Bundesverwaltungsgericht
14.09.2021
W268 2242111-1
W268 2242111-1/3E
W268 2242842-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Iris Gachowetz als Einzelrichterin über die Beschwerden von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA Russische Föderation und römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Russische Föderation alias staatenlos, beide vertreten durch RA Dr. Joachim RATHBAUER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.03.2021, Zl. 740428900-201273652 und vom 30.04.2021, Zl. 740429309-201274209 zu Recht:
A)
römisch eins. Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer (BF1) und der Zweitbeschwerdeführer (BF2) sind Vater und Sohn. Sie stellten nach gemeinsamer Einreise in das Bundesgebiet am 14.03.2004 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 04.11.2004, Zl. 04 04.289-BAL und 04 04.293-BAL, wurde ihnen gemäß Paragraph 7, Asylgesetz 1997 Asyl gewährt und gemäß Paragraph 12, leg cit festgestellt, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Die Bescheide erwuchsen am 23.11.2004 in Rechtskraft.
2. Am 17.12.2020 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) bei beiden Beschwerdeführern ein Aberkennungsverfahren aufgrund des Wegfalls der Umstände, die zur Zuerkennung geführt haben, ein.
3. Am 09. bzw. 10.02.2021 wurden die Beschwerdeführer durch Organwalter des Bundesamtes zur beabsichtigten Aberkennung ihres Asylstatus niederschriftlich einvernommen.
4. Mit im Spruch genannten Bescheiden des Bundesamtes vom 19.03.2021 und 30.04.2021 wurde den Beschwerdeführern der ihnen mit Bescheiden vom 04.11.2004 zuerkannte Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG 2005 aberkannt und gemäß Paragraph 7, Absatz 4, AsylG festgestellt, dass ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt römisch eins.). Der Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ihnen gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.), festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 9, Absatz 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist und gemäß Paragraph 58, Absatz 2 und 3 AsylG dem BF1 eine Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 55, Absatz 2, AsylG, dem BF2 eine Aufenthaltsberechtigung plus gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG erteilt (Spruchpunkt römisch IV.).
Begründend wurde im Wesentlichen angeführt, dass sich die Lage im Herkunftsstaat, insbesondere die Lage in Tschetschenien und die Lage für Tschetschenen in der Russischen Föderation, seit der Asylgewährung maßgeblich gebessert habe und die Gründe für die damalige Asylgewährung, nämlich die bürgerkriegsähnliche Situation, nicht mehr gegeben seien und auch sonst keine Verfolgung der Beschwerdeführer drohen würde. Durch Beantragung russischer Auslandspässe nach Asylgewährung hätten sich die Beschwerdeführer zudem dem Schutz ihres Heimatstaates unterstellt und könnten es nicht mehr ablehnen, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass sie im Falle einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage geraten würden, insbesondere da sie weiterhin über familiäre Anknüpfungspunkte verfügen, die sie für die erste Zeit unterstützen könnten, die Beschwerdeführer über ausreichende Schul- und Berufsbildung verfügen würden, durch die sie in der Lage wären, durch eigenständige Arbeit den Lebensunterhalt zu bestreiten und zudem die Möglichkeit bestehe, Unterstützungsleistungen für Rückkehrer sowie Leistungen aus der russischen Grundversorgung und Sozialbeihilfe zu beziehen. Beide Beschwerdeführer würden ein schützenswertes Familienleben aufweisen, der BF1 erfülle jedoch mangels Erwerbstätigkeit nicht das Modul 1 der Integrationsvereinbarung, sodass ihm lediglich eine „Aufenthaltsberechtigung“ gemäß Paragraph 55, Absatz 2, AsylG zu erteilen sei, während dem BF2 aufgrund seiner die Geringfügigkeitsgrenze überschreitenden Erwerbstätigkeit eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG zu erteilen sei.
5. Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wurde den Beschwerdeführern ein Rechtsberater für ein Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
6. Gegen die oben genannten Bescheide wurde mit Schriftsätzen vom 14.04.2021 und 14.05.2021 fristgerecht Beschwerde erhoben.
Darin wird hinsichtlich den BF1 im Wesentlichen vorgebracht, dass kein Aberkennungsgrund vorliege und er, selbst wenn sich die Lage maßgeblich gebessert hätte, dort aufgrund seiner Beeinträchtigungen und des Umstandes, dass seine Mutter Deutsche war, nicht mehr dauerhaft leben könne. Die erfolgte Passbeantragung sei gerechtfertigt und handle es sich nicht um eine Unterschutzstellung. Er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen und aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nicht mehr vermittelbar; die belangte Behörde hätte keine bzw. unrichtige Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand getroffen. Betreffend den BF2 wurde vorgebracht, dass die Ausstellung des russischen Reisepasses nicht zum Besuch der Heimat erfolgt sei und er keinen Grund nennen könne, warum er die Ausstellung beantragt habe. Er könne nicht mehr in seinem Heimatland leben, da er in Österreich die Schule besucht und hier seinen familiären und beruflichen Mittelpunkt habe. Er beherrsche Deutsch besser als seine Muttersprache, Russisch könne er gar nicht.
7. Die Beschwerdevorlagen langten am 29.04.2021 und am 25.05.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurden der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer
Die beiden volljährigen Beschwerdeführer (BF1 und BF2) tragen die im Spruch genannten Personalien, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe und muslimischen Glaubens. Ihre Identität steht fest.
Die Beschwerdeführer stammen aus Dagestan, Russische Föderation. Der BF1 ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder, darunter der BF2. Die Beschwerdeführer sprechen Tschetschenisch als Muttersprache und als Zweitsprache Russisch.
Der BF1 besuchte römisch 40 , Dagestan, die Grundschule, in Grozny, Tschetschenien, die Berufsschule und arbeitete anschließend als Hilfsarbeiter in verschiedenen Bereichen römisch 40 , Dagestan. Die Familie wohnte zuletzt römisch 40 , Dagestan, bis sie gemeinsam das Land verließen und am 14.03.2004 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich stellten. Mit Bescheiden vom 04.11.2004 wurde ihnen aufgrund des damals herrschenden Krieges und der damit verbundenen Gefahren Asyl gewährt.
Im Herkunftsland lebt noch der ältere Bruder des BF1 (Onkel des BF2), römisch 40 , Dagestan, mit dem er telefonisch in Kontakt steht sowie ein Neffe römisch 40 und ein weiterer Neffe in Kaliningrad (Cousins des BF2). Die Verwandten im Heimatland sind berufstätig oder beziehen staatliche Pensionen. Der BF1 hat seine Verwandten zuletzt vor fünf oder sechs Jahren besucht, als er mit seiner Frau für zwei Wochen römisch 40 war. Zuletzt war der BF1 im Jahr 2019 für einen Monat mit seiner Frau im Heimatland.
Der BF1 lebt mit seiner Ehefrau, römisch 40 , in einer Mietwohnung in Linz. Zudem leben die drei gemeinsamen Kinder und die Enkelkinder in Österreich, die alle über eine Aufenthaltsberechtigung verfügen. Der BF1 war im Bundesgebiet in der Vergangenheit als Verpacker, Elektriker und Taxifahrer erwerbstätig, derzeit ist er arbeitslos und bezieht Leistungen aus der Notstandshilfe. Er ist nicht ehrenamtlich tätig und kein Mitglied in einem Verein. Der BF1 verfügt über rudimentäre Deutschkenntnisse; er hat Deutschkurse auf dem Niveau A1 besucht, jedoch keine Prüfungen absolviert.
Der BF2 ist mit seiner Lebensgefährtin, römisch 40 , einer russischen Staatsangehörigen, die in Österreich über einen Asylstatus verfügt, traditionell verheiratet und lebt mit dieser und den vier gemeinsamen Kindern in Linz. Die Tochter, römisch 40 , geb. römisch 40 , verfügt über einen Status als Asylberechtigte, die Söhne römisch 40 und römisch 40 , geb. römisch 40 und römisch 40 , über Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ und der Sohn römisch 40 , geb. römisch 40 , über eine Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG. Weiters leben die Eltern, Geschwister, Nichten und Neffen des BF2 im Bundesgebiet.
Der BF2 hat in Österreich die polytechnische Schule besucht und gearbeitet. Er ist seit 19.03.2018 bei der Firma römisch 40 als Arbeiter angestellt und selbsterhaltungsfähig. Er hat Deutschkurse am BFI besucht und Kurse der Wirtschaftskammer absolviert. Er ist nicht ehrenamtlich tätig oder in einem Verein aktiv.
Der BF1 leidet an keiner lebensbedrohlichen Krankheit. Er klagt über Schmerzen aufgrund einer Leistenbruchoperation letzten Jahres, nimmt täglich Medikamente gegen Knochenschmerzen (Ibuprofen Genericon, Novalgin) und im Bedarfsfall Medikamente gegen Cholesterin und Bluthochdruck (Rosuvastatin Genericon, Nebivolol), zudem Vitamin D3. Er verfügt über einen Behindertenpass und einen Implantatpass. Er ist derzeit nicht in ärztlicher Behandlung. Aufgrund seiner Vorerkrankungen zählt der BF1 zu einer COVID-19-Risikogruppe.
Der BF2 ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF1 wurde im Bundesgebiet durch Urteil des Landesgerichts römisch 40 , vom 14.06.2016 (RK am 18.06.2016) nach Paragraph 127, StGB zu einer Geldstrafe verurteilt.
Der BF2 wurde im Bundesgebiet durch Urteil des Landesgerichts römisch 40 , vom 09.11.2016 nach Paragraphen 148 a, Absatz eins,, 147 Absatz 2, erster und zweiter Fall StGB zu einer unter einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Höhe von neun Monaten verurteilt.
1.2. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:
Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 04.11.2004, Zl. 04 04.289-BAL und 04 04.293-BAL, wurde den Beschwerdeführern aufgrund der damaligen bürgerkriegsähnlichen Situation im Herkunftsland Asyl gewährt und festgestellt, dass ihnen kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Die Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer hat sich seit der Asylgewährung im Jahr 2004 maßgeblich und nachhaltig verändert.
Den Beschwerdeführern droht in der Russischen Föderation keine aktuelle Bedrohung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung seitens der Behörden oder privater Personen.
Der BF1 ist seit der Asylgewährung zumindest zweimal in sein Heimatland zurückgekehrt, um Verwandte zu besuchen, ohne dass es hierbei zu Problemen kam. Der BF1 ließ sich zuletzt am 17.03.2015 einen russischen Auslandspass, gültig bis 17.03.2025, ausstellen, der BF2 am 28.12.2017, mit Gültigkeit bis zum 28.12.2027.
Im Falle einer Verbringung der Beschwerdeführer in ihren Herkunftsstaat droht ihnen kein reales Risiko einer Verletzung der Artikel 2, oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958, (in Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention. Die Beschwerdeführer liefen dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsland:
1.3.1. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation: Russische Föderation, aus dem COI-CMS vom 10. Juni 2021:
„Covid-19-Situation
Letzte Änderung: 18.05.2021
Russland ist von Covid-19 landesweit stark betroffen. Regionale Schwerpunkte sind Moskau und St. Petersburg (AA 15.2.2021). Aktuelle und detaillierte Zahlen bietet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO (https://covid19.who.int/region/euro/country/ru). Die Regionalbehörden in der Russischen Föderation sind für Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zuständig, beispielsweise betreffend Mobilitätseinschränkungen, medizinische Versorgung und soziale Maßnahmen (RAD 15.2.2021; vergleiche CHRR 12.3.2021). Die Maßnahmen der Regionen sind unterschiedlich, richten sich nach der epidemiologischen Situation in der jeweiligen Region und ändern sich laufend (WKO 9.3.2021; vergleiche AA 15.2.2021). Es herrscht eine soziale Distanzierungspflicht für öffentliche Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Der verpflichtende Mindestabstand zwischen Personen beträgt 1,5 Meter (WKO 9.3.2021).
Die regierungseigene Covid-19-Homepage gibt Auskunft über die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlenen Covid-19-Medikamente, nämlich Favipiravir, Hydroxychloroquin, Mefloquin, Azithromycin, Lopinavir/Ritonavir, rekombinantes Interferon-beta-1b und Interferon-alpha, Umifenovir, Tocilizumab, Sarilumab, Olokizumab, Canakinumab, Baricitinib und Tofacitinib. Der in Moskau entwickelte Covid-19-Krankenhausbehandlungsstandard umfasst folgende vier Komponenten: Antivirale Therapie, Antithrombose-Medikation, Sauerstoffmangelbehebung und Prävention/Behandlung von Komplikationen. Auf Anordnung des Arztes wird Patienten ein Pulsoxymeter ausgehändigt (Gerät zur Messung des Blutsauerstoffsättigungsgrades). Die medizinische Covid-Versorgung erfolgt für die Bevölkerung kostenlos (CHRR o.D.a).
Folgende Impfstoffe wurden in der Russischen Föderation entwickelt: Gam-COVID-Vac ('Sputnik V'), EpiVacCorona, CoviVac und Ad5-nCoV (CHRR o.D.b). Mittlerweile sind in der Russischen Föderation drei heimische Impfstoffe zugelassen (Sputnik römisch fünf, EpiVacCorona und CoviVac). Groß angelegte klinische Studien gibt es bisher nicht (DS 20.2.2021; vergleiche RFE/RL 21.2.2021). Impfungen erfolgen kostenlos (Mos.ru o.D.). In Moskau wurden bisher mehr als 700.000 Personen geimpft (Mos.ru 8.3.2021). Obwohl Russland als weltweit erstes Land seinen Covid-Impfstoff Sputnik römisch fünf registrierte, haben die Impfungen effizient gerade erst begonnen (DS 12.2.2021). Bisher wurden in der Russischen Föderation in etwa 2,2 Millionen Personen (ca. 1,5% der Bevölkerung) geimpft bzw. erhielten zumindest eine der zwei Teilimpfungen (RFE/RL 21.2.2021).
Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger müssen bei der Grenzkontrolle keinen COVID-Test vorlegen, dieser muss jedoch spätestens drei Tage nach der Einreise nachgeholt werden. Russische Staatsbürger, die nach der Einreise ein positives Testergebnis erhalten, müssen sich in Quarantäne begeben. Die Ausreise aus Russland ist bis auf unbestimmte Zeit eingeschränkt und nur in bestimmten Ausnahmefällen möglich. Die internationalen Flugverbindungen wurden teilweise wieder aufgenommen. Direktflüge zwischen Österreich und Russland werden derzeit ein- bis zweimal wöchentlich von Austrian Airlines und Aeroflot angeboten. Russische Inlandsflüge wurden während der ganzen Pandemiezeit aufrecht erhalten (WKO 9.3.2021). Der internationale Zugverkehr – mit Ausnahme der Strecke zwischen Russland und Belarus - und der Fährverkehr sind eingestellt (AA 15.2.2021).
