, dessen Staatsangehörigkeit aus politischen, religiösen, rassischen oder konfessionellen Gründen entzogen wurde, hat das Recht, seine irakische Staatsangehörigkeit (ohne Einbürgerung) zurückzufordern (Artikel 18, Absatz 3, Litera a, der Verfassung i.V.m. Artikel 18, Absatz eins, des irakischen Staatsangehörigkeitsgesetzes).
Die Entscheidung Nr. 666 (1980) des aufgelösten Revolutionären Kommandorats ist aufgehoben. Jeder, dessen Staatsangehörigkeit aufgrund dieser Entscheidung entzogen wurde, erhält die irakische Staatsangehörigkeit (ohne Einbürgerung) zurück (Artikel 17, des irakischen Staatsangehörigkeitsgesetzes). Nach der Entscheidung Nr. 666 konnte jeder ausländischer Herkunft unter Verlust der Staatsangehörigkeit ausgewiesen werden, der sich illoyal zu den Zielen des damaligen Regimes zeigte. Die Staatsangehörigkeit kann durch die irakischen Auslandsvertretungen festgestellt werden. Über die Gründlichkeit der Prüfung liegen keine Erkenntnisse vor.
5. Ausreisekontrolle und Ausreisewege
Eine Kontrolle der eigenen Staatsangehörigen findet bei der Ausreise statt. Fälschungen werden nur selten erkannt (in der RKI häufiger). Es besteht bisher keine Möglichkeit für irakische Grenzbeamte, auf eine zentrale Datenbank ausgestellter Reisepässe zurückzugreifen, sie können allenfalls das Vorstrafenregister einsehen. In Zweifelsfällen können sie jedoch das sog. „Operation Center“ einschalten, das dann Zugriff auf die zentrale Datenbank hätte. Iraker mit gültigem Reisepass genießen Reisefreiheit und können die Landesgrenzen problemlos passieren. Das große Interesse an einer Emigration von Irak in die EU zeigte sich zuletzt bei der Nutzung der Migrationsroute Irak-Belarus-Litauen. Seit Anfang Juli 2021 beförderte Belarus aus Protest gegen EU-Sanktionen aktiv illegale Grenzübertritte von Flüchtlingen und Migranten nach Litauen (4.124 Aufgriffe seit Januar) und zuletzt auch nach Polen. Laut litauischen Angaben stammten über 2/3 der aufgegriffenen Personen (2.799) aus Irak und reisten per Flugzeug aus Bagdad und Istanbul nach Minsk. Nach deutlichem Einwirken der EU und EU-Mitgliedstaaten auf Bagdad untersagte Iraks zivile Flugbehörde am 05.08.2021 nach Aussage des irakischen Transportministers sämtliche irakischen Passagierflüge nach Belarus „bis auf Weiteres“. Nach härterem Vorgehen des litauischen Grenzschutzes und insb. nach Medienberichten über verletzte irakische Flüchtlinge/Migranten und Todesfälle an der belarussisch-litauischen bzw. belarussisch-polnischen Grenze erfolgen gegenwärtig Leerflüge aus Irak nach Minsk, um Heimkehrwillige mitzunehmen. Gemäß irakischem Außenministerium und Medienberichten wurden vom 06.-11.08.2021 insgesamt 829 irakische Staatsangehörige aus Belarus zurückgeflogen. Über freiwillige Rückkehrer aus Litauen ist bislang nichts bekannt.
Aus der im Rahmen der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachten SWP-Studie: Die Kurden im Irak und Syrien nachm dem Ende der Territorialherrschaft des >> Islamischen Staates << vom Juli 2018 ergibt sich:
Nicht erst seit der Bedrohung durch den »Islamischen Staat« (IS) und den turbulenten Entwicklungen nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum vom 25. September 2017, sondern bereits seit langem ist der Irak einer der konfliktreichsten Staaten im Nahen Osten. Auch die »Autonome Region Kurdistan-Irak«, die lange Zeit als eine prosperierende Insel relativer Stabilität galt und deren Zukunftsaussichten noch in jüngerer Vergangenheit verhalten optimistisch bewertet worden waren, 1 ist heute vom Scheitern bedroht. Schon seit Jahren sind indes negative Erscheinungen feststellbar, die die konstruktive Entwicklung Kurdistan-Iraks zu beeinträchtigen drohten. Eine wirklich gefährliche Lage aber beschwor letztlich das Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 herauf, das eigentlich einen neuen positiven Impuls für die Einheit der autonomen Region geben sollte. Das eindeutig positive Ergebnis des Urnengangs für eine Unabhängigkeit hat das Begehren nach Selbständigkeit der Kurden zwar moralisch gestärkt, de facto aber führte das Referendum zu einer erheblichen Schwächung der irakischen Kurden: Im Zuge der harten militärischen Reaktion Bagdads auf das Referendum verloren die Kurden fast alle von ihnen kontrollierten irakischen Gebiete, die sie vom IS befreit hatten. Diese Territorien hatten sie schon als ihr Eigentum betrachtet, obwohl sie gemäß der irakischen Verfassung nicht zur »Autonomen Region KurdistanIrak« gehörten. Durch das Referendum hat sich der alte arabischkurdische Konflikt erneut verschärft. Der Weg zur Vom »kurdischen Dubai« zur Problemregion Der kurdische Teilstaat im Norden des Irak hat bereits lange vor dem Referendum mit strukturellen Problemen zu kämpfen gehabt:
(1) Die wirtschaftliche Situation Kurdistan-Iraks hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert und erholte sich nur langsam. Die Erlöse aus den Ölexporten waren wegen des niedrigen Ölpreises deutlich zurückgegangen und der materialaufwendige und teure Krieg gegen den IS verbrauchte einen großen Teil der ohnehin knappen Ressourcen. Nach Angaben der Weltbank hatte sich das ehedem beeindruckende Wachstum in Kurdistan-Irak um fünf Prozent verlangsamt, während sich die Armutsrate verdoppelt hatte. 3 Monatelang hatte sich die Kurdische Regionalregierung (KRG) nicht in der Lage gesehen, den Beamten und den Milizsoldaten (Peschmerga) ihre Gehälter zu überweisen. Da der öffentliche Sektor der KRG unverhältnismäßig stark aufgebläht ist, war und ist von diesen Schwierigkeiten ein großer Teil der Bevölkerung direkt betroffen. Hinzu kam die weite Verbreitung von Korruption und Misswirtschaft. All dies hatte dazu beigetragen, dass die Regierung in der Bevölkerung zunehmend an Rückhalt verlor.
(2) Zwar hatte die internationale Anti-IS-Koalition den »Islamischen Staat« in Syrien massiv zurückgedrängt, im Irak bestand aber weiterhin eine etwa tausend Kilometer lange Front gegen die Terrororganisation, die hauptsächlich von den kurdischen Peschmerga gehalten wurde. Die Peschmerga fungierten hier praktisch als Bodentruppen der internationalen Anti-IS-Koalition. Sie zahlten in der Erfüllung dieser Aufgabe einen hohen Blutzoll von über 2000 Gefallenen und 10 000 Verwundeten. Auch nach der Befreiung Mossuls im Sommer 2017 ist die Gefahr durch den »Islamischen Staat« nicht völlig gebannt.
(3) Eine weitere Herausforderung waren die ständig steigenden Flüchtlingszahlen, die im Gesamtirak bis zum Juli 2017 auf über 3,3 Millionen angewachsen waren. Bereits 2015 hatte die KRG über eine Million Binnenflüchtlinge aus verschiedenen Regionen des Irak versorgt.5 Durch die Kämpfe um Mossul hatte sich diese Zahl erheblich erhöht. So waren allein aus Ost-Mossul 167 000 Menschen nach Irakisch-Kurdistan geflohen. Im Zuge des monatelangen Kampfes um West-Mossul hatten dann weitere circa 900 000 ihre Heimat verlassen, von denen etwa 400 000 in Kurdistan Aufnahme fanden. 7 Dieser enormen Herausforderung war und ist die kleine Region kaum gewachsen. Viele Kurden erwarteten sich von dem Unabhängigkeitsreferendum einen Befreiungsschlag zur Lösung aller Probleme Kurdistan-Iraks.
(4) Stets belastend war vor dem Referendum auch der Zwist der KRG mit der irakischen Zentralregierung in Bagdad über den Ölverkauf. Noch heute ist die Aufteilung der irakischen Einnahmen aus dem Ölexport zwischen Erbil und Bagdad nicht abschließend und für beide Seiten befriedigend geregelt. Die Zentralregierung hatte sich weitgehend geweigert, Erbil jene 17 Prozent des Staatsbudgets zu zahlen, die Kurdistan nach der Verfassung des Irak zustehen. Bagdad hatte dies damit begründet, dass Erbil »kurdisches« Öl direkt und damit »illegal« exportiere.
(5) Weiterhin offen war auch die Frage, ob die sogenannten »Umstrittenen Gebiete« (Disputed Areas) beim Irak bleiben oder Kurdistan zugeschlagen werden sollten. Das Referendum zu dieser Frage, das der irakischen Verfassung gemäß in diesen Gebieten abzuhalten wäre, hat bis heute nicht stattgefunden. Die Kurden wollten an den Territorien, die sie seit 2014 besetzt hatten, insbesondere an Kirkuk, um jeden Preis festhalten. Dies erklärt sich einerseits mit der von vielen Kurden geteilten Auffassung, Kirkuk sei das »kurdische Jerusalem«. Viel wichtiger war aber die Tatsache, dass nach dem Ausbleiben der irakischen Zahlungen die Erlöse aus dem Verkauf des Öls, das in Kirkuk gefördert wurde, die Haupteinnahmequelle Kurdistan-Iraks bildeten.
(6) In Kurdistan selbst waren bereits vor dem Referendum die alten Rivalitäten zwischen den kurdischen Parteien wiederaufgeflammt, was 2015 zum Zerfall der bis dahin regierenden Allparteienkoalition und zu einer jahrelangen Arbeitsunfähigkeit des Regionalparlaments geführt hatte. Erst im September 2017 trat das Parlament nach langer Pause wieder zusammen, um das von der Regionalregierung geplante Referendum parlamentarisch abzusegnen. Das für den 25. September 2017 angesetzte Unabhängigkeitsreferendum wurde in seiner Bedeutung weithin psychologisch überhöht. Viele Kurden erwarteten sich davon so etwas wie einen Befreiungsschlag zur Lösung aller Probleme des Landes. Obwohl die Kurdische Regionalregierung die Abstimmung im Vorfeld nur als Willensbekundung des kurdischen Volkes deklariert hatte, die nicht sofort in eine Sezession von Bagdad münden würde, erhielten die Kurden dafür nicht die von ihnen erhoffte internationale Unterstützung. Im Gegenteil: Die meisten Staaten sahen in dem Referendum ganz überwiegend die Gefahr, dass damit nicht nur der Irak, sondern unter Umständen die ganze Region weiter destabilisiert werden würde. So sprach sich nicht nur Bagdad, sondern mit wenigen Ausnahmen die gesamte Staatengemeinschaft gegen seine Durchführung aus. Mangelnde innere Konsolidierung: Die Entwicklung der innerkurdischen Machtverhältnisse von 1992 bis 2018 Das politische Leben der irakischen Kurden wird seit jeher von Stämmen und innerhalb der Stämme von dominanten Familien geprägt, die in ihren jeweiligen Regionen den Ton angeben. Auch die Entstehung der beiden großen irakisch-kurdischen Parteien, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), hat an den feudalen Machtstrukturen bislang wenig geändert. KDP und PUK waren immer Instrumente der beiden in Kurdistan führenden Familien Barzani und Talabani, die die Politik weitgehend bestimmen. Dies galt vor und während der Herrschaft von Saddam Hussein und umso mehr nach der Errichtung der Autonomen Region Kurdistan-Irak. Ein kurzer Blick auf die Inhaber zentraler Staatsämter macht die Konzentration der Macht deutlich. Der Barzani-Clan herrscht mit Hilfe der KDP, die 1946 gegründet worden und seither die größte Partei der irakischen Kurden ist. Ihr Vorsitzender Masud Barzani ist der Sohn des legendären Kurdenführers und Gründers der KDP Mustafa Barzani. Masud Barzani war von 2005 bis zu seinem Rücktritt am 1. November 2017 Präsident Kurdistans. Sein Onkel Hoshyar Zebari war erst Außenminister und dann Finanzminister des Irak. Masuds Neffe Nechirvan Barzani ist der heutige Ministerpräsident Kurdistans, und Masuds ältester Sohn Masrur ist Chef des Kurdistan Region Security Council. Die 1975 gegründete Patriotische Union Kurdistans wird von der Talabani-Familie dominiert. Ihr Führer, der am 3. Oktober 2017 in Berlin verstorbene Jalal Talabani, war von 2005 bis 2014 Staatspräsident des Irak. Seine Ehefrau Hero Talabani ist heute eine der einflussreichsten Personen in der PUK. Jalal Talabanis Sohn Qubad bekleidet das Amt des Vize-Ministerpräsidenten in Kurdistan. Ein anderer Sohn, Lahur Talabani, ist der Chef der Kurdistan Intelligence Agency und leitet »Zanjari«, die Anti-Terror-Einheit der PUK. Politische Macht ermöglicht die Vermehrung privaten Reichtums; dieser wiederum führt zu einer Stärkung der politischen Macht. Diese beiden Clans sowie einige weitere wichtige Familien verfügen neben politischem Gewicht auch über erhebliche wirtschaftliche Macht. Ihr Reichtum beruht nicht nur auf Großgrundbesitz, sondern auch auf Privatfirmen, die ihnen gehören oder an denen sie beteiligt sind, und nicht zuletzt auf dem Einfluss, den sie auf die Entscheidungen staatseigener Unternehmen ausüben können. Politische Macht ermöglicht die Vermehrung privaten Reichtums; dieser wiederum führt zu einer Stärkung der politischen Macht. Dieses System der Verflechtung von politischer und wirtschaftlicher Herrschaft in KurdistanIrak wird immer öfter als nepotistisch, von manchen sogar als kleptokratisch bezeichnet.
Nach der ersten Regionalwahl in Kurdistan 1992 regierten KDP und PUK gemeinsam und gleichberechtigt, obwohl die KDP zwei Sitze mehr gewonnen hatte. Dieser Konsens hielt jedoch nicht lange. Bereits 1993 kam es zwischen den Milizen beider Parteien zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die schließlich zu einer faktischen Teilung des Landes führten. Erst 1998 fanden KDP und PUK auf Druck der USA zu einem Burgfrieden. Seither beherrscht die KDP den Nordwesten Kurdistans um die Stadt Erbil und die PUK den Südosten um die Stadt Suleymaniah. 2003 schlossen sich KDP und PUK zur Demokratischen Patriotischen Allianz Kurdistans (kurz: »Kurdische Allianz«) zusammen, in die auch ein paar kleinere Parteien integriert wurden. Im Jahr 2008 kam mit der Gründung einer neuen Partei unter dem Namen Gorran (Wandel) Bewegung ins festgefahrene politische System. Gorran forderte ein Ende des faktischen Machtmonopols von KDP und PUK. Die neue Partei machte die weit verbreite Korruption und Patronage zum Thema und entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem ernsthaften Konkurrenten für die KDP und die PUK. Bei der Wahl 2009 erhielt Gorran auf Anhieb fast ein Viertel aller Stimmen. Die nächste Wahl im Jahr 2013 läutete das Ende des Machtmonopols der beiden alten Parteien ein. Gorran wurde zur zweitstärksten Kraft nach der KDP, kleinere islamistische Parteien erhielten verstärkt Zulauf. KDP und PUK erreichten zusammen nur eine hauchdünne und damit extrem instabile Mehrheit von einem Sitz, weshalb sich Präsident Masud Barzani gezwungen sah, eine Allparteienregierung zu bilden. So wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten erstmals in die Regierungsverantwortung einbezogen, eine positive Lösung, die im Nahen Osten keineswegs selbstverständlich ist. Die kurdische Allparteienregierung war jedoch nicht von Stabilität gekennzeichnet. Durch den krankheitsbedingten Ausfall des PUK-Vorsitzenden Jalal Talabani verlor die PUK ihre zentrale Führungsfigur und zerfiel in mehrere konkurrierende Fraktionen. Parallel dazu lebten die alten Gegensätze zwischen der KDP und der PUK wieder auf und noch im Wahljahr brach die »Kurdische Allianz« auseinander. Andererseits zeigte sich schnell, dass die neue Partei Gorran, obwohl sie formal großzügig an der Regierung beteiligt wurde, nicht bereit war, sich der Politik der KDP und des Präsidenten unterzuordnen. Die junge Partei lehnte es insbesondere ab, Masud Barzani eine weitere außerplanmäßige Verlängerung seiner Amtszeit als Präsident zuzugestehen. Barzani, dessen zweite Amtsperiode bereits 2013 abgelaufen war und der nach der Verfassung kein drittes Mal für das Amt kandidieren durfte, hatte es vermocht, das Parlament für eine außerordentliche Verlängerung seiner Präsidentschaft um weitere zwei Jahre zu gewinnen, die im August 2015 abliefen. Barzani insistierte auf einer erneuten Verlängerung und rechtfertigte dieses Ansinnen mit der Ausnahmesituation des Krieges gegen den IS. Im gleichen Jahr eskalierte der Streit zwischen der KDP und den anderen Parteien über das Prozedere zur Wahl des Präsidenten. Im Oktober 2015 spitzten sich die Proteste wegen ausgebliebener Lohnzahlungen zu. Insbesondere in der Region Suleymaniah kam es im Zuge von Demonstrationen zu Gewaltakten. Bei Angriffen und Brandanschlägen auf KDP-Büros verloren ein KDP-Funktionär und durch den Einsatz der Sicherheitskräfte mehrere Demonstranten ihr Leben. Die KDP beschuldigte Gorran, die Bevölkerung aufgewiegelt und die Anwendung von Gewalt befürwortet zu haben. Als Strafmaßnahme wurden vier Minister der Gorran entlassen und durch KDP-Politiker ersetzt. Dem amtierenden Parlamentspräsidenten von Gorran, Yousif Mohammed Sadiq, wurde der Zutritt zum Regionalparlament untersagt. Die Folge war die Einstellung der Parlamentsarbeit und das Ende der Allparteien-Regierungskoalition. Ab diesem Zeitpunkt wurde Kurdistan-Irak von der nun deutlich dominierenden KDP unter Präsident Masud Barzani regiert. Die erneute Verlängerung von Barzanis Amtsperiode war weder vom Parlament noch von der Bevölkerung autorisiert worden. Als Legitimation diente die Entscheidung des Consultative Councils (Shura) vom August 2015, der zufolge es Barzani erlaubt sein sollte, bis zur Neuwahl eines Nachfolgers weiter zu regieren. Die Konstituierung dieses Gremiums aus den zwölf höchsten Richtern des Landes war 2008 vom Parlament beschlossen worden, als Instanz, die mögliche Differenzen zwischen dem Parlament, der Regierung und dem Präsidenten lösen sollte.
