Gericht

Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum

17.02.2021

Geschäftszahl

G308 2182894-1

Spruch


G308 2182894-1/21E
G308 2182898-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Angelika PENNITZ als Einzelrichterin über die Beschwerden 1.) der römisch 40 , geboren am römisch 40 , und 2.) der römisch 40 , geboren am römisch 40 , beide Staatsangehörigkeit Irak, beide vertreten durch BBU GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.11.2017, Zahlen: 1) römisch 40 , und 2.) römisch 40 , betreffend die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.09.2020, zu Recht:

A)           

römisch eins.           Den Beschwerden gegen Spruchpunkt römisch eins. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und römisch 40 , geboren am römisch 40 , sowie römisch 40 , geboren am römisch 40 , jeweils gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 15, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015, der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

römisch II.         Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015, wird festgestellt, dass römisch 40 sowie römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

römisch III.       In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte römisch II. bis römisch VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.

B)           Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins. Verfahrensgang:

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der volljährigen Zweitbeschwerdeführerin. Beide reisten gemeinsam mit der Schwiegertochter/Schwägerin der Beschwerdeführerinnen (deren Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht unter der Zahl G308 2150613-1 anhängig ist) sowie deren damals fünf minderjährigen Kinder (deren Beschwerdeverfahren beim Bundesverwaltungsgericht zu den Zahlen G308 2150933-1, G308 2150923-1, G308 2150925-1, G308 2150614-1 und G308 2150928-1 anhängig sind) und einem weiteren Sohn/Bruder der Beschwerdeführerinnen (dessen Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2176519-1 anhängig ist) gemeinsam illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie jeweils am 20.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

Ein weiterer Sohn der Erstbeschwerdeführerin, der Ehemann der Schwiegertochter und Vater der mitgereisten Enkel (dessen Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2150612-1 anhängig ist), hielt sich bereits seit Mai 2015 im Bundesgebiet auf, wo er schon am 14.05.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte.

Am 21.09.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der beiden Beschwerdeführerinnen statt.

Die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerinnen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, fand jeweils am 05.09.2017 statt.

Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes jeweils vom 24.11.2017 wurden die gegenständlichen Anträge der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG (jeweils Spruchpunkt römisch eins.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (jeweils Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen, den Beschwerdeführerinnen ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gegen sie gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch VI.) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in den Irak gemäß Paragraph 46, FPG zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.). Darüber hinaus wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG eingeräumt (Spruchpunkt römisch VI.).

Mit dem am 27.12.2017 beim Bundesamt einlangenden Schriftsatz vom selben Tag erhoben die Beschwerdeführerinnen durch ihre damalige bevollmächtigte Rechtsvertretung das Rechtsmittel der Beschwerde gegen die sie betreffenden Bescheide des Bundesamtes. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchführen, der Beschwerde stattgeben und den Beschwerdeführerinnen den Status von Asylberechtigten oder allenfalls subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen; in eventu die angefochtenen Bescheide zur Gänze beheben und das Verfahren an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverweisen; in eventu feststellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und den Beschwerdeführerinnen einen Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 55, AsylG zuerkennen; in eventu jedenfalls feststellen, dass die Abschiebung nach „Afghanistan“ (sic!) unzulässig ist.

Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 14.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt. Sie wurden ursprünglich der Gerichtsabteilung L507 zur Entscheidung zugewiesen.

Infolge einer Unzuständigkeitsanzeige wurden die gegenständlichen Beschwerden in der Folge schließlich am 08.03.2018 der Gerichtabteilung G308 zur Entscheidung zugewiesen.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte daraufhin am 04.12.2018 eine Anfrage an ACCORD zum Thema: Irak: Informationen zum sunnitischen Stamm „ römisch 40 “: allgemeine Lage; Bekanntheitsgrad; Prominent in der Politik vertretene Mitglieder; Arbeit einiger Familienmitglieder für den ehemaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi; Ermordung eines Familienmitgliedes am 16.10.2012 in Bagdad durch schiitische Milizen; Lage von sunnitischen Mitarbeitern der Wahlkommission „Independent High Electoral Commission“ (IHEC).

Die Anfragebeantwortung langte am 15.01.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.09.2020 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher die Erstbeschwerdeführerin, die Zweitbeschwerdeführerin, ihre damalige bevollmächtigte Rechtsvertretung sowie ein Dolmetscher für die Sprache Arabisch teilnahmen. Das Bundesamt verzichtete auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Die Beschwerdeverfahren der Beschwerdeführerinnen wurden gemäß Paragraph 39, Absatz 2, AVG in Verbindung mit
§ 17 VwGVG zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden einige arabische Zeitungsartikel vorgelegt, in Kopie zum Akt genommen und vom Dolmetscher übersetzt. Weiters wurde eine schriftliche Stellungnahme der Beschwerdeführerinnen zu den Länderberichten, nämlich zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2020, abgegeben.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden zudem die eingeholten ACCORD-Anfragebeantwortungen vom 15.01.2019 in das Verfahren eingeführt und den Beschwerdeführerinnen die Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß Paragraph 29, Absatz 3, VwGVG.

Mit Schriftsatz der damaligen Rechtsvertretung vom 07.10.2020, am 08.10.2020 beim Bundesverwaltungsgericht einlangend, nahmen die beiden Beschwerdeführerinnen zu den Anfragebeantwortungen von ACCORD vom 15.01.2019 schriftlich Stellung.

Am 21.12.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein seitens der Erstbeschwerdeführerin am 02.11.2020 bestandenes ÖSD-Deutschzertifikat auf Niveau A1 ein.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerinnen führen die im Spruch jeweils angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum), sind Staatsangehörige des Irak, Angehörige der Volksgruppe der Araber und bekennen sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Ihre Muttersprache ist Arabisch. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der volljährigen Zweitbeschwerdeführerin vergleiche aktenkundige Kopien der irakischen Personalausweise, AS 57 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; AS 53 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 3 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 75 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 71 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 3 ff).

Die Zweitbeschwerdeführerin, ihre Schwägerin und deren damals bereits geborenen minderjährigen Kinder sowie ein Bruder der Zweitbeschwerdeführerin verließen den Irak gemeinsam schon am 02.12.2012 mit dem Bus von Bagdad über Erbil in die Türkei, wo sie sich von Dezember 2012 bis 23.08.2015 aufhielten vergleiche Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 7 ff Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 75 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 6).

Die Erstbeschwerdeführerin verließ gemeinsam einem ihrer Söhne am 17.06.2013 den Irak und reiste mit dem PKW in die Türkei, wo sie sich bis 23.08.2015 aufhielt vergleiche Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 9 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 77 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 6 und S 17).

Dann reisten die beiden Beschwerdeführerinnen gemeinsam mit der Schwiegertochter/Schwägerin, deren damals bereits geborenen fünf Kindern sowie einem Sohn/Bruder der Beschwerdeführerinnen schlepperunterstützt von der Türkei über Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und vermutlich Ungarn bis nach Österreich, wo sie am 20.09.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz stellten vergleiche Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 9 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin und AS 7 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 77 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin und AS 75 ff Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 6 und S 17).

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Bagdad geboren und aufgewachsen, wo sie sechs Jahre die Grundschule besuchte, aber keine Berufsausbildung erhielt und auch keiner Erwerbstätigkeit nachging, sondern Hausfrau war. Ihr Ehemann kam mit seiner Tätigkeit als Immobilienmakler für den Lebensunterhalt der Erstbeschwerdeführerin und der gemeinsamen Kinder auf, wurde jedoch am 16.10.2012 getötet. Die Erstbeschwerdeführerin ist daher verwitwet, hat bisher nicht wieder geheiratet und insgesamt sechs volljährige Kinder (darunter unter anderem die Zweitbeschwerdeführerin) vergleiche Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 3 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 81 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Die Erstbeschwerdeführerin ist gesund und arbeitsfähig. Es konnte nicht festgestellt werden, dass sie an einer behandlungsbedürftigen Erkrankung leidet. Es wird zudem festgestellt, dass sie an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium leidet, die im Irak nicht behandelbar wäre.

Auch die Zweitbeschwerdeführerin ist in Bagdad geboren und aufgewachsen. Sie hat dort sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre eine Mittelschule und ein Jahr ein Gymnasium besucht und ging im Irak vor ihrer Ausreise keiner Erwerbstätigkeit nach. Sie lebte von den Einkünften ihres Vaters. Sie ist ledig und hat keine Kinder vergleiche Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 1 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 77 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Die Zweitbeschwerdeführerin ist gesund und arbeitsfähig. Sie leidet an keinen lebensbedrohlichen Erkrankungen im Endstadium, die im Irak nicht behandelbar wären vergleiche Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 5Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 73 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 3 f).

Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. Vater der Zweitbeschwerdeführerin wurde am 16.10.2012 in Bagdad zuhause durch einen Kopfschuss getötet vergleiche Erstbefragung vom 21.09.2015, AS 3 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin; Niederschrift Bundesamt vom 05.09.2017, AS 81 Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführerin und AS 77 ff Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 8 ff und in der Verhandlung vom 17.09.2020 vorgelegte arabische Sterbeurkunde vom 17.10.2012 samt deutscher Übersetzung).

Ein Sohn/Bruder, römisch 40 , sowie eine Tochter/Schwester der Beschwerdeführerinnen, römisch 40 , leben jeweils in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Tochter/Schwester römisch 40 lebt in der Türkei und eine ursprünglich mit den Beschwerdeführerinnen ebenfalls mit in das Bundesgebiet gereiste Cousine, römisch 40 , ist inzwischen in die Türkei zurückgekehrt. Im Irak leben keine nahen Verwandten der Beschwerdeführerinnen mehr, in Österreich leben zahlreiche weitere Familien aus dem Stamm der Beschwerdeführer vergleiche etwa Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Einer der Söhne der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Brüder der Zweitbeschwerdeführerin, römisch 40 (im Folgenden: römisch eins.), geboren am römisch 40 , irakischer Staatsangehöriger, reiste ebenso gemeinsam mit den Beschwerdeführerinnen in das Bundesgebiet ein und stellte hier ebenfalls am 20.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.10.2017 zur Zahl römisch 40 vollinhaltlich abgewiesen wurde. Das Verfahren über die dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2176519-1 anhängig. Er lebt in römisch 40 , besucht die Beschwerdeführerinnen aber regelmäßig in römisch 40 vergleiche dazu etwa den Fremdenregisterauszug und den Auszug aus dem Zentralen Melderegister jeweils vom 27.01.2021 sowie die Einsicht in den Gerichtsakt des Bundesverwaltungsgerichtes zur Zahl G308 2176519-1; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Ein weiterer Sohn der Erstbeschwerdeführerin bzw. Bruder der Zweitbeschwerdeführerin, römisch 40 (im Folgenden: F.), geboren am römisch 40 , irakischer Staatsangehöriger, reiste bereits im Mai 2015 in das Bundesgebiet ein, wo er am 14.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2017 zur Zahl römisch 40 vollinhaltlich abgewiesen wurde. Sohn/Bruder F. ist mit der Schwiegertochter/Schwägerin der Beschwerdeführerinnen, römisch 40 , geboren am römisch 40 , irakische Staatsangehörige, verheiratet und hat mit ihr insgesamt sechs minderjährige Kinder, und zwar

1. römisch 40 , geboren am römisch 40 im Irak,

2. römisch 40 , geboren am römisch 40 im Irak,

3. römisch 40 , geboren am römisch 40 im Irak,

4. römisch 40 , geboren am römisch 40 im Irak,

5. römisch 40 , geboren am römisch 40 in der Türkei, und

6. römisch 40 , geboren am römisch 40 in Österreich.

Die Schwiegertochter/Schwägerin sowie deren damals bereits geborenen Kinder (1.-5.) reisten gemeinsam mit den Beschwerdeführerinnen und dem Sohn/Bruder römisch eins. im September 2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie ebenfalls am 20.09.2015 Anträge auf internationalen Schutz stellten. Für die in Österreich nachgeborene Tochter wurde am 20.01.2020 ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Die Anträge wurde mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.02.2017, 20.02.2017 sowie 09.03.2020 zu den Zahlen römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 und römisch 40 ebenfalls vollinhaltlich abgewiesen. Die Familie lebt im gemeinsamen Haushalt ebenso in römisch 40 wie die Beschwerdeführerinnen und besteht regelmäßig Kontakt vergleiche dazu etwa die Fremdenregisterauszüge und die Auszüge aus dem Zentralen Melderegister jeweils vom 27.01.2021 sowie die Einsicht in die Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes zu den Zahlen G308 2150612-1, G308 2150613-1, G308 2150933-1, G308 2150923-1, G308 2150925-1, G308 2150614-1, G308 2150928-1 und G308 2230961-1; Verhandlungsprotokoll vom 17.09.2020, S 5 ff).

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.02.2021, Zahlen: G308 2150612-1, G308 2150613-1, G308 2150933-1, G308 2150923-1, G308 2150925-1, G308 2150614-1, G308 2150928-1 und G308 2230961-1, wurde den Beschwerden des Sohnes/Bruders F., dessen Ehefrau (der Schwiegertochter bzw. Schwägerin der Beschwerdeführerinnen) sowie deren sechs minderjährigen Kindern stattgegeben und ihnen jeweils der Status von Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG zuerkannt. Das Bundesverwaltungsgericht traf in diesem Erkenntnis auszugsweise nachfolgende Feststellungen:

„Der Erstbeschwerdeführer war von August 2009 bis Dezember 2011 Angestellter beim Amt für Jugend, Studenten und Sport, Abteilung Verwaltung, Finanzen und Controlling des Kabinetts des damaligen sunnitischen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi. Auch sein Bruder römisch 40 (im Folgenden: N.) war dort beschäftigt. Der Erstbeschwerdeführer hatte selten persönlichen Kontakt mit Tariq AL-HASHIMI, jedoch der direkte Vorgesetzte des Erstbeschwerdeführers, römisch 40 regelmäßig und häufig.

Am 25.12.2011 wurde ein Arbeitskollege des Erstbeschwerdeführers namens römisch 40 aus seinem Haus in Bagdad von einer unbekannten Miliz entführt. Dieser Arbeitskollege war ebenfalls Angestellter beim Amt für Jugend, Studenten und Sport, Abteilung Medien.

Der Erstbeschwerdeführer versteckte sich fortan bei der weiteren Familie und Freunden. Oft hielt er sich bei der Schwiegerfamilie auf.

Ab Oktober 2012 wurde auch nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder N. von Milizangehörigen im Familienhaus gesucht. Sowohl der Beschwerdeführer als auch sein Bruder N. waren nicht anwesend. Eine Woche später kamen neuerlich bewaffnete Unbekannte und fragten neuerlich nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder N. Ihr Vater gab an, dass diese nicht anwesend seien und wurde in weiterer Folge durch einen Kopfschuss getötet.

Zahlreiche Kabinetts-Mitglieder sowie sonstige Mitarbeiter, darunter auch Leibwächter, und deren Familienangehörige wurden von der Regierung AL-MALIKIS verfolgt.

Zwischen Dezember 2016 und Jänner 2017 wurde auf der Strecke zwischen Kirkuk und Bagdad die Leiche des persönlichen Anwalts von Tariq Al-Hashimi, und zwar von römisch 40 , der auch Journalist gewesen ist, gefunden. Er soll längere Zeit in Erbil gelebt haben und erstmals auf dem Weg nach Bagdad gewesen sein vergleiche in der mündlichen Verhandlung vom 11.12.2020 vorgelegte Zeitungsberichte samt Übersetzung des Dolmetschers, S 13 Verhandlungsprotokoll).

Die Zweitbeschwerdeführerin und die minderjährigen Beschwerdeführer haben keine eigenen Fluchtgründe und beziehen sich auf das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers vergleiche insbesondere Niederschrift Bundesamt vom 15.12.2016, AS 55 Verwaltungsakt Zweitbeschwerdeführerin).

[…]“

Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht weiters auszugsweise aus:

„[…]

Zum Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien:

Zusammengefasst brachte der Erstbeschwerdeführer im Verlauf des gesamten Verfahrens vor, er (und auch einer seiner Brüder) sei Mitarbeiter des Kabinetts des ehemaligen irakischen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi, einem Sunniten gewesen, dem vom schiitischen Ministerpräsidenten Al-Maliki im Dezember 2011 terroristische Handlungen unterstellt und gegen den ein Haftbefehl und in weiterer Folge die Todesstrafe verhängt worden sei. Auch die Mitarbeiter des Al-Hashimi seien vom Regime des Al-Maliki bedroht gewesen. So habe man auch nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder (aller Wahrscheinlichkeit nach durch Angehörige von schiitischen Milizen) gesucht und bei erfolgloser Suche den Vater des Erstbeschwerdeführers erschossen. Auch die Familienangehörigen, darunter Ehefrauen, Kinder, aber auch andere Verwandte wie Eltern und Geschwister wären von der Verfolgung insofern betroffen, als man diesen Gewalt androhe, um auf die eigentlichen gesuchten Personen zugreifen zu können.

Die Zweitbeschwerdeführerin und die minderjährigen Beschwerdeführer haben keine eigenen Fluchtgründe und beziehen sich ausschließlich auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers.

Dazu ist auszuführen, dass bereits mit der Stellungnahme der damaligen Rechtsvertretung des Erstbeschwerdeführers vom 20.10.2016 an das Bundesamt ein ganzes Konvolut an arabischen Dokumenten, darunter insbesondere E-Mail-Korrespondenz aus 2009 sowie eine Liste mit konkreten Namen und Tätigkeitsbereichen/Zuständigkeiten von Arbeitskollegen des Erstbeschwerdeführers in der Administration von Vizepräsident Al-Hashimi vorgelegt wurde vergleiche dazu die Ausführungen in der Stellungnahme vom 20.10.2016, AS 155 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer sowie das beiliegende Konvolut arabischer Dokumente samt deutscher Übersetzungen, AS 161 ff und 223 ff Verwaltungsakt Erstbeschwerdeführer).