Staatliche Unterstützungsmaßnahmen für die russische Wirtschaft sind unterschiedlich und an viele Bedingungen gebunden. Zu den ersten staatlichen Hilfsmaßnahmen zählten Kredit-, Miet- und Steuerstundungen (ausgenommen Mehrwertsteuer), Sozialabgabenreduktion sowie Kreditgarantien und zinslose Kredite. Später kamen Steuererleichterungen sowie direkte Zuschüsse dazu. Viele der Maßnahmen sind nur für kleine und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen zugänglich und haben einen zweckgebundenen Charakter (beispielsweise gebunden an Gehaltszahlungen oder Arbeitsplatzerhalt) (WKO 9.3.2021). Die Regierung bietet Exporteuren Hilfe an, die Möglichkeit eines Konkursmoratoriums, zinslose Kredite für Gehaltsauszahlungen usw. (CHRR o.D.c). Jänner bis Oktober 2020 ist die Industrieproduktion pandemiebedingt um 3,1% zurückgegangen. Besonders die Rohstoffproduktion ist um 6,6% gefallen, während die verarbeitende Industrie mit 0,3% praktisch stagnierte. Die im Jahr 2020 sehr stark fallenden Ölpreise waren unter anderem eine Auswirkung der Covid-19-Pandemie und mit einem globalen Nachfragerückgang verbunden und führten zu einer Rubelabwertung von 25%. Nach leichter Erholung verlor der Rubel unter anderem wegen der anhaltenden geringen Rohstoffnachfrage Mitte 2020 erneut an Wert und lag Anfang Dezember bei ca. 90 Rubel je Euro (WKO 12.2020). Das Realwachstum des Bruttoinlandsprodukts betrug im Jahr 2020 -3,1%. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Wert im Jahr 2019 2%. Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2020 17,8% des Bruttoinlandsprodukts (2019: 12,4%) (WIIW o.D.).
Moskau:
In Moskau herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Das Tragen von Masken auf Straßen wird empfohlen. Kultur- und Bildungsveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 50% der Zuschauerplätze belegt sind. Bürgern über 65 Jahren und chronisch Kranken wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021; vergleiche WKO 9.3.2021, AA 15.2.2021). Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Am Arbeitsplatz sind vorgeschriebene Hygienevorschriften (unter anderem Temperaturmessungen, Mund- und Handschutz, Desinfektionsmittel, Mindestabstand etc.) einzuhalten (WKO 9.3.2021). Gemäß dem Moskauer Bürgermeister verbessert sich die Pandemielage in Moskau. Ein Großteil der Einschränkungen wurde aufgehoben. Gastronomiebetriebe sind wieder geöffnet. Für Schüler höherer Klassen und Studierende findet nun wieder Präsenzunterricht statt (Mos.ru 7.3.2021; vergleiche Mos.ru 8.3.2021, LM 8.2.2021, Russland Analysen 19.2.2021). In der Oblast [Gebiet] Moskau wurde die Mehrzahl der wegen Covid geltenden Einschränkungen zurückgenommen. Einzig Massenveranstaltungen bleiben fast ausnahmslos verboten (Russland Analysen 19.2.2021).
St. Petersburg:
Auch in St. Petersburg herrscht an öffentlichen Orten eine Masken- und Handschuhpflicht. Die für gastronomische Betriebe geltenden Beschränkungen der Öffnungszeiten wurden aufgehoben. Kulturveranstaltungen dürfen stattfinden, wenn maximal 75% der Zuschauerplätze belegt sind. Empfohlen wird Fernarbeit für mindestens 30% der Mitarbeiter. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke sind Selbstisolierung und Fernarbeit verpflichtend (CHRR 12.3.2021; vergleiche Gov.spb 5.3.2021, WKO 9.3.2021, Russland Analysen 8.2.2021).
Tschetschenien:
An öffentlichen Orten wird das Tragen von Masken empfohlen. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke ist Selbstisolierung vorgesehen (CHRR 12.3.2021; vergleiche Chechnya.gov 10.2.2021, Ria.ru 10.2.2021, KMS 10.2.2021). Bisher wurden mehr als 19.000 Personen geimpft (Chechnya.gov 26.2.2021). Mitarbeitern staatlich finanzierter Organisationen in Tschetschenien wurde mit Entlassung gedroht, sollten sie die Covid-Impfung verweigern. Bewohner in Tschetschenien berichten, ihnen seien Sanktionen angedroht worden, sollten sie sich nicht impfen lassen (CK 23.1.2021). Reisebeschränkungen wurden aufgehoben (Ria.ru 10.2.2021; vergleiche Chechnya.gov 10.2.2021, KMS 10.2.2021).
Dagestan:
An öffentlichen Orten herrscht Maskenpflicht. Einstweilen dürfen keine Massenveranstaltungen stattfinden. Für über 65-Jährige und chronisch Kranke wird Selbstisolierung empfohlen (CHRR 12.3.2021). Es finden Massenimpfungen statt, und verwendet wird der Impfstoff Sputnik römisch fünf (E-dag.ru 23.2.2021). Bisher wurden mehr als 18.000 Personen (2,4%) geimpft (E-dag.ru 12.3.2021).
[…]
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 7.4.2021a; vergleiche GIZ 1.2021d, EDA 7.4.2021). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 7.4.2021a; vergleiche EDA 7.4.2021). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 7.4.2021).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern (SWP 4.2017). Seitdem war der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken sollte (SWP 4.2017; vergleiche Deutschlandfunk 29.9.2020). Der Einsatz in Syrien ist der größte und längste Auslandseinsatz des russischen Militärs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zunächst sollten nur die Luftstreitkräfte die syrische Armee unterstützen. Bodentruppen wurden erst später und in geringerem Maße mobilisiert - in Form von Spezialeinheiten und schließlich am Ende des Feldzugs als Militärpolizei. Es gab auch Berichte über den Einsatz privater paramilitärischer Strukturen (DW 29.9.2020). Hier ist vor allem die 'Gruppe Wagner' zu nennen. Es handelt sich hierbei um einen privaten russischen Sicherheitsdienstleister, der nicht nur in Syrien, sondern auch in der Ukraine und in Afrika im Einsatz ist. Mithilfe solcher privaten Sicherheitsdienstleister lässt sich die Zahl von Verlusten des regulären russischen Militärs gering halten (BPB 8.2.2021), und der teure Einsatz sorgt dadurch in der russischen Bevölkerung kaum für Unmut (DW 29.9.2020).
In den letzten Jahren rückte eine weitere Tätergruppe in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpften, wurde auf einige Tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). Erst im Oktober 2020 wurden bei Spezialoperationen zentralasiatische Dschihadisten in Südrussland getötet und weitere in Moskau und St. Petersburg festgenommen (SN 15.10.2020).
NORDKAUKASUS
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich das nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche AA 2.2.2021). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff 'low level insurgency' umschrieben (SWP 4.2017).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgen nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sogenannten IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. 2018 wurde laut dem Inlandsgeheimdienst FSB die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen mehr als halbiert. Auch 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Jedoch stellt ein Sicherheitsrisiko für Russland die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020).
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpften Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der 'Tschetschenisierung' wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für eine nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB Moskau 6.2020). Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 13.1.2020).
Im Jahr 2020 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im gesamten Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller verfügbaren Quartals- und Monatsberichte von Caucasian Knot] bei 56 Personen, davon wurden 45 getötet und 11 verwundet. 42 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Tschetschenien sind im Jahr 2020 insgesamt 18 Personen getötet und zwei verwundet worden. 15 der Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, alle anderen Getöteten und Verwundeten sind den Exekutivkräften zuzurechnen. In Dagestan sind im Jahr 2020 insgesamt neun Personen getötet und eine verwundet worden. Alle Getöteten gehören bewaffneten Gruppierungen an, die verwundete Person ist den Exekutivkräften zuzurechnen. Drei Getötete gab es in Kabardino-Balkarien und einen Getöteten in Inguschetien (Caucasian Knot 2.7.2020a, Caucasian Knot 2.7.2020b, Caucasian Knot 27.10.2020, Caucasian Knot 24.12.2020, Caucasian Knot 20.2.2021).
[…]
Folter und unmenschliche Behandlung
Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21 Punkt 2, der Verfassung und Artikel 117, des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche EASO 3.2017). Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugsbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche EASO 3.2017, AA 2.2.2021). Folter ist jedoch noch immer allgegenwärtig, und die Täter bleiben häufig straffrei (AI 16.4.2020; vergleiche HRW 13.1.2021, AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020).
Immer wieder gibt es auch Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 2.2.2021). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtlichen Tötungen. Ramsan Kadyrow lässt solche Formen von Gewalt anwenden, um die Kontrolle über die Republik Tschetschenien zu behalten. Diese Aktivitäten finden manchmal über die Grenzen Russlands hinaus statt (FH 3.3.2021).
Im August 2018 veröffentlichte die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta Videos von Wachen, die in Jaroslawl Gefangene organisiert prügelten. Die Behörden verhafteten nach einem öffentlichen Aufschrei mindestens 12 Gefängniswachen, aber die NGO Public Verdict berichtete schon im Dezember 2018 über systematische Misshandlung in einem anderen Gefängnis in der Region. Im Juli 2019 veröffentlichte Public Verdict ein weiteres Video, das anhaltende Misshandlungen in Jaroslawl zeigt. Im November 2020 verurteilten Gerichte elf Gefängniswärter wegen Folter und verurteilten sie zu drei bis vier Jahren Haft. Die Gefängnisdirektoren wurden freigesprochen (FH 3.3.2021).
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Wehrdienst und Rekrutierungen
Alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren werden zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche AA 2.2.2021). Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten (ÖB Moskau 6.2020). Es gibt in Russland zweimal im Jahr eine Stellung – eine im Frühling, eine im Herbst (Global Security 1.10.2020a). Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium, wobei die Anzahl der Wehrpflichtigen aus den jeweiligen Regionen stark variiert (ÖB Moskau 6.2020). Im Jahr 2020 wurden russlandweit 263.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Global Security 1.10.2020a).
Neben dem Grundwehrdienst gibt es auch die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (dies steht auch weiblichen Staatsangehörigen offen). Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden (ÖB Moskau 6.2020), sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte (ÖB Moskau 6.2020, vergleiche Jamestown 10.4.2018). Mitte April 2019 sagte Präsident Putin, dass die Wehrpflicht in Russland allmählich der Vergangenheit angehören wird. 2019 dienen ca. 370.000 Kontraktniki (Vertragssoldaten) in den russischen Streitkräften, im Vergleich zu ca. 260.000 Wehrpflichtigen (WI 19.4.2019). Der Verteidigungsminister stellte die Aufgabe, die Zahl der Vertragssoldaten bis 2025 auf 475.000 zu erhöhen (RBTH 22.4.2019). Im Oktober 2020 äußerte sich der Generaloberst Jewgeni Burdinski, dass es derzeit wohl nicht notwendig sei, auf eine komplette Vertragsarmee umzusteigen, da dies - auch aufgrund der Corona-Pandemie - wohl zu teuer ist (Global Security 1.10.2020b).
Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als 'untauglich' von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren oder die einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, sind verbreitet, aber rückläufig. Diese Versuche konzentrieren sich vor allem auf das Stadium vor der Einberufung, da nur ein Drittel der jungen Männer, die jährlich das wehrfähige Alter erreichen, tatsächlich eingezogen wird. Etwa ein Drittel ist untauglich, ein Drittel erhält keine Aufforderung, bei der Einberufungskommission vorstellig zu werden. Grundsätzlich gibt es aber keine Rekrutierungsprobleme, da genug junge Männer Grundwehrdienst leisten wollen. Neben einer patriotischen Gesinnung ist ein Grund dafür auch die Tatsache, dass die Ableistung des Grundwehrdienstes Voraussetzung für bestimmte (v.a. staatliche) berufliche Laufbahnen ist. Nichtsdestotrotz gibt es jedes Jahr einige hundert junge Männer, denen der Stellungsbefehl zugestellt wurde, welche die Stellungskommission durchlaufen, die Entscheidung der Stellungskommission zur Einberufung auch nicht beeinspruchen, aber dann dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet haben. In diesen Fällen gibt es jährlich einige hundert strafrechtliche Verfahren bzw. Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung (ÖB Moskau 6.2020). Im Durchschnitt erhalten russische Wehrpflichtige ca. 2.000 Rubel (ca. 22€) pro Monat, während professionelle Vertragssoldaten ca. 25.000–35.000 Rubel (275–385€) erhalten. Letztere können auch noch mit einigen zusätzlichen Zahlungen rechnen (WI 19.4.2019).
Im Jahr 2015 wurde durch Staatspräsident Putin ein Dekret erlassen, das die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweiterte und seitdem ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige ('Dedowschtschina') sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte umfasst. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu 'Dedowschtschina' kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 2.2.2021). Nach grundlegenden Reformen im russischen Heer in den Jahren 2008–2012, die auch Maßnahmen zur Humanisierung des Wehrdienstes sowie einer Reduzierung des Grundwehrdienstes von zwei auf ein Jahr beinhalteten, hat sich die Zahl der Gewaltverbrechen im Heer deutlich reduziert. Offizielle Statistiken dazu werden nicht publiziert. NGOs gehen von ca. 100-200 Todesfällen pro Jahr als Folge von Gewalt aus. Das Verteidigungsministerium kooperiert mit der Ombudsstelle für Menschenrechte und mit relevanten NGOs, um gegen Misshandlungsvorwürfe von Rekruten vorzugehen. In den vergangenen Jahren konnten gewisse Fortschritte erzielt werden. Im April 2017 erklärte Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dass die Anzahl der gemeldeten Übergriffe von Armeeangehörigen gegenüber Untergebenen um 37,6% gesunken ist. NGOs wie das 'Komitee der Soldatenmütter' betonen, dass trotz gewisser Fortschritte mehr Anstrengungen, insbesondere bei der Verurteilung von Schuldigen sowie bei der Prävention, notwendig sind (ÖB Moskau 6.2020).
Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, die seit 1999 formal in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie Freiheitsstrafen aufgrund anderer Delikte in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch auch zur Verbüßung von Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 2.2.2021).
Bis ins Jahr 2014 wurden etwa aus Tschetschenien überhaupt keine Wehrpflichtigen eingezogen. Die Anzahl der aus dem Nordkaukasus rekrutierten Soldaten bleibt weiterhin niedrig. So wurden im Herbst 2017 aus der gesamten nordkaukasischen Region nur rund 6.000 Personen rekrutiert. Aus Tschetschenien werden nunmehr jährlich ein paar hundert Rekruten einberufen. Nachdem junge Männer aus der Region aber teilweise eine Einberufung anstreben, gibt es Fälle, in denen sie dies durch Anmeldung eines Wohnsitzes in einer anderen Region zu erreichen versuchen (ÖB Moskau 6.2020).
Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken können durch den Dienst in den Streitkräften der Russischen Föderation eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erlangen. Erstmalig können sich diese Personen dann nach drei Jahren um die Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft bewerben (AA 2.2.2021).
WEHRERSATZDIENST
Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissens- oder religiösen Gründen wird durch Artikel 59, Absatz 3, der Verfassung garantiert (AA 2.2.2021). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB Moskau 6.2020). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften, was in der Praxis kaum vorkommt, bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche AA 2.2.2021). Der Zivildienst wird im Normalfall bei einem staatlichen Dienst, wie z.B. einer Klinik oder der Feuerwehr, abgeleistet. Die Anzahl der Berufe, in denen der Ersatzdienst geleistet werden kann, wurde 2019 von 114 auf 140 erhöht (AA 2.2.2021). Mit Stand vom Februar 2021 absolvierten laut Angaben der Föderalen Agentur für Arbeit und Beschäftigung 1.224 Personen in Russland einen alternativen Zivildienst (Rostrud 1.2.2021). Vereinzelt kommt es zu gerichtlichen Verfahren, etwa wenn die pazifistische Gesinnung eines Wehrpflichtigen in Zweifel steht (ÖB Moskau 6.2020).