Im September 2017 kündigte Barham Salih, der bisherige stellvertretende Vorsitzender der PUK und frühere Premierminister an, mit einer neuen Partei namens »Bündnis für Demokratie und Gerechtigkeit« zur nächsten Regionalwahl anzutreten. Damit wurde die PUK, die seit dem krankheitsbedingten Ausfall und Tod von Talabani schon in mehrere Flügel zerfallen war, noch weiter geschwächt. Weder das Parlament noch die Bevölkerung hatten der erneuten Verlängerung von Barzanis Amtsperiode zugestimmt. Wegen der bedeutenden Rolle Kurdistan-Iraks im Kampf gegen den IS betrachtete die internationale Gemeinschaft die internen Konflikte und die damit einhergehende politische Instabilität mit Sorge. Im Mai 2017 verkündeten KDP und PUK, das Regionalparlament gemeinsam einzuberufen und im November 2017 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Zu diesen Wahlen ist es jedoch bisher aufgrund der Auseinandersetzungen um das Unabhängigkeitsreferendum und dessen Folgen nicht gekommen. Bei den gesamtirakischen Parlamentswahlen am 12. Mai 2018 traten KDP und PUK mit getrennten Listen an. Die Diskussionen über Unabhängigkeit und Territorien Das Verlangen der irakischen Kurden nach Unabhängigkeit ist älter als der Staat Irak. Entsprechende Aspirationen hat es schon im Osmanischen Reich gegeben. Nach dessen Zerfall erkannten England und Frankreich in den Verhandlungen von Sèvres 1920 erstmals das Selbstbestimmungsrecht der Kurden an. Dem in Sèvres geschlossenen Vertrag zufolge sollten die Kurden autonome Regionen erhalten. Auch deren Zusammenschluss zu einem eigenen Staat wurde nicht ausgeschlossen. Doch schon im Frieden von Lausanne 1923 und auch, als der Irak 1930 seine Unabhängigkeit errang, war davon nicht mehr die Rede. In den folgenden Jahrzehnten wechselten sich Zeiten der Duldung kurdischer Bemühungen um mehr Selbstbestimmung mit Phasen intensiver Repression ab. Der brutalste Versuch, die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterdrücken, war die sogenannte Anfal-Kampagne unter Saddam Hussein in den Jahren 1988/89, die Dimensionen eines Völkermords annahm. Nach Schätzungen von »GenocideWatch« wurden im Zuge dieser Operation 182 000 Kurden getötet, etwa eine Million vertrieben und das kurdische Siedlungsgebiet im Irak weitgehend verwüstet. 15 Erst 1991 verschaffte die Einrichtung einer Flugverbotszone, die hauptsächlich von den USA und Großbritannien überwacht wurde, den Kurden die Gelegenheit zur Rückkehr. Unter internationalem Schutz erlebte Kurdistan-Irak daraufhin einen beachtenswerten Aufschwung zu einer florierenden Region. Dies war zwar nicht die ersehnte Unabhängigkeit, immerhin aber wurde der kurdische Nord-Irak in der irakischen Verfassung von 2004 als »Autonome Region Kurdistan« mit eigenem Parlament und eigener Regierung anerkannt. Die Region entsendet Abgeordnete in das irakische Parlament und stellt auch seit 2005 den Staatspräsidenten. Gleichwohl hielten die Kurden ihren Anspruch auf eine künftige völlige Eigenstaatlichkeit aufrecht. Sie forderten außerdem, dass auch die Gebiete, die vor der Arabisierungspolitik Saddam Husseins überwiegend kurdisch besiedelt gewesen waren, ihrer Verwaltung unterstellt würden. Bei diesen sogenannten »disputed areas« handelt es sich vorwiegend um die Provinz Kirkuk und Teile von vier weiteren Provinzen, aus denen unter Saddam Hussein viele Kurden vertrieben und in denen dafür Araber angesiedelt wurden. In all diesen Landesteilen gibt es seit der osmanischen Zeit zudem eine turkmenische Minderheit. Im Sindschar-Gebirge leben die Kurdisch sprechenden Jesidi, die sich jedoch mehr über ihre Religion als über ihre ethnische Zugehörigkeit definieren. Wie wichtig diese umstrittenen Gebiete sowohl für die Kurden als auch für den Zentralstaat sind, zeigt sich daran, dass nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) allein 40 Prozent des im Irak produzierten Öls aus der Provinz Kirkuk stammen. Die irakische Verfassung von 2005 sieht die Zuordnung der umstrittenen Gebiete an Kurdistan-Irak für den Fall vor, dass sich bis Ende 2007 eine Mehrheit für den Beitritt zur Autonomen Region entscheidet. Die irakische Verfassung von 2005 kam diesen Forderungen der Kurden weit entgegen. Ihr Artikel 140 sieht die Zuordnung der umstrittenen Gebiete an Kurdistan-Irak für den Fall vor, dass sich bei einer Volksabstimmung, die bis spätestens 2007 in diesen Gebieten hätte abgehalten werden müssen, die Mehrzahl der Wähler für den Beitritt zur Autonomen Region entscheidet. Vorbedingung für dieses Referendum wiederum sollten eine Normalisierung der Verhältnisse, die Rückkehr von Flüchtlingen und eine Volkszählung sein. Das Referendum nach Artikel 140 hat bis heute nicht stattgefunden. Faktisch aber beherrschten die Kurden bis zum Unabhängigkeitsreferendum 2015 fast alle diese Territorien, spätestens seit sie im Kampf gegen den IS Kirkuk und die umliegenden Gebiete eingenommen hatten. Viele Kurden vertrauten darauf, dass damit Fakten geschaffen worden waren und sich die Frage eines Referendums über die umstrittenen Gebiete erledigt hätte. Der kurdische Ministerpräsident Nechirvan Barzani hatte am 5. Juni 2017 vollmundig festgestellt: »Es gibt keine umstrittenen Gebiete mehr«.
Ziele der inländischen Akteure und ihrer regionalen Verbündeten Im Irak Saddam Husseins hatte nicht nur die Minderheit der Kurden, sondern auch die Bevölkerungsmehrheit der Schiiten unter der Dominanz der Sunniten zu leiden. Der Sturz des Diktators und die amerikanische Besatzung veränderten die innerirakischen Machtverhältnisse zugunsten der Schiiten. Dies führte jedoch zu neuen Konflikten. So war es nur folgerichtig, dass sich die inländischen Akteure an die Nachbarstaaten wandten und um Hilfe baten. Diese wiederum boten gern Unterstützung an, da sie auf diese Weise Gelegenheit erhielten, eigene Interessen und Ziele durchzusetzen. Die fragile türkisch-kurdische Allianz Die vor dem Referendum überaus engen Bindungen zwischen Kurdistan-Irak und der Türkei hatten sowohl politische als auch wirtschaftliche Gründe. Politisch passte das Entstehen einer weitgehend von Bagdad unabhängigen kurdischen Region bestens zu der (neo-osmanischen) Strategie Ankaras, zwischen sich und der arabischen Welt einen von der Türkei abhängigen oder zumindest der Türkei gegenüber freundlich gesonnenen Pufferstaat zu haben. Die politische Annäherung war so weit gegangen, dass die KDP sich beim türkischen Verfassungsreferendum 2017 über die Einführung des Präsidialsystems für ein »Ja« und damit für eine Ausweitung der Macht des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ausgesprochen hatte. Auf wirtschaftlicher Ebene hatte die enge Zusammenarbeit mit der Türkei Kurdistan-Irak erst lebensfähig gemacht. Der grenzübergreifende Austausch mit der Türkei hatte noch während der Herrschaft Saddam Husseins unter dem Schutz der Flugverbotszone begonnen und Kurdistan-Irak einen enormen ökonomischen Boom beschert, von dem auch die türkische Wirtschaft in Südost-Anatolien profitierte. Denn es waren überwiegend türkische Firmen, die den Wiederaufbau der Infrastruktur und der zerstörten Wohngebäude übernahmen. Darüber hinaus importierte die Autonome Region in großem Umfang türkische Waren des täglichen Bedarfs und landwirtschaftliche Produkte. So exportierte die Türkei 2016 Dienstleistungen und Güter im Wert von insgesamt 7,64 Milliarden US-Dollar nach Kurdistan-Irak.20 Besonders intensiv entwickelte sich die Kooperation im Energiesektor. Im Dezember 2015 einigten sich Kurdistan-Irak und die Türkei darauf, künftig gemeinsam Gas zu fördern. Zu diesem Zweck erwarb der türkische Ölkonzern TPAO für 1,5 Milliarden US-Dollar große Anteile an kurdischen Gasfeldern.21 Diese Vereinbarung schuf eine mustergültige »Win-win«-Situation: Kurdistan-Irak erhielt dringend benötigte Devisen und die Türkei konnte ihre Energieimporte diversifizieren und so ihre Abhängigkeit von einzelnen Anbietern vermindern. Ankara befürchtet, dass ein selbständiger Staat Kurdistan-Irak die Autonomiebestrebungen der circa 13 Millionen Kurden in der Türkei anstacheln würde. Die Beziehungen der Türkei zu Kurdistan-Irak waren und sind jedoch ambivalent. Einerseits wurden gegenseitige Besuche auf höchster politischer Ebene Normalität, andererseits war dieses gute Verhältnis durch die Ambitionen der irakischen Kurden auf Eigenstaatlichkeit dauernd belastet. Die Befürchtung Ankaras, dass ein selbständiger Staat Kurdistan-Irak die Autonomiebestrebungen der circa 13 Millionen Kurden in den östlichen und südöstlichen Provinzen der Türkei anstacheln würde, konnte von Erbil nie ganz ausgeräumt werden. Der Hauptkonfliktstoff zwischen der Türkei und Kurdistan-Irak ist aber nicht die Politik Erbils, sondern die Anwesenheit der türkisch-kurdischen PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) auf dem Gebiet der Autonomen Region. Ungeachtet ihrer ethnischen Verwandtschaft besteht eine tiefe ideologische Kluft zwischen der PKK und den großen irakischen Kurdenparteien. Während die PKK aus einer marxistischen Studentenorganisation entstanden ist und Konzepte des Kollektivs und des Gemeineigentums bei ihr noch heute eine wichtige Rolle spielen, sind die irakischen Kurden eindeutig Verfechter der Marktwirtschaft. Seit langem nutzt die PKK in ihrem Kampf gegen das türkische Militär neben Nord-Syrien auch Kurdistan-Irak als Rückzugsgebiet. Als Reaktion auf Anschläge von dort haben die türkischen Luftstreitkräfte immer wieder PKK-Stellungen im Nord-Irak angegriffen, worunter auch die kurdische Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Mehrfach ist die Türkei mit Bodentruppen in beachtlicher Stärke in den Norden des Irak eingerückt und Ankara unterhält dort sogar militärische Stützpunkte, die von der KRG geduldet werden. Seit 2016 versucht die PKK, sich auch im Sindschar-Gebirge festzusetzen. Das Verhältnis der irakischen Kurden zur PKK ist mehr als gespannt. In den 1990er Jahren war es zwischen der KDP und der PKK zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, die sich über mehrere Jahre hingezogen hatten. Die PKK verlagerte danach ihre Stellungen im Nord-Irak von der türkeinahen Grenzregion, die unter KDP-Kontrolle stand, in das KandilGebirge nahe der iranischen Grenze. Da die dort tonangebende PUK deutlich PKK-freundlicher ist, brachte dieser Umzug für das Verhältnis der Türkei zu den irakischen Kurden keine wesentliche Entspannung. Wie fern sich KDP und PKK und wie nah sich dagegen PUK und PKK stehen, zeigt die Tatsache, dass eine Konferenz des PKK-nahen Kurdischen Nationalkongresses (KNK), die im Juli 2017 in Erbil von Barzani verhindert worden war, daraufhin mit der PUK als Gastgeber in Suleymaniah stattfand. Seit 2016 versucht die PKK, sich auch im Sindschar-Gebirge festzusetzen, das sich westlich von Mossul bis an die syrische Grenze erstreckt. Der Sindschar ist Teil der zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebiete, und die Bestrebungen der PKK, in dem Gebirge Fuß zu fassen, lösten umgehend Drohungen Barzanis aus, die PKK mit Gewalt zu vertreiben. Noch entschiedener waren die Reaktionen der Türkei: Ankara war so sehr daran gelegen, die Etablierung einer weiteren PKK-Hochburg zu verhindern, dass die türkische Luftwaffe trotz deutlicher internationaler Kritik im April 2017 PKK-Stellungen im Sindschar-Gebirge massiv bombardierte. Der Iran als Partner und Gegner der kurdischen Parteien im Irak An seiner Nordwestgrenze stößt Kurdistan-Irak an den Iran. In den dortigen iranischen Grenzprovinzen leben circa fünf Millionen Kurden. Deren Kampf um Autonomie innerhalb des iranischen Staates wurde von Teheran immer wieder blutig unterdrückt, wie die Ermordung der Führer der Kurdischen Demokratischen Partei-Iran (KDP-I), Abdul Rahman Ghassemlou 1998 in Wien und Sadegh Sharafkandi 2002 in Berlin (Mykonos-Attentat), zeigt. Die Tatsache, dass die heutige Führung der KDP-I, eine Schwesterpartei von Barzanis KDP, im Nord-Irak Asyl genießt, belastet seit Jahren das Verhältnis Teherans zur KDP. Deutlich besser sind dagegen die Beziehungen Irans zur PUK. Teheran sieht in dem Projekt eines unabhängigen Kurdistans an seiner Westgrenze eine direkte Bedrohung seiner Interessen und scheut sich deshalb nicht, Kurdistan-Irak mit allen Mitteln zu destabilisieren. In den 1990er Jahren fokussierte sich die iranische Regierung dabei auf den internen Konflikt zwischen den kurdischen Parteien und unterstützte die PUK gegen die KDP. Auch nach dem Zerbrechen der Kurdischen Allianz schlug sie sich auf die Seite der PUK und nun auch der Partei Gorran. Belege dafür sind die vielen Iran-Besuche der PUK-Führer (sogar der kranke Talabani reiste 2017 nach Teheran), die diversen Trainingsmaßnahmen für PUK-Kader27 und die zunehmende Intensität der Kontakte der PUK zum Milizenbündnis »Volksmobilisierung« (Haschd asch-Scha‘bi), das unter iranischer Ägide steht.
Der Sturz Saddam Husseins durch die USA und die anschließende Zerschlagung der Baath-Partei haben die sunnitische Dominanz im Irak beendet und die bis dato politisch unterrepräsentierten Schiiten zur stärksten Kraft in Bagdad gemacht. Damit wurde dem Einfluss Teherans auf den Irak Tür und Tor geöffnet, was sich besonders unter der Regierung Nuri al-Maliki zeigte. Der Wechsel von Maliki zu Haider al-Abadi hat daran grundsätzlich nichts geändert. Zwar gilt Abadi als eher pro-westlich orientiert, doch ist die Stellung Teherans dadurch bisher nicht wesentlich geschwächt worden. Denn als Führer der schiitisch-islamischen Dawa-Partei verfügt Maliki nach wie vor über eine starke Position, und gleichzeitig wächst die Macht einer Reihe anderer schiitischer Organisationen, die von Teheran gesteuert werden, allen voran die BadrOrganisation, die als einflussreichstes Instrument der iranischen Politik im Irak gilt. Sie ist die dominante Kraft innerhalb des Bündnisses Haschd asch-Scha‘bi. Die Badr-Organisation und die »Quds-Brigaden« unter Führung des iranischen Generals Qassem Soleimani sind im Irak die schlagkräftigsten Milizen im Kampf gegen den IS und ein wirkungsvolles Mittel Teherans zur Durchsetzung seiner Ziele im Nachbarland. Dass Irans Einflussnahme auf die irakischen Schiiten aber nicht unumstritten ist, zeigen seit Juli 2017 verschiedene Äußerungen und Gesten schiitischer Politiker im Irak, die eindeutig als Beginn einer Distanzierung von Teheran gewertet werden können. So kündigte Ammar al-Hakim, bisheriger Chef des weitgehend von Teheran gelenkten »Islamischen Rates« (Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq, SCIRI) seinen Rückzug aus dieser schiitischen Dachorganisation und die Gründung einer neuen Partei an. Der ebenfalls sehr einflussreiche Geistliche und Milizenführer Muktada al-Sadr besuchte demonstrativ Saudi-Arabien, Irans Hauptgegner in der Region, wo er mit allen Ehren empfangen wurde. Der höchste schiitische Würdenträger im Irak, Ajatollah al-Sistani, denkt laut über die Bildung eines »Zivilstaats« nach, was für die iranische Führung mit ihrem Staatsverständnis der »Statthalterschaft des Rechtsgelehrten« einen Affront bedeutet. Ein weiteres Signal der Distanzierung war, dass Ministerpräsident Haider al-Abadi der Amtseinführung des iranischen Präsidenten Hassan Rouhani ferngeblieben ist.30 Der Sturz Saddam Husseins durch die USA hat die sunnitische Dominanz im Irak beendet und die Schiiten zur stärksten Kraft in Bagdad gemacht. Unabhängig davon, wie eng die Bindung der irakischen Schiiten an Teheran ist, wird die Stellung der kurdischen Peschmerga, die vor dem Hintergrund des desolaten Zustands der irakischen Armee lange als mächtigste militärische Kraft im Irak galten, von den erstarkten schiitischen Milizen gefährdet. Erste Zusammenstöße zwischen den vom Iran gesteuerten Milizen und den Peschmerga hatten bereits vor dem Referendum darauf hingedeutet, dass sich hier eine neue Front aufbaut. Irakische Sunniten ohne starke Partner Die jahrzehntelang dominierenden irakischen Sunniten erlitten mit Saddam Husseins Sturz und der darauf folgenden amerikanischen Besatzung einen gravierenden Bedeutungsverlust. Durch die Entlassung aller Führungspersönlichkeiten der Baath-Partei aus Schlüsselpositionen in Verwaltung und Militär hat der von den USA eingesetzte Zivilverwalter Paul Bremer die Sunniten politisch weitgehend entmachtet. Die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten wurden durch den autokratischen Regierungsstil des schiitischen Premiers Maliki zusätzlich verschärft. Seither versuchen die Sunniten, immerhin ein Viertel der irakischen Bevölkerung, ihre alte Position wiederzuerlangen. Dem steht nicht nur die Tatsache entgegen, dass sie numerisch in der Minderheit sind, sie müssten auch erst ihre interne Spaltung überwinden. Ein pragmatischer Flügel ist bereit, sich mit den machthabenden Schiiten zu arrangieren, um wenigstens einen Teil des Einflusses, über den die Sunniten unter Saddam verfügten, zurückzugewinnen. Andere Gruppierungen streben eine Autonomie innerhalb des Irak an, also einen föderalen sunnitischen Teilstaat analog zur Autonomen Region Kurdistan. Und nicht zuletzt gibt es Kräfte innerhalb der sunnitischen Minderheit, die nach wie vor mit dem IS sympathisieren. Diese interne Fraktionsbildung macht die irakischen Sunniten für die sunnitischen Nachbarstaaten zu einem schwer zu berechnenden Partner. Weder Saudi-Arabien noch Syrien erschienen lange Zeit willens oder in der Lage, sich im stärkeren Maße zugunsten der Sunniten im Irak einzusetzen. Dies jedoch wird sich schnell ändern, wenn der Einfluss des Iran im Irak weiterwächst. So hat Riad bereits wieder diplomatische Beziehungen mit Bagdad aufgenommen. Neuer Hoffnungsträger Russland Nicht erst seit seiner massiven Intervention in den Syrien-Konflikt, sondern schon davor wurde erkennbar, dass Russlands Interesse an Kurdistan wächst. Offensichtlich verfolgt Moskau dabei nicht nur ökonomische, sondern auch geostrategische Ziele. Das erlahmende Interesse der USA an Kurdistan-Irak öffnet Räume, die zunehmend von Russland gefüllt werden. Diverse Reisen kurdischer Spitzenpolitiker nach Moskau und vor allem das ausgeprägte wirtschaftliche Engagement Russlands in der Region sprechen eine deutliche Sprache. Seit 2012 engagiert sich Gazprom Neft im NordIrak, wo der russische Ölgigant inzwischen auf den drei Ölfeldern Garmian, Halabia und Shakal aktiv ist. Am 2. Juni 2017 unterzeichnete der kurdische Ministerpräsident Nechirvan Barzani einen Kontrakt mit zwanzigjähriger Laufzeit mit Rosneft, in dem der staatliche russische Ölkonzern Investitionen in Höhe von drei Milliarden US-Dollar in Kurdistan in Aussicht stellte.32 Weil die dafür vorgesehenen großen Ölfelder um Kirkuk seit Oktober 2017 aber nicht mehr unter kurdischer Kontrolle sind, war zunächst offen, ob diese russischen Investitionen wie geplant getätigt werden konnten. Ende Mai 2018 verkündete Rosneft jedoch, dass auf dem »St. Petersburg International Economic Forum« ein Vertrag zur Entwicklung der Öl- und Gas-Infrastruktur mit der KRG unterzeichnet worden ist, der auch die Planung einer neuen Erdgaspipeline einschließen soll. Vorgeschichte des Unabhängigkeitsreferendums Bereits im Juli 2014 hatte der damalige Präsident Kurdistan-Iraks, Masud Barzani, die Diskussion über eine Abstimmung eröffnet, in der die Kurden NordIraks über ihre Unabhängigkeit von Bagdad entscheiden sollten. US-Außenminister John Kerry jedoch bat Barzani, einen entsprechenden Urnengang auf die Zeit nach dem Sieg über den »Islamischen Staat« zu verschieben. Hinsichtlich der völkerrechtlichen Zulässigkeit eines solchen Referendums berufen sich die Kurden gern auf frühere Fälle, in denen Teilgebiete von Staaten über ein Referendum Unabhängigkeit erlangten. Als Beispiel dafür wird gern Montenegro angeführt, dessen Trennung von Serbien nach einem Referendum die Weltgemeinschaft akzeptierte, auch wenn bei dem Urnengang nur ganz knapp das notwendige Quorum erreicht worden war. Zudem sei das von allen Gegnern einer kurdischen Unabhängigkeit immer wieder vorgebrachte Argument des »Prinzips der Unantastbarkeit der territorialen Integrität von Staaten« nicht anwendbar. Denn dieses Prinzip beziehe sich nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs von 2010 zu Kosovo auf das Verhältnis von Staaten untereinander und schließe deshalb die Möglichkeit nicht aus, dass sich Teile von Staaten für unabhängig erklären. Zwar ist die Rechtslage alles andere als eindeutig, doch die Kurden hofften, die internationale Gemeinschaft werde bei einem klar positiven Ergebnis des Referendums den Entschluss der Bevölkerung anerkennen. Am 7. Juni 2017 beschlossen 15 kurdische Pateien, das Plebiszit über die künftige Unabhängigkeit von Kurdistan-Irak am 25. September 2017 abzuhalten. Die Abstimmung sollte sowohl auf dem Territorium des von keiner Seite her in Frage gestellten kurdischen Teilstaats als auch unter Einbeziehung der Kurden in den umstrittenen Gebieten durchgeführt werden. Insbesondere das letztere Ansinnen stieß im Irak auf starken Widerstand, gehörten diese Territorien doch nicht zur Autonomen Region Kurdistan-Irak, sondern wurden von ihr nur militärisch kontrolliert. Deshalb war die Abstimmung in diesen Zonen für den Irak inakzeptabel, ganz abgesehen davon, dass Bagdad mit einer Abspaltung dieser Gebiete auch das ölreiche Kirkuk verlieren würde. Die Kurden hofften, die internationale Gemeinschaft werde bei einem klar positiven Ergebnis des Referendums den Entschluss der Bevölkerung anerkennen. Masud Barzani hatte immer wieder betont, dass ein positives Votum nicht automatisch eine sofortige Unabhängigkeitserklärung nach sich ziehen werde. Das Votum solle vielmehr für die Weltöffentlichkeit den Willen der kurdischen Bevölkerung dokumentieren und als Basis für Verhandlungen mit der Zentralregierung dienen. Vermutungen, dass Barzani von der prekären wirtschaftlichen Lage ablenken und mit dem Referendum primär seine Macht stützen wollte, gab es ebenso wie den Verdacht, dass es ihm dabei allein um die Verwirklichung seines politischen Vermächtnisses ging. Unter den kurdischen Parteien im Irak standen die KDP und die christlichen Parteien voll hinter dem Referendum. PUK und Gorran waren in dieser Frage gespalten.