Das Bundesamt widerspricht sich in seiner Beweiswürdigung selbst erheblich, wenn es erst ausführt, es erachte die Tätigkeit des Erstbeschwerdeführers für die Administration des Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi für glaubhaft vergleiche Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid des Erstbeschwerdeführers, AS 354 Verwaltungsakt), und einige Absätze später vergleiche Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid des Erstbeschwerdeführers, AS 356 f Verwaltungsakt) dann jedoch ausführt, die Tätigkeit für Al-Hashimi werde vom Bundesamt in Frage gestellt. Außerdem wäre der Erstbeschwerdeführer nicht persönlich verfolgt worden und auch sicher kein Leibwächter oder hochrangiger Mitarbeiter gewesen sei, sodass für ihn deswegen keine Gefahr bestanden hätte.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zahlreiche weitere arabische Dokumente, darunter teilweise auch im Original, vorgelegt und zusammengefasst vom Dolmetscher übersetzt. Darunter befindet sich eine Bestätigung des Büros Tariq Al-Hashimis, der nunmehr in Qatar im Exil lebt, dass der Erstbeschwerdeführer für sein Kabinett gearbeitet hat. Weiter legte der Erstbeschwerdeführer eine Liste von Kabinetts-Mitarbeitern und deren Funktion vor. Einige der Namen decken sich mit jenen in der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.01.2019. Auch ist der Erstbeschwerdeführer auf einem offiziellen Foto des Kabinetts Al-Hashimi zu sehen vergleiche aktenkundige Kopie des Fotos sowie Verhandlungsprotokoll vom 11.12.2020, S 12).

Auch der in der mündlichen Verhandlung am 11.12.2020 vernommene Zeuge, der der Bruder des ehemaligen direkten Vorgesetzten des Erstbeschwerdeführers im Kabinett Al-Hashimi gewesen ist ( römisch 40 ), machte im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einen glaubwürdigen Eindruck und gab an, dass sein Bruder ein Berater von Al-Hashimi gewesen ist und ebenfalls aus dem Irak flüchten habe müssen (sowie auch der Zeuge als dessen Bruder). Der Berater lebe nun in der Türkei und komme dem Zeugen als dessen Bruder in Österreich der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu. Der Erstbeschwerdeführer wurde als „die rechte Hand“ des direkten Beraters von Al-Hashimi beschrieben.

Für das erkennende Gericht haben die Beschwerdeführer damit jedenfalls glaubhaft dargetan, dass der Erstbeschwerdeführer für das Kabinett des Al-Hashimi tätig gewesen ist und dies – entgegen der Ansicht des Bundesamtes - nicht nur in einer völlig untergeordneten Position.

Sowohl der Erstbeschwerdeführer als auch die Zweitbeschwerdeführerin haben zudem im Verlauf des gesamten Verfahrens im Wesentlichen gleichlautend angegeben, dass der Erstbeschwerdeführer als ehemaliger Kabinettsmitarbeiter von Al-Hashimi im Irak gefährdet ist und dies auch die übrigen Familienmitglieder, insbesondere die Zweitbeschwerdeführerin und die minderjährigen Beschwerdeführer betrifft. Auch immer gleichlautend und konsistent war das Vorbringen in Bezug auf die Ermordung des Vaters des Erstbeschwerdeführers. Dass es sich bei den Mördern höchstwahrscheinlich um Angehörige einer schiitischen Miliz bzw. der ehemaligen Regierung Al-Malikis gehandelt hat, ist in Anbetracht dessen, dass explizit nach dem Erstbeschwerdeführer und seinem Bruder verlangt wurde, die beide die einzigen gewesen sind, die in der Familie der Beschwerdeführer für Al-Hashimi gearbeitet haben, in Zusammenschau mit den Länderberichten, insbesondere den diesbezüglichen ACCORD-Anfragebeantwortungen, für das erkennende Gericht maßgeblich wahrscheinlich.

Auch kann dem Umstand, dass der Erstbeschwerdeführer erst Mitte des Jahres 2013 den Irak in Richtung Türkei verließ, die übrigen Beschwerdeführer jedoch schon Anfang Dezember 2012, vor dem glaubhaft dargelegten Hintergrund, der Erstbeschwerdeführer und auch die Zweitbeschwerdeführerin hätten sich bereits ab Dezember 2011 im Zuge der Ereignisse um den ehemaligen Vizepräsidenten Al-Hashimi bei den Eltern der Zweitbeschwerdeführerin bzw. der Erstbeschwerdeführer immer ständig wechselnd bei Freunden versteckt, und habe der Erstbeschwerdeführer nach der Ermordung seines Vaters die notwendigen finanziellen Mittel für einen Aufenthalt der Familie in der Türkei beschafft, in dem er eines der beiden Familienhäuser in Bagdad über einen Mittelsmann verkaufte, keine maßgebliche Bedeutung beigemessen werden.

Aus der festgestellten ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.01.2019 ergibt sich, dass irakische Sicherheitskräfte im Dezember 2011 nach Erlassung eines Haftbefehls durch Premierminister Al-Maliki gegen den Vizepräsidenten Al-Hashimi gleichzeitig dutzende von Al-Hashimis Mitarbeitern und Leibwächtern verhaftet und an geheime Orte gebracht worden sind. Sie wären alle mehrere Monate, ohne Kontakte zur Außenwelt festgehalten und Folter ausgesetzt worden. Dabei sei ihnen auch gedroht worden, dass ihre Frauen und Mütter verhaftet und vor ihren Augen vergewaltigt würden. Alle Festgenommenen seien zum Tode verurteilt worden. Wie sich aus einem Bericht von Alkamara vom 26.05.2020 ergibt vergleiche dazu insbesondere S 7 ff https://www.ecoi.net/de/dokument/2033888.html vom 26.05.2020), Zugriff am 28.01.2021) befanden sich zum Zeitpunkt der Berichterstattung (daher Mitte des Jahres 2020) noch immer einige der 19 jedenfalls zwischen November 2011 und März 2012 von irakischen Sicherheitskräften festgenommenen Personen, welchen eine Verbindung zum vormaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi unterstellt wurden, trotz internationaler Interventionen in Haft und wurde über diese, neben Folter und anderer Drohungen zur Erzwingung von Geständnissen jeweils die Todesstrafe verhängt.

Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass die, insbesondere den Erstbeschwerdeführer, aber auch die übrigen Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak treffende Verfolgungsgefahr nach wie vor aktuell ist, zumal die Beschwerdeführer laut der ACCORD-Anfrage vom 15.01.2019 einem der größten und bekanntensten sunnitischen Stämme im Irak angehören und als solche leicht zugeordnet werden können.

Die aktuelle Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer stellt sich für das Bundesverwaltungsgericht als unstrittig dar. In Zusammenschau mit der aktuellen Lage hinsichtlich der ehemaligen Mitarbeiter von Al-Hashimi und der allgemeinen Lage im Herkunftsland ergibt sich für das erkennende Gericht, dass die, die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak treffende, Verfolgungsgefahr nach wie vor aktuell ist.

[…]“

Die Beschwerdeführerinnen halten sich seit ihrer Einreise ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Sie sind strafgerichtlich unbescholten und leben auch zum Entscheidungszeitpunkt nach wie vor beide im gemeinsamen Haushalt und von der Grundversorgung. Keine der Beschwerdeführerinnen ging bisher einer sozialversicherten Erwerbstätigkeit nach vergleiche aktenkundige Auszüge aus dem Zentralen Melderegister, aus dem Strafregister sowie den Sozialversicherungs- und Grundversorgungsdaten jeweils vom 27.01.2020).

Außer untereinander sowie zum in römisch 40 lebenden Sohn/Bruder römisch eins. und zu der Familie des ebenfalls in römisch 40 lebenden Sohnes/Bruders F. der Beschwerdeführerinnen bestehen in Österreich bzw. Europa keine nachweisbaren engeren weiteren familiären Bindungen.

Die Söhne/Brüder F. und N. der Beschwerdeführerinnen waren von August 2009 bis Dezember 2011 Angestellte beim Amt für Jugend, Studenten und Sport, Abteilung Verwaltung, Finanzen und Controlling des Kabinetts des damaligen sunnitischen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi. F. hatte selten persönlichen Kontakt mit Tariq Al-Hashimi, jedoch der direkte Vorgesetzte des F., römisch 40 regelmäßig und häufig.

Nach dem Sturz Al-Hashimis Ende des Jahres 2011 wurde ab Oktober 2012 auch nach F. und N. von Milizangehörigen im Familienhaus gesucht. Sowohl F. als auch sein Bruder N. waren nicht anwesend. Eine Woche später kamen neuerlich bewaffnete Unbekannte und fragten neuerlich nach den Brüdern F. und N. Ihr Vater gab an, dass diese nicht anwesend seien und wurde in weiterer Folge durch einen Kopfschuss getötet.

Zahlreiche Kabinetts-Mitglieder sowie sonstige Mitarbeiter, darunter auch Leibwächter, und deren Familienangehörige wurden von der Regierung Al-Malikis verfolgt.

Als nahe Angehörige des F. und des N. droht auch den Beschwerdeführerinnen im Irak eine entsprechende Verfolgung.

Hingegen konnte nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführerinnen im Irak die Zwangsheirat konkret droht oder sie Verfolgung/Bedrohung infolge westlicher Orientierung zu befürchten hätten.

Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:

Zur allgemeinen Lage im Irak werden die vom Bundesverwaltungsgericht mit Ladung zur mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführten Länderberichte, nämlich aktuelle Länderinformationen und zwar das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2020 sowie die im gegenständlichen Fall eingeholten ACCORD-Anfragebeantwortungen vom 15.12.2019 auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand dieses Erkenntnisses erhoben.

Aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak vom 17.03.2020 ergibt sich auszugsweise:

„[…] 1  Politische Lage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vergleiche GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafazāt) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwāb, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).

Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vergleiche RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vergleiche GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).

Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).

Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vergleiche ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).

Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vergleiche RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vergleiche Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).

Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vergleiche NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).

Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).

Quellen:

[…]

1.1        Parteienlandschaft

Letzte Änderung: 17.3.2020

Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).

Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).

[Grafik gelöscht, Anm]

Quellen:

[…]

1.2        Kurdische Region im Irak (KRI) / Autonome Region Kurdistan

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Kurdische Region im Irak (KRI) wird in der irakischen Verfassung, in Artikel 121, Absatz 5 anerkannt (Rudaw 20.11.2019). Die KRI besteht aus den Gouvernements Erbil, Dohuk und Sulaymaniyah. sowie aus dem im Jahr 2014 durch Ministerratsbeschluss aus Sulaymaniyah herausgelösten Gouvernement Halabja, wobei dieser Beschluss noch nicht in die Praxis umgesetzt wurde. Verwaltet wird die KRI durch die kurdische Regionalregierung (KRG) (GIZ 1.2020a).

Das Verhältnis der Zentralregierung zur KRI hat sich seit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in der KRI und einer Reihe zwischen Bagdad und Erbil „umstrittener Gebiete“ ab dem 25.9.2017 deutlich verschlechtert. Im Oktober 2017 kam es sogar zu lokal begrenzten militärischen Auseinandersetzungen (AA 12.1.2019). Der langjährige Präsident der KRI, Masoud Barzani, der das Referendum mit Nachdruck umgesetzt hatte, trat als Konsequenz zurück (GIZ 1.2020a).

Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil hat sich im Lauf des Jahres 2018 wieder beruhigt, und es finden seither regelmäßig Gespräche zwischen den beiden Seiten statt. Grundlegende Fragen wie Öleinnahmen, Haushaltsfragen und die Zukunft der umstrittenen Gebiete sind jedoch weiterhin ungelöst zwischen Bagdad und der KRI (AA 12.1.2019).

Die KRI ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden größten Parteien geteilt, der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), angeführt von der Familie Barzani, und deren Rivalen, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die vom Talabani-Clan angeführt wird (France24 22.2.2020; vergleiche KAS 2.5.2018). Die KDP hat ihr Machtzentrum in Erbil, die PUK ihres in Sulaymaniyah. Beide verfügen einerseits über eine bedeutende Anzahl von Sitzen im Irakischen Parlament und gewannen andererseits auch die meisten Sitze bei den Wahlen in der KRI im September 2018 (CRS 3.2.2020). Der Machtkampf zwischen KDP und PUK schwächt einerseits inner-kurdische Reformen und andererseits Erbils Position gegenüber Bagdad (GIZ 1.2020a). Dazu kommen Gorran („Wandel“), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert (KAS 2.5.2018; vergleiche WI 8.7.2019), sowie eine Reihe kleinerer islamistischer Parteien (KAS 2.5.2018).

Auch nach dem Rücktritt von Präsident Masoud Barzani teilt sich die Barzani Familie die Macht. Nechirvan Barzani, langjähriger Premierminister unter seinem Onkel Masoud, beerbte ihn im Amt des Präsidenten der KRI. Masrour Barzani, Sohn Masouds, wurde im Juni 2019 zum neuen Premierminister der KRI ernannt (GIZ 1.2020a) und im Juli 2019 durch das kurdische Parlament bestätigt (CRS 3.2.2020).

Proteste in der KRI gehen auf das Jahr 2003 zurück. Die Hauptforderungen der Demonstranten sind dabei gleich geblieben und drehen sich einerseits um das Thema Infrastrukturversorgung und staatliche Leistungen (Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitswesen, Straßenbau, sowie die enormen Einkommensunterschiede) und andererseits um das Thema Regierungsführung (Rechenschaftspflicht, Transparenz und Korruption) (LSE 4.6.2018). Insbesondere in der nordöstlichen Stadt Sulaymaniyah kommt es zu periodischen Protesten, deren jüngste im Februar 2020 begannen (France24 22.2.2020).

Quellen:

[…]

2            Sicherheitslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vergleiche AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).

Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vergleiche Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vergleiche Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).

Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).

Quellen:

[…]

2.1        Islamischer Staat (IS)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vergleiche Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vergleiche BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).

Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vergleiche UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).

Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vergleiche USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).

Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vergleiche ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vergleiche ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vergleiche NINA 17.1.2020).

Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).

Quellen:

[…]

2.2        Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad Anmerkung, ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).

Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).

[Grafik gelöscht, Anm]

Quellen:

[…]

2.3        Sicherheitslage Bagdad

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vergleiche Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vergleiche Joel Wing 5.3.2020).

Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vergleiche Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vergleiche Joel Wing 5.3.2020)

Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

Quellen:

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2.4        Sicherheitslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

In Erbil bzw. Sulaymaniyah und unmittelbarer Umgebung erscheint die Sicherheitssituation vergleichsweise besser als in anderen Teilen des Irak. Allerdings kommt es immer wieder zu militärischen Zusammenstößen, in die auch kurdische Streitkräfte (Peshmerga) verwickelt sind, weshalb sich die Lage jederzeit ändern kann. Insbesondere Einrichtungen der kurdischen Regionalregierung und politischer Parteien sowie militärische und polizeiliche Einrichtungen können immer wieder Ziele terroristischer Attacken sein (BMEIA 19.2.2020).

Im Juli 2019 führte der IS seine seit langem erste Attacke auf kurdischem Boden durch. Im Gouvernement Sulaymaniyah attackierte er einen Checkpoint an der Grenze zu Diyala, der von Asayish [Anm.: Inlandsgeheimdienst der Kurdischen Region im Irak (KRI)] bemannt war. Bei diesem Angriff wurden fünf Tote und elf Verletzte registriert (Joel Wing 5.8.2019). Im August 2019 wurde in Sulaymaniyah ein Vorfall mit einer IED verzeichnet, wobei es keine Opfer gab (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 wurde ein weiterer Angriff im Gouvernement Sulaymaniyah verzeichnet. Der Vorfall ereignete sich im südlichen Sulaymaniyah, an der Grenze zu Diyala. Asayesh-Einheiten, die einen Mörserbeschuss untersuchten, wurden von Heckenschützen beschossen. Drei Personen, darunter ein Kommandant, starben, acht Personen, fünf Asayesh und drei Zivilisten wurden verletzt (Joel Wing 2.12.2019; vergleiche Ekurd 30.11.2019).

Im Gouvernement Erbil wurde im Jänner 2020 ein sicherheitsrelevanter Vorfall ohne Opfer verzeichnet. Als Vergeltung für die Tötung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani und des stellvertretenden Leiters der Volksmobilisierungskräfte (PMF)-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis durch die USA feuerte der Iran Raketen auf die US-Militärbasis nahe dem Internationalen Flughafen Erbil ab (Joel Wing 3.2.2020; vergleiche Al Monitor 8.1.2020). Im Februar 2020 wurden drei Vorfälle mit sieben Verletzten im südlichen Distrikt Makhmour verzeichnet. Dabei handelte es sich um einen Raketenangriff pro-iranischer PMF auf einen US-Militärstützpunkt (Joel Wing 5.3.2020), um die Detonation zweier IEDs in einem Dorf mit sechs Verletzten (Joel Wing 5.3.2020; vergleiche BasNews 26.2.2020) und um einen Angriff des IS auf ein IDP Lager, mit einem verletzten Zivilisten (Joel Wing 5.3.2020; vergleiche BasNews 2.2.2020).

Seit dem Abbruch des Friedensprozesses zwischen der Türkei und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Jahr 2015 kommt es regelmäßig zu türkischen Militäroperationen und Bombardements gegen Stellungen von PKK-Kämpfern in Qandil und in den irakischen Grenzgebieten (Kurdistan24 8.11.2019). Im Kreuzfeuer solcher Angriffe werden immer wieder kurdische Dörfer evakuiert, da manchmal auch Zivilisten und deren Eigentum von den Kämpfen bedroht und bei türkischen Luftangriffen getroffen wurden (ACLED 4.9.2019; vergleiche Kurdistan24 8.11.2019)

Am 27.5.2019 initiierte die türkische Armee die „Operation Claw“ gegen Stellungen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Nordirak. Die erste Phase richtete sich gegen Stellungen in der Hakurk/Khakurk-Region im Gouvernement Erbil (Anadolu Agency 13.7.2019; vergleiche Rudaw 13.7.2019). Die zweite Phase begann am 12.7.2019 und zielt auf die Zerstörung von Höhlen und anderen Zufluchtsorten der PKK (Anadolu Agency 13.7.2019). Die türkischen Luftangriffe konzentrierten sich auf die Region Amadiya im Gouvernement Dohuk, von wo aus die PKK häufig operiert (ACLED 17.7.2019). Ende August 2019 begann die dritte Phase, die sich wiederum gegen die PKK im Gouvernement Dohuk richtete. Betroffen waren vor allem grenznahe Orte, Regionen und Subdistrikte wie Zab, Sinat-Haftanin, Batifa und Avashin (Kurdistan24 8.11.2019).