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Allgemeine Menschenrechtslage
Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Stärkung des Gerichtshofs (GIZ 1.2021a). Die Verfassung postuliert die Russische Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Artikel 19, Absatz 2,). Für die Russische Föderation gibt es, wie für jedes der Föderationssubjekte, einen Menschenrechtsbeauftragten. Die Amtsinhaberin Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Artikel 15, Absatz 4, der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland hat folgende UN-Übereinkommen ratifiziert (AA 2.2.2021):
● Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)
● Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)
● Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)
● Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)
● Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)
● Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)
● Behindertenrechtskonvention (AA 2.2.2021).
Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 309 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat 94 dieser Empfehlugen nicht angenommen und weitere 34 lediglich teilweise angenommen. Die nächste Sitzung für Russland im UPR-Verfahren wird im Mai 2023 stattfinden. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen [Anm.: Zur mangelhaften Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland vergleiche Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 2.2.2021). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 6.2020).
Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikanierung bis hin zu Misshandlungen durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Menschen für wohltätige Projekte engagieren und Freiwilligenarbeit leisten. Zivile Kammern wurden als Dialogplattform zwischen der Bevölkerung und dem Staat eingerichtet (ÖB Moskau 6.2020). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in Bezug auf die Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt (ÖB Moskau 6.2020) und sehen sich in manchen Fällen sogar Bedrohungen oder tätlichen Angriffen bzw. strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche FH 3.3.2021, HRW 13.1.2021). Der Einfluss des konsultativen 'Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte' unter dem Vorsitz von Waleri Fadejew ist begrenzt. Er befasst sich in der Regel nicht mit Einzelfällen, sondern mit grundsätzlichen Fragen wie Gesetzesentwürfen, und seine Stellungnahmen zu dem Verlauf von Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau blieben ohne Folge (AA 2.2.2021).
Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine führten vorübergehend zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden jedoch verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine deutlich, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren auch über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es, wie in den Vorjahren, in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Gleichzeitig ist aber im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu bemerken, der in Zusammenhang mit sozialen Problemen (Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland seit 2013 weiterhin ausgesetzt bleibt, unterstützt die EU-Delegation in Moskau den Dialog zwischen den EU-Botschaften, mit NGOs, der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern (ÖB Moskau 6.2020).
Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Den Hintergrund bilden in ihrem Ausmaß weiter rückläufige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien (AA 2.2.2021). Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend 'Aufständische' und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten, soweit dies angesichts der bestehenden Einschränkungen möglich ist, aufmerksam beobachtet (ÖB Moskau 6.2020).
TSCHETSCHENIEN
NGOs beklagen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen mitunter Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten, aber auch Einzelpersonen, die das Regime kritisieren (ÖB Moskau 6.2020). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Das Republiksoberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Jelena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021).
Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen. Nach wie vor gibt es Clans, welche Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche BAMF 11.2019).
2017 und laut der NGO LGBTI Network in geringem Ausmaß bis 2019 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2020, HRW 17.1.2019). Es gibt Berichte über Personen, die nach Folterungen gestorben sind [vgl. Kapitel Homosexuelle] (FH 3.3.2021). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angeblichen außergerichtlichen Tötungen von 27 Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten (ÖB Moskau 6.2020), die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTI-Personen stehen sollen (ÖB Moskau 12.2019; vergleiche AI 22.2.2018). Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Die russische Menschenrechtsombudsperson wurde Berichten zufolge bei der Untersuchung dieser Vorgänge in Tschetschenien bewusst getäuscht (ÖB Moskau 6.2020).
Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen homosexuelle Männer berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Auch 2019 blieben frühere gewalttätige Übergriffe gegen Menschenrechtsverteidiger ungeahndet (AI 16.4.2020). Im Februar 2020 wurden die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina, und eine Menschenrechtsanwältin angegriffen und mit Schlägen traktiert. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte über Personen, die bloß aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 6.2020).
Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert und kann als stabil, wenn auch volatil, bezeichnet werden. Die Stabilisierung erfolgte jedoch um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, das heißt menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige und äußerst engmaschige Kontrolle der Zivilgesellschaft. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 2.2.2021).
DAGESTAN
Die Menschenrechtslage ist in Dagestan grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien. Die Kontrolle der Zivilgesellschaft ist weniger ausgeprägt, und die Bewohner Dagestans sind im direkten Vergleich hinsichtlich persönlicher Freiheit bessergestellt. Doch auch in Dagestan gehen mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen. Von dem Vorgehen der Sicherheitsbehörden wegen Verdachts auf Extremismus sind nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch NGOs im sozialen/humanitären Bereich oder regierungskritische Journalisten betroffen. Im Gegensatz zu Tschetschenien können NGOs in Dagestan tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee gegen Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 2.2.2021). Die Haltung der Behörden in Dagestan ist milder gegenüber der Presse und den Institutionen der Zivilgesellschaft, die auch ein höheres Maß an Protestaktivität aufweisen als andere russische Regionen. Darüber hinaus sind Regierungs- und regierungsnahe Strukturen in Dagestan gegenüber Aktivisten etwas toleranter als in anderen Teilen Russlands. Während Demonstrationen verboten und aufgelöst werden können, werden jedoch manche Demonstrationen toleriert. Wenn dies nicht der Fall ist, gibt es starken Widerstand von Aktivisten, welche die Entscheidungen der Behörden mit rechtlichen Schritten erfolgreich anfechten. Obwohl es registrierte NGOs und spezifische Projekte gibt, ist die Zivilgesellschaft eher durch soziale Bewegungen und Initiativen vertreten. Nur wenige Organisationen in Dagestan sind ausschließlich im Bereich der Menschenrechte tätig. Zu denen, die dies tun, gehört Memorial. Eine andere Menschenrechtsorganisation - 'Patientenmonitor' - arbeitet daran, die Rechte von Patienten zu schützen, die in staatlichen Einrichtungen behandelt werden. Die Hauptschwierigkeiten der Menschen bestehen darin, ambulant kostenlose Medikamente zu erhalten, Medikamente und Dienstleistungen in stationären Einrichtungen zu erhalten sowie Analysen und diagnostische Tests durchführen zu lassen. 'Patientenmonitor' bietet Menschen, deren Rechte nicht beachtet werden, kostenlose Rechtshilfe und bekämpft Korruption in medizinischen Einrichtungen. Auch Umweltaktivisten sind in Dagestan aktiv (CSIS 1.2020).
Wenngleich von offizieller Seite im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet wurde, kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen. Nach Einschätzung von Experten hat sich die Struktur des bewaffneten Widerstands geändert. Es soll keine Lager in den Wäldern mehr geben, stattdessen werden Anschläge von Personen, die nach außen hin ein normales Leben führen, vorbereitet. Bewaffnete Gruppen stehen offiziellen Sicherheitsorganen gegenüber, dem Partisanenkrieg auf der einen Seite wird mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung auf der anderen Seite begegnet. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen. Entführungen und Fälle von Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Tötungen kommen ebenso vor. Bei der Vorgehensweise bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorbekämpfung sind mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozio-ökonomischen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten (ÖB Moskau 6.2020).
In Bezug auf Beobachtungslisten von Salafisten ist zu sagen, dass derzeit keine Hinweise auf die Weiterführung dieser Listen zu finden sind [vgl. dazu Kapitel Religionsfreiheit/Dagestan] (HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, ÖB Moskau 6.2020, AA 2.2.2021). Es gibt jedoch Berichte über Kontrollpunkte vor Moscheen, bei denen die persönlichen Daten derjenigen, die den Gottesdienst verlassen hatten, aufgenommen wurden. Lokale Muslime beschreiben solche Operationen als typisch, und sie dienen der Einschüchterung der Bevölkerung (USCIRF 4.2020).
DSCHIHADISTISCHE KÄMPFER UND IHRE UNTERSTÜTZER, KÄMPFER DES ERSTEN UND ZWEITEN TSCHETSCHENIEN-KRIEGES, KRITIKER ALLGEMEIN
Die tschetschenische Führung setzt ihren Angriff auf alle Formen von abweichender Meinung und Kritik fort (HRW 13.1.2021). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden (ÖB Moskau 6.2020). Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigungen, Entführungen, Misshandlungen und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt. Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2020). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).
Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diesen zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte (ÖB Moskau 6.2020).
Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).
Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vergleiche Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vergleiche Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. 2017, 2018, 2019 und 2020 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018, US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021).
Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2020). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).
Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Bloggerwegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vergleiche RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille gefunden (SZ 4.2.2020; vergleiche Zeit.de 5.7.2020). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet. Der Mann, der sich Ansur aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Im September 2020 wurde Salman Tepsurkaew, Moderator eines Tschetschenien-kritischen Telegram-Kanals aus der Region Krasnodar vermutlich gewaltsam nach Tschetschenien verbracht. Anschließend wurde im Internet ein Video zirkuliert, auf dem er sich – offenbar unter Zwang – selbst sexuell erniedrigt. Er ist seitdem verschwunden, und tschetschenische Behörden verweigern bislang eine Aufklärung des Falls (AA 2.2.2021). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).
Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Von 337 zurückgekehrten Kämpfern sind 224 bereits verurteilt und 32 festgenommen worden. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen (ÖB Moskau 6.2020).
Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2020).
Religionsfreiheit
Artikel 28, der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit (AA 2.2.2021). Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei als 'traditionelle Religionen' de facto eine herausgehobene Stellung (AA 2.2.2021), die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) spielt allerdings eine zentrale Rolle (AA 2.2.2021; vergleiche FH 3.3.2021). Die ROK arbeitet bei bestimmten Themen eng mit der Regierung zusammen (FH 3.3.2021). Rund 68% identifizieren sich als russisch-orthodoxe Christen, 7% als Muslime, und 25% gehören religiösen Minderheiten an, darunter Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Juden und Baha'i (USCIRF 4.2020). Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben zwischen 14 und 20 Millionen Muslime (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche GIZ 1.2021c). 2015 wurde von Präsident Putin in Moskau die größte Moschee Europas eröffnet, 2019 folgte eine noch größere Moschee in der tschetschenischen Stadt Schali (ÖB Moskau 6.2020).
Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker. Sie werden durch die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Europäischen Teils Russlands und Sibiriens' sowie die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Nordkaukasus' vertreten. Darüber hinaus sind zahlreiche andere Konfessionen, wie der Buddhismus (ca. 600.000 Gläubige) - zu dem sich Burjaten, Kalmyken, Tuwa und andere Bevölkerungsgruppen in den Gebieten Irkutsk und Tschita bekennen -, das Judentum (ca. 200.000 Gläubige) sowie von den christlichen Kirchen die katholische Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche und eine Reihe von Freikirchen (vor allem Baptisten) in Russland vertreten. Sie sind im europäischen Russland und in Sibirien präsent (GIZ 1.2021c). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen (GIZ 1.2021c; vergleiche USCIRF 4.2020). Die russische Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als eine Bedrohung für die soziale und politische Stabilität des Landes und pflegt gleichzeitig bedeutende Beziehungen zu den sogenannten 'traditionellen' Religionen des Landes. Die Regierung aktualisiert regelmäßig Gesetze, welche die Religionsfreiheit einschränken, darunter ein Religionsgesetz von 1996, ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus von 2002 und neuere Gesetze über Gotteslästerung, wie beispielsweise 'Schüren von religiösem Hass' und 'Missionstätigkeit'. Diese vagen Gesetze geben den russischen Behörden weitreichende Befugnisse, religiöse Reden oder Aktivitäten zu definieren und zu verfolgen oder religiöse Literatur zu verbieten, die sie für schädlich halten. Das Religionsgesetz legt strenge Registrierungsanforderungen an religiöse Gruppen fest und ermächtigt Staatsbeamte, die Tätigkeit der Gruppierungen zu behindern (USCIRF 4.2020).
Seit Ende der Achtzigerjahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer 'religiösen Renaissance' bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als nicht gläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein 'kanonisches Territorium' verfügt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der ROK in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat (GIZ 1.2021c).
Seit einer Änderung des Anti-Extremismus-Gesetzes im Jahr 2007 gerieten bestimmte religiöse Gruppen ins Visier der russischen Behörden, vor allem die Zeugen Jehovas und islamische Gruppierungen wie Hizb ut-Tahrir, aber auch Falun Gong, Scientology, und andere. Im Zuge einer Verschärfung der anti-extremistischen Gesetzgebung im Jahr 2016 wurden die Auflagen für Missionarstätigkeiten neu geregelt (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche USCIRF 4.2020). Das Anti-Extremismus-Gesetz wird auch genutzt, um Muslime - insbesondere Anhänger der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat und Leser des türkischen Theologen Said Nursi - wegen friedlicher religiöser Aktivitäten zu verfolgen (USCIRF 4.2020).
Am 20.4.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, welche die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Im Jahr 2020 erließen russische Gerichte Dutzende Schuldsprüche gegen Zeugen Jehovas (HRW 13.1.2021). Im Laufe des Jahres 2019 wurden mindestens 17 Zeugen Jehovas verurteilt, sieben von ihnen zu Freiheitsstrafen. Viele Weitere wurden zum Beispiel mit Hausdurchsuchungen schikaniert. Einige von ihnen erklärten, während der Vernehmung gefoltert oder misshandelt worden zu sein (AI 16.4.2020).
TSCHETSCHENIEN
Die tschetschenische Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist (BAMF 10.2013). Beim Sufismus handelt es sich um eine weitverbreitete und zudem äußerst facettenreiche Glaubenspraxis innerhalb des Islams. Heutzutage sind Sufis sowohl innerhalb des Schiitentums als auch unter Sunniten verbreitet (ÖIF 2013).
In Tschetschenien setzt Ramsan Kadyrow seine eigenen Ansichten bezüglich des Islams durch. Dieser soll moderat, aber streng kontrolliert sein. Salafismus und Wahhabismus duldet er nicht (USCIRF 4.2019). Die Autorität der Kadyrow-Regierung beruht auf der Wirkungskraft einer spezifischen islamischen Ideologie, die als Gegenentwurf zu den Lehren des Wahhabismus bzw. Salafismus konzipiert ist und die Gesellschaft gegen den Einfluss erstarkender fundamentalistischer Kräfte stabilisieren soll (Russland Analysen 21.9.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2020). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubhaften Aussagen von lokalen NGOs einher mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert werden soll (AA 2.2.2021). Die strafrechtliche Verfolgung dieser Art von Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vergleiche USCIRF 4.2020). Auch Verwandte, Freunde und Bekannte können ins Visier der Behörden geraten (ÖB Moskau 6.2020). Belästigungen von Muslimen bei Gottesdiensten kommen vor, ebenso wie Entführungen zur 'Kontrolle der religiösen Überzeugungen'. Dies dient der Einschüchterung der Bevölkerung (USCIRF 4.2020).