Die Tatsache, dass die Kurden selbst in Sachen Referendum nicht mit einer Stimme sprachen, schwächte ihre Verhandlungsposition gegenüber Bagdad. Meinungsunterschiede gab es auch darüber, ob das Parlament gehört werden müsse oder nicht. PUK und Gorran machten die Einbeziehung des Parlaments zu einer Vorbedingung, die KDP war zuerst der Ansicht, darauf verzichten zu können, sprach sich dann aber ebenfalls dafür aus, dass das Parlament zuvor eine Entscheidung würde fällen müssen. Zum anderen gab es einen Dissens über den richtigen Zeitpunkt des Referendums. Insbesondere im Süden und in der Stadt Suleymaniah setzte sich eine Kampagne unter dem Motto »Nicht jetzt« für eine Verschiebung der Abstimmung ein. Letztlich votierte im Regionalparlament dann aber am 15. September 2017 eine große Mehrheit für die Abhaltung des Referendums. Im Irak stehen sowohl Schiiten als auch Sunniten einer kurdischen Unabhängigkeit seit jeher ablehnend gegenüber. Einige wenige Stimmen, die die Initiative zu dem Referendum nicht von vornherein missbilligten, verstummten schnell und bald hatte sich in Bagdad die harte Linie einer strikten Ablehnung durchgesetzt. Insbesondere schiitische Politiker drohten unverhohlen mit Gewalt. Maliki erklärte, dass Bagdad die Schaffung eines »zweiten Israel im Nord-Irak« nicht dulden werde. Der Kommandeur der schiitischen Miliz Haschd asch-Scha‘bi, Hadi alAmiri, prophezeite sogar, ein Trennungsprozess werde unvermeidlich einen »blutigen Ausgang« (bloody outcome) haben. Es war deshalb offensichtlich, dass – wenn das Referendum positiv ausgehen sollte – eine sofortige Umsetzung des Votums schon angesichts des heftigen innerirakischen Widerstands sehr schwer werden würde. Die Gefahr, dass aus diesem Konflikt ein neuer innerirakischer Bürgerkrieg erwachsen könnte, war real. In Teheran hatte sich der religiöse Führer Ayatollah Ali Khamenei offen gegen das Referendum ausgesprochen, da es den Irak spalte. Präsident Hassan Rouhani hatte den kurdischen Plan sogar als »inakzeptabel« bezeichnet. Die iranischen Kurden dagegen begrüßten das Referendumsvorhaben und kritisierten die Ablehnung durch das iranische Regime. Die KDP-I deutete iranische Bombenangriffe auf Irakisch-Kurdistan und das Zurückhalten von Wassern des Kleinen Zab als Versuche, Erbil durch massiven Druck von der Durchführung des Referendums abzubringen. Im Irak stehen sowohl Schiiten als auch Sunniten einer kurdischen Unabhängigkeit seit jeher ablehnend gegenüber. Ankara, das seit langem gute Beziehungen zu Erbil pflegt, war immer darauf bedacht, dass Kurdistan Teil des Irak bleibt. Mehr noch, in der türkischen Führung wird eine kurdische Eigenstaatlichkeit seit jeher als »casus belli« bezeichnet. Zu groß ist dort die Befürchtung, dass eine solche Staatsgründung eine verhängnisvolle Sogwirkung auf die Kurden in der Türkei haben könnte. Entsprechend beschwor Erdoğan in einem Statement im Juli 2017 die territoriale Integrität des Irak und forderte die Kurden auf, keine einseitigen Schritte zu unternehmen und auf das Referendum zu verzichten Auf kurdischer Seite herrschte jedoch lange die Hoffnung, die Türkei könne das Referendum tolerieren, wenn Erbil Ankara dafür mehr Freiheiten bei der Bekämpfung der PKK im Nord-Irak einräumen würde. Damaskus war zu diesem Zeitpunkt wegen seines eigenen Kurdenproblems, des Kampfes gegen den IS und aufgrund des Bürgerkriegs zu sehr mit seinen internen Konflikten beschäftigt, als dass es sich aktiv in innerirakische Belange hätte einmischen können.
Internationale Reaktionen
Obwohl die internationale Staatengemeinschaft theoretisch dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verpflichtet ist, reagierten die wichtigsten Staaten auf den kurdischen Vorstoß ähnlich negativ wie die unmittelbaren Nachbarn Iraks. Ein wichtiger Grund dafür war die territoriale Überdehnung des Referendums, das heißt die Absicht der Kurden, die Abstimmung auch in den umstrittenen Gebieten durchzuführen. In den USA überwogen die Stimmen, die das Referendum ablehnten, nur wenige sprachen sich dafür aus. Die Hoffnung der Kurden, dass sich in Washington unter Präsident Trump eine positivere Haltung durchsetzen könnte, erfüllten sich nicht. Die amerikanische Regierung in Person von Außenminister Rex Tillerson sprach sich ausdrücklich gegen die Abstimmung aus. Im US-Kongress machte das House Armed Services Committee die Freigabe von Hunderten Millionen Dollar für die Peschmerga von Erbils »Beteiligung an der Regierung eines geeinten Irak« abhängig. Der US-Sondergesandte für den Kampf gegen den IS, Brett McGurk, bemühte sich bei einem Besuch in Erbil vergeblich, das Referendum auf das Frühjahr 2018 verschieben zu lassen. In verschiedenen Hauptstädten der EU meldeten sich Politiker und andere Persönlichkeiten zu Wort, die aufgrund langjähriger Beziehungen zu den irakischen Kurden der angestrebten Unabhängigkeit Kurdistans positiv gegenüberstanden. Die wichtigsten EU-Staaten jedoch brachten klar zum Ausdruck, dass sie das Referendum ablehnten. Die offiziellen Gremien der EU und das EU-Parlament haben sich nicht explizit, aber indirekt gegen das Referendum ausgesprochen, indem sie dem Erhalt der staatlichen Einheit des Irak höchste Priorität einräumten.
»Der Kampf der Peschmerga gegen den ›Islamischen Staat‹ verteidigt zugleich die Sicherheit Deutschlands« (Außenminister Gabriel, April 2017).
Die Bundesregierung betrachtete die Kurden im Nord-Irak als wichtiges Bollwerk gegen den IS, was es zu unterstützen galt. »Der Kampf der Peschmerga gegen den ›Islamischen Staat‹ verteidigt zugleich die Sicherheit Deutschlands«, sagte Außenminister Sigmar Gabriel im April 2017 bei einem Besuch in Kurdistan-Irak. Deutschlands Waffenlieferungen in dieses Konfliktgebiet, die 2014 begannen, waren in der kurdischen Öffentlichkeit vielfach als Unterstützung des Unabhängigkeitswunsches der Region Kurdistan-Irak verstanden worden. Berlin hat diese Interpretation stets strikt zurückgewiesen. In der deutschen Regierung überwog eindeutig die Furcht vor den Folgen eines Zerfalls des irakischen Staates. Außenminister Gabriel erteilte daher den kurdischen Referendumsplänen eine deutliche Abfuhr, was in Erbil große Enttäuschung auslöste. Vom Deutschen Bundestag gab es dazu kein Votum, nur unterschiedliche Stellungnahmen einzelner Bundestagsabgeordneter. Deutsche Waffenlieferungen gab es 2017 nicht mehr und sollte es nach Aussage von Außenminister Gabriel auch künftig nicht mehr geben. Diese für die Kurden enttäuschende Entscheidung war aber weniger auf die Einwände der Bundesregierung gegen die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen zurückzuführen. Der Grund dafür lag eher in der Befürchtung, dass diese Waffen in innerirakischen Konflikten, zum Beispiel zwischen den Kurden und den
Haschd-asch-Scha‘bi-Milizen, eingesetzt oder dereinst gegen die Zentralregierung gerichtet werden könnten. Neben dieser Fülle von Staaten, die das geplante Unabhängigkeitsreferendum skeptisch beurteilten und größtenteils ablehnten, gab es nur wenige Länder, die dem Vorhaben der Kurden positiv gegenüberstanden: In Russland wurde auf die langen historischen Beziehungen zu den irakischen Kurden abgehoben und auf die wirtschaftliche Kooperation der Firmen Gazprom und Rosneft mit der Autonomen Region Kurdistan hingewiesen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow betonte in einem Interview, dass die Kurden selbstverständlich das Recht hätten, ihre Unabhängigkeitsaspirationen in einem Referendum zu äußern. Dieser Prozess müsse aber friedlich verlaufen, wobei Moskau sowohl Bagdad als auch Erbil unterstützen werde. Israel ist einer der wenigen Staaten, die die Unabhängigkeitsbestrebungen von Kurdistan-Irak ohne Wenn und Aber befürworteten. Dies beruht zu einem großen Teil auf der in Israel verbreiteten Sympathie für die Kurden, deren Kampf um einen eigenen Staat viele Israelis an die eigene Geschichte erinnert. Viel mehr noch aber betrachtet Tel Aviv die Kurden als wichtige Verbündete gegen die Araber und als Partner in dem Bemühen, den Einfluss des Iran in der Region einzudämmen. Kurdistan-Irak profitiert daher seit langem von politischer und militärischer Unterstützung durch Israel.
Israel ist einer der wenigen Staaten, die die Unabhängigkeitsbestrebungen von Kurdistan-Irak ohne Wenn und Aber befürworteten. Insgesamt ist festzustellen, dass der Druck auf die irakischen Kurden, auf das Referendum zu verzichten immer stärker wurde, je näher das Datum des Urnengangs heranrückte. Am 18. September 2017 entschied der Oberste Gerichtshof des Irak, das Referendum sei so lange auszusetzen, bis das Gericht über diverse Verfassungsklagen, unter anderem von Ministerpräsident Abadi, entschieden habe. Zuvor hatte sich auch schon das irakische Parlament gegen das Referendum ausgesprochen. Ministerpräsident Abadi kündigte den Einsatz der Armee an, sollte es im Umfeld der Abstimmung zu Gewaltausbrüchen kommen. Am 22. September 2107 lehnte schließlich auch der UN-Sicherheitsrat das Referendum in einer einstimmigen Entschließung ab. Darin brachte der Rat seine Überzeugung zum Ausdruck, dass das Referendum »eine potentiell destabilisierende Wirkung« habe. Generalsekretär António Guterres erklärte, dass »jede Frage zwischen der Zentralregierung und der Regionalregierung von Kurdistan in einem strukturierten Dialog und einem konstruktiven Kompromiss behandelt werden« müsse. Ergebnis des Referendums und die Reaktionen darauf Trotz aller Warnungen wurde die Volksabstimmung am Montag, den 25. September 2017 planmäßig durchgeführt. Präsident Masud Barzani hatte sich in eine Lage manövriert, aus der er ohne einen totalen Gesichtsverlust nicht mehr herauskommen konnte. Am Wahltag blieb es insgesamt ruhig, und es wurden währenddessen und im Nachgang keine gewichtigen Anschuldigungen bezüglich Unregelmäßigkeiten oder Wahlfälschungen erhoben. Zur Abstimmung kam die Frage »Wollen Sie, dass die Region Kurdistan und die kurdischen Gebiete, die außerhalb der Regionalverwaltung liegen, ein unabhängiger Staat werden?« In der Autonomen Region Kurdistan waren 3,3 Millionen, in den umstrittenen Gebieten 1,9 Millionen Personen wahlberechtigt. Am 27. September 2017 verkündete die Wahlkommission das eindeutige Ergebnis des Referendums: 92,7 Prozent Zustimmung bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent.
Wie zu erwarten, wurde das Referendum von allen Seiten, die sich zuvor dagegen ausgesprochen hatten, auch im Nachhinein deutlich kritisiert. Masud Barzani erneuerte sein Angebot an Bagdad, nun in konstruktive Verhandlungen einzutreten, was die Zentralregierung strikt ablehnte. Ministerpräsident Abadi erklärte die Abstimmung für illegal und damit ungültig und forderte die Kurden ultimativ auf, das Referendum für nichtig zu erklären. Gleichzeitig schloss Bagdad den Luftraum über dem Nord-Irak für internationale Flüge, so dass keine Flugzeuge aus dem Ausland in Erbil oder Suleymaniah landen konnten. Ebenso wie die irakische Regierung verurteilten auch die Türkei, der Iran und Syrien das Referendum. In Ankara sprach Präsident Erdoğan von der Möglichkeit, im Nord-Irak einzumarschieren, eine Drohung, die mit Militärübungen an der türkisch-kurdischen Grenze unterstrichen wurde. Darüber hinaus zog Erdoğan laut in Betracht, die Pipeline zu schließen, mittels der das kurdische Öl zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan transportiert wird, eine Maßnahme, die das »land-locked country« Kurdistan-Irak schwer treffen würde. Auch der Iran schloss seine Grenze zu Kurdistan. Die Kurdische Regionalregierung war damit weitgehend isoliert. Sie blieb jedoch trotz der für das Überleben der Autonomen Region gefährlichen Drohungen gelassen und setzte weiterhin auf Dialog. Masud Barzani versicherte immer wieder, dass es nach dem Referendum – anders als in Katalonien, wo wenige Tage später eine analoge Abstimmung stattgefunden hatte – nun nicht sofort eine Unabhängigkeitserklärung geben werde, sondern dass die KRG mit Bagdad in Verhandlungen treten wolle. Die Drohungen der Nachbarländer, die auf die ökonomische Verwundbarkeit Kurdistans zielten, wurden in der Folge kaum wahrgemacht. Offensichtlich setzte sich in Ankara und Teheran die realpolitische Erkenntnis durch, dass man mit einem Handelsboykott gegen Kurdistan-Irak gleichzeitig auch der eigenen Wirtschaft Schaden zufügen würde. Der politische Druck Bagdads auf Erbil aber wuchs, vor allem, nachdem Premierminister Abadi in Teheran vom schiitischen Religionsführer Ali Khamenei Unterstützung zugesagt worden war. Abadi, der unter dem Druck jener Schiiten steht, die von Teheran unterstützt werden und seinem Vorgänger Maliki folgen, und der bei den irakischen Parlamentswahlen 2018 wiedergewählt werden wollte, nutzte die Gelegenheit, Stärke zu demonstrieren. Er machte seine Ankündigung, militärisch einzugreifen, wahr und startete Mitte Oktober 2017 eine Offensive, mit der die Kurden aus den von ihnen besetzten Gebieten vertrieben werden sollten. An verschiedenen Stellen begann die irakische Armee in enger Zusammenarbeit mit den schiitischen Volksmobilisierungseinheiten gegen die Kurden vorzugehen. Die bedrängten Peschmerga mussten nach nur wenigen Gefechten vor der erdrückenden Übermacht weichen und räumten die von ihnen bis dato kontrollierten Territorien. Offensichtlich hatte sich unter ihnen die Einsicht durchgesetzt, dass auch die verbündeten Amerikaner der irakischen Armee nicht in den Arm fallen würden. Der für die Kurden schmähliche Rückzug war daher die einzig rationale Reaktion. In Erbil wurde versucht, das erzwungene Zurückweichen mit einem »Verrat« der PUK zu erklären. Diese habe in Geheimgesprächen mit den schiitischen Milizen und dem Befehlshaber der iranischen Quds-Brigaden Qassem Soleimani den kurdischen Rückzug aus Kirkuk vereinbart, was die PUK nur halbherzig dementierte. Im Nachhinein ist festzustellen, dass dieser »Verrat« immerhin ein schlimmeres Blutvergießen verhindert hat und damit eine friedenswahrende Qualität hatte. Politisch aber wurde dieses Resultat mit einer größeren Abhängigkeit der PUK von Teheran erkauft. Am 10. Oktober 2017 erklärte Masud Barzani in einer nichtöffentlichen Sitzung des kurdischen Regionalparlaments, dass er zum 1. November 2017 sein Amt als Präsident niederlegen und auch für eine weitere Ausübung seiner Funktion bis zur Wahl eines neuen Präsidenten nicht zur Verfügung stehen werde. Diese Entscheidung wurde weithin als Ausdruck seiner Resignation über die internationale Verurteilung des Referendums und den danach erzwungenen Gebietsverlust gedeutet. Die Bewertung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Barzani »nun vor den Trümmern seines Schaffens stehe«, geht indes wohl zu weit. Da er wichtige Funktionen wie den Vorsitz im »Hohen Politischen Rat« behält, wird Masud Barzani, selbst aus der zweiten Reihe heraus, weiterhin eine einflussreiche Rolle in Kurdistan-Irak spielen. In derselben Parlamentssitzung wurden die Machtbefugnisse des Präsidenten bis zu den Neuwahlen auf den Ministerpräsidenten, den Justizminister und das Parlament verteilt. Besonders problematisch ist der Machtwechsel in denjenigen Gebieten, die zuvor unter kurdischer Herrschaft standen, für die dort lebenden religiösen Minderheiten. Am 18. Oktober 2017 hat die irakische Regierung ihr Ziel erreicht, in den von den Kurden besetzten Gebieten die staatliche Oberhoheit wiederherzustellen und die Autonomie Kurdistan-Iraks auf ihr verfassungsgemäßes Normalmaß zurückzustutzen. Dass große Territorien beim Abzug der Kurden an die schiitischen Volksmobilisierungseinheiten fielen, ließ die Regierung Abadi in Bagdad zu, obwohl damit das Gewaltmonopol des irakischen Staates abermals geschwächt und der Einfluss des Iran weiter gestärkt wurde. Besonders problematisch ist der Machtwechsel in den Gebieten, die zuvor unter kurdischer Herrschaft standen, für die dort lebenden religiösen Minderheiten. Viele Siedlungen der Jesidi, der Shabak und der Christen in der Ninawa-Ebene waren im August 2014 vom IS erobert und in den Jahren 2016 und 2017 sukzessive von den Kurden wieder befreit worden. Trotz großer Zerstörungen waren viele der Vertriebenen zurückgekehrt. Der erzwungene Rückzug der Kurden und die weitgehende Übernahme dieser Gebiete durch die schiitischen Milizen führte dazu, dass Zehntausende der erst kurz zuvor zurückgekommenen Christen, Jesidi und Shabak erneut flohen und wieder in der Autonomen Region Kurdistan Aufnahme fanden. Da die schiitischen Milizen versuchten, auch Territorien der kurdischen Autonomie-Region zu erobern, kam es im November zu neuerlichen Kämpfen. Solange Bagdad solche Angriffe zulässt und Kurdistan Irak als autonome Region und damit die verfassungsmäßige Ordnung des Irak in Frage stellt, ist eine friedliche Beilegung des Konflikts illusorisch. Mitte Oktober 2017 beschloss das kurdische Regionalparlament, die ursprünglich für den November 2017 vorgesehenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf den Sommer 2018 zu verschieben. Als Grund dafür wurde unter anderem genannt, dass Bagdads Verbot internationaler Flüge nach Erbil und Suleymaniah im Ausland lebende Kurden an der Wahl hindere. Entscheidender dürften jedoch Konflikte zwischen den Parteien und die Tatsache gewesen sein, dass es für die Präsidentschaftswahlen noch keine Kandidaten gab. Inzwischen wurde der Wahltermin auf den 30. September 2018 festgelegt. Alle weiteren Entwicklungen werden davon abhängen, ob, wann und inwieweit Bagdad auf die kurdischen Normalisierungswünsche eingeht. Diesbezüglich wird es wiederum nicht zuletzt darauf ankommen, ob die inzwischen angelaufenen internationalen Bemühungen, hier einen positiven Einfluss auszuüben, Erfolg haben werden. Dass die Zentralregierung Anfang April 2018 das Verbot internationaler Flüge nach Erbil und Suleymaniah aufgehoben hat, wird als ein – wenn auch sehr spätes, so doch wichtiges – erstes Einlenken Bagdads gewertet. Ganz im Gegensatz dazu steht jedoch der Beschluss des irakischen Parlaments, der KRG künftig statt 17 Prozent nur noch 11 Prozent des Staatshaushalts zur Verfügung zu stellen. Auch wenn die frühere Quote schon häufig nicht vollständig gezahlt worden ist, stellt diese Entscheidung nun eine offizielle Abkehr von der bisher gültigen innerirakischen Vereinbarung zwischen der Zentralregierung und der KRG dar.