Am 10. und 11.7.2019 bombardierte iranische Artillerie mutmaßliche PKK-Ziele im Subdistrikt Sidakan/Bradost im Gouvernement Sulaymaniyah, wobei ein Kind getötet wurde (Al Monitor 12.7.2019). In dem Gebiet gibt es häufige Zusammenstöße zwischen iranischen Sicherheitskräften und iranisch-kurdischen Aufständischen, die ihren Sitz im Irak haben, wie die “Partei für ein Freies Leben in Kurdistan‘‘ (PJAK), die von Teheran beschuldigt wird, mit der PKK in Verbindungen zu stehen (Reuters 12.7.2019).

Quellen:

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2.5        Sicherheitslage Nord- und Zentralirak

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Islamische Staat (IS) ist im Zentralirak nach wie vor am aktivsten (Joel Wing 3.2.2020), so sind Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala nach wie vor die Hauptaktionsgebiete der Aufständischen (Joel Wing 2.12.2019).

In den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der kurdischen Regionalregierung (KRG) beansprucht werden, und wo es zu erheblichen Sicherheitslücken zwischen den zentralstaatlichen und kurdischen Einheiten kommt, verfügt der IS nach wie vor über operative Kapazitäten, um Angriffe, Bombenanschläge, Morde und Entführungen durchzuführen (Kurdistan24 7.8.2019). Die Sicherheitsaufgaben in den „umstrittenen Gebieten“ werden zwischen der Bundespolizei und den Volksmobilisierungskräften (al-Hashd ash-Sha‘bi/PMF) geteilt (Rudaw 31.5.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).

Bei den zwischen Bagdad und Erbil „umstrittenen Gebieten“ handelt es sich um einen breiten territorialen Gürtel der zwischen dem „arabischen“ und „kurdischen“ Irak liegt und sich von der iranischen Grenze im mittleren Osten bis zur syrischen Grenze im Nordwesten erstreckt (Crisis Group 14.12.2018). Die „umstrittenen Gebiete“ umfassen Gebiete in den Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala. Dies sind die Distrikte Sinjar (Shingal), Tal Afar, Tilkaef, Sheikhan, Hamdaniya und Makhmour, sowie die Subdistrikte Qahtaniya and Bashiqa in Ninewa, der Distrikt Tuz Khurmatu in Salah ad-Din, das gesamte Gouvernement Kirkuk und die Distrikte Khanaqin und Kifri, sowie der Subdistrikt Mandali in Diyala (USIP 2011). Die Bevölkerung der „umstrittenen Gebiete“ ist sehr heterogen und umfasst auch eine Vielzahl unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten, wie Turkmenen, Jesiden, Schabak, Chaldäer, Assyrer und andere. Kurdische Peshmerga eroberten Teile dieser umstrittenen Gebiete vom IS zurück und verteidigten sie, bzw. stießen in das durch den Zerfall der irakischen Armee entstandene Vakuum vor. Als Reaktion auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2017, das auch die „umstrittenen Gebiete“ umfasste, haben die irakischen Streitkräfte diese wieder der kurdischen Kontrolle entzogen (Crisis Group 14.12.2018).

Gouvernement Ninewa

Der Islamische Staat (IS) hat seine Präsenz in Ninewa durch Kräfte aus Syrien verstärkt und führte seine Operationen hauptsächlich im Süden und Westen des Gouvernements aus (Joel Wing 3.5.2019). Er verfügt aber auch in Mossul über Zellen (Joel Wing 5.6.2019). Es wird außerdem vermutet, dass der IS vorhat in den Badush Bergen, westlich von Mossul, Stützpunkte einzurichten (ISW 19.4.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Ninewa 40 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 33 Toten und 25 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vergleiche Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es zwölf Vorfälle mit 35 Toten und 15 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Ninewa ereigneten sich im Süden des Gouvernements (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Diyala

Das Gouvernement Diyala zählt regelmäßig zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen und als die gewalttätigste Region des Irak (Joel Wing 5.8.2019; vergleiche Joel Wing 9.9.2019) und ist weiterhin ein Kerngebiet des IS (Joel Wing 3.2.2020). Trotz wiederholter Militäroperationen in Diyala kann sich der IS noch immer in den ausgedehnten Gebieten, die sich vom westlichen Teil Diyalas bis zu den Hamreen Bergen im Norden des Gouvernements erstrecken, sowie in den schwer zugänglichen Gebieten nahe der Grenze zum Iran halten (Xinhua 22.12.2019). Es kommt in Diyala regelmäßig zu Konfrontationen des IS mit Sicherheitskräften und zu Übergriffen auf Städte (Joel Wing 5.8.2019).

Der IS hat Zugang zu allen ländlichen Gebieten in Diyala (Joel Wing 5.8.2019), aus denen er einerseits Zivilisten vertreibt, um dort Basen zu errichten, und wo er anderseits wiederholt die lokale Verwaltung und Sicherheitskräfte angreift (Joel Wing 9.9.2019). So häufen sich Berichte über zunehmende Vertreibung von Zivilisten aus ländlichen Gebieten, beispielsweise aus den Bezirken Khanaqin und Jalawla, wegen der Bedrohung durch den IS und dem Unvermögen der Sicherheitskräfte (Irakische Armee/ISF und PMF) für deren Sicherheit zu sorgen (Joel Wing 25.11.2019; vergleiche Rudaw 3.12.2019). Ein Hauptproblem Diyalas ist die mangelhafte Kommunikation zwischen den vielen unterschiedlichen Sicherheitsakteuren in der Region (Joel Wing 9.9.2019), andererseits gibt es generell zu wenige Sicherheitskräfte in Diyala, was der IS auszunutzen versteht (Joel Wing 5.8.2019). Die übrigen Vorfälle betrafen hauptsächlich den Norden und das Zentrum von Diyala. Im Süden und Westen gab es hingegen kaum sicherheitsrelevante Vorfälle (Joel Wing 9.9.2019).

Ende 2019 und Anfang 2020 hat der IS seinen Aktionsschwerpunkt verschoben. Während sich bisher die meisten Vorfälle im Distrikt Khanaqin, rund um die Städte Khanaqin und Jalawla, ereigneten, verlegte der IS seinen Fokus zunehmend auf das Zentrum des Gouvernements, insbesondere auf den Distrikt Muqdadiya (Joel Wing 6.1.2020; vergleiche Joel Wing 3.2.2020), sowie auch in die westlichen Gebiete Diyalas. Diese Verlagerung wird im Zusammenhang mit einer Kampagne der irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in Khanaqin gesehen. Damit zeigt der IS aber auch, dass er die Kapazität hat im gesamten Gouvernement aktiv zu werden (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Diyala 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 65 Toten und 93 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vergleiche Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Febraur 2020 waren es 24 Vorfälle mit 16 Toten und 27 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Gouvernement Salah ad-Din

Im Gouvernement Salah ad-Din ist der IS hauptsächlich in ländlichen Regionen aktiv. Im Dezember 2019 setzte der IS erstmals seit Mai 2019 wieder Autobomben ein (Joel Wing 6.1.2020). Drei derartige Attacken trafen Sicherheitskräfte der PMF (Joel Wing 6.1.2020; vergleiche Rudaw 12.12.2019; Anadolu 13.12.2019), zusätzlich zu einem Vorfall mit einem Selbstmordattentäter mit Sprengstoffweste (Joel Wing 6.1.2020; vergleiche NINA 29.12.2019).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Salah ad-Din 78 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 27 Toten und 42 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vergleiche Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es sechs Vorfälle mit zehn Toten und vier Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für zwei Vorfälle im Jänner 2020 - ein Raketen-, bzw. ein Mörserbeschuss auf den Militärstützpunkt Balad - pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (Joel Wing 3.2.2020).

Gouvernement Kirkuk

Im Gouvernement Kirkuk gehen die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle, bis auf wenige Spitzen, kontinuierlich zurück (Joel Wing 5.8.2019). Da der Süden Kirkuks nicht vollständig von IS-Kämpfern befreit wurde, kommt es insbesondere in dieser Region regelmäßig zu Angriffen (Joel Wing 3.2.2020). Wie im benachbarten Diyala handelte es sich bei Vorfällen in Kirkuk meist um Schießereien, Angriffe auf Kontrollpunkte, Überfälle auf Städte und Vertreibungen aus ländlichen Gebieten, wobei sich der IS auf den Süden des Gouvernements Kirkuk konzentrierte. Unter anderem wurden eine Polizeistation und ein Armeestützpunkt angegriffen, sowie ein Polizeihauptquartier mit Mörsern beschossen (Joel Wing 16.10.2019). Im Dezember 2019 hat der IS einen falschen Kontrollpunkt entlang der Straße von Tikrit nach Kirkuk eingerichtet, an dem er sechs Zivilisten hinrichtete (Joel Wing 6.1.2020). Neun der 13 Vorfälle im Jänner 2020 ereigneten sich im Süden, wo der IS im Gouvernement seine Basis hat (Joel Wing 3.2.2020).

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Kirkuk 39 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 41 Toten und 60 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vergleiche Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es acht Vorfälle mit sieben Toten und zwölf Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Während die übrigen Vorfälle dem IS zugeschrieben werden, werden für je einen Vorfall im Jänner und Februar 2020 pro-iranische PMF verantwortlich gemacht (Joel Wing 3.2.2020; vergleiche Joel Wing 5.3.2020).

Gouvernement Anbar

Das Gouvernement Anbar, früher ein IS-Zentrum und Schwerpunkt der IS-Aktivitäten, wird nun hauptsächlich für den Transit von IS-Kämpfern zwischen dem Irak und Syrien genutzt (Joel Wing 16.10.2019; vergleiche Joel Wing 3.2.2020). Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Anbar hat bis Mitte 2019 stark fluktuiert (Joel Wing 5.8.2019) und ab Mitte 2019 hat sich Anbar zu einem sekundären Schauplatz entwickelt, mit einem Rückgang der Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle im einstelligen Bereich (Joel Wing 3.2.2020).

Im November 2019 gab es im Gouvernement Anbar keine sicherheitsrelevanten Vorfälle. Im Dezember 2019 waren es fünf Vorfälle mit zwölf Toten und zwei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 war Anbar mit einer Steigerung von fünf Vorfällen im Dezember 2019 auf sieben im Jänner 2020, mit acht Toten und 76 Verletzten das einzige Gouvernement mit einer Zunahme an sicherheitsrelevanten Vorfällen, mit einer Steigerung von fünf Vorfällen. Zu diesen Vorfällen zählen der iranische Raketenangriff auf die Militärbasis Ain Al-Assad, bei dem 64 amerikanische Soldaten verwundet wurden, ein Angriff mit einer Autobombe (VBIED) gegen einen Armeekonvoi, Entführungen und Angriffe mit Schusswaffen (Joel Wing 3.2.2020; vergleiche BasNews 16.1.2020). Im Februar 2020 waren es fünf Vorfälle mit je zwei Toten und Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Quellen:

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2.6        Sicherheitslage Südirak

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018)

Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 gab es im Gouvernement Babil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten (Joel Wing 2.12.2019), im Dezember 2019 drei Vorfälle mit drei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020) und im Februar 2020 zwei Vorfälle mit einem Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).

Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).

Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar,Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vergleiche Joel Wing 3.10.2019).

[Anm.: Weiterführende Informationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]

Quellen:

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3            Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).

Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vergleiche AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).

Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).

Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vergleiche AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).

Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vergleiche HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).

Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vergleiche CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020).

Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vergleiche HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).

Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).

Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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3.1        Rechtsschutz / Justizwesen in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Auch die Lage in der Kurdischen Region im Irak (KRI) ist von Defiziten der rechtsstaatlichen Praxis gekennzeichnet (AA 12.1.2019). Der Kurdische Justizrat ist rechtlich, finanziell und administrativ unabhängig vom Justizministerium der kurdischen Regionalregierung (KRG), die Exekutive beeinflusst jedoch politisch sensible Fälle. Beamte der KRI berichten, dass Staatsanwälte und Verteidiger bei der Durchführung ihrer Arbeit häufig auf Hindernisse stoßen, und dass Prozesse aus administrativen Gründen unnötig verzögert werden. Nach Angaben der Unabhängigen Menschenrechtskommission der KRI (IHRCKR) bleiben Häftlinge auch nach gerichtlicher Anordnungen ihrer Freilassung für längere Zeit in den Einrichtungen des internen Sicherheitsdienstes der KRI (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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4            Sicherheitskräfte und Milizen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).

Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).

Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vergleiche GS 18.7.2019).

Quellen:

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4.1        Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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4.2        Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha‘bi

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vergleiche FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vergleiche FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).

Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vergleiche Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).

Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vergleiche FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).

Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).

In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).

Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vergleiche TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vergleiche GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).

Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).

Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vergleiche USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).

Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).

Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).

Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des „Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak“ gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der „Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak“ wurde später zum „Obersten Islamischen Rat im Irak“ (OIRI), siehe Abschnitt „Politische Lage“]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie die Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen (Süß 21.8.2017). Die Badr-Organisation besteht offiziell aus elf Brigaden, kontrolliert aber auch einige weitere Einheiten (FPRI 19.8.2019). Zu Badr und seinen Mitgliedsorganisationen gehören Berichten zufolge die 1., 3., 4., 5., 9., 10., 16., 21., 22., 23., 24., 27., 30., 52., 55. und 110. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vergleiche Al-Tamini 31.10.2017). Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017; vergleiche Wilson Center 27.4.2018). Bei den Wahlen 2018 bildete die Badr-Organisation gemeinsam mit Asa‘ib Ahl al-Haqq und Kata‘ib Hizbullah die Fatah-Koalition (Wilson Center 27.4.2018), die 48 Sitze gewann (FPRI 19.8.2019), 22 davon gewann die Badr-Organisation (Wilson Center 27.4.2018). Viele Badr-Mitglieder waren Teil der offiziellen Staatssicherheitsapparate, insbesondere des Innenministeriums und der Bundespolizei (FPRI 19.8.2019). Die Badr-Organisation strebt die Erweiterung der schiitischen Macht in den Sicherheitskräften an, durch Wahlen und durch Eindämmung sunnitischer Bewegungen (Wilson Center 27.4.2018). Badr-Mitglieder und andere schiitische Milizen misshandelten und misshandeln weiterhin sunnitisch-arabische Zivilisten, insbesondere Sunniten im ehemaligen IS-Gebiet (FPRI 19.8.2019).

Die Kata’ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hezbollah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und bis zu seinem Tode 2019 auch angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist (Süß 21.8.2017). Kata’ib Hizbullah bilden die 45. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018). Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von mindestens 400 bis zu 30.000 Mann (Süß 21.8.2017; vergleiche Wilson Center). Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata’ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017). Ihr Anführer Jamal Jaafar Ibrahimi alias Abu Mahdi al Muhandis war auch stellvertretender Leiter der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission (Al-Tamini 31.10.2017).

Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vergleiche Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vergleiche Wilson Center 27.4.2018).

Die Harakat Hezbollah al Nujaba (HHN, Bewegung der Partei der Edlen Gottes) ist ein Ableger von Kata’ib Hizbullah und Asa‘ib Ahl al-Haqq, die 2013 zur Unterstützung des Assad Regimes in Syrien von Sheikh Akram al Ka‘abi gegründet wurde. Die pro-iranische HHN hat eigenen Angaben zufolge etwa 9.000 Kämpfer, von denen einige nach wie vor in Syrien aktiv sind. Sie stellt die 12. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vergleiche Al-Tamini 31.10.2017).

Die Kata‘ib Sayyid al Shuhada (KSS, Meister der Märtyrerbrigade), ist eine Miliz, die im Mai 2013 gegründet wurde, um an der Seite des Assad-Regimes in Syrien zu kämpfen. Nach dem Aufstieg des IS im Jahr 2014 dehnte die KSS ihre Operationen auf den Irak aus und war insbesondere im Gouvernement Salah ad-Din, aber auch in Anbar und Ninewa aktiv. Geschätzt auf über 2.000 Kämpfer im Jahr 2017, wird die KSS von den Iranischen Revolutionsgarden (Islamic Revolutionary Guards Corps, IRGC) unterstützt und finanziert (Wilson Center 27.4.2018). Sie stellt die 14. PMF-Brigade (Wilson Center 27.4.2018; vergleiche Al-Tamini 31.10.2017).

Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus anti-iranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt (FPRI 19.8.2019). Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind (Wilson Center 27.4.2018).

Auch die Kata’ib al-Imam Ali (KIA, Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden (Süß 21.8.2017; vergleiche Wilson Center 27.4.2018). Sie ist den PMF als 40. Brigade beigetreten (Wilson Center 27.4.2018). Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl al-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi stand in engem Kontakt zu Muhandis (bis zu dessen Tod) und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, den Kata’ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feldkommandeur Abu Azra‘el erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017). Kata’ib al-Imam Ali hat im Dezember 2014 die kleine syriakische Anmerkung, aramäisch- assyrisch) Christenmiliz Kata‘ib Roh Allah Issa Ibn Miriam (Die Brigade vom Geist Gottes, Jesus, Sohn der Maria) gegründet und ausgebildet (Wilson Center 27.4.2018).

Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).

Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 (TDP 3.7.2019). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017).

Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).

Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).

Quellen:

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4.3        Kurdische Sicherheitskräfte (Peshmerga) und Nachrichtendienste

Letzte Änderung: 17.3.2020

Nach der irakischen Verfassung hat die Kurdische Region im Irak (KRI) das Recht, ihre eigenen Sicherheitskräfte zu unterhalten (USDOS 11.3.2020). Die kurdischen Sicherheitskräfte (Peshmerga) unterstehen formal der kurdischen Regionalregierung (KRG) und sind bislang nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert. Sie bilden allerdings keine homogene Einheit, sondern unterstehen faktisch, voneinander getrennt, den beiden großen Parteien, der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), in ihren jeweiligen Einflussgebieten (AA 12.1.2019). Die Peshmerga sind eine komplexe und vielschichtige Kraft, ihre Loyalität ist geteilt zwischen dem irakischen Staat, der KRI, verschiedenen politischen Parteien und mächtigen Persönlichkeiten. Zu verschiedenen Zeitpunkten, manchmal auch gleichzeitig, können die Peshmerga als nationale Sicherheitskräfte, regionale Sicherheitskräfte, Partei-Kräfte und persönliche Sicherheitskräfte bezeichnet werden (Clingendael 3.2018).