Frauen müssen sich islamisch kleiden und können in polygame Ehen gezwungen werden (USCIRF 4.2019). Polygamie kam schon in der Sowjetunion vor, allerdings nur heimlich. Nun wird sie durch die Scharia legitimiert (Welt.de 14.2.2017). Polygamie ist zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 2.2.2021). Die Religion verdrängt die alten Werte der traditionellen Dorfgemeinde. Der Islam wird dabei in unterschiedlichsten Formen gelebt und dient oft den Männern dazu, ihre Frauen zu unterdrücken (Welt.de 14.2.2017).
DAGESTAN
Die meisten Muslime Dagestans gehören dem Sufismus an, einer gemäßigt-mystischen Richtung im Islam. Sie hören auf Scheichs, religiöse Führer, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Die Scheichs treten auch als Fürsprecher der Gläubigen vor Politikern auf. Der Sufismus ist seit vielen Jahrhunderten in Dagestan vorherrschend. Die zweitgrößte Gruppe der Muslime in Dagestan sind die Salafisten. Diese ultrakonservative Strömung breitet sich seit den 1990er-Jahren in der Region aus. Zunächst wurden sie als Wahhabiten bezeichnet. In Dagestan gibt es Schätzungen zufolge Zehntausende Salafisten, und sie haben ihre eigenen Moscheen. Die Salafisten wollen ein Kalifat bzw. einen Gottesstaat errichten. Die Sufis hingegen haben sich mit dem russischen Staat arrangiert. Die Radikalen unter den Salafisten wollen das Kalifat mit Gewalt durchsetzen und kämpfen dafür. In Dagestan gibt es einen bewaffneten islamistischen Untergrund. Seit Jahren verüben die Terroristen Anschläge gegen russische Sicherheitskräfte, es gab Hunderte Todesopfer. Sie ermordeten auch mehrere geistliche Führer der Sufis, die sich offen gegen die Ideologie der Salafisten aussprachen. Viele Salafisten in Dagestan fühlen sich zu Unrecht von den Behörden verdächtigt. Salafisten werden oft mit den Terror-Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates gleichgesetzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
In den Republiken Inguschetien und Dagestan wurde in der Vergangenheit versucht, einen Dialog zwischen Regierung und offizieller Geistlichkeit auf der einen Seite und islamistischer Opposition auf der Gegenseite zu führen. Derzeit befindet sich die Regierung in Dagestan aber wieder in Konfrontation mit salafistischen Gemeinden. Der 'Krieg gegen Wahhabiten', der dort schon 1999 ausgerufen worden war, hat allerdings dazu geführt, dass sich immer mehr junge Menschen zu einem puristischen, streng konservativen Islam bekennen (SWP 4.2017). Wenngleich von offizieller Seite im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet wurde, kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen. Nach Einschätzung von Experten hat sich die Struktur des bewaffneten Widerstands geändert. Es gebe keine Lager in den Wäldern mehr, stattdessen würden Anschläge von Personen, die nach außen hin ein normales Leben führen, vorbereitet. Bewaffnete Gruppen stehen offiziellen Sicherheitsorganen gegenüber, dem Partisanenkrieg auf der einen Seite wird mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung auf der anderen Seite begegnet. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen (dazu zählen auch in Dagestan Zeugen Jehovas). Entführungen und Fälle plötzlichen Verschwindenlassens von Personen, Folter und außergerichtliche Tötungen kommen in Dagestan ebenso vor. Bei der Vorgehensweise bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorbekämpfung sind mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten (ÖB Moskau 6.2020).
In Bezug auf Beobachtungslisten von Salafisten ist zu sagen, dass weder in den jüngsten Berichten der NGOs Human Rights Watch, Freedom House und Amnesty International, noch in den staatlichen Berichten der österreichischen Botschaft oder des deutschen Auswärtigen Amtes Hinweise auf die Weiterführung dieser Listen zu finden sind (HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, ÖB Moskau 6.2020, AA 2.2.2021). Es gibt jedoch Berichte über Kontrollpunkte vor Moscheen, bei denen die persönlichen Daten derjenigen, die den Gottesdienst verlassen hatten, aufgenommen werden. Lokale Muslime beschreiben solche Operationen als typisch. Diese dienen der Einschüchterung der Bevölkerung (USCIRF 4.2020).
[…]
Ethnische Minderheiten
Russland ist ein multinationaler Staat, in dem Vertreter von mehr als 160 Völkern leben. Die Russen stellen mit 79,8% die Mehrheit der Bevölkerung. Größere Minderheiten sind Tataren (4,0%), Ukrainer (2,2%), Armenier (1,9%), Tschuwaschen (1,5%), Baschkiren (1,4%), Tschetschenen (0,9%), Deutsche (0,8%), Weißrussen und Mordwinen (je 0,6%), Udmurten (0,4%), Burjaten (0,3%) und andere. Vielfach ist die Verflechtung zwischen den nicht-russischen und russischen Bevölkerungsteilen durch interethnische Ehen und Kommunikation recht hoch, ebenso der Russifizierungsgrad der nichtrussischen Bevölkerungsteile. Nur wenige Gebietseinheiten, wie Tschetschenien, Dagestan, Tschuwaschien und Tuwa, sind stärker vom namensgebenden Ethnos geprägt. Russisch ist die einzige überall geltende Amtssprache. Parallel dazu wird in den einzelnen autonomen Republiken die jeweilige Volkssprache als zweite Amtssprache verwendet. Die Sprachen der kleinen indigenen Völker stehen unter gesetzlichem Schutz (GIZ 1.2021c). Minderheiten sind in der Regel politisch und gesellschaftlich gut integriert (AA 2.2.2021).
Die Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik, inklusive der Förderung von Minderheitensprachen im Bildungssystem (AA 21.5.2018). Trotzdem werden Rechte von Minderheiten nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert, wobei etwa bei der Eintragung des Wohnsitzes und bei den Minderheitenmedien Fortschritte festzustellen sind (ÖB Moskau 6.2020). Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten (AA 2.2.2021; vergleiche ÖB Moskau 6.2020, FH 3.3.2021, BTI 2020). 'Racial profiling' ist bei den Behörden verbreitet. Minderheiten ohne anerkannten Rechtsstatus wie z.B. Sinti und Roma sind immer wieder Opfer von Diskriminierungen auch durch staatliche Organe (AA 2.2.2021). Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden daher verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank auch die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist ebenfalls die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen wie etwa die Organisation BORN (ÖB Moskau 6.2020). Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche AA 2.2.2021). Die meisten Vorfälle gab es wie in den Vorjahren in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats stellte in ihrem Bericht vom März 2019 betreffend die Situation in der Russischen Föderation fest, dass die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren gesunken ist und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen stark zurückgegangen sind (ÖB Moskau 6.2020).
Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, der Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung), der von den Behörden zum Teil überschießend angewandt worden war (z.B. für Likes und Re-Posts auf sozialen Medien), abgeschwächt wurde. Seither ist die Zahl der Verurteilungen wegen 'Anstiftung von Hass' deutlich zurückgegangen. Die Zahlen von strafrechtlicher Verfolgung wegen 'Aufruf zu und Rechtfertigung von Terrorismus' und wegen 'Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation' sind aber gestiegen (ÖB Moskau 6.2020).
[…]
Bewegungsfreiheit
In der Russischen Föderation herrscht laut Gesetz Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 11.3.2020). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese Rechte jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter des Militär- und Sicherheitsdiensts wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (US DOS 11.3.2020; vergleiche FH 3.3.2021).
Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestanern etc.], das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Wer zur Miete wohnt, benötigt eine Bescheinigung seines Vermieters und wird damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 2.2.2021). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein [bez. Registrierung vergleiche Kapitel Meldewesen] (FH 3.3.2021).
Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 2.2.2021; vergleiche ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017).
Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 2.2.2021). Personen, die innerhalb des Landes reisen, müssen ihren Inlandsreisepass mit sich führen (US DOS 11.3.2020; vergleiche FH 3.3.2021). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018; vergleiche FH 3.3.2021).
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TSCHETSCHENEN INNERHALB DER RUSSISCHEN FÖDERATION UND WESTEUROPAS
Die Bevölkerung in Tschetschenien ist inzwischen laut offiziellen Zahlen auf 1,5 Millionen angewachsen. Laut Aussagen des Republiksoberhaupts Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2020). Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation (EASO 8.2018). Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen in Tschetschenien in die Stadt, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Wajnach-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als 'tschetschenische Diaspora' bezeichnet wird) veranstaltet werden, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Anzahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel Bewegungsfreiheit, bzw. Meldewesen] (EASO 8.2018). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen (Telegraph 24.2.2016; vergleiche EASO 8.2018). Diese kleinen Büros versuchen auch, den Handel zwischen den Regionen zu fördern. In ganz Russland gibt es ein Netz von 50 dieser offiziellen Vertretungen der tschetschenischen Republik. Obwohl es den Büros prinzipiell möglich wäre, Informationen zu einer bestimmten Person nach Grosny weiterzuleiten, können diese Vertretungen nicht als Knotenpunkt für das Sammeln von Informationen angesehen werden. Sie tätigen auch sonst keine weiteren, direkteren Aktionen. Obwohl die tschetschenischen Gemeinden in Russland Kadyrow teilweise behilflich bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker sind, scheint es keine Beweise zu geben, dass sie Informationen weitergeben (Galeotti 2019).
Laut einer Analyse der Jamestown Foundation soll die tschetschenische Diaspora in Europa rund 150.000 Personen umfassen, die tschetschenische Diaspora in Österreich zählt rund 35.000 Personen. Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Abgesehen davon sind auch vereinzelte Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt geworden. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können (ÖB Moskau 6.2020). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates, misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gelten dessen Möglichkeiten zur Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht ausgeschlossen werden (ÖB Moskau 6.2020).
Grundsätzlich können Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens an einen anderen Ort in der Russischen Föderation flüchten und dort leben. Dies gilt für alle Einwohner des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. Dies gilt nach Einschätzung von Experten aber auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist (ÖB Moskau 6.2020). Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen (AA 2.2.2021). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss (DIS 1.2015). Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission- davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Galeotti 2019). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich aber häufig auch in russischen Großstädten vor Ramsan Kadyrow nicht sicher (AA 2.2.2021), da bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, auch in Moskau präsent sind (AA 2.2.2021; vergleiche EASO 8.2018, New York Times 17.8.2017). Wie viele bewaffnete tschetschenische Kräfte es in Moskau gibt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (Galeotti 2019).
Relative Anonymität und Sicherheit bieten russische Städte, die groß genug sind, um als Neuankömmling nicht aufzufallen, und die weniger stark polizeilich überwacht sind als beispielsweise Moskau und St. Petersburg. Moskau und St. Petersburg sind insofern 'gefährlicher', als sie tendenziell dichter kontrolliert werden, ihre Kommunikationsinfrastruktur moderner ist und die Behörden wachsamer sind. Viel schwieriger ist es, sich in Moskau versteckt zu halten, da hier zum Beispiel viele Dokumentenkontrollen durchgeführt werden, routinemäßig bei Benutzung der U-Bahn die Registrierungen von Mobiltelefonen überprüft und neue Gesichtserkennungssysteme erprobt werden, die mit Straßenkameras verbunden sind. In geringerem Maße gilt vieles davon auch für St. Petersburg (Galeotti 2019).
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Grundversorgung
2019 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49% (WKO 4.2021). Die Arbeitslosigkeit befindet sich im Landesdurchschnitt auf einem moderaten Niveau (GIZ 1.2021b) und wird für das Jahr 2021 auf 5,2% prognostiziert (Statista 19.10.2020). Sie kann regional jedoch stark abweichen. Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2019). Das BIP lag 2020 bei ca. 1.474 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht einem Rückgang um ca. 3%(WKO 4.2021).
Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der weltweiten Gasreserven (25,2%), circa 6,3% der weltweiten Ölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert für das Wirtschaftswachstum 2021 nur ein Plus von 2,8%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 1.2021b).
Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Beeinträchtigungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €] entspricht. Die russische Akademie der Wissenschaften veranschlagt das tatsächliche erforderliche Existenzminimum dagegen bei 33.000 Rubel [ca. 366 €]. Vollbeschäftigte erhalten den Mindestlohn (derzeit 12.130 Rubel [ca. 134 €]), der jährlich zum 1.1. auf die Höhe des Existenzminimums im 2. Quartal des Vorjahres angehoben wird. Für Einkommen unter dem Existenzminimum besteht die Möglichkeit der Aufstockung bis zur Höhe des Existenzminimums. Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit sechs Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20% für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Auch Migranten verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 2.2.2021).
Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg, ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).
Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland wegen des andauernden Ukraine-Konfliktes bis Ende Juli 2021 beschlossen (Presse.com 10.12.2020).
NORDKAUKASUS
Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 1.2021a; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Die Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus ist laut Experten unter den höchsten in Russland. Im Zuge eines Austausches der österreichischen Botschaft mit dem Nordkaukasus-Ministerium im Oktober 2018 wurden von russischer Seite die umfassenden Anstrengungen zur sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus geschildert, insbesondere im Bereich der Landwirtschaft und des Tourismus. Bei einer Sitzung zur Entwicklung der Region Nordkaukasus im Juni 2020 gab der Vertreter der russischen Regierung allerdings an, dass trotz föderaler Programme zur Unterstützung der Region diese bisher zu keiner entscheidenden Veränderung der sozio-ökonomischen Entwicklung geführt haben (ÖB Moskau 6.2020). Trotzdem ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 2.2.2021).
Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien mit September 2020 bei 23.783 Rubel [ca. 264 €], landesweit bei 49.516 Rubel [ca. 550 €] (Rosstat 19.11.2020). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im Februar 2021 bei 13.484 Rubel [ca. 150 €] (Chechenstat 2021), landesweit im ersten Quartal 2020 bei 14.924 Rubel [ca. 166 €] (GKS.ru 7.5.2020). Das durchschnittliche Existenzminimum für das vierte Quartal 2020 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.572 Rubel [ca. 129 €], für Pensionisten bei 9.196 Rubel [ca. 102 €] und für Kinder bei 11.294 Rubel [ca. 125 €] (Chechenstat 2021). Landesweit liegt das durchschnittliche Existenzminimum für das Jahr 2021 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 12.702 Rubel [ca. 141 €], für Pensionisten bei 10.022 Rubel [ca. 111 €] und für Kinder bei 11.303 Rubel [ca. 126 €] (RIA Nowosti 9.1.2021).
SOZIALBEIHILFEN
Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2019).
Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).
Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).
Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).
Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2019). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).
Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2019). Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:
● Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);
● Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);
● Familien mit geringem Einkommen;
● Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).
Familienbeihilfe
Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2019). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).
Mutterschaft […]
Behinderung
Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2019). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021).
Arbeitslosenunterstützung
Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollten Bewerber diesen zurückweisen, werden sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 8.000 Rubel (ca. 111 €). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2019).
Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen
Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Bürger ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2019).
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Medizinische Versorgung
Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2020). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).
Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2019; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2020). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2019). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2019; vergleiche ÖB Moskau 6.2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt (ÖB Moskau 6.2020).
Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2019; vergleiche ÖB Moskau 6.2020), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vergleiche Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vergleiche AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2020).
Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2020).
Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2020). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). In Notfällen sind Medikamente in Kliniken, wie auch an Ambulanzstationen, kostenfrei erhältlich. Für gewöhnlich kaufen russische Staatsbürger ihre Medikamente jedoch selbst. Bürgern mit speziellen Krankheiten wird Unterstützung gewährt, u.a. durch kostenfreie Medikamente, Behandlung und Transport. Die Kosten für Medikamente variieren, feste Preise bestehen nicht (IOM 2019). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2020). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).
Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) vergleiche dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).
Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2020).
TSCHETSCHENIEN
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).
Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:
● infektiöse und parasitäre Krankheiten
● Tumore
● endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten
● Krankheiten des Nervensystems
● Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems
● Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde
● Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes
● Krankheiten des Kreislaufsystems
● Krankheiten des Atmungssystems
● Krankheiten des Verdauungssystems
● Krankheiten des Urogenitalsystems
● Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett
● Krankheiten der Haut und der Unterhaut
● Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes
● Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen
● Geburtsfehler und Chromosomenfehler
● bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben
● Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).
Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vergleiche GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).
In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).
Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015). […]
GESUNDHEITSEINRICHTUNGEN IN TSCHETSCHENIEN
Gesundheitseinrichtungen, die die ländlichen Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'Achkhoy-Martan RCH' (regional central hospital), 'Vedenskaya RCH', 'Grozny RCH', 'Staro-Yurt RH' (regional hospital), 'Gudermessky RCH', 'Itum-Kalynskaya RCH', 'Kurchaloevskaja RCH', 'Nadterechnaye RCH', 'Znamenskaya RH', 'Goragorsky RH', 'Naurskaya RCH', 'Nozhai-Yurt RCH', 'Sunzhensk RCH', Urus-Martan RCH', 'Sharoy RH', 'Shatoïski RCH', 'Shali RCH', 'Chiri-Yurt RCH', 'Shelkovskaya RCH', 'Argun municipal hospital N° 1' und 'Gvardeyskaya RH' (BDA CFS 31.3.2015).
Gesundheitseinrichtungen, die alle Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:
'The Republican hospital of emergency care' (former Regional Central Clinic No. 9), 'Republican Centre of prevention and fight against AIDS', 'The National Centre of the Mother and Infant Aymani Kadyrova', 'Republican Oncological Dispensary', 'Republican Centre of blood transfusion', 'National Centre for medical and psychological rehabilitation of children', 'The Republican Hospital', 'Republican Psychiatric Hospital', 'National Drug Dispensary', 'The Republican Hospital of War Veterans', 'Republican TB Dispensary', 'Clinic of pedodontics', 'National Centre for Preventive Medicine', 'Republican Centre for Infectious Diseases', 'Republican Endocrinology Dispensary', 'National Centre of purulent-septic surgery', 'The Republican dental clinic', 'Republican Dispensary of skin and venereal diseases', 'Republican Association for medical diagnostics and rehabilitation', 'Psychiatric Hospital ‘Samashki’, 'Psychiatric Hospital ‘Darbanhi’', 'Regional Paediatric Clinic', 'National Centre for Emergency Medicine', 'The Republican Scientific Medical Centre', 'Republican Office for forensic examination', 'National Rehabilitation Centre', 'Medical Centre of Research and Information', 'National Centre for Family Planning', 'Medical Commission for driving licenses' und 'National Paediatric Sanatorium ‘Chishki’' (BDA CFS 31.3.2015).
Städtische Gesundheitseinrichtungen in Grosny sind:
'Clinical Hospital N° 1 Grozny', 'Clinical Hospital for children N° 2 Grozny', 'Clinical Hospital N° 3 Grozny', 'Clinical Hospital N° 4 Grozny', 'Hospital N° 5 Grozny', 'Hospital N° 6 Grozny', 'Hospital N° 7 Grozny', 'Clinical Hospital N° 10 in Grozny', 'Maternity N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 1 in Grozny', 'Polyclinic N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 3 in Grozny', 'Polyclinic N° 4 in Grozny', 'Polyclinic N° 5 in Grozny', 'Polyclinic N° 6 in Grozny', 'Polyclinic N° 7 in Grozny', 'Polyclinic N° 8 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 1', 'Paediatric polyclinic N° 3 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 4 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 5', 'Dental complex in Grozny', 'Dental Clinic N° 1 in Grozny', 'Paediatric Psycho-Neurological Centre', 'Dental Clinic N° 2 in Grozny' und 'Paediatric Dental Clinic of Grozny' (BDA CFS 31.3.2015).
DAGESTAN
Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Dagestan eine eigene Gesundheitsverwaltung, welche die regionalen Gesundheitseinrichtungen (spezialisierte und zentrale Krankenhäuser, Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfallambulanzen, etc.) umfasst. Auch in Dagestan gibt es sowohl öffentliche als auch private Gesundheitseinrichtungen. Öffentliche Einrichtungen haben keine offiziellen Preislisten ihrer Behandlungen, da prinzipiell Untersuchungen, Behandlungen und Konsultationen kostenfrei sind. Jedoch muss auf die informelle Zuzahlung hingewiesen werden (beispielsweise, um die Wartezeit zu verkürzen). Die Zahlungen sind jedoch geringer als in privaten Institutionen. Die Qualität der Behandlung ist in öffentlichen Einrichtungen nicht schlechter – viele Fachärzte arbeiten sowohl in öffentlichen als auch privaten Einrichtungen. Die Ausstattung und die Geräte sind meist in privaten Einrichtungen besser (BDA CFS 25.3.2016).
Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).
[…]
Rückkehr
Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Bei Ankunft in der Russischen Föderation müssen sich alle Rückkehrer am Ort ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren [vgl. Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen]. Dies gilt generell für alle russischen Staatsangehörigen, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert, und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 6.2020).
Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mithilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB Moskau 6.2020).
Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 6.2020; vergleiche AA 2.2.2021). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 6.2020).
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten noch immer von willkürlichem Vorgehen der Polizei. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (auch ohne Durchsuchungsbefehle) finden bei diesen Personen häufiger statt (AA 2.2.2021).
Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen [vgl. Kapitel Sozialbeihilfen]. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an. Programme zur Unterstützung kleiner Unternehmen werden auf regionaler Ebene implementiert, aber die verfügbaren Fördersummen sind begrenzt. Projekte und Kandidaten werden deshalb auf Basis eines Auswahlverfahrens der jeweiligen Businesspläne bestimmt. Die Förderung kann in Form eines Zuschusses oder eines Kredites erfolgen (IOM 2019).
[…]“
1.3.2. Auszug aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Russische Föderation: Bluthochdruck (Medikamente: Amelior, Thrombo ASS, Novalgin, Pantoprazol), vom 6. Februar 2017:
„Die Wirkstoffe von Amelior, Thrombo ASS, Novalgin und Pantoprazol sind in Dagestan verfügbar. Bei einem der Wirkstoffe von Amelior (Olmesartan) kann es zwar zu Versorgungsengpässen kommen, es werden jedoch auch Alternativen genannt (z.B. Losartan).
[…]
Prinzipiell sind alle angefragten Behandlungen von Spezialisten (Physiotherapeut, Internist, Kardiologe und Orthopäde) laut Gesetz offiziell kostenfrei, jedoch zahlen Patienten zumeist zwischen 1.000 und 2.000 Rubel.
Einzelquellen:
Da die Inhaltsstoffe von Mobilat Creme nicht gefunden wurden, wurde von der Staatendokumentation bei MedCOI nachgefragt. Ein Arzt von MedCOI erklärte, dass Mobilat Creme eine sehr leichte Schmerzmedikation ist, nur als Creme (sie wird oft bei Sportverletzungen verwendet). Alle Alternativen, die im pdf BMA 9186 bei „medication group“ mit „pain medication“ betitelt sind, sind gute Alternativen (z.B. Acetylsalycilsäure, Paracetamol, Ibuprofen), obwohl sie keine Creme sind. Weiters erklärte der Arzt, dass die Art der Medikamente nicht die wichtigsten in diesem Fall sind, sondern die Medikamente für Bluthochdruck.
[…]
Aus Erfahrung muss mitgeteilt werden, dass der Staatendokumentation keine Hilfsorganisationen bekannt sind, die die Kosten für Medikamente und Therapien übernehmen.
Anmerkung, in der Russischen Föderation ist es völlig normal, dass die Patienten ihre Medikamente selbst kaufen. Nur bei stationärem Aufenthalt wird die Medikation vom Krankenhaus übernommen. Bitte vergleichen Sie hierzu auch das LIB RUSS Kapitel 23.7“
1.3.3. Auszug aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Russische Föderation: Vorhofflimmern, Hypertonie, COPD, usw., vom 11. März 2019:
„1. Können die folgenden Krankheiten und Beschwerden in der Russischen Föderation (RF) behandelt werden?
• Vorhofflimmern (I48)
• Bluthochdruck / Hypertonie
• Ausweitung der ansteigenden Aorta
• Fettstoffwechselstörung
• chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) (J44)
• Vergrößerung des Herzmuskels
• Zustand nach Schrittmacherimplantation (1.2015)
• Depression
• Adipositas
2. Sind die benötigten Medikamente in der RF erhältlich?
• Bisoprolol (Wirkstoff: Bisoprolol)
• Pantoprazol (Wirkstoff: Pantoprazol)
• Crestor (Wirkstoff: Rosuvastatin)
• Diltiazem (Wirkstoff: Diltiazem)
• Lisihexal (Wirkstoff: Lisinopril)
• Xarelto (Wirkstoff: Rivaroxaban)
• Sertralin (Wirkstoff: Sertralin)
• Iterium (Wirkstoff: Rilmenidin)
3. Welche Kosten würden eventuell auf den Patient / die Patientin zukommen?
[…]
Zusammenfassung:
Der nachfolgend zitierten Quelle BMA-12132 ist zu entnehmen, dass notwendige Behandlungen sowie alle angefragten Medikamente in Moskau verfügbar sind. Der Alternativwirkstoff Quinapril Hydrochlorid hat derzeit Lieferprobleme, der Zeitpunkt einer Neuauslieferung wird mit einer Woche veranschlagt.
Der nachfolgend zitierten Quelle BMA-6975 können unter der Überschrift „Accessibility to treatment“ die Kosten der Medikamente sowie der Behandlungen entnommen werden. Diese Quelle verweist auf die Dokumente BDA-6767 und BDA-6739 von MedCOI, aus denen hervorgeht, für welche Krankheiten die verpflichtende Krankenversicherung alle Kosten trägt; diese Dokumente werden mit dieser Anfragebeantwortung ebenfalls mitgeschickt.
Einzelquellen:
Die Originale folgender Anfragebeantwortungen von MedCOI werden als Anlage übermittelt:
• International SOS via MedCOI (25.2.2019): BMA-12332, Zugriff 27.2.2019
• Belgian Immigration Office (8.3.2019): Question & Answer, BDA-6975, Zugriff 11.3.2019
• Belgian Immigration Office (22.3.2018): Question & Answer, BDA-6767, Zugriff 11.3.2019
• Belgian Immigration Office (14.3.2018): Question & Answer, BDA-6739, Zugriff 11.3.2019“
1.3.4. Auszug aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Tschetschenien: diverse Medikamente, vom 8. Juni 2012:
„Die Wirkstoffe Atorvastatin, Simvastatin, Vitamin D3, Nebivolol, Nicorandil, Isosorbide-di-Nitrat, Isosorbide-mono-Nitrat und Tizanidin-Hydrochlorid sind in unten angegebener Apotheke in Grosny erhältlich [Anm: Grafik wurde entfernt]
[…]“
1.4. Zur allgemeinen Situation betreffend COVID-19:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
Mit Stichtag vom 06.09.2021 werden von der World Health Organization (WHO) in der Russischen Föderation 6.975.174 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 185.611 diesbezüglicher Todesfälle bestätigt wurden. Eine von der „Johns Hopkins University“ veröffentliche Statistik verzeichnet in der Russischen Föderation mit Stichtag vom 06.09.2021 6.912.375 bestätigte Fälle, 183.896 damit in Zusammenhang stehender Todesfälle und 38.132.101 vollständig geimpfte Personen, was 26,41% der Bevölkerung entspricht.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesamtes und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt.
2.2. Zur Person der Beschwerdeführer:
Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer, ihrer Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit und Sprachen ergeben sich aus dem unstrittigen Akteninhalt. Den Akten liegen Kopien der russischen Reisepässe der Beschwerdeführer (BF1 AS 61, BF2 AS 21) bei.
Die Feststellungen zu den familiären Verhältnissen der Beschwerdeführer beruhen auf dem unstrittigen Akteninhalt. Die Feststellung zum Leben der Beschwerdeführer im Herkunftsort bis zu ihrer Ausreise beruhen auf übereinstimmenden und glaubhaften Angaben der Beschwerdeführer im Verfahren.
Die Feststellungen zur Asylantragstellung im Bundesgebiet sowie der Zuerkennung von Asyl beruhen auf dem unstrittigen Akteninhalt.
Die Feststellungen zu den bestehenden familiären Anknüpfungspunkten der Beschwerdeführer im Herkunftsland sowie den seit der Asylgewährung stattgefundenen Aufenthalten des BF1 im Herkunftsland beruhen auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, denen im Rahmen der Beschwerde auch nicht entgegengetreten wurde.
Die Feststellungen zum Familien-, Privat- und Berufsleben der Beschwerdeführer in Österreich sowie den Sprachkenntnissen beruhen auf den unstrittig gebliebenen Feststellungen im angefochtenen Bescheid sowie den den Akten beiliegenden Bestätigungen (BF1 AS 77ff und BF2 AS 31ff und 55).
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführer sowie, dass der BF1 einer Risikogruppe bezüglich COVID-19 angehört, gründen auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, die im Übrigen unbestritten blieben, sowie den im Akt des BF1 enthaltenen medizinischen Unterlagen (AS 41-52).
Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen der Beschwerdeführer gründen auf der Einsichtnahme in einen aktuellen Strafregisterauszug den BF1 und den BF2 betreffend.
2.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:
2.3.1. Die Feststellungen zur Rückkehrsituation der Beschwerdeführer ergeben sich aus der Einsichtnahme in die Verwaltungsakte über ihre im Jahr 2004 initiierten Asylverfahren, den im gegenständlichen Verfahren herangezogenen Länderberichten zur Russischen Föderation, sowie den Angaben der Beschwerdeführer während ihrer Einvernahmen vom 09. und 10.02.2021, im Zuge derer sie zu ihren aktuellen Rückkehrbefürchtungen befragt wurden.
Den Beschwerdeführern wurde am 04.11.2004 mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom, Zl. 04 04.289-BAL und 04 04.293-BAL aufgrund der damaligen Kriegszustände und der damit verbundenen Gefahren Asyl gewährt.
Festgehalten wird, dass jene Ereignisse, die zur Asylgewährung der Beschwerdeführer geführt haben, sich im Zeitraum des – zwischenzeitig beendeten – zweiten Tschetschenienkrieges ereignet haben. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage hat sich seit der Asylgewährung der Beschwerdeführer nachhaltig verbessert. Aus den Länderberichten folgt auch, dass selbst Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges, einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kampfhandlungen, heute nicht mehr verfolgt werden. Der tschetschenische Machtapparat konzentriert sich demnach inzwischen vielmehr auf öffentliche Regimekritiker, islamistische Kämpfer und deren Angehörigen. Insofern ist eine Aktualität der zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten geführt habenden Gefahren nicht anzunehmen.