Wie geht es weiter nach den gesamtirakischen Wahlen vom 12. Mai 2018?
Wie sich das Verhältnis der KRG zur irakischen Zentralregierung künftig entwickelt, wird maßgeblich davon abhängen, ob die Kurden nach den Wahlen »Baghdad Begins Lifting Sanctions on Kurdistan«, Mesop, 20.3.2018, (Zugriff am 17.5.2018). »Money Cut for Kurds. Iraqi Parliament Approves Budget, Kurdish Lawmakers Boycott Vote«, Mesop, 4.3.2018, (Zugriff am 17.5.2018). vom 12. Mai 2018 wieder bereit sein werden, eine aktive Rolle im Gesamtstaat zu spielen. Da in jedem Fall größere Koalitionen zu einer Regierungsbildung notwendig sein werden, käme den kurdischen Parteien ein wichtiger Part als Mehrheitsbeschaffer zu. Der Premierminister der kurdischen Regionalregierung Nechirvan Barzani erklärte nach den Wahlen, dass die Kurden eine ernsthafte Rolle beim Regierungsbildungsprozess spielen wollen.68 Sollte es Muktada al-Sadr wie angekündigt gelingen, eine konfessionsübergreifende und weitgehend von Teheran unabhängige Koalition zu bilden, könnten die Kurdenparteien dabei ein wichtiger Partner sein. Sie wären zwar nicht alleiniger Mehrheitsbeschaffer, aber doch ein gewichtiger Faktor in einer nicht-schiitisch dominierten und eher säkularen Regierung. Andererseits werden die Kurden aber auch von den Teheran-nahen Parteien von Maliki und Amiri umworben, wie ein Treffen der beiden schiitischen Politiker am 22. Mai 2018 in Bagdad mit einer hochrangigen KDP-PUK-Delegation gezeigt hat. Da sich das politische Gewicht der Kurden nach dem Desaster des Referendums erheblich verringert hat, kann davon ausgegangen werden, dass sie bei jeglicher Regierungsbildung nicht mehr an so prominenter Stelle mit Ministerposten bedient werden dürften, wie dies früher der Fall war. Der Ministerpräsident der KRG Nechirvan Barzani hat diese neuen Gegebenheiten zur Kenntnis genommen und erst einmal eines der folgenden Ressorts gefordert: Außen, Öl, Verteidigung, Innen oder Finanzen. Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung der Kurden sei jedoch die Vorlage eines Regierungsprogramms, das auf den Prinzipien Konsens, Partnerschaft und einer ausgewogenen Repräsentation beruhe. Diesen nachvollziehbaren und maßvollen Äußerungen stehen Einlassungen des Generalsekretärs des kurdischen Peschmerga-Ministeriums, Jabar Yawar, entgegen. Yawar will die Rückkehr der Peschmerga in die umstrittenen Gebiete und die Wiedererhöhung des kurdischen Anteils am nationalen Budget auf 17 Prozent zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung in Bagdad machen. Da diese Forderungen in Bagdad sofort abgelehnt wurden, ist damit zu rechnen, dass die Regierungsbildung im Irak wieder einmal konfliktreich und langwierig werden wird und die Kurden wohl nicht alle ihre Wünsche werden durchsetzen können. Zuvor allerdings ist zu klären, ob und inwieweit die Wahlen überhaupt anerkannt werden. Im ganzen Land, gerade aber auch in Kurdistan gab es schwerwiegende Vorwürfe des Wahlbetrugs mit der Folge, dass die Unabhängige Hohe Wahlkommission die Resultate aus über 1000 Wahllokalen für ungültig erklärte. Offensichtlich, so die Kommission, seien insbesondere die elektronischen Wahlmaschinen manipuliert worden. Zudem hätten viele Binnenflüchtlinge, vor allem auch Jesidi, die in Flüchtlingslagern leben, keine Möglichkeit zur Stimmabgabe erhalten. Das Ausmaß der Unregelmäßigkeiten führte zu heftigen Demonstrationen und zu der Forderung, die vielen strittigen Stimmen manuell neu auszuzählen, statt sie en bloc für ungültig zu erklären. Am 6. Juni 2018 beschloss dann das (alte) Parlament, alle 11 Millionen Wahlzettel noch einmal und nun von Hand auszuzählen. Der Vertrauensverlust der politischen Parteien, der sich schon in der niedrigen Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent gezeigt hatte, dürfte sich durch die Wahlfälschungen im Gesamt-Irak, speziell aber in Irakisch-Kurdistan, noch deutlich verstärken. Fazit und Schlussfolgerungen für den Umgang mit Kurdistan-Irak Seit dem letzten Golfkrieg haben sich die Kurden im Irak und in Syrien von lange unterdrückten Minderheiten zu Volksgruppen entwickelt, deren Freiheitsbestrebungen von der Staatengemeinschaft nicht länger ignoriert werden können. Im Irak verfügen die Kurden seit anderthalb Jahrzehnten im Einklang mit der Verfassung über einen föderalen Teilstaat, in Syrien haben sie sich de facto territoriale Autonomie erobert und in der Türkei überwand die kurdische Partei HDP die hohe Zehn-Prozent-Hürde und zog ins Parlament ein. Nur im Iran fordern die verfolgten Kurdenparteien immer noch weitgehend erfolglos mehr Rechte ein. Doch trotz aller Fortschritte ist die Situation für die Kurden in allen genannten Staaten nach wie vor unbefriedigend und extrem unsicher. Nirgends geht es den Kurden jedoch um einen Gesamtstaat, der alle kurdischen Territorien umfasst. Dieses von Teilen des kurdischen Volkes durchaus ersehnte Fernziel dürfte in absehbarer Zukunft ein unrealistischer Wunschtraum bleiben. Die Kurden streben dagegen seit längerem an, in ihren Heimatstaaten föderale Gebietskörperschaften mit weitgehender Autonomie zu erhalten. Dies ist im Irak mit Kurdistan-Irak schon weitgehend verwirklicht. Die Zukunft wird zeigen, ob in Syrien mit »Rojava« etwas Ähnliches erreichbar ist. Fakt ist, dass schon diese beiden Ansätze kurdischer Staatlichkeit die regionale Ordnung, die vor etwa hundert Jahren mit dem Sykes-Picot-Abkommen aufgerichtet wurde, ins Wanken gebracht haben und bestehende Grenzen in Frage stellen.
Zum wichtigsten Player im irakischen Machtgefüge hat sich inzwischen der Iran entwickelt. Die Macht des IS ist gebrochen und die vorüber gehend von ihm beherrschten Gebiete sind weit gehend befreit. Im Irak steht nach den Wahlen vom 12. Mai 2018 nun die Neuverteilung der Macht auf der Tagesordnung. Zum wichtigsten Player im iraki schen Machtgefüge hat sich der Iran entwickelt, der über die schiitischen Parteien und schlagkräftige Milizen inzwischen über mehr Einfluss auf die iraki schen Schiiten verfügt als die Regierung in Bagdad. Infolgedessen gibt es seit Jahren Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten, die für den Irak selbst, aber auch für die Region gefährlichen Zündstoff bergen. Es bleibt abzuwarten, ob das Ergebnis der Parlaments wahlen vom 12. Mai 2018 dazu angetan ist, diesen gefährlich schwelenden Konflikt zu entschärfen. Die Beispiele Jemen und Katar haben gezeigt, dass Saudi-Arabien und die Golfstaaten auf jegliche Erweiterung des iranischen Einflusses auf der arabischen Halbinsel sehr empfindlich reagieren. Noch ist nicht abzusehen, wie sie sich gegenüber der iranischen Herausforderung im Irak verhalten werden und was ihre eventuellen Gegenmaßnahmen für die Kurden bedeuten werden. Offen ist auch, inwieweit nach der Aufkündigung des Atomabkommens die Verschärfung der Tonlage von US-Präsident Trump gegenüber Teheran die Gefahr erhöht, dass der Irak zu einem weiteren Schauplatz des USA-Iran-Konflikts wird. Die bisherige Politik der internationalen Staatengemeinschaft, der Einheit des Irak Priorität vor dem Selbstbestimmungsrecht der Kurden einzuräumen, konnte die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen nicht eindämmen. Die inneren Entwicklungen im Irak waren jedenfalls nicht dazu angetan, die Kurden nach dem Sieg über den IS davon zu überzeugen, ihre Zukunft weiterhin im Gesamtverband des irakischen Staates zu sehen. Mit ihrer Entscheidung, die Volksabstimmung durchzuführen, haben die Kurden den Widerstand Bagdads, Teherans und Ankaras, aber auch der internationalen Gemeinschaft und ihres bisher wichtigsten Verbündeten, der USA, sträflich ignoriert und sich damit in eine gefährliche Isolation manövriert. Die harte Reaktion Bagdads und der dadurch erzwungene Rückzug der Kurden aus Kirkuk und großen Teilen der umstrittenen Gebiete haben das Ziel einer kurdischen Unabhängigkeit in weite Ferne gerückt. Die internationale Gemeinschaft wäre gut beraten, Erbil und Bagdad umgehend ihr Instrumentarium zur friedlichen Bewältigung eines Trennungsprozesses anzubieten. Trotz dieses Rückschlags halten die Kurden an ihrem Streben nach Souveränität fest. Solange sie bereit sind, ihr Ziel der Selbständigkeit gewaltlos zu verfolgen, und es über Lösungen anvisieren, die in friedlichen Verhandlungen erreicht werden und mit Bagdad abgestimmt sind, sollte sich die übrige Welt den Bemühungen der Kurden nicht grundsätzlich verschließen. Der eindeutige Freiheitswille einer Nation kann nicht ignoriert werden. Voraussetzung dafür wird allerdings sein, dass Bagdad seine kompromisslose Ablehnung diesbezüglicher Ambitionen revidiert. Falls es irgendwann wieder zu Verhandlungen über den Status von Irakisch-Kurdistan kommt, sollten diese ohne Vorbedingungen und ergebnisoffen geführt werden. Jedes Resultat, sei es nur ein erweiterter Autonomiestatus, eine Konföderation oder doch eine völlige Trennung vom Irak, muss von beiden Seiten akzeptiert werden. Sollten die irakischen Kurden und die Zentralregierung in Bagdad je ernsthafte Scheidungsverhandlungen aufnehmen, ist zu befürchten, dass diese nicht reibungslos verlaufen werden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Konfliktparteien in Bagdad und Erbil allein in der Lage sein werden, ihr zukünftiges Verhältnis einvernehmlich zu gestalten. Höchste Priorität sollte daher der Vermeidung gewalttätiger Auseinandersetzungen zukommen. Die internationale Gemeinschaft wäre gut beraten, umgehend ihr Instrumentarium zur friedlichen Bewältigung eines Trennungsprozesses anzubieten. So böte sich eine von den Vereinten Nationen eingerichtete Moderation an. Die am 10. August 2017 vom UN-Sicherheitsrat aufgewertete UNAMI (United Nations Assistance Mission for Iraq), die im Irak die humanitären und entwicklungspolitischen Maßnahmen der UN-Organisationen koordiniert, könnte hierbei eine unterstützende Rolle spielen. Unabdingbare Voraussetzung für jede Neujustierung des Verhältnisses zwischen Bagdad und Erbil wird eine innere institutionelle Konsolidierung Irakisch-Kurdistans sein. Die Autonome Region muss sich den vorhandenen Demokratiedefiziten stellen, die Korruption bekämpfen und die Elemente der Rechtsstaatlichkeit stärken. Für die dringend notwendigen internen Versöhnungsprozesse der Kurdenparteien gibt es bisher kaum Unterstützung von außen. Deutsche Institutionen, zum Beispiel die politischen Stiftungen, könnten hierbei »gute Dienste« leisten und mit Hilfe von Mediation, Parlamentsberatung und längerfristig angelegten gesellschaftspolitischen Projekten positive Wirkungen erzielen. Dies gilt ebenso für Maßnahmen im Bereich Good Governance. Unabhängig davon, ob Kurdistan-Irak auf Dauer im irakischen Staat bleibt oder irgendwann einmal selbständig wird, braucht die Region nachhaltige Unterstützung bei der Bewältigung ihrer humanitären und ökonomischen Probleme. Deutschland hat mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums der Verteidigung seit Jahren bilateral und multilateral viele wichtige Hilfsmaßnahmen in einem Gesamtumfang von circa einer Milliarde Euro gefördert. So wurden im zivilen Bereich Schulen mit Platz für über 20 000 Schüler gebaut, über 60 000 Jobs für Flüchtlinge in sogenannten »Cash-for-Work«-Programmen geschaffen und etwa einer Million Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser ermöglicht. Solche wertvollen Hilfsprojekte sollten weitergeführt werden. Substantielle Unterstützung leisteten auch deutsche Nichtregierungsorganisationen wie die Deutsche Welthungerhilfe, HELP, das Deutsche Rote Kreuz, die kirchlichen Hilfswerke und andere. Auch verschiedene Städte und Bundesländer engagieren sich seit langem in der Hilfe für Kurdistan, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, die Stadt Hannover sowie Baden-Württemberg, besonders im Bereich der Aufnahme von traumatisierten jesidischen Frauen und Kindern. Die nach wie vor prekäre Situation in den Flüchtlingslagern und den zerstörten Städten wie Mossul erfordert, dass die deutschen Leistungen im Bereich der humanitären Hilfe, der Linderung der Folgen von Flucht und des Wiederaufbaus nicht reduziert, sondern ausgeweitet und weitergeführt werden. Langfristig noch wichtiger wird die Förderung privatwirtschaftlicher Investitionen zur Unterstützung der noch schwachen Binnenwirtschaft und zur Schaffung dringend benötigter Arbeitsplätze sein
Quelle:
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik: Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des »Islamischen Staates«, Juli 2018
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S11_srt.pdf (Zugriff am 30.11.2021. Dezember 2021)
Aus dem im Rahmen der mündlichen Verhanldung ins Verfahren eingebrachten Zeitungsartikel „Verbrannte Erde im Irak“ Konflikte zwischen Kurden und Arabern der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.09.2019 ergibt sich:
Im Irak gehen Tausende Hektar Ackerfläche in Flammen auf. Der IS zündet sie an, heißt es. Die Araber seien schuld, geht das Gerücht unter den Kurden.
PALKANA taz | Das Feuer frisst sich Meter um Meter durch das Land von Farhad Anwar Hawez. Seit Stunden prügelt der Landwirt vergeblich mit grauen Lumpen auf die Flammen ein. Schweiß rinnt ihm die Stirn hinunter, Asche und Schmutz setzen sich auf seinen Kleidern fest, die Muskeln in seinen Armen versagen. Feuerwehrleute kommen. Doch auch sie können den Brand nicht löschen.
Es ist Hochsommer im Irak. Wie Hawez ergeht es in diesem Sommer etlichen Landwirten. Ackerbrände haben die Region in einem bisher unbekannten Ausmaß verwüstet.
Als Hawez am Nachmittag aufgibt, kann er seine Hände kaum noch zu Fäusten ballen. „Meine Brüder und ich haben hier 3.500 Dunam“, sagt er. „Was davon noch übrig ist, wird jetzt auch noch verbrennen.“ Ein Dunam, umgerechnet 2.500 Quadratmeter, bezeichnet traditionell die Fläche Land, die ein Bauer an einem Tag pflügen konnte.
Hawez’ Weidegras, das im Morgengrauen noch gelb in der Sonne leuchtete, erinnert jetzt an schwarzes Nähgarn. Der Wirrwarr dieser Fäden reicht bis zu den Hügeln, die den Horizont markieren – und darüber hinaus.
Verheerende Folgen für die Bauern
Verlässliche Statistiken für das gesamte Land gibt es nicht. Aber allein rund um Hawez’ Dorf Palkana ist nach Angaben eines regionalen Bauernkomitees eine Fläche von mehr als 20 mal 20 Kilometern verbrannt. Weizen, Gerste, Weidegras – die Folgen für die Landwirte sind verheerend. Wie konnte es dazu kommen? Eine Spurensuche in den Gebieten, die besonders heftig betroffen sind: dem sicherheitspolitischen Niemandsland zwischen der Autonomen Region Kurdistan und der Einflusssphäre der irakischen Zentralregierung.
Die Klimaanlage rauscht, auf einem Fernseher flimmern die Abendnachrichten. Hawez hockt im Schneidersitz in seinem Wohnzimmer und massiert seine geschundenen Hände. Jahrelang hätten die Weiden seinen 400 Schafen Gras gespendet, sagt er, Gratisfutter vom September bis in den Februar. Jetzt müsse er die Hälfte seiner Tiere verkaufen, um sich Futter leisten zu können. „Ich bin traurig“, sagt er, „ich bin wütend.“ An eine natürliche Ursache der Brände glaubt Hawez nicht.
Schon zu Beginn der Weizenernte im Mai drängte sich eine mögliche Ursache der Brände auf: Der selbsternannte „Islamische Staat“ (IS) rief damals seine Anhänger zu einer „Ernte“ mit Feuer auf. „Dies dürfte ein heißer Sommer werden,“ hieß es im Propaganda-Newsletter al-Naba. „Ein heißer Sommer, der die Geldbeutel und die Herzen der Ungläubigen verbrennen wird.“ Es wäre nicht das erste Mal, dass die Dschihadisten eine Strategie der verbrannten Erde verfolgen. Setzen die Dschihadisten ein Zeichen, dass sie noch nicht besiegt sind?