Im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) hatten die Peshmerga über die ursprünglichen Grenzen von 2003 der KRI hinaus Gebiete befreit. Aus diesen zwischen Bagdad und Erbil seit jeher umstrittenen Gebieten hat die irakische Armee die Peshmerga nach Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums im September 2017 größtenteils zurückgedrängt. In weiten Teilen haben die Peshmerga sich kampflos zurückgezogen, es gab jedoch auch teils schwere bewaffnete Auseinandersetzungen mit Opfern auf beiden Seiten (AA 12.1.2019).

Per Gesetz von 2009 wurde die Umwandlung der Peshmerga von Parteimilizen in eine reguläre Streitmacht beschlossen und 14 Regional Guard Brigades (RGBs) gebildet, die dem neu gegründeten Ministerium für Peshmerga-Angelegenheiten unterstehen (CMEC 16.12.2015; vergleiche GPPi 3.2018). Daneben existieren nach wie vor Peshmerga-Einheiten mit Mannschaftsstärken von mehreren Zehntausend, die direkt von den Parteien kontrolliert werden: die 70er Brigade, die der PUK untersteht und die 80er Brigade, die von der KDP befehligt wird (GPPi 3.2018; vergleiche Rudaw 31.7.2018). Es gibt Schritte und Pläne zur Vereinigung und Eingliederung der Truppen der 70er und 80er Peshmerga-Brigaden in das Peshmerga-Ministerium. Auch wurde über eine Vereinigung der Peshmerga und der ISF gesprochen, bzw. über die Koordination der beiden gegen den gemeinsamen Feind, den IS (Rudaw 20.11.2019). Die Peshmerga-Streitkräfte haben auch eine Reihe von Minderheitseinheiten und -brigaden in ihre Reihen aufgenommen, darunter Schabak, Kaka‘i, Jesiden, Christen, Chaldäer und Assyrer. Sie berichten in der Regel an das Ministerium für Peshmerga-Angelegenheiten und wirken innerhalb der KDP Strukturen (GPPi 3.2018)

KDP und PUK unterhalten getrennte Sicherheits- und Nachrichtendienste, einerseits Asayish und Parastin (KDP), und andererseits Asayish und Zanyari (PUK), die nominell dem Innenministerium der KRI unterstehen (USDOS 11.3.2020; vergleiche GPPI 3.2018).

Die Sicherheitsdienste der KRI halten in den von ihnen kontrollierten Gebieten bisweilen Verdächtige fest. Die schlecht definierten administrativen Grenzen zwischen den kurdischen Gouvernements sowie dem (nicht-kurdischen) Rest des Landes führen zu anhaltender Verwirrung über die Zuständigkeit der Sicherheitskräfte und der Gerichte (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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5            Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung sind laut der irakischen Verfassung ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte (AA 12.1.2019), oder auch um Geständnisse zu erzwingen (HRW 14.1.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020; AI 10.4.2019) und Gerichte diese als Beweismittel akzeptieren (USDOS 11.3.2020) auch für die Vollstreckung von Todesurteilen (AI 10.4.2019). Laut Informationen von UNAMI sollen u.a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören (AA 12.1.2019). Ehemalige Häftlinge berichten auch über Todesfälle aufgrund von Folter (AI 26.2.2019). Auch Minderjährige werden Folter unterzogen, um Geständnisse zu erpressen (HRW 6.3.2019).

Weiterhin misshandeln und foltern die Sicherheitskräfte der Regierung, einschließlich der mit den Volksmobilisierungskräften (PMF) verbundenen Milizen und Asayish, Personen während Verhaftungen, Untersuchungshaft und nach Verurteilungen. Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle von Folter und Misshandlung in Einrichtungen des Innenministeriums und in geringerem Umfang in Haftanstalten des Verteidigungsministeriums sowie in Einrichtungen unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung (KRG). Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen (USDOS 11.3.2020). Eine Studie zu Berufungsgerichtsentscheidungen zeigt, dass Richter bei fast zwei Dutzend Fällen aus den Jahren 2018 und 2019 Foltervorwürfe ignorierten und auf Grundlage von Geständnissen ohne weitere Beweise Schuldsprüche erließen. Einige dieser Foltervorwürfe waren durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet. Die Berufungsgerichte sprachen die Angeklagten in jedem dieser Fälle frei (HRW 14.1.2020). Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz übergeben, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (AA 12.1.2019).

Trotz der Zusage des damaligen Premierministers Haidar Abadi im September 2017, den Vorwürfen von Folter und außergerichtlichen Tötungen nachzugehen, haben die Behörden im Jahr 2019 keine Schritte unternommen, um diese Missstände zu untersuchen (HRW 14.1.2020).

Quellen:

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5.1        Folter und unmenschliche Behandlung in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Missbräuchliche Verhöre sollen unter bestimmten Bedingungen in einigen Haftanstalten der internen Sicherheitseinheit der Kurdischen Region im Irak (KRI), der Asayish, und der Geheimdienste der großen politischen Parteien, der Parastin der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und der Zanyari der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) stattfinden (USDOS 11.3.2020). Berichten zufolge kommt es in Gefängnissen der Asayish in der KRI zur Anwendung von Folterpraktiken gegen Terrorverdächtige (AA 12.1.2019).

Es gibt Berichte, dass Sicherheitskräfte der KRI verschiedene Formen des Missbrauchs, einschließlich Schlägen anwenden, auch gegen Jugendliche und Frauen mit IS-Verbindungen (USDOS 11.3.2020). Einige in der KRI inhaftierte Minderjährige sagten aus, dass Richter die von ihnen vorgebrachten Vorwürfe von durch Folter gewonnenen Geständnissen ignoriert hätten (HRW 6.3.2019).

Quellen:

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6            Korruption

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Staatsdiener vor, aber die Regierung setzt das Gesetz nicht immer wirksam um. Im Laufe des Jahres 2018 gab es zahlreiche Berichte über staatliche Korruption. Beamte waren häufig ungestraft in korrupte Praktiken verstrickt. Die Untersuchung von Korruption ist nicht frei von politischer Einflussnahme. Erwägungen hinsichtlich Familienzugehörigkeit, Stammeszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit beeinflussen Regierungsentscheidungen auf allen Ebenen maßgeblich. Bestechung, Geldwäsche, Vetternwirtschaft und Veruntreuung öffentlicher Gelder sind üblich. Obwohl Antikorruptionsinstitutionen zunehmend mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, ist die Wirkung der erweiterten Zusammenarbeit begrenzt. Medien und NGOs versuchen Korruption unabhängig aufzudecken, obwohl ihre Möglichkeiten begrenzt sind. Antikorruptions-, Strafverfolgungs- und Justizbeamte sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft und der Medien werden wegen ihrer Bemühungen zur Bekämpfung korrupter Praktiken bedroht und eingeschüchtert (USDOS 11.3.2020). Korruption war einer der Auslöser für die Massenproteste am 1.10.2019 im Süd- und Zentralirak, inklusive Bagdad (UNAMI 10.2019).

Auf dem Corruption Perceptions Index 2020 von Transparency International wird der Irak mit 20 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 3.2020).

Quellen:

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7            NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung: 17.3.2020

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) müssen sich registrieren (FH 4.3.2020). Mit Stand September 2019 waren laut der irakischen Bundesdirektion für Nichtregierungsorganisationen 4.365 NGOs registriert (USDOS 11.3.2020). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) betrug die Zahl registrierter NGOs 4.300 im Jahr 2018 (USDOS 13.3.2019). In der KRI sind die Registrierungen jährlich zu erneuern (FH 4.3.2020).

Seit 2010 gibt es ein Gesetz zu NGOs, das die Beschränkungen der Auslandsfinanzierung von NGOs lockert, die Ablehnung von Registrierungsanträgen einschränkt, strafrechtliche Sanktionen beseitigt, unbegründete Überprüfungen und Inspektionen untersagt, sowie gerichtliche Kontrollen über die Suspendierung von NGOs schafft (ICNL 26.6.2019). NGOs, die nur in Bagdad registriert waren, konnten nicht in der KRI tätig werden, und vice versa (USDOS 11.3.2020).

Im gesamten Irak existierten allein im Bereich Menschenrechte zuletzt etwa 368 registrierte NGOs. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, unterliegen in ihrer Registrierung keinen besonderen Einschränkungen. Die schwierige Sicherheitslage und weiter bestehende regulatorische Hindernisse erschweren dennoch die Arbeit vieler NGOs. Sie unterliegen der Kontrolle durch die Behörde für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft. Zahlreiche NGOs berichten von bürokratischen und intransparenten Registrierungsverfahren, willkürlichem Einfrieren von Bankkonten sowie unangekündigten und einschüchternden „Besuchen“ durch Vertreter des Ministeriums. Die Präsenz von ausländischen NGOs im Zentral- und Südirak ist nach wie vor gering. Dies gilt nicht für die KRI, wo viele ausländische NGOs tätig sind, die derzeit aber unter verschärften Kontrollen durch die Zentralregierung in ihrer Arbeit beeinträchtigt sind (AA 12.1.2019).

Nationale und internationale NGOs operieren in den meisten Fällen unter geringer staatlicher Einflussnahme, jedoch gibt es Berichte über staatliche Einmischung, wenn NGOs Menschenrechtsverletzungen von staatlichen Akteuren untersuchen. In Basra im Südirak wurden Berichten zufolge mehrere Menschenrechtsvertreter willkürlich festgenommen und gezwungen Dokumente ihnen unbekannten Inhalts zu unterzeichnen, bevor sie wieder freigelassen wurden(USDOS 11.3.2020). Ende 2019 gibt es im Zuge der Protestbewegung auch Berichte über Entführungen und Ermordnungen von regierungskritischen Aktivisten (FH 4.3.2020). Die KRI verfügt über eine aktive Gemeinschaft von meist kurdischen NGOs, viele mit engen Beziehungen zu den politischen Parteien PUK und KDP (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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8            Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft (AA 12.1.2019).

Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).

Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Es wird berichtet, dass tausende Männer und Buben, die aus Gebieten unter IS-Herrschaft geflohen sind, von zentral-irakischen und kurdischen Kräften willkürlich verhaftet wurden und nach wie vor als vermisst gelten. Sicherheitskräfte einschließlich PMFs haben Personen mit angeblichen IS-Beziehungen auch in Lagern inhaftiert und gewaltsam verschwinden lassen (AI 26.2.2019).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 11.3.2020).

Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet (HRW 31.1.2020).

Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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8.1        Allgemeine Menschenrechtslage in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Es gibt zwar eine unabhängige kurdische Menschenrechtskommission, sie beschränkt sich aber eher auf die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und kann selten eine volle Aufklärung oder gar Ahndung gewährleisten (AA 12.1.2019). Der „Hohe Ausschuss für die Bewertung und Reaktion auf internationale Berichte“ überprüfte in der Kurdischen Region im Irak (KRI) Anschuldigungen von Misshandlungen durch die Peshmerga, insbesondere gegen IDPs, und entschuldigte sie in öffentlichen Berichten und Kommentaren (USDOS 13.3.2019). Es besteht quasi Straffreiheit für Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte, einschließlich der Peshmerga und der PMF (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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9            Meinungs- und Pressefreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit, solange diese nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt (AA 12.1.2019), Unterstützung für die verbotene Ba‘ath-Partei ausdrückt oder die gewaltsame Änderung der Grenzen des Landes befürwortet. Einzelpersonen und Medien betreiben jedoch Selbstzensur aufgrund der begründeten Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionellen Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden. Kontrolle und Zensur der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung behindern manchmal den Medienbetrieb, was mitunter die Schließung von Medien, Einschränkungen der Berichterstattung und Behinderung von Internetdiensten zur Folge hat. Einzelpersonen können die Regierung öffentlich oder privat kritisieren, jedoch nicht ohne Angst vor Vergeltung (USDOS 11.3.2020).

Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen (AA 12.1.2019). Die meisten der mehreren hundert Printmedien, die im Irak täglich oder wöchentlich erscheinen, sowie dutzende Radio- und Fernsehsender, werden von politischen Parteien stark beeinflusst oder vollständig kontrolliert (USDOS 11.3.2020). Es gibt nur wenige politisch unabhängige Nachrichtenquellen. Journalisten, die sich nicht selbst zensieren, können mit rechtlichen Konsequenzen oder gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen rechnen (FH 4.2.2018).

Einige Medienorganisationen berichteten über Verhaftungen von und Schikanen gegenüber Journalisten sowie darüber, dass die Regierung sie davon abhielt, politisch heikle Themen zu behandeln, darunter Sicherheitsfragen, Korruption und das Unvermögen der Regierung öffentliche Dienstleistungen sicherzustellen (USDOS 11.3.2020). Das „Gesetz zum Schutz von Journalisten“ von 2011 hält unter anderem mehrere Kategorien des Straftatbestands der Verleumdung aufrecht, die in ihrem Strafmaß zum Teil unverhältnismäßig hoch sind. Klagen gegen das Gesetz sind anhängig (AA 12.1.2019).

Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen ist der Irak für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt (AA 12.1.2019). Auf ihrem Index für Pressefreiheit kommt der Irak im Jahr 2019 auf Platz 156 von 180 (RSF 2020).

Journalisten sind häufig Opfer von bewaffneten Angriffen, Verhaftungen oder Einschüchterungen durch regierungsnahe Milizen und Sicherheitskräfte in allen Teilen des Landes. Morde an Journalisten bleiben ungestraft (RSF 2020). So wurden etwa auch im Zuge der am 1.10.2019 begonnenen Massenproteste im Südirak und Bagdad Journalisten durch willkürliche Verhaftungen, Belästigungen, Drohungen und die widerrechtliche Beschlagnahme von Equipment daran gehindert über die Demonstrationen zu berichten (UNAMI 10.2019; vergleiche USDOS 11.3.2020). Neun Journalisten gelten seit 2014 nach wie vor als vermisst. Zwei Journalisten wurden 2019 getötet (CPJ 2020). Zwei Journalisten, die in Basra über die Proteste berichteten, wurden am 10.1.2020 erschossen (CPJ 10.1.2020). Seit Mitte Oktober verließen die meisten internationalen Medien und viele lokale Journalisten Bagdad in Richtung Erbil und andere Oerte in der Kurdischen Region im Irak (KRI), nachdem berichtet wurde, dass die Sicherheitskräfte eine Liste von Journalisten und Aktivisten in Umlauf brachten, die verhaftet und eingeschüchtert werden sollten (USDOS 11.3.2020).

Das Land nimmt im Straflosigkeitsindex (Zeitraum 2007-2016) des „Committee to Protect Journalists“ zudem den weltweit drittletzten Platz in Bezug auf die Aufklärung von Morden an Journalisten ein. Demnach wurden in den letzten zehn Jahren 25 Morde an Journalisten nicht aufgeklärt (AA 12.1.2019).

Auch Lehrer sind im Irak seit langem mit der Gefahr von Gewalt oder anderen Auswirkungen konfrontiert, wenn sie Themen unterrichten oder besprechen, die mächtige staatliche oder nicht staatliche Akteure für verwerflich halten. Politischer Aktivismus von Universitätsstudenten kann zu Schikane oder Einschüchterung führen (FH 4.3.2020). Sozialer, religiöser und politischer Druck schränken die Entscheidungsfreiheit in akademischen und kulturellen Angelegenheiten ein. In allen Regionen des Landes versuchen verschiedene Gruppen die Ausübung der formalen Bildung und die Vergabe von akademischen Positionen zu kontrollieren (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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9.1        Internet und soziale Medien

Letzte Änderung: 17.3.2020

Es gibt offene staatliche Einschränkungen beim Zugang zum Internet und Berichte (jedoch kein offizielles Eingeständnis), dass die Regierung E-Mail- und Internetkommunikation ohne entsprechende rechtliche Befugnisse überwacht (USDOS 11.3.2020).

Es gibt Fälle von Vergeltungsmaßnahmen aufgrund von Aussagen bzw. Beiträgen in sozialen Medien (FH 4.3.2020). Trotz Einschränkungen nutzen politische Persönlichkeiten und Aktivisten das Internet, um korrupte und ineffektive Politiker zu kritisieren, Demonstranten zu mobilisieren und sich über soziale Medien für Kandidaten zu engagieren bzw. Wahlkampf zu betreiben (USDOS 11.3.2020).

Die Regierung räumt ein in manchen Gebieten den Internetzugang beschränkt zu haben, angeblich aufgrund von Sicherheitsfragen, wie der Nutzung von Social Media Plattformen durch den IS (USDOS 11.3.2020). Während Großereignissen wird regelmäßig das Internet für einige Stunden gesperrt (AA 12.1.2019).

Im Zuge der am 1.10.2019 begonnen Massenproteste hat die Regierung wiederholt das Internet gedrosselt, um zu verhindern, dass Fotos und Videos der Proteste hochgeladen und ausgetauscht werden (HRW 14.1.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020), und blockierte Messaging-Apps. Einige Iraker wurden verhaftet, weil sie mit Facebook-Nachrichten ihre Unterstützung für die Proteste zum Ausdruck gebracht hatten (HRW 14.1.2020).

Quellen:

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9.2        Meinungs- und Pressefreiheit in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Politische Meinungsäußerung kann in der Kurdischen Region im Irak (KRI) auch willkürliche Verhaftung oder andere Repressalien von staatlicher Seite auslösen. Laut Medienbeobachtern wurden 2019 über 200 Fälle von Drohungen, Schikanen und rechtlichen Schritten gegen Journalisten, die in der KRI tätig sind, bekannt (FH 4.3.2020). Es gibt zahlreiche Berichte über Verletzungen der Pressefreiheit in der KRI, rechtswidrige Inhaftierung sowie die Einschüchterung durch körperliche Gewalt und Folter. In manchen Fällen trugen die Angreifer Militär- oder Polizeiuniformen. Einige Gerichte in der KRI wandten bei Klagen gegen Journalisten das strengere irakische Strafgesetzbuch an, anstatt das kurdische Journalismusgesetz anzuwenden, das einen größeren Schutz der Meinungsfreiheit bietet (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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10          Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

10.1      Versammlungsfreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung sieht das Recht auf Versammlung und friedliche Demonstration „nach den Regeln des Gesetzes“ vor (USDOS 11.3.2020; vergleiche FH 4.3.2020). Entsprechend einfach gesetzlichen Bestimmungen fehlen jedoch. Im Alltag wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch das seit dem 7.11.2004 geltende „Gesetz zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit“ eingeschränkt, das u.a. die Verhängung eines bis zu 60-tägigen Ausnahmezustands ermöglicht (AA 12.1.2019).