Auch sonst sind keine Umstände ersichtlich, wonach die Beschwerdeführer aktuell Bedrohung im Herkunftsland zu befürchten hätten. Dass der BF1 aufgrund seiner deutschen Wurzeln aktuell einer Gefährdung unterliegen würde, lässt sich aus den vorliegenden Länderinformationen nicht entnehmen. Vielmehr ergibt sich aus diesen, dass Minderheiten in der Russischen Föderation in der Regel politisch und gesellschaftlich gut integriert sind und Deutsche (mit 0,8% der Bevölkerung) zu den größeren Minderheiten zählen. Es konnten keine Hinweise dahingehend gefunden werden, dass Deutsche in der Russischen Föderation Bedrohungen oder Diskriminierungen ausgesetzt wären.
Die nach Asylgewährung erfolgte Beantragung und Ausstellung russischer Reisepässe durch die Beschwerdeführer im Jahr 2015 bzw. 2017 sowie die seither vom BF1 mit seiner Ehegattin gemachten Reisen in die Russische Föderation, wobei er sich zuletzt einen knappen Monat ohne Zwischenfälle im Heimatland aufhielt, bekräftigen die Annahme, dass den Beschwerdeführern im Herkunftsland keine Gefahr droht.
Der BF2 hat im Rahmen seiner Einvernahme zum Aberkennungsverfahren keine konkrete Rückkehrbefürchtung vorgebracht, welche eine aktuelle staatliche Verfolgung seiner Person indizieren würde und konnte eine solche auch in Zusammenschau mit der Beschwerdeschrift nicht erkannt werden.
Da infolge der Beendigung des zweiten Tschetschenienkrieges eine nachhaltige Änderung der dortigen Sicherheits- und Menschenrechtslage eingetreten ist, die Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren keine substantiierte Furcht vor individueller Verfolgung oder einer sonstigen Gefährdung im Fall ihrer Rückkehr geäußert haben, auch Angehörige der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat leben und der BF1 sich zuletzt vor zwei Jahren ohne Probleme für knapp einen Monat im Herkunftsstaat aufhielt, konnte gegenständlich keine aktuell bestehende Gefährdung der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr prognostiziert werden.
Zudem bleibt anzumerken, dass die Ausreise aus der Russischen Föderation und die Asylantragstellung im Ausland, wie auch der langjährige Auslandsaufenthalt, für sich genommen ebenfalls kein konkretes Risiko einer behördlichen Verfolgung im Nordkaukasus oder anderen Teilen der Russischen Föderation begründen.
Aufgrund der dargelegten Umstände ergibt sich, dass die Gründe, welche ursprünglich zur Asylgewährung geführt haben, zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr vorliegen und auch darüber hinaus keine Gefährdung der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr zu prognostizieren ist.
2.3.2. Dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland dort auch nicht Gefahr liefen, in eine existenzbedrohende bzw. ausweglose Situation zu geraten, ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Dem BF1, der den Großteil seines Lebens in der Russischen Föderation verbracht hat, die Landessprachen Russisch und Tschetschenisch beherrscht, über eine Schulbildung und Berufserfahrung in verschiedenen Bereichen verfügt, ist es trotz seines fortgeschrittenen Alters und seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen möglich, etwa wie zuvor als Taxifahrer, am Erwerbsleben teilzunehmen.
Dies gilt umso mehr für den BF2 als jungen, gesunden Mann im arbeitsfähigen Alter, der in der Russischen Föderation die Schule besucht hat, in Österreich Berufserfahrung erworben hat, mit den örtlichen und kulturellen Gepflogenheiten seines Heimatlandes vertraut ist und die Landessprachen beherrscht. Soweit in der Beschwerde behauptet wird, der BF2 spreche nicht Russisch, ist dem entgegenzuhalten, dass es sich hierbei scheinbar um eine Verwechslung mit dessen jüngsten Sohn handle, der BF2 hingegen fließend Russisch spricht und auch seine Einvernahmen auf Russisch erfolgt sind.
Im Übrigen halten sich im Herkunftsstaat Verwandte (ein Bruder und zwei Neffen des BF1 bzw. Onkel und Cousins des BF2) auf, auf deren Unterstützung die Beschwerdeführer zurückgreifen könnten. Der BF1 hat zu seinen im Herkunftsstaat lebenden Angehörigen auch Kontakt. Die Beschwerdeführer könnten zudem als russische Staatsbürger auf Leistungen des dortigen Sozialsystems zurückzugreifen. Weiters könnten sie auch von ihren in Österreich aufhältigen Familienangehörigen finanziell unterstützt werden.
Der in der Beschwerde erhobenen Behauptung, die Behörde habe sich nicht ausreichend mit dem Gesundheitszustand des BF1 auseinandergesetzt, kann nicht gefolgt werden. So hat die Behörde unter Heranziehung entsprechender (oben unter römisch II.1.3. zitierter) Länderinformationen richtigerweise festgestellt, dass in der Russischen Föderation inklusive Tschetschenien und Dagestan eine ausreichende medizinische Grundversorgung bestehe, sodass es dem BF1 auch nach einer Rückkehr in den Herkunftsstaat möglich sein werde, die benötigten Medikamente zu besorgen und allenfalls benötigte ärztliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Was die aktuelle Pandemie aufgrund des Corona-Virus betrifft, stellte die Behörde richtigerweise fest, dass der BF1 aufgrund seines Alters und Vorerkrankungen zu einer Risikogruppe zähle, erwägt jedoch, dass das Risiko an COVID-19 zu erkranken, nicht nur in der Russischen Föderation, sondern weltweit, also auch in Österreich, bestehe. Dem ist hinzuzufügen, dass sowohl in Österreich als auch in der Russischen Föderation die Möglichkeit einer kostenlosen Impfung besteht, um sich vor einer Erkrankung mit COVID-19 und insbesondere vor schweren Verläufen derselben hinreichend zu schützen.
In Zusammenschau mit den im Herkunftsstaat vorhandenen verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkten hat sich kein Hinweis ergeben, dass die Beschwerdeführer nach einer Rückkehr eine derart exzeptionelle Situation zu erwarten hätten, die sie in eine als unmenschlich zu bezeichnende Lebenssituation versetzten würde. Angesichts der vorliegenden Länderberichte besteht auch kein Grund für die Annahme, dass der BF1 wegen einer nicht zugänglichen lebensnotwendigen Behandlung im Herkunftsstaat Gefahr liefe, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten.
Auch aus den sonstigen Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens ergaben sich keine Hinweise, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat relevanten Gefahren ausgesetzt sein könnten.
Ergänzend ist anzumerken, dass den Beschwerdeführern alternativ zu einer Rückkehr in ihre Heimatregion auch die Niederlassung in einem anderen Landesteil, etwa in Moskau, offen stünde und ihnen eine Ansiedlung dort möglich und zumutbar ist. Die sichere Erreichbarkeit ist diesbezüglich auf dem Land- und Luftweg gewährleistet.
2.4. Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die Länderinformation der Staatendokumentation: Russische Föderation, aus dem COI-CMS vom 10. Juni 2021, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Russische Föderation: Bluthochdruck (Medikamente: Amelior, Thrombo ASS, Novalgin, Pantoprazol), vom 6. Februar 2017, die Anfragenbeantwortung der Staatendokumentation zu Russische Föderation: Vorhofflimmern, Hypertonie, COPD, usw., vom 11. März 2019 und die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Tschetschenien: diverse Medikamente, vom 8. Juni 2012.
Da diese Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR), ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob einem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken vergleiche VfGH 12.12.2019, E 3369/2019; 12.12.2019, E 2692/2019; 4.3.2020, E 4399/2019 jeweils mwN; vergleiche auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 17.12.2019, Ra 2019/18/0278 u.a.). Die Beschwerdeführer verzichteten bei ihrer Einvernahme auf die Möglichkeit, eine Stellungnahme zu den durch das Bundesamt vorgelegten Länderinformationsblättern zur Russischen Föderation (mit Gesamtaktualisierung vom 27.03.2020 und letzter Kurzinformation vom 21.07.2020) binnen einer Frist von zwei Wochen abzugeben und sind den im angefochtenen Bescheid zitierten Länderberichten auch nicht in der Beschwerdeschrift substantiell entgegengetreten.
2.5. Die unstrittigen Feststellungen zur aktuellen COVID-19 Pandemie ergeben sich aus den unbedenklichen tagesaktuellen Berichten und Informationen (s. jeweils mit einer Vielzahl weiterer Hinweise u.a.):
• https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html
• https://www.ages.at/themen/krankheitserreger/coronavirus/
• https://coronavirus.jhu.edu
• https://covid19.who.int/
(Zugriff jeweils am 06.09.2021).
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides (Aberkennung):
3.1.1. Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, AsylG ist der Status des Asylberechtigten einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn
1. ein Asylausschlussgrund nach Paragraph 6, vorliegt;
2. einer der in Artikel eins, Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder
3. der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat.
Gemäß Absatz 3, leg.cit. kann das Bundesamt einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (Paragraph 2, Absatz 3,), den Status eines Asylberechtigten gemäß Absatz eins, Ziffer 2, nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Absatz eins, Ziffer 2, aberkannt werden.
Gemäß Absatz 4, leg. cit. ist die Aberkennung nach Absatz eins, Ziffer eins und Ziffer 2, AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Dieser hat nach Rechtskraft der Aberkennung der Behörde Ausweise und Karten, die den Status des Asylberechtigten oder die Flüchtlingseigenschaft bestätigen, zurückzustellen.
Gemäß Artikel eins, Abschnitt C der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wird dieses Abkommen auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet werden, wenn sie
1. sich freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat; oder
2. die verlorene Staatsangehörigkeit freiwillig wieder erworben hat; oder
3. eine andere Staatsangehörigkeit erworben hat und den Schutz des neuen Heimatlandes genießt; oder
4. sich freiwillig in den Staat, den sie aus Furcht vor Verfolgung verlassen oder nicht betreten hat, niedergelassen hat; oder
5. wenn die Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und sie daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen.
6. staatenlos ist und die Umstände, aufgrund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen, sie daher in der Lage ist, in ihr früheres Aufenthaltsland zurückzukehren.
3.1.2. Da die Beschwerdeführer straffällig im Sinne des Paragraph 2, Absatz 3, AsylG 2005 geworden sind, schadet es gemäß Paragraph 7, Absatz 3, AsylG 2005 nicht, dass die Aberkennungen fallgegenständlich nicht innerhalb von fünf Jahren ab rechtskräftiger Zuerkennung des Status erfolgt sind.
Die belangte Behörde stützte die angefochtene Entscheidung einerseits darauf, dass sich die Beschwerdeführer durch freiwillige Beantragung und tatsächliche Ausstellung eines russischen Reisepasses von einer russischen Behörde im Jahr 2015 bzw. 2017 freiwillig erneut dem Schutz ihres Herkunftslandes unterstellten und andererseits sich die Umstände, aufgrund derer den Beschwerdeführern der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden war, zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bestehen und die Beschwerdeführer es daher nicht weiterhin ablehnen können, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Damit seien auch die früher bestehenden Voraussetzungen für eine Schutzgewährung nicht mehr gegeben. In der Russischen Föderation liege aktuell keine Gefährdungslage für die Beschwerdeführer (mehr) vor. Damit bejahte die belangte Behörde das Vorliegen der Asylaberkennungsgründe des Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt C Ziffer eins und 5 GFK (Ziffer 5, im Folgenden auch als „Wegfall der Umstände“-Klausel bezeichnet; vergleiche VwGH vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0059).
Die Bestimmung des Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, verleiht dem Grundsatz Ausdruck, dass die Gewährung von internationalem Schutz lediglich der vorübergehenden Schutzgewährung, nicht aber der Begründung eines Aufenthaltstitels, dienen soll. Bestehen nämlich die Umstände, aufgrund derer eine Person als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr und kann sie es daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, so stellt auch dies einen Grund dar, den gewährten Status wieder abzuerkennen vergleiche Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, Paragraph 7, AsylG, K8).
Die Bestimmung des Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK stellt primär auf eine grundlegende Änderung der (objektiven) Umstände im Herkunftsstaat ab, kann jedoch auch die Änderung der in der Person des Flüchtlings gelegenen Umstände umfassen, etwa wenn eine wegen der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Religion verfolgte Person nun doch zu der den staatlichen Stellen genehmen Religion übertritt und damit eine gefahrlose Heimkehr möglich ist vergleiche Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, Paragraph 7, AsylG, K9).
Ein in der Person des Flüchtlings gelegenes subjektives Element spielt auch insofern eine Rolle, zumal aus der in Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK enthaltenen Wortfolge "nicht mehr ablehnen kann" auch die Zumutbarkeit einer Rückkehr in das Herkunftsland ein entscheidendes Kriterium einer Aberkennung des Flüchtlingsstatus ist vergleiche Putzer/Rohrböck, aaO, Rz 146).
Um die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft zu bejahen, muss die Änderung der Umstände sowohl grundlegend als auch dauerhaft sein, zumal der Flüchtlingsschutz umfassende und dauerhafte Lösungen zum Ziel hat und Personen nicht unfreiwillig in Verhältnisse zurückkehren sollen, welche möglicherweise zu einer neuerlichen Flucht führen. Da eine voreilige oder unzureichende Begründung der Beendigungsklauseln ernsthafte Konsequenzen haben kann, ist es angebracht, die Klauseln restriktiv auszulegen. vergleiche UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ["Wegfall der Umstände"-Klauseln], Absatz 6, f).
3.1.3. Im vorliegenden Fall droht den Beschwerdeführern im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat zum Entscheidungszeitpunkt keine Gefährdung in ihren Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Festzuhalten ist, dass die entscheidungsmaßgebliche Lage im Herkunftsstaat seit dem Zeitpunkt der Statuszuerkennung eine wesentliche und nachhaltige Änderung erfahren hat.
Wie beweiswürdigend festgehalten, war im Fall der Beschwerdeführer ein Wegfall der ursprünglichen Verfolgungsgefahr, welche zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Jahr 2004 geführt hatte, festzustellen. Den Beschwerdeführern droht im Fall einer Rückkehr zum Entscheidungszeitpunkt keine Gefährdung in ihren Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die entscheidungsmaßgebliche Lage hat – unter Zugrundelegung der Länderberichte – in Tschetschenien und Dagestan seit dem Zeitpunkt der Statuszuerkennung eine wesentliche und nachhaltige Änderung erfahren. Auf Grund der in der Beweiswürdigung dargelegten Umstände ergibt sich, dass die Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr keiner Gefährdung unterliegen würden. Diesbezüglich ist nun, über zehn Jahre nach Ende des Zweiten Tschetschenienkrieges (dazu, dass die Annahme einer grundlegenden politischen Veränderung im Herkunftsstaat eine gewisse Konsolidierung der Verhältnisse voraussetzt, für deren Beurteilung es in der Regel eines längeren Beobachtungszeitraumes bedarf, s. VwGH 27.02.2006, 2002/20/0170), eine Änderung der Situation im Herkunftsstaat eingetreten, die nicht nur vorübergehend ist.
Andere Gründe, aus denen ihnen eine Verfolgung im Herkunftsstaat drohen würden, haben die Beschwerdeführer nicht vorgebracht und konnte eine solche auch nicht von Amts wegen erkannt werden.