Der IS verfügt nicht mehr über eigenes Territorium. Doch mit geschätzt 15.000 Kämpfern ist er heute zahlenmäßig stärker als vor seinem großen Aufbäumen. Sicherheitsexperten warnen: Die Kämpfer könnten sich neu organisieren, wenn sich ihnen der passende Raum bietet. Dieser Raum entwickelt sich in den Gouvernements Niniveh, Salah ad-Din, Diyala und Kirkuk, in dem Hawez’ Heimatdorf Palkana liegt. Die irakische Armee hat hier eine Serie von Operationen gestartet. Doch die Gegend ist sicherheitspolitisches Niemandsland. Wer hier das Sagen hat, ist umstritten.
Der Irak besteht de facto aus zwei Staaten: Den Großteil des Landes kontrolliert die Zentralregierung in Bagdad mithilfe von Milizen. Im Nordosten des Iraks herrschen hingegen Kurden in einer autonomen Region. Sie arrangieren sich mal mehr, mal weniger gut miteinander. Immer wieder aber sorgen die Gouvernements, die beide Seiten für sich beanspruchen, für Streit.
Im Verdacht: Männer des „Islamischen Staats“
Auch Hawez hat die Geschichten vom IS gehört. In lokalen und sozialen Medien gibt es seit Monaten Berichte. Und die Erzählungen ähneln sich: In der Nacht kommen die Männer mit den langen Bärten und den kurzen Hosen. Sie bedrohen Dorfbewohner und fordern Schutzgeld, damit sie ihre Felder verschonen. Einige Bauern halten Lupen in die Kameras, die sie auf ihren verkohlten Feldern gefunden haben – Zünder in der sengenden Sommerhitze. Einige präsentieren improvisierte Sprengsätze.
Auch auf Hawez’ Feld in Palkana liegt ein Sprengkörper. Es handelt sich um eine Mörsergranate. Doch sie ist nicht explodiert. Ein Blindgänger aus vergangenen Kriegen, kein Zünder. Schutzgeld wollte von Hawez auch noch niemand. Vieles deutet darauf hin, dass der IS eine gewichtige Rolle bei den Ackerbränden in einigen Regionen des Iraks spielt. Wer nach Palkana reist, ahnt, dass die Dschihadisten nur ein Teil der Antwort sind.
Wir – ein Übersetzer, ein Sergeant der irakischen Armee und der Reporter – haben mehr als ein Dutzend Bewohner in Palkana und den umliegenden Dörfern getroffen. Keiner machte den IS für die Ackerbrände verantwortlich. An die harmloseste aller Version, nach der Kurzschlüsse die Ursache gewesen seien, glaubten die meisten aber nicht. Ungeschickte Bauern? Zündelnde Kinder? Das Ausmaß sei viel zu groß für Unfälle, heißt es. Der Klimawandel? Temperaturen jenseits der 40 Grad seien hier nichts Neues. Die große Mehrheit der überwiegend kurdischen Bauern macht im Gleichklang eine Ursache aus: „Araber“.
Hawez lässt seinen Sohn Wasser und Ziegenmilch holen. Er kippt die Gläser in großen Schlucken herunter. Warum habe er fast allein gegen die Flammen auf den Feldern gekämpft? „Die Hälfte des Dorfs traut sich nicht mehr raus“, sagt er. „Beim letzten Mal haben sie die Frauen verprügelt, die beim Löschen geholfen haben.“ Mit „sie“ sind „die Araber“ gemeint. Hawez’ Heimat ist im doppelten Sinne verbrannte Erde.
Ethnische Konflikte in der Region Kirkuk
Der Irak ist eines der Länder, die auf dem Reißbrett einstiger Kolonialmächte entstanden sind. Deshalb gibt es jetzt nicht nur das sicherheitspolitische Niemandsland, in dem der IS erstarkt. Es gibt auch ethnische Konflikte. Die Briten zwängten schiitische und sunnitische Araber, Turkmenen, Jesiden und Kurden, unzählige Familien und Stämme in ein Staatsgebiet. Als London den Irak in seine Unabhängigkeit entließ, war ihm der Konflikt in die Wiege gelegt. Vor allem in Regionen wie dem Gouvernement Kirkuk. Dort kommen viele Bevölkerungsgruppen zusammen, und der Boden gibt mehr her als Weizen und Gerste. In Kirkuk gibt es einige der wichtigsten Ölquellen des Landes. Kurden im Nordirak befürchten von jeher: Ohne diese Region werden sie nie unabhängig. Araber sehen es seit je ebenso.
Die Baath-Partei, der der einstige Diktator Saddam Hussein entsprang, ließ im großen Stil kurdische Dörfer zerstören. Sie vertrieb Hunderttausende Menschen. So schaffte sie Raum für die eigenen Leute.
Nach Husseins Sturz 2003 kehrten Tausende Kurden in ihre Dörfer zurück. Die neue Verfassung sollte eigentlich klären, was mit den umstrittenen Gebieten geschieht. Im Zentrum stand Artikel 140. Er sollte die Grundlage dafür schaffen, dass die Bewohner über einen Anschluss an die Autonome Region Kurdistan abstimmen. Doch das Referendum fand nie statt. Kurden und das höchste irakische Gericht beharren auf der Wahl. Die Zentralregierung in Bagdad dagegen hält die Bedingungen nicht für gegeben. Und Araber-Vertreter in Kirkuk sagen schlicht: „Artikel 140 der Verfassung ist tot.“ Der alte Konflikt besteht fort.
Zunächst sah es so aus, als würden Kurden ihn für sich entscheiden. Während ihres erfolgreichen Kampfs gegen den IS dehnten sie ihr Einflussgebiet aus. 2017 wagte die Autonomieregierung Warnungen aus aller Welt zum Trotz einen brachialen Schritt: Sie führte in Eigenregie ein Referendum durch – nicht nur über die umstrittenen Gebiete, sondern über die Unabhängigkeit der Region insgesamt. Doch der Traum des eigenen Staates erfüllte sich nicht. Die Armee der Zentralregierung und ihre Verbündeten vertrieben die kurdischen Streitkräfte aus Kirkuk. Das Gouvernement regiert seither ein von Bagdad entsandter Araber.
Kurdische Dorfbewohner beschuldigen „die Araber“
Bauer Hawez erinnert sich lebhaft, was nach der Machtübernahme folgte: Am 27. Dezember 2017 rollten mehr als einhundert Autos in Palkana ein und mit ihnen 500 Männer – Araber und Militärs. Sie verteilten Flugblätter. Darauf wurden die Kurden aufgefordert, Palkana in 72 Stunden zu verlassen. Auf dem Ultimatum stehen die Unterschriften eines Behördenvertreters und eines hochrangigen Angehörigen der irakischen Streitkräfte. Eine Kopie liegt der taz vor. Die Authentizität der Dokumente, die uns die Dorfbewohner präsentieren, können wir allerdings nicht mit letzter Sicherheit überprüfen. Ist das Ultimatum der Beweis dafür, dass eine neue Welle der Arabisierung im Gange ist? Und stellen die Ackerbrände den Versuch dar, den Widerstand dagegen zu brechen?
Hawez fährt über die staubigen Straßen Palkanas. Der Bauer will ein mögliches Missverständnis ausschließen. Wenn von „Arabern“ die Rede sei, meinten die Leute hier natürlich nicht alle Araber. Sie meinten nur die, die Kurden mit Gewalt verdrängen wollten. An einer Kreuzung zeigt Hawez auf ein einstöckiges Haus. „Da wohnt er“, sagt Hawez. Er meint Ali Hawaz. Der Scheich ist ein einflussreicher Anführer des arabischen Schammar-Stammes. Hawez sagt: „Alles hängt mit ihm zusammen.“
Dorfbewohner haben uns einen Brief vorgelegt, in dem der Gouverneur von Kirkuk dazu aufgefordert wird, den Schammar, die traditionell ein Beduinenstamm sind, ein Leben in Palkana zu ermöglichen – wenn nötig mit militärischer Unterstützung. Unterschrieben ist der Brief angeblich von Ali Hawaz. Sicher ist: Ein halbes Dutzend Familien des Stammes haben sich in Palkana niedergelassen.
Hawez fährt weiter. Schon im ersten Sommer, nachdem diese Familien angekommen seien, sei die Zahl der Ackerbrände gestiegen, sagt er. Im zweiten Jahr hätten sie ihren Höhepunkt erreicht. Sind Scheich Hawaz und die Schammar die Brandstifter? Hawez glaubt an einen Pakt der Schammar mit den Behörden. Das Feuer seines Feldes sei in der Nähe eines Checkpoints der irakischen Armee entstanden, sagt er. „Die Soldaten haben gezündelt.“
Hawez zeigt auf einen Geröllhaufen, der eine Straße unter sich begräbt. Die Lebensgrundlage der Bauern zu zerstören sei nicht das einzige Mittel der Araber, sich das Land der Kurden zu erpressen, sagt er. „Sie haben den Weg zum Friedhof blockiert.“ Wer trotzdem hinkommt, stellt fest: Auch hier brannte es. Die Szene erinnert an ein verfaultes Maul. Einige weiße Marmorsteine ragen noch aus dem schwarzen Grund – darum herum stehen nur noch braune Stumpen.
Aussage steht gegen Aussage
Wir wollen an die Türen der Schammar-Familien klopfen, die Gegenseite hören. Doch der Sergeant, der bei dieser Recherche für unsere Sicherheit zuständig ist, rät ab. Einige Tage später sprechen wir Abu Saad am Telefon, ein Mitglied der Schammar. „Wir haben großartige Beziehungen zu den Kurden“, sagt er. „Die Ursache für die Feuer waren elektrische Kurzschlüsse.“ Er wisse nichts von verprügelten Frauen oder versperrten Straßen. Direkte Unterstützung von den Behörden habe sein Stamm auch nicht bekommen. Saad erklärt, dass Schammar sich in den 1960er Jahren in Palkana angesiedelt hätten. Die Kurden, denen das Land zuvor gehörte, seien dafür entschädigt worden. „Die Häuser gehören den Familien.“ Es sei ihr gutes Recht zurückzukommen. Den Kurden wirft er vor, es auf größere Entschädigungen abgesehen zu haben.
Aussage gegen Aussage, klare Fronten zwischen Arabern und Kurden? Nicht ganz. Mawlud Hassan Kerim, ein Kurde und einer der ältesten Männer der Gegend, stützt Saads These: „Einige Kurden provozieren Probleme mit Arabern, damit sie sich hier nicht niederlassen können.“ Und auch er deutet an, dass es manch einem um Entschädigungen gehe. „Ich schwöre es bei Gott.“
Hawez steht auf seinem Feld, von dem noch Rauch aufsteigt. Er streicht über das, was von seinem Weidegras übrig ist, bis seine Hand voll ist mit den Fasern, die an schwarzes Nähgarn erinnern. Hawez streitet nicht ab, dass seine Familie bei früheren Vertreibungen entschädigt worden ist. Dann lacht er ein merkwürdiges, abfälliges Lachen: „Wer verkauft schon das Land seiner Vorväter?“, fragt er. „Als ob wir damals eine Wahl gehabt hätten!“ Was hätte Saddam Hussein mit Verweigerern getan?
An seinen Vorwürfen gegen die Schammar hält Hawez fest. Doch er ahnt, es könnte vergeblich sein. „Die Justiz ist immer auf ihrer Seite gewesen“, sagt er. Und so, wie es die Dorfbewohner schildern, gilt das auch für die Exekutive: Der zuständige Kommandeur der irakische Armee habe den Kurden untersagt, ihre Felder zu bestellen, bis sie ihren Streit mit den Schammar geklärt hätten. Hawez und die anderen Bauern Palkanas fürchten den nächste Ernteausfall. Dafür muss nun nicht mal mehr die Erde brennen.
Quelle:
Taz: Verbrannte Erde, Konflikte zwischen Kurden und Arabern, in: https://taz.de/Konflikte-zwischen-Kurden-und-Arabern/!5620915/ [abgerufen am 30.11.2021]
Aus dem im Rahmen der mündlichen Verhanldung in das Verfahren eingebrachten Bericht von Human Right Watch „Irakisch-Kurdistan: Araber vertreiben, ausgegrenzt und eingesperrt“, vom 25.02.2015 ergibt sich:
Irakisch-Kurdistan: Araber vertrieben, ausgegrenzt und eingesperrt
Massive Einschränkungen im Norden Iraks – diese gelten jedoch nicht für Kurden
Irakisch-kurdische Sicherheitskräfte haben Tausende Araber in sogenannte „Sicherheitszonen“ in Gebieten im Norden des Irak gebracht, die sie seit August 2014 von der extremistischen Grupperung Islamischer Staat, kurz IS, zurückerobert haben. Monate lang hinderten kurdische Sicherheitskräfte Araber, die durch die Kämpfe vertrieben wurden, daran, in ihre Heimat in Teilen der Provinzen Ninawa und Erbil zurückzukehren. Kurden jedoch konnten ungehindert in diese Regionen zurückkehren und sogar in jene Häuser einziehen, die die geflüchteten Araber zuvor bewohnt hatten. Einige Beschränkungen wurden im Januar 2015 gelockert, nachdem Human Rights Watch mit der kurdischen Regionalregierung über die Problematik gesprochen hatte. Andere Beschränkungen bestehen jedoch weiterhin.
Kurden vor Ort berichteten Human Rights Watch, dass irakisch-kurdische Bürger oder Sicherheitskräfte der lokalen Regierung Dutzende Häuser von Arabern in den Regionen zerstört haben, die die kurdische Regierung offensichtlich zu einem Teil des autonomen, kurdischen Gebietes machen will. Araber in einem der abgesperrten Gebiete gaben an, dass Regierungskräfte 70 arabische Einwohner der Region verhaftet hatten und diese über einen langen Zeitraum in Haft saßen, ohne dass Anklage gegen sie erhoben wurde.
„Arabische Bewohner auszugrenzen und ihnen die Rückkehr in ihre Heimat zu verwehren, das geht weit über eine vernünftige Reaktion auf die Bedrohung durch den IS hinaus”, so Letta Tayler, Expertin für Terrorismus und Terrorbekämpfung von Human Rights Watch. „Die USA und andere Länder, die die irakisch-kurdischen Kräfte mit Waffen versorgen, sollen deutlich machen, dass sie keine Diskriminierung akzeptieren, die unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung praktiziert wird.“
Human Rights Watch fand keinen Beleg dafür, dass der kurdischen Bevölkerung ähnliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch die Sicherheitskräfte auferlegt werden. Die Regionalregierung ist einer der wichtigsten Verbündeten der von den USA angeführten Koalition im Kampf gegen den IS. Die USA haben 350 Millionen Dollar zugesichert, um drei neue Brigaden der Peschmerga, der kurdischen Streitkräfte, zu bilden. Deutschland, Großbritannien, Italien, Frankreich, Tschechien und Albanien unterstützen ebenfalls die Ausrüstung der Peschmerga mit Waffen oder bilden deren Kämpfer aus.
Im Dezember sowie in einem Brief vom 20. Januar äußerte Human Rights Watch seine Sorge wegen der ethnischen Diskriminierung durch die irakisch-kurdischen Regierung. In einer Stellungnahme gegenüber Human Rights Watch leugnete die lokale Regierung jegliche Form der ethnischen Diskriminierung, sicherte jedoch zu, die Ergebnisse der Recherchen von Human Rights Watch zu prüfen. Im Januar lockerten das kurdische Militär und die Nachrichtendienste einige Einschränkungen.
Während der Aufenthalte in den Distrikten Tel Keppe und Sheikhan in der Provinz Ninawa sowie im Distrikt Machmur in der Provinz Erbil dokumentierte Human Rights Watch die offensichtliche Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen. All diese Regionen gehören zu den umkämpften Gebieten, auf die sowohl die kurdische Regionalregierung als auch die irakische Zentralregierung in Bagdad Anspruch erheben.
Bis auf Sheikhan, das von der Regionalregierung kontrolliert wird, unterstanden alle Distrikte der Zentralregierung, bis Teile von ihnen Mitte 2014 vom IS eingenommen wurden. Viele Bewohner in diesen Distrikten, eine ethnisch gemischte Bevölkerung von 600.000 Menschen, waren geflohen, bevor der IS die Gebiete eroberte. Andere blieben, weil ihre Städte nicht von Kämpfen betroffen waren. Wieder andere, hauptsächlich sunnitische Araber, waren von IS-Truppen eingeschlossen und konnten nicht fliehen oder entschieden, im vom IS besetzten Gebiet zu bleiben.
Unterstützt durch US-Luftangriffe gelang es den kurdischen Truppen zwischen August und Oktober mehrere vom IS kontrollierte Gemeinden in oder nahe den Distrikten zurückzuerobern. Andere Teile der Distrikte sind nach wie vor unter der Kontrolle des IS, und es kommt dort weiterhin zu vereinzelten Kämpfen zwischen dem IS und den Peschmerga-Streitkräften. Die meisten Städte und Dörfer, in denen Human Rights Watch rechtswidriges Verhalten der kurdischen Sicherheitskräfte feststellte, grenzten unmittelbar an vom IS besetzte Gebiete oder lagen in der Nähe davon.
Human Rights Watch hat ausführlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere Gräueltaten dokumentiert, die vom IS in Syrien und im Irak begangen wurden. Ebenso wurden Menschenrechtsverletzungen durch syrische und irakische Sicherheitskräfte und durch verbündete Milizen dokumentiert.
Im Dezember wurden Mitarbeiter von Human Rights Watch Zeugen davon, wie die Peschmerga und Mitglieder des Inlandsgeheimdienstes Asayish alle Zivilisten, darunter sowohl Araber als auch Kurden, daran hinderten, in die eroberten Gebiete zurückzukehren, da eine Rückkehr oder ein Besuch zu jenem Zeitpunkt angeblich noch zu gefährlich gewesen sei. Begründet wurde dies mit der umittelbaren Nähe des IS, den anhaltenden Kämpfen und nicht detonierten Sprengsätze, darunter auch Sprengfallen in Wohnhäusern. Jedoch dokumentierte Human Rights Watch auch, dass Streitkräfte der Peschmerga und Asayish-Mitarbeiter kurdischen Anwohnern, die vor den Kämpfen geflohen waren, die Rückkehr in andere, als relativ sicher geltende Städte und Dörfer derselben Distrikte erlaubten. Arabischen Anwohnern wurde die Rückkehr in eben jene Gebiete jedoch verweigert.
Lokale Asayish-Mitarbeiter bestätigten damals die Zugangssperren und gaben gegenüber Human Rights Watch an verschiedenen Checkpoints zu den vier Distrikten an, dass es „keinen Zutritt für Araber” gebe.
In der an Human Rights Watch adressierten Antwort vom 5. Februar, die auch Kommentare vom Innenministerium sowie von der Peschmerga und dem Inlandsgeheimdienst Asayish enthält, erklärte die Regionalregierung, dass der Schutz der Menschenrechte für sie „mit an erster Stelle stehe“. Regionale Regierungsbehörden hätten demnach die Sicherheitskräfte wiederholt darauf hingewiesen, u.a. unmittelbar nach dem Erhalt des Briefs von Human Rights Watch, dass „niemand über dem Gesetz stehe” und dass diejenigen, die sich nicht daran halten, „zur Rechenschaft gezogen werden“. Jedoch verteidigten einige Regierungsbeamte bei einem Treffen mit Human Rights Watch im Dezember die Einschränkungen gegen Araber. Diese seien gerechtfertigt, da viele Araber den IS bei seinem Vorstoß unterstützt hätten und möglicherweise erneut mit der bewaffneten Gruppe zusammenarbeiten würden, die sich hauptsächlich aus sunnitischen Arabern zusammensetzt.
Die internationale Rechtsprechung erlaubt Zwangsumsiedlungen nur als eine vorübergehende Maßnahme während eines bewaffneten Konflikts, um die Bevölkerung in der betroffenen Region zu schützen oder wenn dies aus militärisch-strategischer Sicht zwingend notwendig ist. Die internationale Rechtsprechung verbietet hingegen ausnahmslos die ethnische Diskriminierung, auch während eines Ausnahmezustands oder in Zeiten bewaffneter Konflikte. Zudem verbietet das internationale Recht Kollektivstrafen ebenso wie diskriminierende Festnahmen.