Die gesetzlichen Regelungen schreiben vor, dass die Veranstalter sieben Tage vor einer Demonstration um Genehmigung ansuchen und detaillierte Informationen über Veranstalter, Grund des Protests und Teilnehmer einreichen müssen. Die Vorschriften verbieten jegliche Slogans, Schilder, Druckschriften oder Zeichnungen, die Konfessionalismus, Rassismus oder die Segregation der Bürger zum Inhalt haben. Die Vorschriften verbieten auch alles, was gegen die Verfassung oder gegen das Gesetz verstößt; alles, was zu Gewalt, Hass oder Mord ermutigt; und alles, was eine Beleidigung des Islam, der Ehre, der Moral, der Religion, heiliger Gruppen oder irakischer Einrichtungen im Allgemeinen darstellt. Die Behörden erteilen Genehmigungen in der Regel in Übereinstimmung mit diesen Vorschriften (USDOS 11.3.2020).

Demonstranten sind häufig der Gefahr von Gewalt oder Verhaftung ausgesetzt (FH 4.3.2020). Als die Demonstrationen ab Oktober 2019 eskalierten, versäumten es die Behörden, die Demonstranten vor Gewalt zu schützen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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10.1.1  Protestbewegung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit 2014 gibt es eine Protestbewegung, in der zumeist junge Leute in Scharen auf die Straße strömen, um bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus zu fordern (WZ 9.10.2018).

So kam es bereits 2018 im Südirak zu weitreichenden Protesten in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Ebenso kam es im Jahr 2019 zu Protesten, wobei pro-iranische Volksmobilisierungskräfte (PMF) beschuldigt wurden, sich an der Unterdrückung der Proteste beteiligt und Demonstranten sowie Menschenrechtsaktivisten angegriffen zu haben (Diyaruna 7.8.2019; vergleiche Al Jazeera 25.10.2019).

Seit dem 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiya, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vergleiche Joel Wing 3.10.2019). Die Proteste richten sich gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte Strom- und Wasserversorgung (Al Mada 2.10.2019; vergleiche BBC 4.10.2019), aber auch gegen den iranischen Einfluss auf den Irak (ISW 22.10.2019). Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des ethnisch-konfessionellen Systems (muhasasa) zur Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019).

Im Zusammenhang mit diesen Demonstrationen wurden mehrere Regierungsgebäude sowie Sitze von Milizen und Parteien in Brand gesetzt (Al Mada 2.10.2019). Im Zuge der Proteste kam es in mehreren Gouvernements von Seiten anti-iranischer Demonstranten zu Brandanschlägen auf Stützpunkte pro-iranischer PMF-Fraktionen und Parteien, wie der Asa‘ib Ahl al-Haq, der Badr-Organisation, der Harakat al-Abdal, Da‘wa und Hikma (Carnegie 14.11.2019; vergleiche ICG 10.10.2019), sowie zu Angriffen auf die iranischen Konsulate in Kerbala (RFE/RL 4.11.2019) und Najaf (RFE/RL 1.12.2019).

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) gingen unter anderem mit scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Außerdem gibt es Berichte über nicht identifizierte Scharfschützen, die sowohl Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen (ISW 22.10.2019). Premierminister Mahdi kündigte eine Aufklärung der gezielten Tötungen an (Rudaw 13.10.2019). Zeitweiig riefen die Behörden im Oktober und November 2019 Ausgangssperren aus (AI 18.2.2020; vergleiche Al Jazeera 5.10.2019; ISW 22.10.2019; Rudaw 13.10.2019) und implementierten zeitweilige Internetblockaden (UNAMI 10.2019; vergleiche AI 18.2.2020; USDOS 11.3.2020).

Die irakische Menschenrechtskommission berichtete Ende Dezember 2019, dass seit Beginn der Proteste am 1.10.2019 mindestens 490 Demonstranten getötet wurden (AAA 28.12.2019; vergleiche RFE/RL 6.2.2020), darunter 33 Aktivisten, die gezielt getötet wurden. Mehr als 22.000 Menschen wurden verletzt. 56 Demonstranten gelten nach berichteten Entführungen als vermisst, während zwölf weitere wieder freigelassen wurden (AAA 28.12.2019). Mitte Jänner 2020 berichtet Amnesty International von 600 Toten Demonstranten seit Beginn der Proteste (AI 23.1.2020).

Quellen:

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10.2      Vereinigungsfreiheit / Opposition

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Verfassung garantiert, mit einigen Ausnahmen, das Recht auf Gründung von und Mitgliedschaft in Vereinen und politischen Parteien. Die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen. Ausnahmen betreffen das gesetzliche Verbot von Gruppen, die Unterstützung für die Ba‘ath-Partei oder für zionistische Prinzipien bekunden (USDOS 11.3.2020). Belastbare Erkenntnisse über die gezielte Unterdrückung der politischen Opposition durch staatliche Organe liegen nicht vor. Politische Aktivisten berichten jedoch von Einschüchterungen und Gewalt durch staatliche, nichtstaatliche oder paramilitärische Akteure, die abschrecken sollen, neue politische Bewegungen zu etablieren und die freie Meinungsäußerung teils massiv einschränken (AA 12.1.2019).

Die Arbeitsgesetze garantieren Arbeitsnehmern das Recht auf die Bildung von Gewerkschaften, von Tarifverhandlungen und auf das Abhalten von Streiks, schützen sie aber nicht vor gewerkschaftsfeindlicher Diskriminierung bis hin zu Entlassungen (FH 4.3.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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10.3      Vereinigungsfreiheit / Opposition in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

In der Kurdischen Region im Irak (KRI) ist im Raum Erbil und Dohuk eine Oppositionsbewegung kaum existent. Die Kurdische Demokratische Partei (KDP) gilt in weiten Teilen als alternativlos. In der Region um Sulaymaniyah und Halabja haben sich in den vergangenen Jahren auch Gruppen von der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) abgewandt (AA 12.1.2019).

In den KDP-Gebieten finden kaum Demonstrationen statt, da sie meist bereits im Keim erstickt werden. In den PUK-Gebieten, v.a. in der Stadt Sulaymaniyah, sind Demonstrationen (beispielsweise gegen Gehaltskürzungen) hingegen keine Seltenheit (AA 12.1.2019).

Im Dezember 2017 wurden fünf Demonstranten bei Protesten in Sulaymaniyah durch die Polizei getötet (France24 22.2.2020). Während Beamtenprotesten im März 2018 wegen unbezahlter Löhne haben Sicherheitskräfte willkürlich Dutzende von Demonstranten und Journalisten festgenommen. Einige Demonstranten berichteten über Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte (HRW 17.1.2019; vergleiche AI 26.2.2019; FH 4.3.2020). Die verhafteten Demonstranten wurden wegen Anstiftung zur Gewalt angeklagt und dann vor Gericht gestellt (AI 26.2.2019).

Quellen:

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11          Haftbedingungen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die Haftbedingungen entsprechen nicht dem internationalen Mindeststandard, wobei die Situation in den Haftanstalten erheblich variiert (AA 12.1.2019). In einigen Gefängnissen und Haftanstalten sind die Bedingungen aufgrund von Überbelegung oft hart (FH 4.3.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020). Misshandlung und unzureichender Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung lassen die Bedingungen auch lebensbedrohlich werden. In staatlichen Haftanstalten und Gefängnissen fehlt es zuweilen an ausreichender Nahrung und Wasser. Einige Haftanstalten verfügen über keine eigene Apotheke oder Krankenstation. Existierende Apotheken sind oft unterversorgt. Die Überbelegung der staatlichen Gefängnisse stellt ein systemisches Problem dar, das durch die Zunahme der Zahl der festgenommenen mutmaßlichen IS-Mitglieder, noch verschärft wird. Es gibt keine Unterkünfte für Häftlinge mit Behinderungen. Eine vom Innenministerium angekündigte Initiative zur Errichtung solcher Einrichtungen wurde noch nicht vollständig umgesetzt. Häftlinge, die des Terrorismus beschuldigt werden, werden vom Rest der Gefangenen isoliert und bleiben häufiger in Gewahrsam des Innen- bzw. Verteidigungsministeriums (USDOS 11.3.2020). Behörden der Zentralregierung und der Kurdischen Region im Irak (KRI) betreiben weiterhin auch geheime Haftanstalten (AI 26.2.2019). Es gibt Berichte über gewaltsames Verschwindenlassen von Häftlingen, besonders von mutmaßlichen IS-Kämpfern (FH 4.3.2020; vergleiche AI 26.2.2019).

Es fehlt an Jugendstrafanstalten; laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz werden jugendliche Häftlinge mittlerweile meist getrennt von erwachsenen Straftätern inhaftiert, ihnen wird aber oft der regelmäßige Kontakt zu ihren Familien verwehrt (AA 12.1.2019). In manchen Fällen werden Minderjährige gemeinsam mit Erwachsenen inhaftiert, ohne Zugang zu Bildung, Rehabilitation (HRW 6.3.2019).

Die UN-Mission für den Irak (UNAMI) konnte ihr Mandat zum Besuch irakischer Haftanstalten nicht umfassend wahrnehmen. Die irakischen Behörden verweigerten in mehreren Fällen den Zugang zu Haftanstalten. Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) hat hingegen regelmäßigen und flächendeckenden Zugang (AA 12.1.2019).

Die Behörden halten IS-Verdächtige unter überfüllten und in einigen Fällen unmenschlichen Bedingungen fest (HRW 14.1.2020). Der nationale Sicherheitsdienst (National Security Service, NSS), ein dem Premierminister unterstellter Geheimdienst, hat im Juli 2018 erstmals eingestanden Personen über einen längeren Zeitraum festzuhalten, beispielsweise in al-Shurta, im Osten Mossuls. Dies geschieht laut NSS mit der Zustimmung des Hohen Justizrates in Ninewa (HRW 22.7.2018).

Auch in Frauengefängnissen gibt es Überbelegung, und es fehlten oft ausreichende Kinderbetreuungseinrichtungen für die Kinder der Gefangenen, die nach dem Gesetz bis zum Alter von vier Jahren bei ihren Müttern bleiben dürfen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

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11.1      Haftbedingungen in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

Letzte Änderung: 17.3.2020

In den Haftanstalten der Kurdischen Region im Irak (KRI) herrschen etwas bessere Bedingungen, insbesondere in der neugebauten Modellanstalt Dohuk (AA 12.1.2019). Die in der Besserungsanstalt für Frauen und Kinder in Erbil inhaftierten Kinder berichten über bessere Bedingungen, darunter gutes Essen und die Trennung von erwachsenen Häftlingen (HRW 6.3.2019). Die Bedingungen in vielen kleineren Haftanstalten des Innenministeriums der KRI sind jedoch weiterhin schlecht. In einigen Haftanstalten der Asayish und der Polizei halten KRI-Behörden gelegentlich Jugendliche in denselben Zellen wie Erwachsene fest (USDOS 11.3.2020).

Die Bedingungen für Minderjährige, denen Verbindungen zum IS nachgesagt werden, sind schwierig. Ihnen wird der Zugang zu Bildung und zu ihren Familien während der Dauer der Untersuchungshaft verwehrt. Einige berichten über körperliche Misshandlung durch Wachen (HRW 6.3.2019).

In Gefängnissen der Asayish in der KRI werden Folterpraktiken gegen Terrorverdächtige angewendet. Die Haftbedingungen sind insgesamt sehr schlecht. Allerdings sind Bemühungen der kurdischen Regionalregierung erkennbar, die Haftbedingungen zu verbessern, systematische Folter abzustellen und internationale Standards einzuhalten. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat Zugang zu den Gefängnissen in der KRI (AA 12.1.2019).

Quellen:

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12          Todesstrafe

Letzte Änderung: 17.3.2020

Im irakischen Strafrecht ist die Todesstrafe vorgesehen, sie wird auch verhängt und vollstreckt. Der Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen (AA 12.1.2019; vergleiche HRC 5.6.2018; HRW 14.1.2020). Problematisch sind die Bandbreite und die mitunter fehlende rechtliche Klarheit der Straftatbestände, für die die Todesstrafe verhängt werden kann: neben Mord und Totschlag unter anderem auch wegen des Verdachts auf staatsfeindliche Aktivitäten, Vergewaltigung, Einsatz von chemischen Waffen und insbesondere wegen terroristischer Aktivitäten unterschiedlicher Art (AA 12.1.2019). So beinhalten beispielsweise die irakischen Anti-Terrorismus-Gesetze die Vollstreckung der Todesstrafe auch für ein breites Spektrum an Handlungen, die nicht als schwere Verbrechen, wie Mord, definiert sind (FP 31.1.2020). Die Todesstrafe stößt in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz (AA 12.1.2019).

Aktuelle Daten liegen nicht vor, da die irakische Regierung die Zahlen nicht mehr regelmäßig an die Vereinten Nationen berichtet und, auch auf Nachfrage keine verlässlichen Angaben macht. Soweit UNAMI bekannt, wurden 2018 112 Personen zum Tode verurteilt, 36 Todesurteile wurden vollzogen. UNAMI schätzt jedoch, dass tatsächliche Zahlen deutlich darüber liegen (AA 12.1.2019). Amnesty International zufolge wurden 2018 271 Todesurteile ausgesprochen und 52 Hinrichtungen vollzogen (AI 10.4.2019). Zwischen Jänner und August 2019 wurden Angaben des irakischen Justizministeriums zufolge über 100 Personen hingerichtet. 8.022 Gefangene saßen im August 2019 in der Todeszelle (HRW 14.1.2020). Aktuell werden insbesondere ehemalige IS-Kämpfer – oder Personen, die dessen beschuldigt werden – in großer Zahl in unzulänglichen Prozessen zu lebenslanger Haft oder zum Tode verurteilt (AA 12.1.2019). Über zwei Dutzend Frauen wurden wegen der wahrgenommenen IS-Mitgliedschaft eines männlichen Angehörigen, meist des Ehemanns, zum Tode verurteilt (AI 26.2.2019).

Das irakische Strafgesetzbuch verbietet das Verhängen der Todesstrafe gegen jugendliche Straftäter, d.h. Minderjährige und Personen im Alter von 18 bis 21 Jahren zum Zeitpunkt der Begehung der mutmaßlichen Straftat (HRC 5.6.2018; vergleiche HRW 14.1.2020), sowie gegen schwangere Frauen und Frauen bis zu vier Monaten nach einer Geburt. In diesem Fall wird die Todesstrafe in eine lebenslange Haft umgewandelt (HRC 5.6.2018).

Quellen:

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12.1      Todesstrafe in der Kurdischen Region im Irak (KRI)

In der Kurdischen Region im Irak (KRI) wurde die Todesstrafe im Jahr 2008 in einem De-facto-Moratorium ausgesetzt (HRC 5.6.2018; vergleiche HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019), außer für wesentliche Fälle, wie zur Bekämpfung des Terrorismus (HRW 14.1.2020; vergleiche AA 12.1.2019). In den Jahren 2015 und 2016 wurde dieses Moratorium zweimal gebrochen, wobei drei (HRC 5.6.2018), bzw. vier (AA 12.1.2019) Hinrichtungen vorgenommen wurden (HRC 5.6.2018). Anfang 2018 saßen über 200 zum Tode verurteilte Personen in kurdischen Gefängnissen (AA 12.1.2019).

Quellen:

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13          Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Aufgrund der komplexen Verflechtung religiöser und ethnischer Identitäten ist eine strikte Unterscheidung zwischen rein religiösen Minderheiten und rein ethnischen Minderheiten im Irak oft nur schwer möglich. Um eine willkürliche Trennung zu vermeiden, werden alle Minderheiten, einschließlich derer, bei denen das religiöse Element überwiegt, im Abschnitt 15 (Minderheiten) behandelt.

Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 12.1.2019). Es darf kein Gesetz erlassen werden, das den „erwiesenen Bestimmungen des Islams“ widerspricht. In Absatz 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen oder Atheisten (RoI 15.10.2005; vergleiche USDOS 21.6.2019).

Artikel 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 12.1.2019; vergleiche ROI 15.10.2005). Artikel 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten (AA 12.1.2019; vergleiche ROI 15.10.2005).

Die folgenden religiösen Gruppen werden durch das Personenstandsgesetz anerkannt: Muslime, chaldäische Christen, assyrische Christen, assyrisch-katholische Christen, syrisch-orthodoxe Christen, syrisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, armenisch-katholische Christen, römisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen, lateinisch-dominikanische Christen, nationale Protestanten, Anglikaner, evangelisch-protestantische Assyrer, Adventisten, koptisch-orthodoxe Christen, Jesiden, Sabäer-Mandäer und Juden. Die staatliche Anerkennung ermöglicht es den Gruppen, Rechtsvertreter zu bestellen und Rechtsgeschäfte wie den Kauf und Verkauf von Immobilien durchzuführen. Alle anerkannten religiösen Gruppen haben ihre eigenen Personenstandsgerichte, die für die Behandlung von Ehe-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen zuständig sind. Laut der Regierung gibt es jedoch kein Personenstandsgericht für Jesiden (USDOS 21.6.2019).

Das Gesetz verbietet die Ausübung des Bahai-Glaubens und der wahhabitischen Strömung des sunnitischen Islams (USDOS 21.6.2019; vergleiche UNHCR 5.2019).