Insbesondere sprechen die Beantragung und Ausstellung russischer Auslandsreisepässe an die Beschwerdeführer und die durch den BF1 getätigten Reisen in sein Heimatland, wobei er mehrere Wochen ohne Probleme bei den Verwandten seiner Frau verbringen konnte, gegen eine aktuelle Gefährdung der Beschwerdeführer im Heimatland.
Die Voraussetzungen des Tatbestandes des Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer 2, in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK liegen somit vor.
3.1.4. Die Behörde hat den Status der Asylberechtigen daher im Ergebnis zu Recht aberkannt, weshalb die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen war.
3.1.5. Angesichts der Beantragung und Ausstellung russischer Auslandsreisepässe im Jahr 2015 bzw. 2017 und der zweimaligen Ausreise und Aufenthalte des BF1 in der Russischen Föderation ist folgendes festzuhalten:
Gemäß Artikel eins, Abschnitt C Ziffer eins, GFK wird dieses Abkommen auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet, wenn sie sich freiwillig unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt hat.
Der VwGH hat sich bereits in zahlreichen Entscheidungen mit Fragen des Artikel eins, Abschnitt C Ziffer eins, GFK auseinandergesetzt, wobei es fast immer um die Ausstellung oder Verlängerung von Reisepässen durch den Heimatstaat ging. Der VwGH vertritt dazu in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die Ausstellung oder Verlängerung eines Reisepasses „in der Regel – sofern nicht im konkreten Einzelfall ein dieser rechtlichen Beurteilung entgegenstehender Sachverhalt aufgezeigt wird – als eine der Formen angesehen werden muss, mit denen ein Staat seinen Angehörigen Schutz gewährt“ (VwGH 25.11.1994, 94/19/0032; 29.10.1998, 96/20/0820). Für einen „entgegenstehenden Sachverhalt“ kamen im Wesentlichen nur Behauptungen in Frage, die die Freiwilligkeit der Beantragung der Ausstellung oder Verlängerung des Reisepasses in Frage stellten (siehe dazu ausführlich VwGH 15.05.2003, 2001/01/0499).
Der VwGH vertritt unter Bedachtnahme auf den von ihm wiedergegebenen Diskussionsstand – insoweit in Beibehaltung der bisherigen Judikatur – die Ansicht, dass die erfolgreiche Beantragung der Ausstellung oder Verlängerung eines Reisepasses des Heimatstaates auch dann zur Beendigung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, wenn im Heimatstaat selbst weiterhin die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung besteht und eine Rückkehr dorthin nicht beabsichtigt ist. Ein solcher Fall wird etwa vorliegen, wenn der bereits anerkannte Flüchtling darauf besteht, sich für Zwecke, für die das Konventionsdokument (der Konventionsreisepass) ausreichen würde, eines Passes seines Heimatstaates zu bedienen oder durch die Beantragung eines solchen Passes Vorteile, die an die Staatsangehörigkeit gebunden sind, zu erlangen. Davon abgesehen ist neben den Voraussetzungen des tatsächlichen Erhalts des Schutzes und der Freiwilligkeit auch das im Schrifttum einhellig vertretene Erfordernis eines auf die Unterschutzstellung als solche abzielenden Willens maßgeblich. Ein Wille zur Normalisierung der Beziehungen zum Herkunftsstaat und der Wunsch des bisherigen Flüchtlings, die Vertretung seiner Interessen – insbesondere gegenüber dem Aufenthaltsstaat – wieder in die Hände des Heimatstaates zu legen, werden in der Regel fehlen, solange im Heimatstaat selbst (insbesondere: staatliche) Verfolgung droht (VwGH 15.05.2003, 2001/01/0499).
Wie oben dargelegt, haben sich die Beschwerdeführer im Jahr 2015 bzw. 2017 einen russischen Auslandsreisepass ausstellen lassen und ist dies jedenfalls ein weiteres Indiz dafür, dass ihnen keine Verfolgung in der Russischen Föderation droht, insbesondere da der BF1 seit Asylgewährung auch bereits zweimal mit seiner Frau in sein Heimatland eingereist ist.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass gegenständlich eine tatsächliche Schutzgewährung von Seiten des Herkunftsstaates, die Freiwilligkeit des zugrundeliegenden Verhaltens sowie eine bei den Beschwerdeführern als vorhanden anzunehmende Unterschutzstellungsabsicht im Sinne der dargelegten Judikatur gegeben sind. Demnach ist neben Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK auch der Aberkennungstatbestand des Artikel eins, Abschnitt C Ziffer eins, GFK als erfüllt anzusehen.
3.2. Zu Spruchpunkt römisch II. des angefochtenen Bescheides (Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten):
3.2.1. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG ist einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Nach Paragraph 8, Absatz 2, AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung dieses Status mit der abweisenden Entscheidung nach Paragraph 3, zu verbinden. Anträge auf internationalen Schutz sind gemäß Absatz 3, leg.cit. bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offensteht.
Unter realer Gefahr in diesem Sinne ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573). Es müssen stichhaltige Gründe für die Annahme sprechen, dass eine Person einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre und es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade die betroffene Person einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde. Die bloße Möglichkeit eines realen Risikos oder Vermutungen, dass der Betroffene ein solches Schicksal erleiden könnte, reichen nicht aus (VwGH vom 26.04.2017, Ra 2017/19/0016).
Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Artikel 3, EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095).
Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Artikel 3, EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen vergleiche zum Ganzen zuletzt VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153; 26.6.2019, Ra 2019/20/0050, jeweils mwN).
Überdies hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Artikel 3, EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt vergleiche VwGH 23.3.2017, Ra 2017/20/0038 bis 0040; 6.11.2018, Ra 2018/01/0106, jeweils mwN; sowie EGMR 13.12.2016, 41738/10, Paposhvili gegen Belgien, Rz 189 ff; EGMR 1.10.2019, 57467/15, Savran gegen Dänemark, Rz 44 ff ).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt und unter Bezugnahme auf die diesbezügliche ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgesprochen, dass es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Artikel 3, EMRK widersprechende Behandlung drohen würde vergleiche VwGH 23.2.2016, Ra 2015/01/0134, mit Verweis auf EGMR 5.9.2013, 61204/09, römisch eins gegen Schweden; siehe dazu auch VwGH 18.3.2016, Ra 2015/01/0255; 19.6.2017, Ra 2017/19/0095; 5.12.2017, Ra 2017/01/0236;).
3.2.2. Im gegenständlichen Fall kann keine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention für den Fall der Rückkehr des Beschwerdeführers in die Russische Föderation erkannt werden. Weder aus den Angaben der Beschwerdeführer zu den Gründen, die für ihre Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat maßgeblich gewesen sein sollen, noch aus den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens ist im konkreten Fall ersichtlich, dass jene gemäß der Judikatur geforderte Exzeptionalität der Umstände vorliegen würde, um die Außerlandesschaffung eines Fremden im Widerspruch zu Artikel 3, EMRK erscheinen zu lassen:
Wie an anderer Stelle dargelegt, sind die Gründe, welche ursprünglich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Beschwerdeführer im Jahr 2004 ausschlaggebend gewesen sind, zwischenzeitlich aufgrund der Stabilisierung der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat und mangels Vorbringens einer konkreten Rückkehrgefährdung nicht mehr gegeben. Auch haben die Beschwerdeführer keine seither neu entstandenen substantiierten Rückkehrbefürchtungen vorgebracht.
Der BF1 ist grundsätzlich arbeitsfähig, spricht Tschetschenisch und Russisch, verfügt über eine Schulbildung und vielfältige Berufserfahrung im Heimatland und ist es ihm zuzutrauen, dass er wie auch zuvor, durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, wie etwa Taxifahren, seinen Lebensunterhalt erwirtschaften kann. Zudem besteht die Möglichkeit, durch seine nach wie vor im Herkunftsstaat aufhältigen Angehörigen (Bruder, Neffen) unterstützt zu werden und als russischer Staatsbürger Leistungen des dortigen Sozialhilfesystems in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus könnten ihn seine in Österreich aufhältigen Angehörigen anteilsmäßig finanziell unterstützen. Aus diesen Gründen kann kein Risiko erkannt werden, dass dieser nach einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Dies gilt im Übrigen auch für den BF2, bei dem es sich um einen jungen und gesunden Mann im arbeitsfähigen Alter handelt, der im Heimatland die Schule besucht hat, Tschetschenisch und Russisch spricht, mit den örtlichen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten im Heimatland vertraut ist und in Österreich Berufserfahrung gewonnen hat.
Eine akute lebensbedrohende Krankheit des BF1, welche eine Überstellung verbieten würde, liegt nicht vor. Auch wurde nicht substantiiert dargelegt, dass sich der Gesundheitszustand des BF1 im Falle einer Überstellung maßgeblich verschlechtern würde und eine Rückkehr in den Herkunftsstaat mit einer signifikanten Verkürzung seiner Lebenserwartung einhergehen würde. Den Länderberichten lässt sich entnehmen, dass in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien und Dagestan grundsätzlich ein funktionsfähiges Gesundheitswesen besteht und es haben sich keine Hinweise darauf ergeben, dass dem BF1 eine benötigte Behandlung nach einer Rückkehr individuell nicht zugänglich sein würde. Dass die Behandlung im Herkunftsstaat nicht den gleichen Standard wie in Österreich aufweist oder unter Umständen auch kostenintensiver ist, ist nicht relevant. Es ist nicht anzunehmen, dass der BF1 auf Dauer nicht reisefähig wäre. Der Gesundheitszustand des BF1 steht einer Rückkehr in den Herkunftsstaat daher nicht entgegen.
In Hinblick auf die derzeitige COVID-19-Pandemiesituation ist festzuhalten, dass einerseits die Russische Föderation zum Entscheidungszeitpunkt nach den vorliegenden Infektions- und Sterblichkeitszahlen pro 100.000 Einwohner nicht zu den hauptsächlich von der Pandemie betroffenen Ländern zählt sowie andererseits – sowohl in Österreich als auch in der Russischen Föderation – inzwischen ein breites und kostenloses Impfangebot, von dem die Beschwerdeführer (insbesondere der BF1, der zu einer Risikogruppe zählt) Gebrauch machen können, um sich vor einer Erkrankung bzw. einem schweren Verlauf zu schützen.
Diesbezüglich ist auch festzuhalten, dass angesichts der persönlichen Umstände der Beschwerdeführer und der Unterstützungsmöglichkeiten durch ein familiäres Netz im Herkunftsstaat auch nicht ersichtlich ist, dass diese von allfälligen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen in einem höheren Ausmaß als die in der Russischen Föderation ansässige Durchschnittsbevölkerung betroffen sein würden. Ein bei einer Überstellung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation vorliegendes „real risk“ einer Verletzung des Artikel 3, EMRK ist somit (auch insoweit) nicht erkennbar.
3.2.3. Aus den dargestellten Gründen begegnet die Beurteilung der Behörde, dass hinsichtlich der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation nicht von einer realen Gefahr im Sinn des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG ausgegangen werden kann, keinen Bedenken. Zwar ist die (Menschenrechts)Lage im Nordkaukasus in Einzelfällen nach wie vor als prekär zu beurteilen, von einer generellen Gefährdung aller Bewohner kann jedoch keinesfalls gesprochen werden. Aufgrund der individuellen Umstände der Beschwerdeführer kann eine über die bloße Möglichkeit hinausgehende reale Gefahr („real risk“) einer gegen Artikel 2, oder 3 EMRK oder die Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention verstoßenden Behandlung/Bedrohung ihrer Person in der Russischen Föderation nicht erkannt werden.
Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte römisch II. der angefochtenen Bescheide erweisen sich daher als unbegründet.
3.3. Zu Spruchpunkt römisch III. des angefochtenen Bescheides (Nichterteilung einer „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“):
3.3.1. Gemäß Paragraph 58, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt.
3.3.2. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 liegen nicht vor, weil der Aufenthalt der Beschwerdeführer weder seit mindestens einem Jahr gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Ziffer 3, FPG geduldet noch zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig ist noch diese Opfer von Gewalt iSd Paragraph 57, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 wurden. Weder wurde das Vorliegen eines der Gründe des Paragraph 57, AsylG 2005 behauptet, noch kam ein Hinweis auf das Vorliegen eines solchen Sachverhalts im Ermittlungsverfahren hervor.
Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte römisch III. der angefochtenen Bescheide sind sohin abzuweisen.
3.4. Zu Spruchpunkt römisch IV. der angefochtenen Bescheide (Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung und Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung bzw. Aufenthaltsberechtigung Plus):
3.4.1. Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 4, AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt wird.
Gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 3, FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
Die Beschwerdeführer sind keine begünstigten Drittstaatsangehörige und es kommt ihnen kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu, da ihr Aufenthaltsrecht mit der Aberkennung des Status der Asylberechtigten endet.
Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Gemäß Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraphen 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.
Gemäß Artikel 8, Absatz eins, EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Artikel 8, Absatz 2, EMRK erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen. In diesem Sinne wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wögen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist vergleiche VfGH 29.09.2007, B 1150/07-9; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Artikel 8, EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Artikel 8, EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.
In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Artikel 8, EMRK zu schützende Beziehungen neben den zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienleben bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.6.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 7.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 5.7.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt vergleiche Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Als Kriterien hiefür kommen in einer Gesamtbetrachtung etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Intensität und die Dauer des Zusammenlebens bzw. die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen vergleiche Sisojeva ua gg Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu. Für den Aspekt des Privatlebens spielt auch die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung grundsätzlich keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt vergleiche dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, in ÖJZ 2007, 852ff.). Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung gemäß Artikel 8, EMRK ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Artikel 8, EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 10.11.2015, Zl. 2015/19/0001; VwGH 26.03.2015, Zl. 2013/22/0303; VwGH 16.12.2014, Zl. 2012/22/0169; VwGH 19.11.2014, Zl. 2013/22/0270; VwGH 10.12.2013, Zl. 2013/22/0242).
Der Verwaltungsgerichtshof geht aber auch davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält, als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält. Zu Lasten eines Fremden fallen rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht ins Gewicht vergleiche VwGH 27.02.2007, Zl. 2006/21/0164, mwN, wo dieser zum wiederholten Male klarstellt, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt). Wie der Verwaltungsgerichtshof auch in jüngster Rechtsprechung immer wieder ausgeführt hat, erhöht eine wiederholte Straffälligkeit das Interesse an einer Rückkehrentscheidung und kann in einer Gesamtabwägung schwerer wiegen als familiäre Interessen vergleiche etwa VwGH 31.08.2017, Zl. Ra 2017/21/0012).
3.4.1.1. Zum Erstbeschwerdeführer:
3.4.1.1.1. Der BF1 lebt bereits seit 2004 und somit seit 17 Jahren in Österreich, wo sich auch der Großteil seiner Familie befindet, nämlich seine Ehegattin, mit der er gemeinsam in Linz lebt, seine drei erwachsenen Kinder und alle Enkelkinder. Diese sind alle russische Staatsbürger und verfügen über eine Aufenthaltsberechtigung im Bundesgebiet.
Der BF1 war im Bundesgebiet in der Vergangenheit bereits als Verpacker, Elektriker und Taxifahrer erwerbstätig. Derzeit ist er arbeitslos und bezieht Leistungen aus der Notstandshilfe. Er ist nicht ehrenamtlich tätig und kein Mitglied in einem Verein. Der BF1 hat Deutschkurse auf dem Niveau A1 besucht, jedoch keine Prüfungen absolviert.