Die kurdische Regionalregierung soll alle Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufheben, die nicht klar durch militärische Gründe oder den hierdurch gewährleisteten Schutz von Zivilisten gerechtfertigt sind. Ebenso sollen jene Einschränkungen aufgehoben werden, die aus ethnischen Gründen verhängt wurden, und alle Fälle von Misshandlungen von Gefangenen ordnungsgemäß untersucht werden. Die kurdischen Behörden sollen zudem eine effiziente, unvoreingenommene und transparente Untersuchung von allen unrechtmäßigen Handlungen in den Regionen, die ihnen unterstehen, einleiten und die verantwortlichen Beamten, Gruppen oder Einzelpersonen entsprechend strafrechtlich verfolgen oder bestrafen.
Der UN-Menschenrechtsrat soll den Untersuchungsauftrag des Büros des UN-Hochkomissars für Menschenrechte auf von IS begangene Menschenrechtsverletzungen ausweiten. Der Auftrag soll schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch beide Seiten umfassen - somit auch jene durch das irakische Militär und verbündete Schia-Milizen wie auch die vom kurdischen Militär und kurdischen Sicherheitskräften begangen Menschenrechtsverletzungen. Die USA, Deutschland, Großbritannien und andere Länder, die die irakisch-kurdischen Truppen unterstützen, sollen klarstellen, dass sie keine Form der ethnischen Diskriminierung durch die kurdische Regionalregierung oder deren Truppen dulden. Ferner sollen sie eine entsprechende Untersuchung technisch und finanziell unterstützen. Alle Länder, die die irakisch-kurdischen Streitkräfte unterstützen, müssen deutlich machen, dass die irakisch-kurdische Regierung riskiert, diese Unterstützung zu verlieren, sollte sie die schweren Menschenrechtsverletzungen nicht untersuchen, bestrafen und ihnen ein Ende setzen.
„Mit der Lockerung der Einschränkungen hat die irakisch-kurdische Regierung den ersten Schritt in die richtige Richtung getan. Sie muss jedoch mehr gegen die Diskriminierung der Araber tun“, so Tayler. „So schrecklich die Gräueltaten des IS auch sind, sie dürfen keine Rechtfertigung für eine kollektive Bestrafung ganzer arabischer Beölkerungsgruppen sein.“
Aus den im Rahmen der mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingebrachtem UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen mit Fokus auf Kinder vom Mai 2019 ergibt sich:
Frauen und Mädchen mit bestimmten Profilen oder in besonderen Umständen Frauen und Mädchen sind aufgrund ihres Geschlechts laut Berichten mit rechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung und besonderen Formen von Gewalt wie sexueller Gewalt, häuslicher Gewalt, Gewalt im Namen der „Ehre“, Zwangs- und Kinderehe, weiblicher Genitalverstümmelung und Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution konfrontiert.
Frauen ohne männliche Unterstützung durch ihre Familie oder ihren Stamm, wie Witwen, Geschiedene und Frauen, die vor Situationen häuslicher Gewalt, Gewalt im Namen der „Ehre“ oder Zwangs- bzw. Kinderehe geflohen sind, sind Berichten zufolge besonders vulnerabel hinsichtlich weiterem Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel. Es wird berichtet, dass alleinerziehende Mütter und deren Kinder gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung erfahren. In der Autonomen Region Kurdistan führten die Behörden verschiedene Gesetzesreformen und institutionelle Reformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen durch. Trotz dieser Bemühungen ist geschlechtsspezifische Gewalt, unter anderem wegen der schwachen Gesetzesumsetzung und der vorherrschenden patriarchalen Geschlechternormen, noch immer weitverbreitet.
Es wird angenommen, dass im ganzen Irak die meisten Fälle von Gewalt gegen Frauen nicht gemeldet werden – dies aufgrund der hohen sozialen Stigmatisierung; der gesellschaftlichen Auffassung, dass häusliche Probleme als „Familienangelegenheiten“ behandelt werden sollten; aufgrund des Mangels an Polizisten und Justizbeamten, die für den Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt ausgebildet sind und aufgrund des Mangels an Schutzgesetzen. Obgleich die irakische Regierung in den letzten Jahren einige Unterkünfte eingerichtet hat, sind deren Kapazitäten und Reichweite Berichten zufolge noch immer eingeschränkt. Zusätzlich verwaltet eine NGO einige geheime Unterschlüpfe, die allerdings von der Regierung als illegal angesehen werden.
Folglich sind diese Unterkünfte von Schließung sowie von Razzien und Angriffen durch Sicherheitskräfte, damit verbundene Kräfte und Familienmitglieder – die sie als Orte wahrnehmen, „wo sich eine Gruppe unmoralischer Frauen ohne männlichen Beschützer aufhält“ – bedroht. Während solcher Razzien besteht für die Frauen Berichten zufolge das Risiko, ihren Familien übergeben zu werden. Es wird berichtet, dass das Sozialministerium in der Autonomen Region Kurdistan Unterkünfte für weibliche Überlebende von häuslicher Gewalt und Menschenhandel und jene, die davon bedroht sind, betreibt. Außerdem wird berichtet, dass es einigen lokalen NGOs gestattet wurde, Unterkünfte für Frauen, die auf der Flucht vor häuslicher Gewalt sind, zu betreiben. Sowohl die Unterkünfte, die von der Regierung geführt werden, als auch jene der NGOs leiden Berichten zufolge an Unterfinanzierung, begrenzten Kapazitäten, qualitativ minderwertigen Dienstleistungen sowie Sicherheitsrisiken. Ein wesentliches Hindernis, das Frauen den Zugang zu staatlich betriebenen Unterkünften in der Autonomen Region Kurdistan erschwert, ist, dass sie für die Aufnahme eine richterliche Anordnung benötigen, was bedeutet, dass formelle gerichtliche Schritte gegen den Täter eingeleitet werden müssen. Beobachter weisen darauf hin, dass Frauen keine Aussicht auf eine Zukunft außerhalb der Unterkunft haben, sofern es dem Personal der Unterkunft, Exekutivbeamten oder Gemeindeleitern nicht gelingt, eine Schlichtungsvereinbarung mit den Familien der Frauen zu erzielen. Auch wenn eine Familie schwört, die Frau oder das Mädchen nach der Rückkehr aus der Unterkunft nicht zu verletzen, könnte sie trotzdem einer Zwangsheirat oder anderen Formen der Gewalt, einschließlich eines „Ehrenmords“, unterworfen werden.531 Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist vor allem gegen jene mit den folgenden spezifischen Profilen oder in folgenden Lebensumständen gerichtet:
a) Frauen in der Öffentlichkeit Frauen, die im politischen oder gesellschaftlichen Bereich engagiert sind wie Aktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen, wie auch Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben – waren Berichten zufolge Einschüchterung, Belästigung und Drohungen ausgesetzt, wodurch sie oft gezwungen waren, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder ins Ausland zu fliehen. Im September 2018 wurde eine Reihe von Mordanschlägen auf berühmten Frauen gemeldet, einschließlich der Ermordungen einer Bürgerrechtsaktivistin in Basra und einer durch die sozialen Medien bekannten Persönlichkeit in Bagdad. Diese Vorfälle ließen Bedenken aufkommen über die Zunahme an Angriffen auf Frauen, die als sich sozialen Sitten und traditionellen Geschlechterrollen widersetzend wahrgenommen werden.
b) Sexuelle Gewalt Frauen und Mädchen sind laut Berichten von Vergewaltigung und anderen Formen sexueller Gewalt durch staatliche und nichtstaatliche Akteure bedroht. Diese Bedrohung besteht im Rahmen einer großen Bandbreite von Sachverhalten – unter anderem in Binnenvertriebenensituationen, in Zwangs- oder Kinderehen und, wenn Frauen und Mädchen zur Prostitution gezwungen werden bzw. zu sexuellen Zwecken Menschenhandel mit ihnen getrieben wird. Überlebende sexueller Gewalt sind Berichten zufolge häufig nicht gewillt, die Gewalttaten zu melden oder gerichtliche Schritte einzuleiten. Darüber hinaus sieht Artikel 398 des Strafgesetzbuches vor, dass Anklagen fallen gelassen werden können, wenn der Täter das Opfer heiratet. Es wird berichtet, dass ISIS Frauen und Mädchen mit extremer geschlechtsspezifischer Gewalt begegnete – einschließlich Entführung, Zwangs- und Kinderehe, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt, sexuelle Sklaverei und Zwangsabtreibung. Überlebende der von ISIS begangenen Gräueltaten verbleiben vulnerabel hinsichtlich Stigmatisierung und/oder einer Behandlung als ISIS Verbündete anstatt als Opfer. Hinsichtlich der jesidischen Gemeinschaft sei das Problem der Stigmatisierung in gewissem Maße adressiert worden durch Aufrufe des inzwischen verstorbenen geistlichen Gemeinschaftsberhaupts, Baba Sheikh, der zur Wiedereingliederung von Frauen und Mädchen, die Opfer von Versklavung durch ISIS waren, in die Gemeinschaft aufrief. Dennoch fürchten oder erfahren jesidische Überlebende, wie berichtet wird, gesellschaftliche Stigmatisierung und Diskriminierung. Am 7. April 2019 kündete Präsident Barham Saleh ein Gesetz an, das Entschädigungsmaßnahmen für jesidische weibliche Überlebende einer Gefangenschaft durch ISIS vorsehen würde. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts wurde das Gesetz noch nicht vom Parlament erlassen. Unabhängig von diesem Gesetz kündigte der Minister für Vertreibung und Migration am 18. April 2019 den Beginn eines Programms an, dass jeder jesidischen Überlebenden 2 Mio. Irakische Dinar (ca. USD 1.600) zu Teil werden lässt.
c) Häusliche Gewalt Es wird berichtet, dass häusliche Gewalt zunimmt549 und weiterhin weitgehend gesellschaftlich akzeptiert ist. In Gebieten, die der Kontrolle durch die Zentralregierung unterstehen, bestehen keine geeigneten rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz von Opfern vor häuslicher Gewalt. In der Autonomen Region Kurdistan ist häusliche Gewalt seit 2011 explizit verboten und die Behörden haben spezielle Exekutiv-, Justiz- und andere Organe für den Kampf gegen Gewalt an Frauen eingerichtet. Dennoch ist die Anzahl an Vorfällen häuslicher Gewalt immer noch hoch und häusliche Gewalt wird aufgrund von Lücken in der Gesetzesdurchführung häufig straffrei begangen.
d) Gewalt im Namen der „Ehre“ Gewalttaten, die von Familienmitgliedern begangen werden, um die Ehre der Familie oder des Stammes zu schützen, sind Berichten zufolge nach wie vor weitverbreitet und existieren „über alle religiösen und ethnischen Grenzen hinweg und sind stark durch die Stammesstruktur und die patriarchalische Gesellschaft geprägt“. Frauen und Mädchen und – in geringerem Maße – Männer und Jungen können getötet oder anderen Arten von Gewalt unterworfen werden, weil sie vermeintlich die kulturellen, gesellschaftlichen oder religiösen Normen verletzt und dadurch Schande über ihre Familie gebracht haben. Gewalt im Namen der „Ehre“ wird angeblich aus vielfältigen Gründen begangen. Dazu gehören (vermeintlicher) Ehebruch, der Verlust der Jungfräulichkeit (sogar im Falle einer Vergewaltigung), die Verweigerung einer arrangierten Hochzeit, der Versuch, jemanden gegen den Willen der Familie zu heiraten oder die Einreichung der Scheidung. Laut dem irakischen Strafgesetzbuch sind im Falle von Provokation oder wenn der Angeklagte „ehrenhafte Motive“ hatte, milde Strafen für „Ehrenmorde“ möglich. Verbrechen im Namen der „Ehre“ werden Berichten zufolge angesichts der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Art von Verbrechen – auch unter Exekutivbeamten – als eine angeblich angemessene Reaktion auf vermeintliche Verletzungen der „Ehre“ häufig straffrei begangen. In der Autonomen Region Kurdistan haben die Behörden Schritte im Kampf gegen diese Praxis unternommen und Artikel des Strafgesetzbuches, die eine Strafmilderung für Verbrechen gegen Familienmitglieder aus Gründen der „Ehre“ zulassen, aufgehoben. Trotz dieser Maßnahmen wird berichtet, dass Verbrechen im Namen der „Ehre“ nach wie vor weitverbreitet sind und mangels eines wirksamen Gesetzesvollzugs häufig straffrei begangen werden.563 „Ehrenmorde“ werden Berichten zufolge oft als Selbstmorde oder Unfälle getarnt, um eine Strafverfolgung zu vermeiden. In einigen Fällen werden Frauen, die von „Ehrenmord“ bedroht sind, Berichten zufolge zu ihrem eigenen Schutz in Gefängnissen und Haftanstalten untergebracht, während andere in formellen oder informellen provisorischen Unterkünften Schutz suchen.
e) Zwangs- und Kinderehe Die Praxis der Zwangsehe einschließlich bestimmter Praktiken wie Brauttausch und Ehen gegen Blutgeld („fasliyah“), sind Berichten zufolge noch immer weitverbreitet, obwohl diese gesetzlich verboten sind. Manchmal zwingen Familienmitglieder Frauen und Mädchen zum Zwecke finanziellen Gewinns oder um Schulden abzuzahlen zu zeitlich begrenzten Ehen (“Mut’a”). Zeitlich begrenzte Ehen sind nicht gesetzlich anerkannt. Frauen und Mädchen, die auf diese Weise verheiratet wurden, haben daher kein Recht auf Erbe, Ehegatten- oder Kindesunterhalt. Die Zahl der Kinderehen ist Berichten zufolge im ganzen Irak steigend. Das für Iraker aller Konfessionen geltende gesetzliche Mindestalter für Ehen liegt bei 18 Jahren. Das Mindestalter kann unter Zustimmung des Erziehungsberechtigten (oder wenn von diesem kein Einspruch erhoben wird) oder wenn laut dem Richter eine „dringende Notwendigkeit“ besteht, auf 15 Jahre gesenkt werden. In der Autonomen Region Kurdistan beträgt das Mindestalter für Eheschließungen 16 Jahre, sofern eine richterliche Genehmigung vorliegt. Ehen von Mädchen, die das entsprechende gesetzliche Mindestalter noch nicht erreicht haben, werden gemäß religiösen Bräuchen geschlossen und gesetzlich nicht anerkannt. Infolgedessen erhalten Kinder dieser Paare erst dann einen Personalausweis, wenn die Ehe gesetzlich anerkannt wird. Zwangs- und Kinderehen wurden mit häuslicher Gewalt, Selbstmord, „Ehrenmorden“ und Menschenhandel in Verbindung gebracht.
f) Weibliche Genitalverstümmelung
Es gibt kein Bundesgesetz, das weibliche Genitalverstümmelung explizit verbietet. In der Autonomen Region Kurdistan wurde allerdings im Jahr 2011 ein Gesetz erlassen, das diese Praxis untersagt. Während die Verbreitung der Genitalverstümmelung von Mädchen Berichten zufolge in der Autonomen Region Kurdistan abnimmt, wird berichtet, dass diese vorwiegend – aber nicht ausschließlich – in ländlichen Gemeinden der Verwaltungsbezirke Sulaimaniyya und Erbil noch immer praktiziert wird. Es wurde auch in anderen Teilen des Iraks über Genitalverstümmelung berichtet, z.B. in Kirkuk und in den südlichen Verwaltungsbezirken. Allerdings ist mangels einschlägiger Studien unklar, wie weit verbreitet diese Praxis dort ist.
g) Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution Trotz einiger positiver rechtlicher und administrativer Schritte, die von den zentralen Behörden und der Regionalregierung Kurdistan im Kampf gegen Menschenhandel unternommen wurden, stellen Beobachter anhaltende Herausforderungen bei der Durchsetzung dieser Gesetze fest. Der Irak ist sowohl ein Herkunfts- als auch ein Zielland für Frauen und Kinder, die Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution werden. Frauen, die aus Situationen häuslicher Gewalt und/oder früher Verheiratung oder Zwangsehen geflohen sind, sind besonders vulnerabel hinsichtlich Menschenhandel und es wurde berichtet, dass Frauen in staatlich betriebenen Unterkünften Opfer von Menschenhandel zum Zwecke der Zwangsprostitution wurden. In der Autonomen Region Kurdistan besteht eine neuere Entwicklung in der Verwendung (echter oder manipulierter) intimer Fotos oder Videos, um Frauen und Mädchen zur Prostitution zu zwingen. Es wird berichtet, dass traditionelle Praktiken wie Zwangs- und Kinderehen sowie zeitlich begrenzte Ehen für den Menschenhandel mit Frauen und Kindern eingesetzt werden. Überlebende von Menschenhandel, einschließlich Kinder, werden Berichten zufolge wegen illegaler Handlungen, die sie als Opfer des Menschenhandels begangen haben, wie z.B. wegen Prostitution, strafrechtlich verfolgt. Überlebende von Menschenhandel könnten dem Risiko von Gewalt im Namen der „Ehre“ durch ihre Familien ausgesetzt sein.
UNHCR vertritt die Ansicht, dass Frauen, die den folgenden Kategorien angehören, abhängig von den individuellen Umständen des jeweiligen Falls wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen:
c) Überlebende von sexueller Gewalt, häuslicher Gewalt, Gewalt im Namen der „Ehre“ oder weiblicher Genitalverstümmelung und Frauen, die davon bedroht sind;
d) Frauen, die von Zwangs- und/oder Kinderehe bedroht sind;
e) Überlebende von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution und Frauen, die davon bedroht sind. UNHCR vertritt die Ansicht, dass Frauen und Mädchen, die den folgenden Kategorien angehören, abhängig von den individuellen Umständen des jeweiligen Falls möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz benötigen:
f) Frauen in der Öffentlichkeit;
g) Frauen und Mädchen ohne stabilen familiären Rückhalt, einschließlich Witwen und Geschiedener.
Abhängig von den spezifischen Umständen des jeweiligen Falls benötigen Frauen und Kinder dieser Profile oder in diesen besonderen Umständen aufgrund einer wohlbegründeten Angst vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, ihrer Religion oder ihrer (angenommenen) politischen Einstellung – in Kombination mit der allgemeinen Unverfügbarkeit von staatlichem Schutz vor einer solchen Verfolgung, in Fällen in denen die Verfolger nichtstaatliche Akteure sind – möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz.
Für Frauen und Mädchen, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Einstellung, ihrer religiösen oder ethnischen Identität oder einer von traditionellen Normen abweichenden sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt werden, siehe auch die Profile in Abschnitt römisch III.A.
9) Kinder mit bestimmten Profilen oder in besonderen Umständen
Kinder fallen möglicherweise in einige der anderen Risikoprofile, die in diesen Richtlinien enthalten sind. Insbesondere Kinder tatsächlicher oder vermeintlicher ISIS-Mitglieder oder -Unterstützer sind laut Berichten willkürlicher Festnahme und Inhaftierung, gewaltsamen Vergeltungsschlägen und Diskriminierung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt. Es wird auch berichtet, dass Kinder von kinderspezifischen Formen oder Ausprägungen von Verfolgung bedroht sind, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangs- und/oder Kinderehe sowie Verbrechen im Namen der „Ehre“. Darüber hinaus umfassen diese Formen häusliche Gewalt; die Rekrutierung Minderjähriger – manchmal unter Zwang, vor allem durch regierungsnahe Gruppen; schlimmste Formen von Kinderarbeit – einschließlich Menschenhandel, Zwangsarbeit und kommerzielle sexuelle Ausbeutung sowie gefährliche Arbeit, die ihre Sicherheit, Gesundheit oder ihre Moral beeinträchtigen können – wie Betteln, Verkauf auf der Straße und Arbeiten in Ziegeleien und auf Friedhöfen.