Die alten irakischen Personalausweise enthielten Informationen zur Religionszugehörigkeit einer Person, was von Menschenrechtsorganisationen als Sicherheitsrisiko im aktuell herrschenden Klima religiös-konfessioneller Gewalt kritisiert wurde. Mit Einführung des neuen Personalausweises wurde dieser Eintrag zeitweise abgeschafft. Mit Verabschiedung eines Gesetzes zum neuen Personalausweis im November 2015 wurde allerdings auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen (AA 12.1.2019). Die Religionen, die auf dem Antrag für den nationalen Personalausweis angegeben werden können, sind christlich, sabäisch-mandäisch, jesidisch, jüdisch und muslimisch. Dabei wird zwischen den verschiedenen Konfessionen des Islams (Shi‘a-Sunni) bzw. den unterschiedlichen Denominationen des Christentums nicht unterschieden. Personen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, können nur dann einen Ausweis erhalten, wenn sie sich selbst als Muslim, Jeside, Sabäer-Mandäer, Jude oder Christ deklarieren (USDOS 21.6.2019) Artikel 26 besagt, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden (AA 12.1.2019). Es wird berichtet, dass das Gesetz faktisch zu Zwangskonvertierungen führt, indem Kinder mit nur einem muslimischen Elternteil als Muslime angeführt werden müssen. Christen, die formell als Muslims registriert sind, aber den christlichen oder einen anderen Glauben praktizieren, berichten auch, dass sie gezwungen sind, ihr Kind als Muslim zu registrieren oder das Kind undokumentiert zu lassen, was die Berechtigung auf staatliche Leistungen beeinträchtigt (USDOS 21.6.2019; vergleiche USCIRF 4.2019).

Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im irakischen Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Mandäer-Sabäer, Schabak und Faili Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und assyrische Christen sowie einen für Armenier vor (AA 12.1.2019)

Institutionelle und gesellschaftliche Einschränkungen der Religionsfreiheit sowie Gewalt gegen Minderheitengruppen sind nach Ansicht von Religionsführern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auf Religionsfreiheit konzentrieren, nach wie vor weit verbreitet. Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Diskriminierung von Minderheiten durch Regierungstruppen, insbesondere durch manche PMF-Gruppen, und andere Milizen, sowie das Vorgehen verbliebener aktiver IS-Kämpfer, hat ethnisch-konfessionelle Spannungen in den umstrittenen Gebieten weiter verschärft. Es kommt weiterhin zu Vertreibungen wegen vermeintlicher IS- Zugehörigkeit. Kurden und Turkmenen in Kirkuk, sowie Christen und andere Minderheiten im Westen Ninewas und in der Ninewa-Ebene berichten über willkürliche und unrechtmäßige Verhaftungen durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) (USDOS 11.3.2020).

Da Religion, Politik und Ethnizität oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, viele Vorfälle als ausschließlich auf religiöser Identität beruhend zu kategorisieren (USDOS 11.3.2020).

Vertreter religiöser Minderheiten berichten, dass die Zentralregierung im Allgemeinen nicht in religiöse Handlungen eingreift und sogar für die Sicherheit von Gotteshäusern und anderen religiösen Stätten, einschließlich Kirchen, Moscheen, Schreinen, religiösen Pilgerstätten und Pilgerrouten, sorgt. Manche Minderheitenvertreter berichten jedoch über Schikane und Restriktionen durch lokale Behörden (USDOS 21.6.2019).

Vertreter religiöser Minderheiten berichten weiterhin über Druck auf ihre Gemeinschaften Landrechte abzugeben, wenn sie sich nicht stärker an islamische Gebote halten (USDOS 21.6.2019).

Die Kurdische Region im Irak (KRI) war für viele religiöse und ethnische Minderheiten im Nordirak ein wichtiger Zufluchtsort, während der Phase der konfessionellen Gewalt nach 2003 und während der IS-Krise (USCIRF4.2019). Einige jesidische und christliche Führer berichten über Schikanen und Misshandlungen durch Peshmerga und Asayesh im von der kurdischen Regionalregierung (KRG) kontrollierten Teil von Ninewa, jedoch sagen einige dieser Führer, dass die Mehrheit dieser Fälle eher politisch als religiös motiviert seien (USDOS 21.6.2019).

[Anm.: Weiterführende Informationen zur Situation einzelner religiöser Minderheiten können dem Kapitel 15 Minderheiten entnommen werden.]

Quellen:

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13.1      Atheismus, Agnostizismus, Kritik an konfessioneller Politik

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das irakische Strafgesetzbuch enthält keine Artikel, die eine direkte Bestrafung für Atheismus vorsehen. Es gibt auch keine speziellen Gesetze, die Strafen für Atheisten vorsehen. (Al-Monitor 1.4.2018). Atheismus ist im Irak zwar nicht illegal (NBC 5.4.2019), aber die irakische Verfassung garantiert Atheisten nicht die freie Glaubensausübung (USDOS 21.6.2019; vergleiche EASO 3.2019).

Staatliche Akteure setzen Atheismus typischerweise mit Blasphemie gleich (UKHO 10.2019). Atheisten wurden Berichten zufolge wegen „Schändung von Religionen“ und damit zusammenhängenden Anklagen verfolgt (UNHCR 5.2019; vergleiche Al Monitor 1.4.2018). Im März 2018 wurden in Dhi Qar Haftbefehle gegen vier Iraker aufgrund von Atheismus-Vorwürfen erlassen. Einer wurde verhaftet, während die übrigen drei geflohen sind (Al-Monitor 1.4.2018; vergleiche USCIRF 4.2019). Ende 2018 wurde ein atheistischer Buchhändler im südirakischen Gouvernement Nasriyah verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen Atheismus verbreiten zu wollen (AW 20.7.2019; vergleiche NBC 5.4.2019).

Atheisten im Irak sind eine wachsende Minderheit (AW 20.7.2019). Berichten zufolge gibt es auch eine kleine, wachsende Bewegung von Agnostikern im Irak (NBC 5.4.2019).

Offener Atheismus ist im Irak äußerst selten, da die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Atheisten sehr begrenzt ist, wie die öffentliche Rhetorik einiger Politiker und religiöser Führer zeigt. Atheisten halten ihre Ansichten oft geheim, aus Furcht vor Diskriminierung und Gewalt durch die eigene Familie, Milizen oder auch religiös-konservative Gruppen (UKHO 10.2019). Milizen sollen Mittel haben, um die Personen hinter Social Media-Einträgen ausfindig zu machen. Angeblich werden Atheisten ins Visier genommen (NBC 5.4.2019).

Personen, die gegen die strenge Auslegungen der islamischen Regeln in Bezug auf Kleidung, soziales Verhalten und Berufe verstoßen, einschließlich Atheisten und säkular gesinnte Personen, Frauen und Angehörige religiöser Minderheitsgruppen, sind Berichten zufolge mit Entführungen, Schikanen und körperlichen Angriffen durch verschiedene extremistische bewaffnete Gruppen und Milizen konfrontiert (UNHCR 5.2019).

Obwohl in der Bevölkerung verschiedene Grade der Religiosität vertreten sind, und ein Segment der Iraker eine säkulare Weltanschauung vertritt, ist es dennoch selten, dass sich jemand öffentlich zum Atheismus bekennt. Die meisten Atheisten verstecken ihre Identität und behaupten Muslime zu sein (EASO 3.2019).

Viele Geistliche, die islamischen politischen Parteien nahe stehen, haben missverständliche Vorstellungen zu dem Thema und bezeichnen z.B. oft den Säkularismus als Atheismus (Al-Monitor 1.4.2018).

An den Wahlen von 2018 nahm auch eine Reihe eher sekulärer Parteien teil (FH 4.3.2020).

Quellen:

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14          Minderheiten

Letzte Änderung: 17.3.2020

Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten faktisch unter weitreichender Diskriminierung und Existenzgefährdung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen (AA 12.1.2019). Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen erleiden in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen, häufig Diskriminierung oder Verfolgung, was viele dazu veranlasst, Sicherheit in anderen Stadtteilen oder Gouvernements zu suchen (FH 4.3.2020). Es gibt Berichte über rechtswidrige Verhaftungen, Erpressung und Entführung von Angehörigen von Minderheiten, wie Kurden, Turkmenen, Christen und anderen, durch PMF-Milizen, in den umstrittenen Gebieten, insbesondere im westlichen Ninewa und in der Ninewa-Ebene (USDOS 11.3.2020).

Die wichtigsten ethnisch-religiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60-65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17-22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak und die vor allem im Norden des Landes lebenden, überwiegend sunnitischen Kurden (15-20%) (AA 12.1.2019). Genaue demografische Aufschlüsselungen sind jedoch mangels aktueller Bevölkerungsstatistiken sowie aufgrund der politisch heiklen Natur des Themas nicht verfügbar (MRG 5.2018). Zahlenangaben zu einzelnen Gruppen variieren oft massiv (siehe unten).

Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Kurdischen Region im Irak (KRI), oft benachteiligt. Zudem ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen – eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht (AA 12.1.2019).

Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäer-Sabäern, Kaka‘i, Schabak und Christen. Aus dieser Zeit liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit von schiitischen Milizen zum Teil erheblich erschwert (AA 12.1.2019).

In der KRI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden (AA 12.1.2019; vergleiche KAS 8.2017). Mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutze der Minderheiten in der KRI durch das kurdische Regionalparlament im Jahr 2015 wurden die ethnischen und religiösen Minderheiten zumindest rechtlich mit der kurdisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt. Dennoch ist nicht immer gewährleistet, dass die bestehenden Minderheitsrechte auch tatsächlich umgesetzt werden (KAS 8.2017). Es gibt auch Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Jesiden, Schabak und Christen) durch KRI-Behörden in den sogenannten umstrittenen Gebieten (USDOS 13.3.2019). Darüber hinaus empfinden dort Angehörige von Minderheiten seit Oktober 2017 erneute Unsicherheit aufgrund der Präsenz der irakischen Streitkräfte und v.a. der schiitischen Milizen (AA 12.1.2019).

Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Gebieten aus IS-Hand wurden problematische Versuche einer ethnisch-konfessionellen Neuordnung unternommen, besonders in dem ethnisch-konfessionell sehr heterogenen Gouvernement Diyala (AA 12.1.2019). Im Gouvernement Ninewa wurden alle Distriktverwaltungen angeordnet, dem Bundesgesetz von 2017 folge zu leisten und den Familien von PMF-Märtyrern, die im Kampf gegen den IS gefallen sind (zumeist Schiiten), Land zuzuweisen. Diese Anordnung schloss auch Distrikte mit sunnitischer und nicht-muslimischer Mehrheit ein. Es kam zu Widerstand unter Verweis auf das in der Verfassung verankerte Verbot eines erzwungenen demografischen Wandels, insbesondere im mehrheitlich christlichen Distrikt Hamdaniya (USDOS 21.6.2019).

[Grafik gelöscht, Anm]

BMI (2016): Atlas - Middle East & North Africa: Religious Groups

[Grafik gelöscht, Anm]

BMI (2016): Atlas - Middle East & North Africa: Ethnic Groups

Anmerkung zu beiden Karten: Die religiös-konfessionelle sowie ethnisch-linguistische Zusammensetzung der irakischen Bevölkerung ist höchst heterogen. Die hier dargebotenen Karten zeigen nur die ungefähre Verteilung der Hauptsiedlungsgebiete religiös-konfessioneller bzw. ethnisch-linguistischer Gruppen und Minderheiten. Insbesondere in Städten kann die Verteilung deutlich von der ländlichen Umgebung abweichen (BMI 2016). Dazu muss hervorgehoben werden, dass ein und dieselbe Gruppe in einer Gegend die Minderheit, in einer anderen jedoch die Mehrheitsbevölkerung stellen kann und umgekehrt (Lattimer EASO 26.4.2017).

Die territoriale Niederlage des IS im Jahr 2017 beendete dessen Kampagne zur Umwälzung der religiösen Demografie des Landes. Viele Schiiten und religiöse Minderheiten, die vom IS vertrieben wurden, sind bis heute nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Rückkehr irakischer Streitkräfte in Gebiete, die seit 2014 von kurdischen Streitkräften gehalten wurden, führte Ende 2017 zu einer weiteren Runde demografischer Veränderungen, wobei manche kurdische Bewohner auszogen, und Araber zurückkehrten. In Gebieten, die von schiitischen Milizen befreit wurden, gab es wiederum Berichte von der Vertreibung sunnitischer Araber (FH 4.3.2020). Aufgrund der konfliktbedingten internen Vertreibungen und Rückkehrbewegungen hat sich seit 2014 die Demographie einiger Gebiete von mehrheitlich sunnitisch zu mehrheitlich schiitisch bzw. zu konfessionell gemischt entwickelt, insbesondere in den Gouvernements Bagdad, Basra und Diyala. Im Distrikt Khanaqin in Diyala ist die Anzahl der Orte mit einer sunnitischen Mehrheit von 81 auf 73 gesunken, jene mit einer kurdisch-sunnitischen Mehrheit von 20 auf 17. Im Gouvernement Babil sind vormals arabisch-sunnitisch-schiitische Mischstädte wie Jurf al-Sakhr und Musayab vollständig schiitisch geworden. In der KRI hat die Präsenz sunnitischer Araber zugenommen, sodass die Anzahl der Orte mit einer sunnitisch-arabischen Mehrheit seit 2014 von 2 auf 25 angewachsen ist (IOM 2019).

Ebenso wurde ein Rückgang von assyrischen Christen in vormals gemischt-konfessionellen Regionen im Gouvernement Ninewa verzeichnet, sowie von vormals ethnisch-konfessionell gemischten Orten in den Distrikten Mossul, Sinjar und Telfar, in denen die Zahl der kurdischen Sunniten, Jesiden und Schabak zurückging. Im Gouvernement Diyala sind turkmenisch-sunnitische Mischgebiete verschwunden, während sich die turkmenische Präsenz in der Region um Kirkuk verstärkt zu haben scheint (IOM 2019).

Quellen:

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14.1. Sunnitische Araber

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).

Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).

Quellen:

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15          Relevante Bevölkerungsgruppen

15.1      Frauen

Letzte Änderung: 17.3.2020

In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% im Parlament verankert (AA 12.1.2019). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) sind es 30% (AA 12.1.2019; vergleiche OHCHR 11.9.2019). Frauen sind jedoch auf Gemeinde- und Bundesebene, in Verwaltung und Regierung weiterhin unterrepräsentiert. Dabei stellt die Quote zwar sicher, dass Frauen zahlenmäßig vertreten sind, sie führt aber nicht dazu, dass Frauen einen wirklichen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse haben, bzw. dass das Interesse von Frauen auf der Tagesordnung der Politik steht (K4D 24.11.2017).

Frauen sind weit verbreiteter gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und werden unter mehreren Aspekten der Gesetzgebung ungleich behandelt (FH 4.3.2020). Zwar ist laut Artikel 14 und 20 der Verfassung jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Artikel 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht (AA 12.1.2019). Die Stellung der Frau hat sich jedenfalls im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert (AA 12.1.2019; vergleiche FIS 22.5.2018). Auch die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen (AA 12.1.2019). In der Praxis ist die Bewegungsfreiheit für Frauen auch stärker eingeschränkt als für Männer (FH 4.3.2020). So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen (FH 4.3.2020; vergleiche USDOS 11.3.2020), oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist (FH 4.3.2020).

Die geschätzte Erwerbsquote von Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17% (AA 12.1.2019; vergleiche Frontline 12.11.2019). Jene rund 85% der Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind (Frontine 12.11.2019). Die genauen Zahlen unterscheiden sich je nach Statistik und Erhebungsmethode (FIS 22.5.2018).

Frauen und Mädchen sind im Bildungssystem deutlich benachteiligt und haben noch immer einen schlechteren Bildungszugang als Buben und Männer. Im Alter von zwölf Jahren aufwärts sind Mädchen doppelt so stark von Analphabetismus betroffen wie Buben (GIZ 1.2020b). Mehr als ein Viertel von Frauen im Alter von über 15 Jahren können nicht lesen und schreiben (CIA 28.2.2020). Schätzungen zufolge liegt die Analphabetenrate bei Frauen im Irak bei 28,2% und ist damit etwa doppelt so hoch wie jene von Männern und Buben (13%) (UN Women 12.2018). In ländlichen Gebieten ist die Einschulungsrate für Mädchen weit niedriger als jene für Buben (GIZ 1.2020b).

Quellen:

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15.1.1  Zwangsehen, Kinderehen, temporäre Ehen, Blutgeld-Ehe (Fasliya)

Letzte Änderung: 17.3.2020

Zwangs- und Kinderehen sind weit verbreitet, insbesondere im Zusammenhang mit Vertreibung und Armut (FH 4.3.2020; vergleiche AA 12.1.2019). Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen. Rund 20% der Frauen werden als Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis14 Jahren (AA 12.1.2019). Ein Gesetzesentwurf der u.a. die Möglichkeit der Verheiratung von Mädchen im Alter ab acht Jahren beinhaltet hätte, wurde im Dezember 2017 vom Parlament abgelehnt (HRW 17.12.2017).

Das gesetzliche Mindestalter für eine Eheschließung beträgt mit elterlicher Erlaubnis 15 Jahre, ohne Erlaubnis 18 Jahre (USDOS 11.3.2020; vergleiche FH 4.3.2020). Berichten zufolge unternimmt die Regierung jedoch wenig Anstrengungen, um dieses Gesetz durchzusetzen. Traditionelle Zwangsverheiratungen von Mädchen, Kinderehen und sogenannte „Ehen auf Zeit“ (zawaj al-mut‘a) finden im ganzen Land statt (USDOS 11.3.2020). „Ehe auf Zeit“ ist eine im zwölferschiitischen Islam erlaubte Möglichkeit auf religiös gebilligten Geschlechtsverkehr. Im sunnitischen Islam sind diese Ehen nicht erlaubt, auch wenn manche sunnitische Geistliche eine ähnliche Form der Ehe auf Zeit, misyar, gestatten (BBC 4.10.2019). Zwangsehen und „Ehen auf Zeit“ werden benutzt, um Frauen und Mädchen innerhalb des Irak sowie in Ländern wie Syrien, Jordanien und Kuwait zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zu verkaufen (OHCHR 11.11.2019).

Nach Angaben des Hohen Rates für Frauenangelegenheiten der kurdischen Regionalregierung (KRG) tragen Flüchtlinge und IDPs in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu einer zunehmenden Zahl an Kinderehen und Polygamie bei (USDOS 11.3.2020). Viele Frauen und Mädchen sind durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass Mädchen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen, oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Mädchen (AA 12.1.2019).