Die Bindung zum Herkunftsstaat erweist sich demgegenüber als gemindert. Dazu wird insbesondere auf die lange rechtmäßige Aufenthaltsdauer in Österreich sowie seinem hier bestehenden familiären Umfeld verwiesen, während in der Russischen Föderationen nur noch wenige Verwandte des BF1 leben. Diesbezüglich wurde auch nicht verkannt, dass der Beschwerdeführer zumindest zweimal in den Herkunftsstaat gereist ist und über einen russischen Reisepass verfügt.
Auch wird darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer nur rudimentäre Deutschkenntnisse aufweist. Aufgrund der dargestellten Verfestigung des Beschwerdeführers im Bundesgebiet würde eine Rückkehrentscheidung einen erheblichen Eingriff in dessen durch Artikel 8, EMRK geschützte Rechte auf Achtung seines Privat- und Familienlebens darstellen. Diesbezüglich wird nochmals die lange Aufenthaltsdauer in Österreich betont.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen und es kann grundsätzlich nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen werden vergleiche etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0340, mwN). Was den gegenständlichen Fall betrifft, ist einerseits festzuhalten, dass diese Rechtsprechungslinie Konstellationen betroffen hat, in denen der Inlandsaufenthalt bereits über zehn Jahre dauerte und sich aus dem Verhalten des Fremden – abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich – sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergab (VwGH 25.4.2014, Ro 2014/21/0054; 10.11.2015, Ro 2015/19/0001; VwGH 10.9.2018, Ra 2018/19/0169-10).
Demnach wirkt sich die vorliegende strafgerichtliche Verurteilung des BF1 wegen des Vergehens des Diebstahls nach Paragraph 127, StGB im Rahmen der vorzunehmenden Interessensabwägung jedenfalls zu seinen Lasten aus und relativiert die dargestellten familiären und privaten Bindungen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet maßgeblich. Diesbezüglich wird jedoch darauf hingewiesen, dass die Verurteilung aus Juni 2016 stammt und die letzte Tathandlung im März 2016 gesetzt wurde und somit mehr als fünf Jahre zurückliegt. Zudem ist festzuhalten, dass lediglich eine Geldstrafe verhängt wurde. Wenn auch der Unrechtsgehalt der vom BF1 begangenen Straftat keinesfalls verharmlost werden soll, so ist im gegenständlichen Fall gesamtbetrachtend aufgrund des verstrichenen Zeitraumes seit der Tatbegehung, der reinen Geldstrafe sowie der im Bundesgebiet bestehenden engen familiären und privaten Bindungen der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung als unverhältnismäßig zu erachten. Diesbezüglich ist nochmals sein rund 17 Jahre bestehender rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet zu betonen.
Eine Rückkehrentscheidung gegen den BF1 würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt gesamtbetrachtend als unverhältnismäßig im Sinne von Artikel 8, Absatz 2, EMRK erweisen und ist daher von einem Überwiegen seiner privaten Interessen auszugehen.
3.4.1.1.2. Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung im konkreten Einzelfall zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den BF1 (derzeit) unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es ist daher gemäß Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist.
Sollte der Beschwerdeführer künftig weitere strafbare Handlungen oder ein sonstiges Verhalten setzen, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nunmehr rechtfertigen würde, steht es dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl freilich offen, die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung neuerlich einer Prüfung zu unterziehen und gegebenenfalls eine anderslautende Entscheidung zu treffen vergleiche Paragraph 52, Absatz 11, FPG; VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0274-8, Rz 34).
3.4.1.1.3. Da somit das Interesse an der Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens des BF1 im konkreten Fall die in Artikel 8, Absatz 2, EMRK angeführten öffentlichen Interessen überwiegt, erfüllt dieser die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 55, AsylG 2005.
3.4.1.2. Zweitbeschwerdeführer:
3.4.1.2.1. Der BF2 lebt ebenso wie der BF1 bereits seit 2004 und somit seit 17 Jahren in Österreich, wo sich auch der Großteil seiner Familie befindet, nämlich seine Lebensgefährtin, die über einen Asylstatus verfügt und die vier gemeinsamen minderjährigen Kinder. Die Tochter verfügt über einen Status als Asylberechtigte, zwei der Söhne über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EU“ und ein weiterer Sohn über eine Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG. Die Familie lebt gemeinsam in Linz, wo auch die Eltern des BF2 leben. Zudem leben die Geschwister, Nichten und Neffen des BF2 im Bundesgebiet.
Der BF2 hat in Österreich die polytechnische Schule besucht und gearbeitet. Er ist seit 19.03.2018 bei der Firma römisch 40 als Arbeiter angestellt und selbsterhaltungsfähig. Er hat Deutschkurse am BFI besucht und Kurse der Wirtschaftskammer absolviert. Er ist nicht ehrenamtlichen tätig oder in einem Verein aktiv.
Die Bindung zum Herkunftsstaat erweist sich demgegenüber als gemindert. Dazu wird insbesondere auf die lange rechtmäßige Aufenthaltsdauer in Österreich sowie sein hier bestehendes familiäres Umfeld verwiesen, während in der Russischen Föderationen nur noch wenige und entfernte Verwandte des BF2 leben, zu denen er keinen Kontakt pflegt. Diesbezüglich wurde nicht verkannt, dass der BF2 über einen russischen Reisepass verfügt, wobei er seit seiner Ausreise gemäß seinen Aussagen nicht mehr im Heimatland war.
Aufgrund der dargestellten Verfestigung des Beschwerdeführers im Bundesgebiet würde eine Rückkehrentscheidung einen erheblichen Eingriff in dessen durch Artikel 8, EMRK geschützte Rechte auf Achtung seines Privat- und Familienlebens darstellen. Angesichts seines rund 17-jährigen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich, ist entsprechend der oben zitierten Judikatur auch hinsichtlich des BF2 grundsätzlich von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen.
Die vorliegende strafgerichtliche Verurteilung des BF2 nach Paragraphen 148 a, Absatz eins,, 147 Absatz 2,, erster und zweiter Fall StGB wirkt sich zwar im Rahmen der vorzunehmenden Interessensabwägung erheblich zu seinen Lasten aus und relativiert die dargestellten familiären und privaten Bindungen des Beschwerdeführers im Bundesgebiet maßgeblich, diesbezüglich wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Verurteilung aus November 2016 stammt und die letzte Tathandlung im März 2016 gesetzt wurde und somit mehr als fünf Jahre zurückliegt. Zudem ist festzuhalten, dass lediglich eine bedingte Freiheitsstrafe verhängt wurde, die inzwischen zur Gänze nachgesehen wurde. Wenn auch der Unrechtsgehalt der vom BF2 begangenen Straftat keinesfalls verharmlost werden soll, so ist im gegenständlichen Fall gesamtbetrachtend aufgrund des verstrichenen Zeitraumes seit der Tatbegehung, die nur bedingt verhängte Freiheitsstrafe, der sehr langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und der hier bestehenden engen familiären und privaten Bindungen der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung als unverhältnismäßig zu erachten.
Eine Rückkehrentscheidung gegen den BF2 würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt gesamtbetrachtend als unverhältnismäßig im Sinne von Artikel 8, Absatz 2, EMRK erweisen und ist daher von einem Überwiegen seiner privaten Interessen auszugehen.
3.4.1.2.2. Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung im konkreten Einzelfall zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den BF2 (derzeit) unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es ist daher gemäß Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist.
Sollte der Beschwerdeführer künftig weitere strafbare Handlungen oder ein sonstiges Verhalten setzen, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nunmehr rechtfertigen würde, steht es dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl freilich offen, die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung neuerlich einer Prüfung zu unterziehen und gegebenenfalls eine anderslautende Entscheidung zu treffen vergleiche Paragraph 52, Absatz 11, FPG; VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0274-8, Rz 34).
3.4.1.2.3. Da somit das Interesse an der Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens des BF2 im konkreten Fall die in Artikel 8, Absatz 2, EMRK angeführten öffentlichen Interessen überwiegt, erfüllt dieser die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 55, AsylG 2005.
3.4.2. Der mit „Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8, EMRK“ betitelte Paragraph 55, AsylG 2005 lautet:
Paragraph 55, (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn
1. dies gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017,, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (Paragraph 5, Absatz 2, Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), Bundesgesetzblatt Nr. 189 aus 1955,) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Absatz eins, Ziffer eins, vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist gemäß Paragraph 9, Absatz 4, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017, idgF, erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß Paragraph 11, vorlegt,
Anmerkung, Ziffer 2, aufgehoben durch Art. römisch III Ziffer 15,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 41 aus 2019,)
3. über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des Paragraph 64, Absatz eins, Universitätsgesetz 2002, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 120 aus 2002,, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht,
4. einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte“ gemäß Paragraph 41, Absatz eins, oder 2 NAG besitzt oder
5. als Inhaber eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung – Künstler“ gemäß Paragraph 43 a, NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer eins bis 3 Kunstförderungsgesetz, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 146 aus 1988,, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.
Die Erfüllung des Moduls 2 (Paragraph 10,) beinhaltet das Modul 1.
Das Modul 2 der Integrationsvereinbarung ist gemäß Paragraph 10, Absatz 2, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2017, idgF, als erfüllt anzusehen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß Paragraph 12, vorlegt,
Anmerkung, Ziffer 2, aufgehoben durch Art. römisch III Ziffer 18,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 41 aus 2019,)
3. minderjährig ist und im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Primarschule (Paragraph 3, Absatz 3, Schulorganisationsgesetz (SchOG), Bundesgesetzblatt Nr. 242 aus 1962,) besucht oder im vorangegangenen Semester besucht hat,
4. minderjährig ist und im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht eine Sekundarschule (Paragraph 3, Absatz 4, SchOG) besucht und die positive Beurteilung im Unterrichtsgegenstand „Deutsch“ durch das zuletzt ausgestellte Jahreszeugnis oder die zuletzt ausgestellte Schulnachricht nachweist,
5. einen mindestens fünfjährigen Besuch einer Pflichtschule in Österreich nachweist und das Unterrichtsfach „Deutsch“ positiv abgeschlossen hat oder das Unterrichtsfach „Deutsch“ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen hat oder eine positive Beurteilung im Prüfungsgebiet „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 72 aus 2012, nachweist,
6. einen positiven Abschluss im Unterrichtsfach „Deutsch“ nach zumindest vierjährigem Unterricht in der deutschen Sprache an einer ausländischen Sekundarschule nachweist,
7. über eine Lehrabschlussprüfung gemäß dem Berufsausbildungsgesetz, Bundesgesetzblatt Nr. 142 aus 1969,, oder eine Facharbeiterprüfung gemäß den Land- und forstwirtschaftlichen Berufsausbildungsgesetzen der Länder verfügt oder
8. mindestens zwei Jahre an einer postsekundären Bildungseinrichtung inskribiert war, ein Studienfach mit Unterrichtssprache Deutsch belegt hat und in diesem einen entsprechenden Studienerfolg im Umfang von mindestens 32 ECTS-Anrechnungspunkten (16 Semesterstunden) nachweist bzw. über einen entsprechenden postsekundären Studienabschluss verfügt.
Der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ unterscheidet sich von der „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß Paragraph 54, Absatz eins, AsylG 2005 nur in Bezug auf die Berechtigung zur Ausübung von Erwerbstätigkeiten, und zwar dahin, dass die „Aufenthaltsberechtigung“ insoweit weniger Rechte einräumt. Statt wie bei der „Aufenthaltsberechtigung plus“, die einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt iSd Paragraph 17, AuslBG vermittelt, besteht nämlich für die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit das Erfordernis einer Berechtigung nach dem AuslBG.
In seinem Erkenntnis vom 04.08.2016, Ra 2016/210203, betonte der Verwaltungsgerichtshof, dass hinsichtlich der Beurteilung der Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 14 a, NAG (nunmehr Paragraphen 9, ff Integrationsgesetz) eine formalistische Sichtweise anzuwenden sei und die Vorlage eines der in Paragraph 9, der Integrationsvereinbarungs-Verordnung (aF) aufgezählten Zertifikate nicht im Rahmen der freien Beweiswürdigung ersetzt werden könne.
3.4.2.1. Zum Erstbeschwerdeführer:
Der BF1 hat keine Unterlagen vorgelegt, aus denen sich ergeben würde, dass dieser eine der in Paragraph 55, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG 2005 genannten Voraussetzungen erfüllt, und hat das Vorliegen dieser Voraussetzungen auch nicht behauptet. Die in der Beschwerde vorgebrachte Behauptung, dass er gesundheitlich überhaupt nicht in der Lage sei, einer Arbeit nachzukommen, konnte nicht festgestellt werden.
Folglich war dem BF1 gemäß Paragraph 55, Absatz 2, AsylG 2005 zu Recht (nur) der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
3.4.2.2. Zum Zweitbeschwerdeführer:
Der BF2 übt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird und erfüllt somit die Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Paragraph 55, Absatz eins, Ziffer 2, AsylG 2005, weshalb ihm gemäß Paragraph 55, Absatz eins, AsylG 2005 zu Recht eine "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt wurde.
Insofern in der Beschwerde vorgebracht wird, dass dem BF2 eine Aufenthaltsberechtigung „Daueraufenthalt – EU“ zustehe, wird darauf verwiesen, dass die diesbezügliche Vollzugskompetenz nicht dem Bundesamt (und in der Folge auch nicht dem Bundesverwaltungsgericht) obliegt, es dem BF2 jedoch offensteht, eine solche bei der zuständigen Landesbehörde zu beantragen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
3.5. Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung:
3.5.1. Gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt Paragraph 24, VwGVG.
Gemäß Paragraph 24, Absatz eins, VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß Paragraph 24, Absatz 2, VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn (Ziffer eins,) der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist. Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht gemäß Paragraph 24, Absatz 4, VwGVG ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Artikel 6, Absatz eins, der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958,, noch Artikel 47, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 Sitzung 389 entgegenstehen.
In seinem Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. 2014/20/0017, ging der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass für die Auslegung der in Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" nunmehr folgende Kriterien beachtlich sind: „Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in Paragraph 20, BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.“ (VwGH 28.05.2014, Zl. 2014/20/0017)
3.5.2. Gegenständlich wurde der für die getroffene rechtliche Beurteilung maßgebliche Sachverhalt durch das Bundesamt vollständig erhoben und weist nach wie vor die gebotene Aktualität auf (die Einvernahme der Beschwerdeführer fand erst vor einem halben Jahr statt, die angefochtenen Bescheide sind mit 19.03.2021 bzw. 30.04.2021 datiert). Die Beweiswürdigung der belangten Behörde wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts in den tragenden Erwägungen bestätigt und vermag das Beschwerdevorbringen die erstinstanzliche Entscheidung nicht substantiiert in Frage zu stellen.
Damit ist der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen vergleiche Paragraph 27, VwGVG), wobei eine mündliche Erörterung auch keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten lässt. Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte sohin gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG in Verbindung mit Paragraph 24, VwGVG unterbleiben.
Zu B)
Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.
ECLI:AT:BVWG:2021:W268.2242111.1.00