Unehelich geborene Kinder oder Kinder von Eltern, deren Ehe nicht offiziell registriert wurde, insbesondere wenn diese Kinder in ehemals von ISIS kontrollierten Gebieten geboren wurden – unter anderem infolge sexueller Versklavung, sind Berichten zufolge dem Risiko ausgesetzt, keinen offiziellen Rechtsstatus und keine offiziellen Dokumente zu erhalten und sind ferner bedroht von Aussetzung, Stigmatisierung und Missbrauch. Binnenvertriebene Kinder, Kinder aus einem Unehelich geborene Kinder oder Kinder von Eltern, deren Ehe nicht offiziell registriert wurde, insbesondere wenn diese Kinder in ehemals von ISIS kontrollierten Gebieten geboren wurden – unter anderem infolge sexueller Versklavung, sind Berichten zufolge dem Risiko ausgesetzt, keinen offiziellen Rechtsstatus und keine offiziellen Dokumente zu erhalten und sind ferner bedroht von Aussetzung, Stigmatisierung und Missbrauch. Binnenvertriebene Kinder, Kinder aus einem sozioökonomisch benachteiligten Umfeld sowie Waisenkinder, verlassene Kinder und von ihren Familien getrennte Kinder sind Berichten zufolge besonders vulnerabel mit Blick auf verschiedene Arten von Ausbeutung, unter anderem Kinderarbeit, frühe und erzwungene Verheiratung, sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel, und viele von ihnen werden zu Opfern von mehreren dieser kinderspezifischen Formen der Misshandlung. Kinder mit Behinderungen und Kinder aus ethnischen Randgruppen, insbesondere Roma und AfroIraker, werden in vielen Fällen vom Zugang zu Bildung abgeschnitten.
UNHCR vertritt die Ansicht, dass Kinder, die in die folgenden Kategorien fallen, wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen: a) Überlebende von sexueller Gewalt, häuslicher Gewalt, Zwangs- und/oder Kinderehe, „Ehrenverbrechen“ oder weiblicher Genitalverstümmelung und Kinder, die davon bedroht sind; b) Überlebende von Zwangsrekrutierung und Rekrutierung Minderjähriger, von Menschenhandel und anderen schlimmsten Formen der Kinderarbeit und jene, die davon bedroht sindAbhängig von den spezifischen Umständen des jeweiligen Falls benötigen diese Kinder aufgrund einer wohlbegründeten Angst vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, ihrer Religion, aufgrund ihrer tatsächlichen oder der ihnen unterstellten politischen Meinung oder aus anderen maßgeblichen Gründen der GFK wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz. UNHCR vertritt die Ansicht, dass Kinder, die in die folgenden Kategorien fallen, möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz benötigen:
h) Unehelich geborene Kinder oder Kinder von Eltern, deren Ehe nicht offiziell registriert wurde;
i) Kinder, die Arbeiten verrichten, die ihre Gesundheit, Sicherheit oder Moral beeinträchtigen können („gefährliche Arbeit“), abhängig von den speziellen Erfahrung des jeweiligen Kindes, seinem Alter und anderen Umständen.611
j) Kinder, denen systematisch der Zugang zu Bildung verwehrt wird, unter anderem als Folge von Diskriminierung, Stigmatisierung oder der diskriminierenden Verweigerung einer Geburtsurkunde oder anderer amtlicher Dokumente.
Abhängig von den individuellen Umständen des jeweiligen Falls benötigen diese Kinder aufgrund einer wohlbegründeten Angst vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder aus anderen maßgeblichen Gründen der GFK möglicherweise internationalen Flüchtlingsschutz. Bezüglich des internationalen Schutzbedarfs von Kindern, die – unter anderem weil sie als Folge einer Zwangsehe mit einem und/oder einer Vergewaltigung durch einen (vermeintlichen) ISIS-Verbündeten geboren wurden – verdächtigt werden, ISIS zu unterstützen, siehe Abschnitt römisch III.A.1. Anträge auf internationalen Schutz, die von Kindern eingereicht werden, müssen sorgfältig und in Übereinstimmung mit den UNHCR-Richtlinien für Asylanträge von Kindern geprüft werden, unter anderem auch auf mögliche Ausschlusserwägungen für ehemalige Kindersoldaten.
Quelle:
UNHCR-Erwägung zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, von Mai 2019
2. Beweiswürdigung:
Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt römisch eins. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und der vorliegenden Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes.
Zu den Personen der beschwerdeführenden Parteien:
Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zu Identität (Namen, Geburtsdatum), Staatsbürgerschaft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Bildungs- und Berufsweg, Muttersprache, Gesundheitszustand, Arbeitsfähigkeit, Familienstand sowie familiären Bezugspunkten der BF im Herkunftsstaat und in Österreich getroffen wurden, beruhen diese auf den widerspruchsfrei gebliebenen Angaben des BF1 und der BF2 vor dem BFA und im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG, ihren Beschwerden sowie dem Vorbringen in den Stellungnahmen vor dem erkennenden Gericht.
Die Verwandtschaftsverhältnisse der BF zueinander folgen den jeweils übereinstimmenden Angaben von BF1 und BF2, den vorgelegten Identitätsdokumenten und der Geburtsurkunde des BF5. Ferner wurden diese auch in den angefochtenen Bescheiden durch das BFA nicht in Zweifel gezogen.
Der von BF1 und BF2 jeweils bestrittene Bildungsweg folgt den Angaben der beiden BF vor der belangten Behörde und in der mündlichen Verhandlung. Es traten dabei keine Widersprüche während der einzelnen Verfahrensstadien auf.
Der vom BF1 absolvierte Deutschkurs ist der diesbezezüglichen Bestätigung der Volkshochschule römisch 40 vom 10.07.2017 (siehe G306 2183458-1 (im Folgenden: Akt BF1) AS 543) zu entnehmen. Mangels Vorlage einer entsprechenden Bestätigung durch BF2 war festzustellen, dass diese keinen Deutschkurs besucht hat. Letzlich vermochten weder BF1 noch BF2 das Bestehen von Deutschkenntnissen eines bestimmten Niveaus nachzuweisen, sodass diesbezüglich trotz in der Verhandlung gezeigter Deutschkenntnisse obige Feststellung zu treffen war.
Die sozialen Bezugspunkte der BF in Österreich konnten durch die Vorlage diverser Unterstützungsschreiben nachgewiesen werden (siehe Beilagen zum Verhandlungsprotokoll; im Folgenden: Beilagen).
Die Erwerbslosigkeit von BF1 und BF2 ergeben sich aus dem Inhalt der auf die beiden lautenden Sozialversicherungsdatenauszüge. Ferner haben die besagten BF die Ausübung von Erwerbstätigkeiten in der mündlichen Verhandlung verneint und zudem den Bezug von Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung hervorgehoben, was auch dem GVS-Informationssystem entnommen werden kann.
Die jeweiligen familiären Bezugspunkte im Herkunftsstaat der BF folgen deren Ausführungen vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung.
Die strafrechtliche Unbescholtenheit aller BF ist dem Amtswissen des BVwG durch Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich geschuldet.
Der Schulbesuch von BF3 und BF4 wurde vor dem Hintergrund der dahingehend übereinstimmenden Angaben von BF1 und BF2 sowie teils in Vorlage gebrachter entsprechender Schulbesuchsbestätigungen bzw. Zeugnisse (siehe Akt BF1 Beilagen; AS 545, 547) festgestellt.
Der Gesundheitszustand der BF beruht auf den konkreten Angaben von BF1 und BF2 in der mündlichen Verhanldung. Zwar brachte BF1 medizinische Unterlagen in Vorlage, wonach er unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leide, sich jedoch nur unregelmäßig behandeln lasse (siehe Beilagen: Fachärztliche Bestätigung von römisch 40 , Facharzt für Psychiatrie, in römisch 40 , vom römisch 40 .2021). Zudem gab BF1 in der mündlichen Verhandlung an, sich abgesehen von nicht näher dargelegten chronischen Lungenproblemen gesund zu fühlen. Die attestierte PTBS wurde von BF1 jedoch nicht konkret thematisiert, weshalb letztlich ein aktulles Bestehen von krankheitswerten psychischen Beeinträchtigungen beim BF1 ausgeschlossen werden kann. BF2 wiederum vermeinte gesund zu sein gleiches gelte für BF3 und BF4. Ferner wurden BF5 betreffende medizinische Unterlagen des römisch 40 in römisch 40 , in Vorlage gebracht (siehe Akt BF1 AS 603f) denen die oben festgestellten Leiden entnommen werden können.
Die gemeinsame Haushaltsführung der BF konnte durch Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister (ZMR) ermittelt werden.
Zum Fluchtvorbringen:
Das Vorbringen der BF zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates und ihrer Situation im Fall der Rückkehr dorthin beruht auf deren Angaben in der Erstbefragung, dem Vorbringen in der Einvernahme vor der belangten Behörde, den Ausführungen in der gegenständlichen Beschwerde, in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht und in deren Stellungnahmen.
Vorab ist festzuhalten, dass auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung davon ausgegangen werden kann, dass die BF umfassende und inhaltlich übereinstimmende Angaben zu den konkreten Umständen und dem Grund der Ausreise aus dem Herkunftsstaat machen können, zumal eine Person, die aus Furcht vor Verfolgung ihren Herkunftsstaat verlassen hat, in ihrer Einvernahme auf konkrete Befragung zu ihrer Flucht die ihr gebotene Möglichkeit wohl kaum ungenützt lassen wird, die Umstände und Gründe ihrer Flucht in umfassender und in sich konsistenter Weise darzulegen, um den beantragten Schutz vor Verfolgung auch möglichst rasch erhalten zu können. Es entspricht auch der allgemeinen Lebenserfahrung, dass eine mit Vernunft begabte Person, die behauptet, aus Furcht vor Verfolgung aus ihrem Herkunftsstaat geflüchtet zu sein, über wesentliche Ereignisse im Zusammenhang mit ihrer Flucht, die sich im Bewusstsein dieser Person einprägen, selbst nach einem längeren Zeitraum noch ausreichend konkrete, widerspruchsfreie und nachvollziehbare Angaben machen kann.
Wie sich aus der Erstbefragung und der Einvernahme im Verfahren vor der belangten Behörde, der Beschwerde, den Stellungnahmen sowie der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG ergibt, hatten die BF – wiederholt – ausreichend Zeit und Gelegenheit, ihre jeweiligen Fluchtgründe umfassend und im Detail darzulegen sowie allfällige Beweismittel vorzulegen.
Aus einer Gesamtschau der Angaben der BF ergibt sich jedoch, dass diese im gesamten Verfahren trotz der zahlreichen Gelegenheiten nicht imstande waren, eine im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bestehende – aktuelle – Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen. Es konnte weder eine konkret gegen die Personen der BF gerichtete Verfolgungsgefahr festgestellt werden, noch sind im Verfahren sonst Anhaltspunkte hervorgekommen, die eine mögliche Verfolgung im Herkunftsstaat für wahrscheinlich erscheinen ließen.
BF1 und BF2 brachten im Kern übereinstimmend – und dementsprechend glaubwürdig – vor, dass BF1 im Jahr 2007 von Mitgliedern der schiitischen Miliz Al Mahdi entführt und drei Tage lang festgehalten worden sei. Während dieses Zeitraums sei BF1 gefoltert, geschlagen und gedemütigt worden, wodurch er letzlich Verletzungen am Kopf, Arm und Rücken erlitten habe. Nach Zahlung von Lösegeld in Höhe von US $ 10.000,00 welches nach Vermittlung eines Verwandten des BF1 von der Familie des BF1 aufgebracht wurde, sei BF1 wieder freigelassen worden. Die Verletzungen des BF1 wurden im Anschluss daran in einem Krankenhaus in Bagdad behandelt und wurde der Vorfall von den örtlichen Sicherheitsbeamten aufgenommen. BF1 verließ das Krankenhaus nach nur 3 oder 4 Tagen und verzog mit seiner Familie nach Kirkuk.
In Kirkuk sei BF1 wiederholt, insgesamt 5 Mal von örtlichen kurdischen Innengeheimdienstmitarbeitern (Asayis) festgenommen und zur Zahlung von Geldbeträgen genötigt worden, zumal aus anderen Landesteilen des Irak geflohene „Araber“ in Kirkuk nicht gern gesehen seien. Konkrete Drohungen mit Gewalt und/oder Übergriffe auf den BF1 oder eine/n der anderen BF wurden jedoch weder von BF1 noch von BF2 behauptet. Letztlich gestand BF1 ein, dass es sich bei den jeweiligen Festnahmen und Geldforderungen bloß um Schikanen gehandelt hätte.
Ergänzend brachte BF1 vor, im Zuge der Entführung im Jahr 2007 vergewaltigt worden zu sein, wobei BF2 davon keine Kenntnis habe. Ferner seien die Vergewaltigungshandlungen von den Entführern gefilmt und das Filmmaterial letztlich in Umlauf gebracht worden, um BF1 als homosexuell in der Öffentlichkeit darzustellen. BF1 vemute zudem, dass es den Tätern auch tatsächlich gelungen sei, ihn bloßzustellen und er demzufolge mit gesellschafltichen Anfeindungen zu kämpfen hätte. Ferner sei BF1 von Asylwerbern in Österreich wegen der Vorkommnisse im Jahr 2007 angegriffen worden. Der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des BF1 steht jedoch der Umstand entgegen, dass er in Bezug auf den Zeitraum von 2007 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 keinerlei Verfolgung aufgrund vermuteteter Homosexualität vorgebracht hat, was letztlich gegen die Anfertigung und Veröffentlichung eines Vergewaltigungsvideos des BF1 spricht. So kann nicht nachvollzogen werden, dass er im Falle der tatsächlichen Veröffentlichung des ihn betreffenden Vergewaltungsvideos bei behaupterter Inakzeptanz von Homosexualität in der irakischen Gesellschaft weitere 8 Jahre ohne konkrete Anfeindungen in seinem Herkunftsstaat leben hätte können. Wie noch näher ausgeführt werden wird – gab BF1 an, in Kirkuk einzig aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit sowie einer Beziehung zu einer als Assistenin bei einem Politiker beschäftigten Frau von Seiten kurdischer Geheimdienstmitarbeiter schikaniert worden zu sein. Insofern BF1 vorbringt, vermeintlich wahrgenommen zu haben, andere Menschen machten sich über ihn deswegen lustig, wärfen ihm auffällige Blicke zu und verhielten sich ihm gegenüber „sonderbar“, ist dem entgegenzuhalten, dass derartige subjektive Wahrnehmungen keinesfalls einen Rückschluss darauf zuließen, dass zum einen Feindseligkeiten bestünden und zum anderen, dass diese allfällig auf ein Video des BF1 zurückzuführen wären. Dies unter dem Blickwinkel einer fehlenden Schilderung konkreter Übergriffe bzw. entsprechender Äußerungen gegenüber BF1. Insofern BF1 vorbrachte, in Österreich von irakischen Asylwerbern aufgrund der Vorkommnisse in seinem Herkunftsstaat angegriffen worden zu sein, ist die Äußerung von BF2 dazu einzuwerfen. Diese brachte vor, BF1 habe den Unmut von Mitgliedern der islamisch-schiitischen Glaubenslehre geweckt, zumal er sich diesen gegenüber negativ über Anhänger besagter Glaubensrichtung geäußert habe. Ferner habe BF1 vor Polizeibeamten einen Angriff auf sich nicht bestätigen können, sondern bloß eine Verletzung am Kopf unbekannter Herkunft geschildert (siehe Akt BF1 AS 303f: Zeugenvernhemung des BF1 durch Polizisten der LPD römisch 40 , am römisch 40 .2016). Ein Zusammenhang zwischen dem vermeintlichen Angriff auf BF1 und den Vorkommnissen im Jahr 2007 konnte BF1 sohin nicht glaubhaft machen.
Ferner widersprach sich BF1 bei der Schilderung der Gründe für seine Verhaftungen/Schikanen in Kirkuk selbst. So gab er vor dem BFA an, aufgefordert worden zu sein – neben der Anwerbung seiner Geliebten – für den kurdischen Geheimdienst zu arbeiten. In der mündlichen Verhandlung brachte BF1 jedoch vor, keine Aufforderung zur Mitarbeit bekommen, sondern einzig den Auftrag erhalten zu haben, seine Geliebte zur Mitarbeit zu überreden.
Vor dem Hintergrund des zuvor Ausgeführten konnten die BF letztlich eine konkret gegen den BF1 gerichtete Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, Konfession und/oder vermeintlichen sexuellen Neigung nicht glaubhaft machen. Der bloße Umstand, dass BF1 von einer schiitschen Miliz entführt und nach Zahlung eines Lösegeldes wieder freigelassen wurde, lässt nich unweigerlich auf eine gezielte Entführung des BF1 wegen seiner Konfession oder Ethnie schließen. Vielmehr liegt mit Blick auf die Länderberichte auf der Hand, dass BF1 Opfer krimineller Machenschaften schiitischer Milizen geworden sein kann, welche zum Zwecke der Erlangung von Lösegeld Entführungen durchführen. Unbeschadet dessen liegt der besagte Vorfall mittlerweile 14 Jahre zurück und mangelt es – wie in der rechtlichen Beründung näher ausgeführt werden wird – im Lichte der eine systematische Verfolgung von Sunniten im Herkunftsstaat nicht aufzeigenden Länderberichte – aufgrund des seither verstrichenen Zeitraums an einer maßgeblichen Aktualität der von den BF geschilderten Verfolgung.
Darüber hinaus vermochten die BF keine über bloße Schikanen und einfache Diskriminierungen hinausgehenden Handlungen gegen den BF1 darzulegen. Weder BF1 noch BF2 behauptete, Gewalt durch besagte Mitglieder kurdischer Geheimdienste erfahren oder zu haben oder Drohungen mit Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Vielmehr gestand BF1 ein, bloß Schikanen erfahren zu haben. Die von den BF geschilderten Schikanen erreichen weder mit Blick auf deren Häufigkeit und Art noch Intensität eine existenzbedrohende oder maßgeblich lebenseinschränkende Dimension. Vielmehr konnten die BF trotz behaupteter Widrigkeiten in ihrem Herkunftsgebiet leben und ihren Unterhalt durch die Einnahmen des BF1 aus seinem Gebrauchtwagenhandel zu bestreiten. Auch mussten die BF keine Einschränkungen ihrer Lebensführung hinnehmen. Widrigenfalls wäre damit zu rechnen gewesen, dass die BF allfällige beachtenswerte Lebenseinschränkungen thematisiert hätten.
Ergänzend ist festzuhalten, dass Kirkuk zwar als umstrittenes Gebiet gilt, auf welches sowohl die unabhängige Region Kurdistan als auch die zentralirakische Regierung Anspruch erheben. Doch konnte die irakische Zentralregierung im Jahr 2017 die Vorherrschaft in besagter Region erringen und damit die Kompetenzen und den Handlungspielraum kurdischer Milizen und/oder Geheimdienste massiv einschränken. Insofern könnte – unbeschadet des bisher Ausgeführten – im Falle einer Rückkehr der BF in ihre Herkunftsregion keine aktuelle von kurdischen Geheimdiensten ausgehende Fortführung gezielter Schikanen festgestellt werden.
Letztlich brachten BF2 bis BF5 keine eigenen Fluchtgründe vor, sondern vermeinten aufgrund der BF1 drohenden Verfolgung ebefalls in Gefahr zu sein. Selbst erfahrene Bedrohungen wurden jedoch nicht behauptet. So vermeinte BF2 zwar, von Mitgliedern des besagten kurdischen Geheimdienstes nach dem Verbleib von BF1 befragt, jedoch nicht bedroht worden zu sein.
Im Ergebnis gelang es den BF sohin nicht, eine gezielte bzw. aktuelle Verfolgung durch Mitglieder schiitischer Milizen, kurdicher Geheimdienste, Privatpersonen und/oder dem Herkunftsstaat zurechenbarer Personen glaubhaft zu machen.
Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die oben getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den vom BVwG in das Verfahren eingebrachten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Es wurden dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit seinem Amtswissen aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage (Einsicht in aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat).
Die erwähnten Länderberichte wurden zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung sowie in deren Rahmen in das Verfahren eingebracht. Hiezu wurde den BF die Möglichkeit einer Stellungnahme durch ihren Regierungsvorlage eingeräumt, wovon sie auch mit Schreiben vom 13.12.2021 Gebrauch machten.