Fasliya bezeichnet eine traditionelle Stammespraxis zur Schlichtung von Konflikten, bei der Frauen bzw. Mädchen eines Stammes mit Männern eines verfeindeten Stammes als Entschädigung für Mord bzw. für die Verletzung von Mitgliedern des anderen Stammes verheiratet werden (USDOS 11.3.2020; vergleiche Musawah 11.2019). Dies geschieht ohne die Zustimmung der betreffenden Frauen (Musawah 11.2019). Obwohl die „Blutgeld-Ehe“ seit den 1950er Jahren mit dem irakischen Personenstandsgesetz von 1959 gesetzlich verboten ist, erlebt diese Praxis vor allem im Südirak, wo sich Bürger zur Konfliktbewältigung wieder vermehrt an Stämme wenden, einen Aufschwung. Die Praxis existiert auch in anderen Teilen des Landes (z.B. im Zentralirak) (Al-Monitor 18.6.2015) und wird auf kurdisch als badal khueen oder jin be xwên bezeichnet (FO 29.12.2015). Frauen, die im Zuge solcher Arrangements „als Kompensation“ bzw. „als Ersatz“ für den Toten bzw. für das vergossene Blut verheiratet werden, können sich nicht scheiden lassen und sind häufig Missbrauch ausgesetzt (Raseef22 17.8.2016; vergleiche France 24 18.4.2019; Al-Monitor 18.6.2015). Sogar Kinder, die in einer solchen Ehe geboren werden, werden als „Kinder der Fasliya" gebrandmarkt (France 24 18.4.2019).

Im Jahr 2011 hat das kurdische Regionalparlament mit Gesetzt Nr. 8 ein Gesetz zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt erlassen, das auch die Zwangsehe, die Kinderehe und die Blutgeld-Ehe unter Strafe stellt (PKI 21.6.2011).

Quellen:

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15.1.2  Weibliche Familienoberhäupter, Witwen, Geschiedene, alleinstehende Frauen

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die hohe Anzahl an Todesopfern in den Konfliktjahren, die meisten davon männlich, hat zu einem hohen Anteil an Haushalten mit weiblichen Familienoberhäuptern geführt (IOM 4.2019). Einer Studie zufolge haben etwa 8,9% der Haushalte einen weiblichen Haushaltsvorstand (UNICEF 6.12.2018). Gemäß einer anderen Quelle sind allein 10% der irakischen Frauen Witwen und viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien (AA 12.1.2019).

Weiblich geführte Haushalte haben nicht unbedingt Zugang zu Finanzanlagen, Sozialleistungen oder dem öffentlichen Verteilungssystem (PDS). Viele sind auf Unterstützung durch ihre Familien, Behörden und NGOs angewiesen. Während theoretisch die meisten Frauen im Irak theoretisch Anspruch auf öffentliche oder NGO-Hilfe haben, erhalten in der Praxis nur 20-25% von ihnen diese Hilfe. Darüber hinaus deckt die Hilfe nur einen Teil des jeweiligen Haushaltsbedarfs ab (FIS 22.5.2018). Haushalte mit weiblichen Familienoberhäuptern sind besonders anfällig für Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung (UNHCR 11.2018). Aufgrund vieler Hindernisse beim Zugang zu Beschäftigung müssen Frauen auf andere Mittel zurückgreifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, wie Geld leihen, Essen rationieren und ihre Kinder zur Arbeit schicken (FIS 22.5.2018; vergleiche UNHCR 11.2018).

Im Kontext einer Gesellschaft, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen traditionell gering ist, sind solche Haushalte mit erhöhten bürokratischen Hindernissen und sozialer Stigmatisierung, insbesondere auch im Rückkehrprozess konfrontiert (IOM 4.2019).

Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden (AA 12.1.2019). Alleinstehende Frauen und Witwen haben oft Schwierigkeiten, ihre Kinder registrieren zu lassen, was dazu führt, dass den Kindern staatliche Leistungen, wie Bildung, Lebensmittelbeihilfen und Zugang zum Gesundheitswesen verweigert werden (USDOS 11.3.2020).

Männer können sich einseitig von ihren Ehefrauen scheiden lassen, während Frauen nur aus bestimmten Gründen Scheidungsverfahren einleiten können, wie z.B. die Inhaftierung des Mannes für mehr als drei Jahre, Impotenz oder Unfruchtbarkeit des Mannes (OECD 12.2018; vergleiche HRW 25.2.2018), die Abwesenheit des Mannes für mehr als zwei Jahre, oder wenn der Ehemann für vier oder mehr Jahre als vermisst gilt (HRW 25.2.2018). Darüber hinaus haben sowohl Männer als auch Frauen das Recht, aus Gründen wie Untreue, Glücksspiel im Ehehaus oder Gewalt in einer Weise, die das Eheleben unmöglich macht, die Trennung zu verlangen. Frauen können zusätzlich eine „Khula“-Scheidung beantragen, bei der sie ihre Brautgabe zurückgeben und jede zukünftige finanzielle Unterstützung verlieren (OECD 12.2018). 2018 wurde ein Anstieg von Scheidungsanträgen, insbesondere durch Frauen verzeichnet. Obwohl nicht verfolgt wurde, ob es sich dabei um IS-bezogene Scheidungen handelte, wurde insbesondere in sunnitischen Regionen unter vormaliger IS-Herrschaft, wie Anbar und Ninewa, ein Anstieg verzeichnet (NBC 5.7.2018). Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Im Rahmen einer Ehescheidung wird das Sorgerecht für Kinder ganz überwiegend den Vätern (und ihren Familien) zugesprochen (AA 12.1.2019). Nach anderen Angaben bleibt eine Scheidung im Irak weiterhin mit starkem sozialen Stigma verbunden (MRG 11.2015; vergleiche FIS 22.5.2018).

Quellen:

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15.1.3  Verwestlichung, westlicher bzw. nicht-konservativer Lebensstil

Letzte Änderung: 17.3.2020

Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft (FH 4.3.2020). Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken (AA 12.1.2019). Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (USDOS 21.6.2019).

Auch Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen (UNHCR 5.2019). Im Jahr 2018 gab es einige Morden an Frauen, die in der Öffentlichkeit standen und als gegen soziale Gebräuche und traditionelle Geschlechterrollen verstoßend wahrgenommen wurden, darunter Bürgerechtlerinnen und Personen, die mit der Beauty- und Modebranche in Verbindung standen (FH 4.3.2020; vergleiche UNHCR 5.2019).

Mädchen und Frauen haben immer noch einen schlechteren Zugang zu Bildung. Je höher die Bildungsstufe ist, desto weniger Mädchen sind vertreten. Häufig lehnen die Familien eine weiterführende Schule für die Mädchen ab oder ziehen eine „frühe Ehe" für sie vor (GIZ 1.2020b).

Quellen:

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16          Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 11.3.2020).

Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der Islamische Staat (IS) richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019; vergleiche Zeidel/Al-Hashimis 6.2019).

Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, die Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 11.3.2020).

Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS, zwischen 2014 und 2017, führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschafts-Anforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen sind, insbesondere sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren. Die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen sind nicht immer klar definiert und/oder die Umsetzung kann je nach Sicherheitslage variieren oder sich ändern. Bürgschafts-Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.2019). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 4.3.2020).

Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 11.3.2020). An den Grenzen zu den Nachbarstaaten haben sich in den letzten Monaten immer wieder Änderungen der Ein- und Ausreisemöglichkeiten, Kontrollen, Anerkennung von Dokumenten etc. ergeben. Nach wie vor muss mit solchen Änderungen – auch kurzfristig – gerechnet werden (AA 12.1.2019).

Einreise und Einwanderung in die Kurdische Region im Irak (KRI)

Die Kurdischen Region im Irak (KRI) schränkt die Bewegungsfreiheit in den von ihr verwalteten Gebieten ein (USDOS 11.3.2020). Während die Einreise in die Gouvernements Erbil und Sulaymaniyah ohne Bürgen möglich ist, wird für die Einreise nach Dohuk ein Bürge benötigt. Insbesondere Araber aus den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten, sowie Turkmenen aus Tal Afar im Gouvernement Ninewa benötigen einen Bürgen aus Dohuk, es sei denn, sie erhalten eine vorübergehende Reisegenehmigung vom Checkpoint in der Nähe des Dorfes Hatara. Diese Genehmigung wird für kurzfristige Besuche aus medizinischen oder ähnlichen Gründen erteilt (UNHCR 11.2019).

Inner-irakische Migration aus dem Zentralirak in die KRI ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug jedoch kontrolliert (AA 12.1.2019). Wer dauerhaft bleiben möchte, muss sich bei der Asayish-Behörde des jeweiligen Bezirks anmelden (AA 12.1.2019; vergleiche UNHRC 11.2019). Eine Sicherheitsfreigabe ist dabei in allen Regionen der KRI notwendig (UNHCR 11.2019). Die Behörden verlangen von Nicht-Ortsansässigen, dass sie einen in der Region ansässigen Bürgen vorweisen können (USDOS 11.3.2020). Eine zusätzliche Anforderung für alleinstehende arabische und turkmenische Männer ist, dass sie eine feste Anstellung und ein Unterstützungsschreiben ihres Arbeitgebers vorweisen müssen (UNHCR 11.2019). In Dohuk muss eine Person in Begleitung des Bürgen, der die Einreise ermöglicht, vorstellig werden, um eine Aufenthaltskarte („Informationskarte“) zu erhalten (UNHCR 11.2019). Die Aufenthaltsgenehmigung ist in der Regel einjährig erneuerbar (UNHCR 11.2019; vergleiche USDOS 11.3.2020). Personen ohne feste Anstellung erhalten jedoch nur eine einmonatige, erneuerbare Genehmigung (UNHCR 11.2019). Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht (AA 12.1.2019). Bürger, die aus dem Zentral- oder Südirak in die KRI einreisen (egal welcher ethno-religiösen Gruppe sie angehörten, auch Kurden) müssen Checkpoints passieren und Personen- und Fahrzeugkontrollen über sich ergehen lassen (USDOS 11.3.2020).

Die KRI-Behörden wenden Beschränkungen unterschiedlich streng an. Die Wiedereinreise von IDPs und Flüchtlingen wird - je nach ethno-religiösem Hintergrund und Rückkehrgebiet - mehr oder weniger restriktiv gehandhabt. Checkpoints werden manchmal für längere Zeit geschlossen. Beamte hindern Personen, die ihrer Meinung nach ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, an der Einreise in die Region. Die Einreise ist für Männer oft schwieriger, insbesondere für arabische Männer, die ohne Familie reisen (USDOS 11.3.2020).

Einreise und Einwanderung in den Irak unter der Zentralregierung

Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Najaf, Qadissiya und Wassit. Für den Zugang zu den Gouvernements Maysan und Muthanna wird hingegen ein Bürge benötigt, der die Person an einem Grenz-Checkpoint in Empfang nimmt, oder mit ihr bei der zuständigen Sicherheitsbehörde für eine Freigabe vorstellig wird. Ohne Bürge wird der Zugang wahrscheinlich verweigert, auch wenn die Sicherheitsbehörden über einen Ermessensspielraum für Ausnahmen verfügen (UNHCR 11.2019).

Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom IS kontrollierten Gebieten unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar Anmerkung, etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Eine Ausnahme stellt der Bezirk Khanaqin dar, in dem Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar, des nationalen Sicherheitsdiensts (National Security Service, NSS), und des Nachrichtendienstes notwendig sind. Für die Ansiedlung in der Stadt Kirkuk wird ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar benötigt (UNHCR 11.2019).

Quellen:

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17          IDPs und Flüchtlinge

Letzte Änderung: 17.3.2020

Seit Jänner 2014 hat der Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak die Vertreibung von ca. sechs Millionen Irakern verursacht, rund 15% der Gesamtbevölkerung des Landes (IOM 4.9.2018). Anfang 2019 waren noch etwa 1,8 Millionen Menschen intern Vertrieben (IDPs) (FIS 17.6.2019; vergleiche HRW 14.6.2019). Anfang 2020 betrug die Zahl der IDPs noch 1,4 Millionen (IOM 28.2.2020; vergleiche UNICEF 31.12.2019; UNOCHA 27.1.2020). Die Zahl der IDPs sinkt seit der zweiten Hälfte des Jahres 2017 sukzessive (IOM 28.2.2020); die Zahl der Rückkehrer ist gestiegen (IOM 10.2019). Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Zahlen an IDPs im Irak von März 2014 bis Februar 2020. Das Diagramm mit den blauen Balken links unten veranschaulicht die Verteilung der IDPs auf die jeweiligen Gouvernements.

[Grafik gelöscht, Anm]

(IOM 29.2.2020)

[Grafik gelöscht, Anm]

Wie den folgenden Grafiken zu entnehmen ist, sind die Gouvernements mit den höchsten Zahlen an IDPs Ninewa, gefolgt von Anbar, Salah ad-Din, Kirkuk, Diyala, Bagdad, Erbil und Dohuk (IOM 31.12.2019).

[Grafik gelöscht, Anm]

(IOM 31.12.2019)

Etwa 450.000 bis 500.000 Personen leben in Lagern, die meisten davon seit ungefähr zwei bis drei Jahren (FIS 17.6.2019; vergleiche HRW 14.6.2019), während die übrigen in privaten oder informellen Unterkünften leben (HRW 14.6.2019).

Erzwungene Rückkehr und die Blockierung der Rückkehr dauerten im Jahr 2019 an (HRW 14.1.2020). Personen aus vormals vom IS kontrollierten oder vom Konflikt betroffenen Gebieten werden in vielen Gebieten, wegen mutmaßlicher Nähe zum IS und aus ethno-konfessionellen Gründen, von lokalen Behörden oder anderen Akteuren, wie den Volksmobilisierungskräften (PMF) unter Druck gesetzt oder gezwungen, in ihre Heimatregionen zurückzukehren (UNHCR 11.2019; vergleiche USDOS 11.3.2020).

Behörden der Zentralregierung und der Gouvernements unternahmen manchmal Maßnahmen zur Schließung oder Konsolidierung von Flüchtlingslagern, um IDPs zur Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete zu zwingen. Aufgrund der verordneten Lagerschließungen ist die Zahl der formellen IDP-Lager zwischen August und September 2019 von 89 auf 77 gesunken. Häufig resultierte eine zwangsweise Rückkehr in neuerlicher Vertreibung (USDOS 11.3.2020). So gibt es Berichte über die Ausweisung von tausenden Flüchtlingen aus Lagern in Ninewa, die aus anderen Gouvernements stammten (HRW 4.9.2019; vergleiche USDOS 11.3.2020). Ende August 2019 wurden schätzungsweise 1.600 IDPs (300 Haushalte) aus Flüchtlingslagern im Gouvernement Ninewa (Hamam Al Alil (HAA), As Salamiyah und Nimrud) nach Anbar, Kirkuk und Salah ad-Din verbracht. Dabei gab es einen Mangel an Informationsweitergabe an die betroffenen Personen und zwischen den jeweiligen Behörden. Trotz vorangegangener Sicherheitsüberprüfungen wurde einigen IDPs der Zugang zu Lagern in Anbar verwehrt (UN OCHA 15.9.2019).

Rückkehrer riskieren Landminen, Racheangriffe von Nachbarn oder die Zwangsrekrutierung in lokale bewaffnete Gruppen (HRW 14.6.2019). Anfang Juli 2019 begannen Sicherheitskräfte damit hunderte IDPs aus Lagern in Ninewa und Salah ad-Din zwangsweise in deren Heimatgouvernements zu verbringen, ungeachtet der Sicherheitsbedenken (HRW 14.1.2020). Vertreibungen ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Personen hat häufig neuerliche Vertreibung zur Folge (UNHCR 11.2019). In vielen Fällen führt erzwungene Rückkehr zu sekundärer oder tertiärer Vertreibungen (USDOS 11.3.2020).

Einige IDPs werden auch an der Rückkehr gehindert und effektiv in Lagern festgehalten (HRW 14.6.2019). Etwa eine Million Menschen aufgrund angeblicher Verbindungen zum IS an einer Rückkehr in ihre Heimat gehindert (FIS 17.6.2019). IDPs, die in ihre Heimat zurückkehren wollen, müssen laut lokalen Organisationen über bestimmte Ausweispapiere verfügen, etwa einen irakischen Personalausweis, eine Staatsangehörigkeitsbescheinigung und eine Aufenthaltsgenehmigung. Manchmal wird auch ein Reisepass angefordert (FIS 17.6.2019). Manche IDPs konnten verlorene Dokumente wieder einholen (IOM 13.11.2019).

Die Regierung und internationale Organisationen, einschließlich UN-Einrichtungen und NGOs, gewähren IDPs Schutz und andere Hilfe. Humanitäre Akteure unterstützen IDP-Lager und gewähren auch IDPs außerhalb der Lager Dienstleistungen, um die Belastung der Ressourcen der Gastgebergemeinden zu begrenzen (USDOS 11.3.2020). Der Großteil der humanitären Hilfe kommt Projekten in den Gouvernements Ninewa und Dohuk zugute, in denen sich auch die meisten IDPs befinden (UN OCHA 15.9.2019). Der Zugang zu humanitärer Hilfe hat sich allerdings verringert. Weniger als 10% der IDP-Haushalte berichten, dass sie Hilfe erhalten, meist in Form von Nahrungsmitteln und Wasser durch NGOs (IOM 13.11.2019). Von befragten IDP-Haushalten in Lagern im gesamten Irak wurde am häufigsten der Bedarf an Nahrungsmitteln (76% der Haushalte) angegeben, gefolgt von Beschäftigung (59 %) und medizinischer Versorgung (54%). Der Anteil der Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand in IDP-Lagern lag Mitte 2019 bei etwa 21%. Etwa 90% der befragten IDP-Haushalte gab an, dass sie bei Tageslicht ohne Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit das Lager verlassen und wieder betreten konnten (REACH 8.2019).