Die in das Verfahren eingeführten Länderberichte wurden nicht in Frage gestellt. Bei den angeführten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation im Irak ergeben.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf eine Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
Der mit „Familienverfahren im Inland“ betitelte Paragraph 34, AsylG lautet:
„§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von
1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;
2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8,) zuerkannt worden ist oder
3. einem Asylwerber einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn
1. dieser nicht straffällig geworden ist und
Anmerkung, Ziffer 2, aufgehoben durch Artikel 3, Ziffer 13,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 84 aus 2017,)
3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Paragraph 7,).
(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn
1. dieser nicht straffällig geworden ist;
Anmerkung, Ziffer 2, aufgehoben durch Artikel 3, Ziffer 13,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 84 aus 2017,)
3. gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Paragraph 9,) und
4. dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.
(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Absatz 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß Paragraph 12 a, Absatz 4, zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.
(5) Die Bestimmungen der Absatz eins bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.
(6) Die Bestimmungen dieses Abschnitts sind nicht anzuwenden:
1. auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;
2. auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind;
3. im Fall einer Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (Paragraph 30, NAG).“
Gemäß Paragraph 16, Absatz 3, BFA-VG gilt eine auch nur von einem betroffenen Familienmitglied erhobene Beschwerde gegen eine zurückweisende oder abweisende Entscheidung im Familienverfahren gemäß dem 4. Abschnitt des 4. Hauptstückes des AsylG 2005 auch als Beschwerde gegen die die anderen Familienangehörigen (Paragraph 2, Ziffer 22, AsylG 2005) betreffenden Entscheidungen; keine dieser Entscheidungen ist dann der Rechtskraft zugänglich. Allen Beschwerden gegen Entscheidungen im Familienverfahren kommt aufschiebende Wirkung zu, sobald zumindest einer Beschwerde im selben Familienverfahren aufschiebende Wirkung zukommt.
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG gilt als Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat.
BF1 und BF2 sind miteinander verheiratet. Ihre Ehe bestand bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet. BF3, BF4 und BF5 sind minderjährige Kinder von BF1 und BF2.
Die BF gelten daher als Familienangehörige gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG und sind für sie die Bestimmungen zum Familienverfahren gemäß Paragraph 34, AsylG anzuwenden.
Zu Spruchpunkt römisch eins.:
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention – GFK, droht.
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; 15.03.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "internen Flucht- oder Schutzalternative" innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539; 17.03.2009, 2007/19/0459).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459; 28.05.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031; 06.11.2009, 2008/19/0012). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011; 28.05.2009, 2008/19/1031). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid (bzw. das Asylerkenntnis) erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichen Schutzes einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinn ist die Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793).
Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, FlKonv genannten Gründen zu befürchten habe (Hinweis E 9.3.1999, 98/01/0318). vergleiche VwGH 19.10.2000, 98/20/0233)
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an (Hinweis B vom 24. Juni 2014, Ra 2014/19/0046, mwN). In diesem Zusammenhang ist die Frage, ob eine aktuelle Verfolgungsgefahr vorliegt, eine Einzelfallentscheidung, die grundsätzlich - wenn sie, wie vorliegend, auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (Hinweis B vom 28. April 2015, Ra 2015/18/0026, mwH). vergleiche VwGH 22.01.2021, Ra 2020/01/0492)
Vorliegend ist festzuhalten, dass die BF eine asylrelvante Verfolgung nciht glaubhaft machen konnten:
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Im gegenständlichen Fall gelangte das BVwG aus den oben im Rahmen der Beweiswürdigung erörterten Gründen zum Ergebnis, dass BF1 und BF2 (wie auch deren Kinder) keiner individuellen asylrelevanten Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt waren oder im Fall der Rückkehr ausgesetzt wären, sodass internationaler Schutz nicht zu gewähren ist.
So vermochten die BF eine Verfolgung durch Angehörige einer schiitischen Miliz im Jahr 2007 nicht glaubhaft zu machen. Unbeaschadet dessen würde es dem Vorbringen des BF1, im Jahr 2007 wegen der Lukrierung von Lösegeld entführt worden zu sein, an Aktualität mangeln. Der von den BF geschilderte Vorfall in Bagdad liegt mittlerweile 14 Jahre zurück. Zudem konnten die BF, insbesondere BF1, danach weitere 8 Jahre lang im Irak leben, ohne von schiitischen Milizen erneut belästigt worden zu sein.
Die von den BF geschilderten Maßnahmen kurdischer Geheimdienstmitarbeiter gegen BF1 erreichen zudem keinesfalls die Intensität von Handlungen, die einer asylrelevanten Verfolgung gleichkommen. So wurden weder BF1 noch die sonstigen BF in ihrer Lebensführung massiv eingeschränkt, beschränkten sich die Maßnahmen gegen den BF1 auf 5 zeitlich begrenzte Anhaltungen/Befragungen sowie Zahlungen von nicht existenzbedrohlichen Geldsummen. Gewalt und/oder Drohungen mit Gewalt erfuhren die BF nicht. Auch wurde von den BF nicht dargelegt, dass sie – abgesehen von der außerehelichen Liebschaft des BF1 – im Falle ihrer Weigerung die verlangten Geldsummen zu zahle, bedroht worden wären oder konkrete Sanktionen in Aussicht gestellt hätten bekommen. Letztlich gestand BF1 ein, dass es sich bei seinen „Festnahmen“ bloß um zeitlich beschränkte Schikanen gehandelt habe.
Ferner steht die Herkunftsregion der BF mittlerweile unter Führung der Zentralirakischen Regierung, was bedeutet, dass die Handlungsspielräume und Kompetenzen kurdischer Staats-Akteure massiv eingeschränkt wurden, sodass letztlich eine aktuelle Bedrohung/Schikane der BF im Falle ihrer Rückkehr nicht angenommen werden kann.
Unbeschadet dessen steht es den BF offen, sich – wie in den Jahren 2004 bis 2007 – wieder in Bagdad, konkret in einem sunnitischen Viertel im Großraum Bagdad, niederzulassen.
Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedenfalls nicht, um den Status eines Asylberechtigten zu erhalten (VwGH vom 15.12.2015, Ra 2015/18/0100). Zudem liegen keine Anhaltspunkte vor, dass den BF eine über die allgemeinen Gefahren der im Irak gebietsweise herrschenden bürgerkriegsähnlichen Situation hinausgehende Gruppenverfolgung droht.
Demzufolge lässt sich eine aktuelle Verfolgung der BF im Falle ihrer Rückkehr aus einer der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe nicht erkennen.
Eine systematische Verfolgung und Diskriminierung von sunnitischen Arabern im Irak, insbesondere in der Heimatregion der BF, durch staatliche Stellen oder Privatpersonen kann im Lichte der vorliegenden aktuellen Länderberichte nicht festgestellt werden. In der Heimatregion der BF stellen Araber sunnitischer Glaubensrichtung neben Kurden die zweitgrößte Volksgruppe dar. Sowohl im Parlament, als auch generell auf politischer Ebene sind Angehörige der sunnitischen Glaubensgemeinschaft vertreten. Sunniten nehmen, trotz der überwiegenden Präsenz schiitischer Milizen, am gesellschaftlichen und politischen Leben im Irak nach wie vor teil. Auch wenn die Kriegsgeschehnisse und Unabhängigkeitsbestrebungen der kurdischen Volksgrupp im Irak in den vergangenen Jahren zu starken Ressentiments der Glaubensgruppen untereinander sowie zwischen Kurden und Arabern geführt haben, ist es für arabische Angehörige der sunnitischen Glaubensgemeinschaft dennoch möglich, im Irak zu leben, zu arbeiten, staatliche und politische Posten zu besetzen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Zur Abweisung der Asylanträge sei erwähnt, dass auch ein wirtschaftlicher Nachteil unter bestimmten Voraussetzungen als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu qualifizieren sein kann, im Ergebnis jedoch nur dann, wenn einen solchen Nachteil die Lebensgrundlage massiv bedroht ist und dieser in einem Kausalzusammenhang mit den Gründen der Flüchtlingskonvention steht. Eine solche Bedrohung der Lebensgrundlage ist den Feststellungen zufolge nicht gegeben und ein derartiger Kausalzusammenhang im vorliegenden Fall auch nicht ersichtlich, zumal BF1 und BF2 nicht nur über hinreichende Bildung verfügen und BF1 im Irak bis zur Ausreise erwerbstätig war, sondern die besagten BF zudem arbeitsfähig sind.
BF2 bis BF5 haben zudem keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.
Entsprechend den oben getätigten Ausführungen ist es den BF nicht gelungen, darzutun, dass ihnen im Herkunftsstaat Irak asylrelevante Verfolgung droht, weshalb die Beschwerden gegen Spruchpunkt römisch eins. der angefochtenen Bescheide gemäß Paragraph 3, AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen waren.
Zu Spruchpunkt römisch II.:
Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Ziffer eins,), oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Ziffer 2,), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Die Voraussetzungen dafür, einem Asylwerber gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 subsidiären Schutz zu gewähren, unterscheiden sich im Ergebnis nicht von jenen nach Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 1997 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 101 aus 2003, in Verbindung mit Paragraph 57, Absatz eins, FrG (VwGH 19.02.2004, 99/20/0573; 28.06.2005, 2005/01/0080), weshalb zur Auslegung die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu diesen Bestimmungen herangezogen werden kann.
Nach dieser Rechtsprechung ist Voraussetzung für eine positive Entscheidung betreffend den subsidiären Schutz, dass eine konkrete, den Asylwerber betreffende, aktuelle, durch staatliche Stellen zumindest gebilligte oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt von diesen nicht abwendbare Gefährdung bzw. Bedrohung vorliege. Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird - auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören -, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Artikel 3, MRK gewährleisteten oder anderer in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 erwähnter Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen. Die Ansicht, eine Benachteiligung, die alle Bewohner des Landes in gleicher Weise zu erdulden hätten, könne nicht als Bedrohung im Sinn des Paragraph 57, Absatz eins, FrG gewertet werden, trifft nicht zu (VwGH 08.06.2000, 99/20/0203; 17.09.2008, 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Artikel 3, MRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, 2002/18/0028; 06.11.2009, 2008/19/0174).
Gemäß Paragraph 8, Absatz 3 und Paragraph 11, Absatz eins, AsylG 2005 ist der Asylantrag auch in Bezug auf den subsidiären Schutz abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
Der Asylwerber hat glaubhaft zu machen, dass er aktuell bedroht sei, dass die Bedrohung also im Fall seiner Abschiebung in dem von seinem Antrag erfassten Staat gegeben wäre und durch staatliche Stellen zumindest gebilligt wird oder durch sie nicht abgewendet werden kann. Gesichtspunkte der Zurechnung der Bedrohung im Zielstaat zu einem bestimmten "Verfolgersubjekt" sind nicht von Bedeutung; auf die Quelle der Gefahr im Zielstaat kommt es nicht an (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509; 22.08.2006, 2005/01/0718). Diese aktuelle Bedrohungssituation ist mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender Angaben darzutun, die durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauert werden (VwGH 02.08.2000, 98/21/0461; 25.01.2001, 2001/20/0011). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, 93/18/0214).
Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben vergleiche VwGH 14.10.1998, 98/01/0122; 25.01.2001, 2001/20/0011).
Unter „realer Gefahr“ ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen („a sufficiently real risk“) im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. Gesetzgebungsperiode zu
§ 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, 95/21/0294; 25.01.2001, 2000/20/0438; 30.05.2001, 97/21/0560).
Die Anerkennung des Vorliegens einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Person, die als Zivilperson die Gewährung von subsidiären Schutz beantragt, setzt nicht voraus, dass sie beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist. Eine solche Bedrohung liegt auch dann vor, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein vergleiche EUGH 17.02.2009, Elgafaji, C-465/07, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 45).
Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes erfordert die Beurteilung des Vorliegens eines tatsächlichen Risikos eine ganzheitliche Bewertung der Gefahr an dem für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Artikel 3, EMRK auch sonst gültigen Maßstab des "real risk", wobei sich die Gefahrenprognose auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat vergleiche VwGH vom 31.03.2005, 2002/20/0582, 2005/20/0095). Dabei kann bei der Prüfung von außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten nur dann in der Außerlandesschaffung des Antragsstellers eine Verletzung des Artikel 3, EMRK liegen, wenn außergewöhnliche, exzeptionelle Umstände, glaubhaft gemacht sind vergleiche EGMR, Urteil vom 06.02.2001, Beschwerde Nr. 44599/98, Bensaid v United Kingdom; VwGH 21.08.2001, 2000/01/0443).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 25.05.2016, Ra 2016/19/0036, erkannt hat, ist bei der Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Artikel 3, EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahr, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat bezieht.
Weiters hat der Verfassungsgerichtshof inzwischen wiederholt ausgesprochen, dass bei der Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen, unabhängig davon, ob diese unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, zur Beurteilung der Sicherheitslage einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, bei entsprechend schlechter, volatiler allgemeiner Sicherheitslage jedenfalls erforderlich sind vergleiche UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Artikeln 1 A 2 und 1 F des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz 74). Bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte in den Herkunftsländerinformationen hat sich das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich mit der Situation von Minderjährigen auseinanderzusetzen vergleiche etwa VfGH 23.09.2019, E 512-517/2019 und VfGH 24.02.2020, E 3683-3686/2019-8 mwN).
Eine besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Artikel 2 und 3 MRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen vergleiche VwGH 21.3.2018, Ra 2017/18/0474 bis 0479; 30.8.2017, Ra 2017/18/0089-0095, mwN). Im zitierten Revisionsfall war daher insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei den revisionswerbenden Parteien um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern und somit - im Hinblick auf die Minderjährigkeit der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien - um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelte vergleiche die Definition schutzbedürftiger Personen in Artikel 21, der EU-Richtlinie 2013/33/EU, Aufnahmerichtlinie), was eine konkrete Auseinandersetzung damit verlangt, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien im Heimatstaat tatsächlich vorfinden (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336).
Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 gegeben sind:
Im gegenständlichen Fall handelt es sich bei den BF um eine Familie mit drei minderjährigen Kindern und betrifft der Fall somit besonders vulnerable Personen iSd Artikel 21, der EU-Richtlinie 2013/33/EU, Aufnahmerichtlinie. Hinzu kommt, dass BF5 erst 5 Jahre und 2 Monate sowie BF 4 erst 11 Jahre und 3 Monate alt ist und beide daher besonders schutzbedürftig sind. Zudem wurde BF5 in Österreich geboren sowie bisher zur Gänze und BF5 zum überwiegenden Teil in Österreich sozialisiert. BF3 und BF4 besuchen in Österreich die Schule und BF5 weist darüber hinaus einen vermehrten Betreuungsbedarf aufgrund seiner Hauterkrankung und Nahrungsmittelunverträglichkeiten auf.
Auch wenn der VwGH wiederholt darauf hingewiesen hat, dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfände, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen, (02.08.2018, Ra 2017/19/0229; 29.05.2018, Ra 2018/20/0146; 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; 08.08.2017, Ra 2017/19/0118), ist anzumerken, dass es sich bei den jeweiligen Fremden um alleinstehende Männer handelte.
Aus den herangezogenen Länderberichten ergibt sich insbesondere, dass Kinder Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre waren und sind. Sie sind in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage betroffen. Die Sicherheitslage und die große Zahl zerstörter Schulen verhindern mancherorts den Schulbesuch, sodass die Alphabetisierungsrate in den letzten 15 Jahren drastisch gefallen ist (aktuell bei 79,7 Prozent), besonders in ländlichen Gebieten. Über ein Viertel aller Kinder im Irak lebt in Armut. Dabei waren, über die letzten Jahrzehnte, Kinder im Süden des Landes und in ländlichen Gebieten am stärksten betroffen. Armut wirkt sich nicht nur negativ auf die Bildung, sondern auch auf die Gesundheit von Kindern aus. 22,6 Prozent der Kinder im Irak sind unterernährt. Ein Viertel aller Kinder unter fünf Jahren sind physisch unterentwickelt bzw. im Wachstum zurückgeblieben. Es gibt keine Berichte, wonach von staatlicher Seite Kinder zum Dienst in den Sicherheitskräften einberufen oder rekrutiert werden. Kinder sind jedoch weiterhin in hohem Maße von gewaltsamer Rekrutierung und Verwendung durch mehrere im Irak operierende bewaffnete Gruppen gefährdet, einschließlich (aber nicht nur) durch den IS, die PMF, Stammesgruppierungen, die Kurdische Arbeiterpartei PKK, und vom Iran unterstützte Milizen. PMF-Einheiten rekrutieren weiterhin Kinder, bilden diese militärisch aus und setzen sie ein. Im Südirak und in den schiitischen Gegenden von Bagdad erinnern Plakate an gefallene minderjährige Kämpfer, die vornehmlich für die Brigaden der Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH) und der Kata’ib Hizbollah (KH) gekämpft hatten. Die PMF bot nach eigenen Angaben im Jahr 2017 militärische Ausbildungskurse für Kinder und Jugendliche im Alter von 15-25 Jahren an.
Vor diesem wie dem Hintergrund der nach wie vor besonders für Kinder volatilen Sicherheitslage bestünde die konkrete Gefahr, dass die Eltern (BF1 und BF2) ihren drei Kindern (BF3 bis BF5) keinen ausreichenden familiären Rückhalt geben könnten.
Dazu kommt generell, dass der Staat den Eintritt der von Artikel 3, EMRK verpönten Beeinträchtigung nicht effektiv verhindern kann, wie schon die Geschehnisse in der Vergangenheit gezeigt haben. Auch das Widererstarken des „IS“ im Irak, inbesondere im Herkunftsgebiet der BF, lässt keine Verbesserung der konkreten Lage in naher Zukunft erkennen.
Den Beschwerden zu den Spruchpunkten römisch II. war daher unter Abwägung der persönlichen Gründe der minderjährigen BF3 bis BF5 Folge zu geben, diese Spruchpunkte aufzuheben und die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigen auszusprechen.
Dies hatte nicht nur für die Bescheide des BF3 bis BF5 zu erfolgen, sondern auch für jene von BF1 und BF2, wie sich aus Paragraph 34, Absatz 2, - 4 AsylG ergibt.
Demnach erhalten diese Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang, als bei ihnen keine Ausschlussgründe gemäß Paragraph 34, Absatz 3, AsylG vorliegen und war spruchgemäß zu entscheiden.
Im Fall der BF liegt neben den Erwägungen zur allgemeinen Lage zudem im Falle der Rückkehr in den Irak mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die von der Judikatur geforderte Exzeptionalität der Umstände vor, die im Falle ihrer Abschiebung in den Irak zu einer Verletzung ihrer Rechte iSd Artikel 3, EMRK führte.
Folglich war BF3 bis BF5 jeweils gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak zuzuerkennen. Da sich BF1 und BF2 im selben Verfahren wie BF3 bis BF5 befinden und erstere beiden deren Erziehungsberechtigten sind, war diesen der gleiche Schutzsstatus einzuräumen.
Zu Spruchpunkt römisch III.:
Gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.
Das BVwG hat den BF mit gegenständlichem Erkenntnis den Status subsidiär Schutzberechtigter zuerkannt, sodass eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von einem Jahr, beginnend mit der rechtskräftigen Zustellung des gegenständlichen Erkenntnisses, zu erteilen ist.
Zu den weiteren Spruchpunkten in den bekämpften Bescheiden:
Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung der Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Den BF wurde mit gegenständlichem Erkenntnis der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und daher ihrem Antrag auf internationalen Schutz diesbezüglich stattgegeben.
Die Voraussetzungen gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und damit in weiterer Folge auch der Abspruch über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG, die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG in Verbindung mit Paragraph 46, FPG sowie die Frist zur freiwilligen Ausreise liegen daher nicht mehr vor, weshalb die restlichen Spruchpunkte ersatzlos zu beheben waren.
Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR zu Fragen des Asyls, zur Überschreitung der Eingriffsschwelle des Artikel 3, EMRK und zu Fragen des Artikel 8, EMRK ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich bei allen erheblichen Rechtsfragen an der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR orientiert und hat diese – soweit erforderlich – auch zitiert.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
ECLI:AT:BVWG:2022:G307.2183458.1.00