Die Regierung stellt vielen - aber nicht allen - IDPs, auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI), Nahrungsmittel, Wasser und finanzielle Hilfe zur Verfügung. Viele IDPs leben in informellen Siedlungen, wo sie keine ausreichende Versorgung mit Wasser, sanitären Einrichtungen oder anderen wichtigen Dienstleistungen erhalten. Alle Bürger sind berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des Public Distribution System (PDS) zu erhalten. Die Behörden verteilen aber nicht jeden Monat alle Waren. Nicht alle IDPs können in jedem Gouvernement auf Lebensmittel aus dem Public Distribution System (PDS) zugreifen, insbesondere nicht in den befreiten Gebieten. Die Bürger können die PDS-Rationen nur an ihrem Wohnort und in ihrem eingetragenen Gouvernement einlösen, was zu einem Verlust des Zugangs und der Ansprüche aufgrund von Vertreibungen führt (USDOS 11.3.2020).

Die lokalen Behörden entscheiden oft darüber, ob IDPs Zugang zu örtlichen Leistungen erhalten. Humanitäre Organisationen berichten, dass einige IDPs mangels erforderlicher Unterlagen Schwierigkeiten bei der Registrierung haben. Viele Bürger, die zuvor in den vom IS kontrollierten Gebieten gelebt haben, besitzen keine Personenstandsdokumente, was die Schwierigkeit, einen Ausweis und andere persönliche Dokumente zu erhalten, noch vergrößerte. Laut einem Bericht von Februar 2018 hat die lokale Polizei Ausweispapiere von Personen in Lagern beschlagnahmt, was ihre Bewegungsfreiheit, einschließlich ihrer Möglichkeit das Lager zu verlassen beeinträchtigte (HRW 4.2.2018; vergleiche USDOS 11.3.2020). Die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen unterstützen IDPs bei der Beschaffung von Dokumenten und der Registrierung bei den Behörden, um den Zugang zu Dienstleistungen und Bezugsrechten zu verbessern (USDOS 11.3.2020).

Die schwierigsten Rückkehrbedingungen finden sich unter anderem in den Distrikten Al-Khalis, Al-Muqdadiya und Khanaqin im Gouvernement Diyala, in den Distrikten Daquq und Kirkuk im Gouvernement Kirkuk, in den Distrikten Al-Ba'aj, Hatra, Sinjar und Telafar im Gouvernement Ninewa und in den Distrikten Balad, Samarra und Tooz im Gouvernement Salah ad-Din. Ninewa (196.644) und Salah ad-Din (154.674) sind die Gouvernements mit der höchsten Anzahl von Rückkehrern, die unter schweren Bedingungen leben. Verbesserungen in der Versorgung mit Elektrizität und Wasser haben die Lebensbedingungen für Rückkehrer in einigen Bezirken, darunter auch Ost-Mossul in Ninewa und Khanaqin in Diyala etwas verbessert (IOM 10.2019).

Massive Zerstörung von Wohnungen und Infrastruktur, die Präsenz konfessioneller- oder parteiischer Milizen, sowie die anhaltende Bedrohung durch Gewalt machten es vielen IDPs schwer, nach Hause zurückzukehren (FH 4.3.2020). In einigen Gebieten behindern Gewalt und Unsicherheit sowie langjährige politische, stammes- und konfessionelle Spannungen die Fortschritte bei der nationalen Aussöhnung und erschweren den Schutz von IDPs. Tausende Familien sahen sich aus wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Gründen mit einer neuerlichen Vertreibung konfrontiert. Zwangsvertreibungen, kombiniert mit dem langwierigen und weitgehend ungelösten Problem von Millionen von Menschen, die in den letzten Jahrzehnten entwurzelt wurden, belasten die Kapazitäten der lokalen Behörden (USDOS 11.3.2020).

Haushalte mit vermeintlichen Verbindungen zum IS sind stigmatisiert und werden mit einem erhöhten Risiko ihrer Grundrechte beraubt. Probleme bei der Beschaffung der notwendigen Zivildokumente und die häufig vorenthaltenen Sicherheitsfreigaben schränken ihre Bewegungsfreiheit ein, einschließlich ihrer Möglichkeiten zur Inanspruchnahme medizinischer Versorgung, wegen der Gefahr von Verhaftungen und eines Verbots ins Lager zurückzukehren (USDOS 11.3.2020).

Ausländische Flüchtlinge

Das Gesetz sieht die Gewährung von Asyl vor, und die Regierung hat ein System zum Schutz von Flüchtlingen eingerichtet (USDOS 11.3.2020). Unter den etwa 335.000 ausländischen Flüchtlingen sind etwa 249.000 Syrer und ca. 40.000 Flüchtlinge aus anderen Gebieten, sowie knapp 50.000 Staatenlose. Ihren Status regelt das „Gesetz über politische Flüchtlinge“, Nr. 51 (1971). Der Entwurf einer Novellierung des Gesetzes wurde bislang nicht verabschiedet. Die Flüchtlinge befinden sich überwiegend in und um Bagdad sowie unmittelbar im Grenzbereich zu Syrien und Jordanien (AA 12.1.2019). Die Regierung arbeitet im Allgemeinen mit dem UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammen, um Flüchtlingen im Land Schutz und Unterstützung zu bieten (USDOS 11.3.2020).

Seit 2014 hat die KRI mehr als eine Million IDPs aus verschiedenen Teilen des Irak aufgenommen. Es bestehen etwa 39 Lager für IDPs und Flüchtlinge, in denen die Mehrzahl der vertriebenen religiösen Minderheiten leben (OHCHR 11.9.2019). Darunter befinden sich, je nach Quelle auch über 228.000, bis mehr als 240.000 syrische Flüchtlinge (USAID 30.9.2019; vergleiche OHCHR 11.9.2019). Es wird erwartet, dass die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Zuge des anhaltenden militärischen Konflikts in Nordost-Syrien weiter ansteigen wird (USAID 30.9.2019).

Quellen:

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18          Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 17.3.2020

Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vergleiche USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).

Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).

Wirtschaftslage

Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).

Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).

Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).

Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).

Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD Anmerkung, ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD Anmerkung, ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).

Stromversorgung

Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).

Wasserversorgung

Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).

Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkenden Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).

Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vergleiche HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Nahrungsmittelversorgung

Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vergleiche FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).

Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020).

Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).

Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vergleiche HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).

Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vergleiche USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

[Anm.: Informationen zum Unterkünften können dem Kapitel 21 Rückkehr entnommen werden.]

Quellen:

[…]

19          Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 17.3.2020

Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD Anmerkung, ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).

Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).

Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen (AA 12.1.2019). Für das Jahr 2020 werden in Flüchtlingslagern der kurdischen Gouvernements Dohuk und Sulaymaniyah erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung erwartet, die auf Finanzierungsengpässe zurückzuführen sind (UNOCHA 17.2.2020).

Quellen:

[…]

20          Rückkehr

Letzte Änderung: 17.3.2020

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).

Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vergleiche REACH 30.6.2017).

Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD Anmerkung, ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD Anmerkung, ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD Anmerkung, ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD Anmerkung, ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD Anmerkung, ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD Anmerkung, ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).

Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussen sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).

Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).

Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).

Quellen:

[…]

21          Staatsbürgerschaft und Dokumente

Letzte Änderung: 17.3.2020

Artikel 18 der irakischen Verfassung besagt, dass jede Person, die zumindest über einen irakischen Elternteil verfügt, die Staatsbürgerschaft erhält und somit Anspruch auf Ausweispapiere hat (Irakische Nationalversammlung 15.10.2005; vergleiche HRW 28.8.2019; USDOS 11.3.2020). Dies wird in Artikel 3 des irakischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2006 bestätigt, jedoch wird in Artikel 4 darauf hingewiesen, dass Personen, die außerhalb des Iraks von einer irakischen Mutter geboren werden und deren Vater entweder unbekannt oder staatenlos ist, vom Minister für die irakischen Staatsbürgerschaft in Betracht gezogen werden können. Dies geschieht, wenn sich die besagte Person innerhalb eines Jahres nach ihrer Vollmündigkeit für die irakische Staatsbürgerschaft entscheidet. Wenn dies aus schwierigen Gründen unmöglich ist, kann die Person trotzdem noch um die irakische Staatsbürgerschaft ansuchen. In jedem Fall muss der Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Bewerbung aber im Irak ansässig sein (Irakische Nationalversammlung 7.3.2006). Eine Doppelstaatsbürgerschaft ist per Staatsbürgerschaftsgesetz No.26/2006, Artikel 10 erlaubt (RoI MoFA 2020).

Nach dem Geburts- und Todesregistergesetz (1971) und dem Zivilstandsgesetz (1972), muss für den Erhalt einer Heiratsurkunde der Eheschluss von beiden Ehepartnern bezeugt werden, bzw. muss im Fall einer Wiederverheiratung die Sterbeurkunde des früheren Ehepartners vorgelegt werden. Es sind jeweils zwei Zeugen notwendig (HRW 25.2.2018).

Der irakische Personalausweis (arabisch: bitaqat hawwiyat al-ahwal al-shakhsiya) wird für alle behördlichen Angelegenheiten benötigt, wie beispielsweise Gesundheits- und Sozialdienste, Schulen, sowie für den Kauf und Verkauf einer Unterkunft und eines Autos. Er wird auch für die Beantragung anderer amtlicher Dokumente, wie den Reisepass, benötigt. Im Oktober 2015 ist ein neues nationales Ausweisgesetz in Kraft getreten. Laut diesem soll ein neuer biometrischer Personalausweis vier Karten ersetzen: den alten Personalausweis, den Staatsangehörigkeitsnachweis, den Aufenthaltsnachweis und den Lebensmittelausweis. Seit der Jahreswende 2015/2016 werden die neuen Ausweise sukzessive ausgestellt, bisher mehr als zehn Millionen. Viele Iraker besitzen nach wie vor ihren alten Personalausweis und die erforderlichen Staatsangehörigkeitsbescheinigungen. Zwar haben die alten Ausweise kein Ablaufdatum, doch werden sie laut irakischen Behörden im Jahr 2024 ihre Gültigkeit verlieren. Die alten Ausweise werden dabei nach wie vor an Orten ausgegeben, an denen die notwendigen Gegebenheiten für die Ausstellung der neuen Dokumente nicht vorhanden sind. So werden etwa nach Angaben der irakischen Behörden in Teilen der Gouvernements Ninewa, Diyala, Salah ad-Din und Anbar immer noch alte Personalausweise und Staatsangehörigkeitsbescheinigungen ausgestellt. Von den 356 Ausweisämtern des Landes stellen derzeit 266 die neuen elektronischen Ausweise aus. Da Ausweise in der Regel nur an den Orten der Aufenthaltsmeldung ausgestellt werden, benötigen IDPs häufig die Hilfe anderer, um zumindest an einen alten Ausweis zu kommen (FIS 17.6.2019).

Laut dem irakischen Passgesetz kann jede Person über 18 Jahren, unabhängig von ihrem Geschlecht und ohne Erlaubnis des Vormunds einen Pass erhalten (Irakisches Innenministerium 2017). Jedoch können Frauen ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters weder einen Reisepass beantragen (USDOS 11.3.2020; vergleiche FH 4.3.2020), noch einen Personalausweis bekommen, der etwa für den Zugang zu Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung und Wohnen benötigt wird (FIS 22.5.2018; vergleiche USDOS 11.3.2020).

Die neuen irakischen Pässe enthalten einen maschinenlesbaren Abschnitt sowie einen 3D-Barcode und gelten, im Vergleich zu den Vorgängermodellen, als fälschungssicherer. Vor allem können diese nur noch persönlich und nicht mehr durch Dritte beantragt werden (AA 12.1.2019; vergleiche FIS 17.6.2019), da Fingerabdrücke aller Finger, ein Foto und ein Iris-Scan angefertigt werden. Davon ausgenommen sind Kinder unter zwölf Jahren (FIS 17.6.2019). Die irakischen Botschaften haben erst vereinzelt begonnen, diese Pässe auszustellen (AA 12.1.2019). Nur etwa 25-30 Millionen Iraker (etwa 60-75% der Bevölkerung) besitzen einen Reisepass (FIS 17.6.2019). Der Islamische Staat (IS) konfiszierte in Gebieten unter seiner Kontrolle regelmäßig offizielle Dokumente, die von staatlichen irakischen Stellen ausgestellt worden waren und stellte eigene Dokumente aus, wie z.B. Heirats- und Geburtsurkunden. Diese werden von den irakischen Behörden jedoch nicht anerkannt (HRW 28.8.2019; vergleiche NRC 4.2019).

Jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, ist gegen Bezahlung zu beschaffen. Zur Jahresmitte 2014 tauchten vermehrt gefälschte Visaetiketten auf. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel des irakischen Außenministeriums sind im Umlauf; zudem kann nicht von einer verlässlichen Vorbeglaubigungskette ausgegangen werden (AA 12.1.2019).

Quellen:

[…]“

Aus der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.01.2019 zum Irak: Informationen zum Stamm römisch 40 (Bekanntheitsgrad, aktuelle Lage der Mitglieder) [a-10834-1] ergibt sich:

[…]

In einem 1995 erstmals erschienenen und 2003 neu aufgelegten Buch zu den Schiiten im Irak von Yitzhak Nakash, heute außerordentlicher Professor an der Brandeis University, wird angegeben, dass die römisch 40 („ römisch 40 “) zu den Zubayd gehören würden und vorwiegend sunnitisch geblieben seien. Nur ein paar Zweige des Stammes seien schiitisch geworden:

„Likewise, although the Zubayd confederation became almost entirely Shi’i, parts of Bani‘Ajil and the ‘Azze sections remained Sunni early in the twentieth century. The Jubur al-Wawi of the Euphrates valley became Shi’i but the Jubur of the Tigris remained Sunni, both being sections of the Zubayd as well. Still in the Zubayd, the römisch 40 , who lived near Musayyib, remained mostly Sunni and only some of its branches became Shi’i.” (Nakash, 1995, Sitzung 43)

In einer vom US-Verteidigungsministerium in Auftrag gegebenen und 2006 von Quantum Research International veröffentlichten Studie zu Stammesstrukturen in der Provinz al-Anbar wird erwähnt, dass römisch 40 ein Unterstamm des Stammesbunds („Tribal Confederation“) der Zubayd sei. Der Stamm römisch 40 vom mittleren Verlauf des Euphrat („mid-Euphrates“) wird in einer Auflistung der „größten und einflussreichsten sunnitischen Stämme“ genannt. Alle aufgezählten Stämme, mit Ausnahme der Jubur, seien vorwiegend sunnitisch und arabisch und hätten unter Regimen der Vergangenheit viel Ansehen und Reichtum genossen:

„Today, most tribes in Iraq can be traced to one of three tribal confederations, the Tayy, Zubayd, and Rubia. Each of these tribal confederations has major subtribes. For example, the subtribes of the Zubayd Tribal Confederation are the Ubayd, römisch 40 , Azza, Jubur, and Dulaim tribes. Over time, these subtribes have also come to be referred to as tribal confederations in their own right.” (Quantum Research International, 18. Juni 2006, Sitzung 77)

„The largest and most influential Sunni Arab tribes include the:

• Jubur, mainly from the Tikrit area, but also Mosul;

• Ubayd, from North of Baghdad;

• römisch 40 , from the mid-Euphrates;

• Dulaym confederation in al-Anbar Governorate;

• Shammar Jarba confederation, located throughout the Sunni triangle;

• Harb and the affiliated, but non-tribal, population of Dur;

• Aqaidat, from the Southwest of Mosul;

• Azza, from the Iranian border north of Baghdad;

• Khazraj, from the area between Baghdad and Samarra;

• Saadun merchant clan from Nasiriya; and,

• Mushahada, who occupy the tribal land just south of the Khazraj in Tarmiya.

Other than the Jubur, each of these tribes is primarily Sunni Arab and each has enjoyed great prestige and wealth under previous regimes and occupiers of Iraq. In the post-war situation, the ever-changing history of tribal leadership is important. The Baathist regime’s previous influence over the tribal leaders and the tribal process of governance means that there is a precedent of external forces molding tribal decisions. römisch eins f given incentives, in terms of power, wealth, and influence, to cooperate with outside authority, tribes will most often choose to do so.” (Quantum Research International, 18. Juni 2006, Sitzung 128)

In einem 2009 von Sam G. Stolzoff, einem ehemaligen Mitarbeiter des Militärs und Kulturberater, herausgegebenen Buch zum irakischen Stammessystem wird ebenfalls erwähnt, dass römisch 40 ein Unterstamm des Al-Zubaydi-Stammes sei:

„For example, you meet an individual and find that his full name is Muhammad Jasim Farhan Zabad Nawfal römisch 40 , and his main tribe name is (( römisch 40 )), which after asking again you find is a main branch of the ((Al-Zubaydi)) tribe. Thus, his main tribe is (( römisch 40 )) ((Al-Zubaydi)) A, or just (( römisch 40 )) for simplicity’s sake. While being flexible with vowels, one will find that the closest matching name chain is match to this is from (( römisch 40 )) ((Al-Zubayd)) 2g8, which is ((Al-Zabda)) ((Al-Nawafla)) (( römisch 40 )) (( römisch 40 )) ((Al-Zubaydi)) A. Unless you can verify this data with his tribal shaykh or a more knowledgeable member of his immediate family, the individual can be assessed as being from (( römisch 40 )) ((Al-Zubaydi)) A 2g8. Verification of this will be required for the purpose of certainty” (Stolzoff, 2009, Sitzung 110)

Die britische Tageszeitung Guardian erwähnt in einem Artikel vom Jänner 2005 eine Person namens Adnan römisch 40 , der unter der Übergangsregierung von Ayad Allawi Staatssekretär („minister of state“) gewesen sei. Er sei auch ein Stammesführer eines vorwiegend sunnitischen Stammes im Irak. römisch 40 sei einer der geachtetsten Scheichs, er sei der Anführer eines der größten Stämme im „Todesdreieck“ südlich von Bagdad. Er habe sich zwei Jahre lang bemüht, die immer größer werdenden Gräben zwischen seiner Gemeinschaft und den USA zu schließen. römisch 40 sei einer der wenigen sunnitischen Anführer, die an den bevorstehenden Wahlen teilnehmen würden. Fast alle anderen hätten angekündigt, die Wahlen boykottieren zu wollen:

„Two weeks ago, Adnan römisch 40 , the then minister of state in the Iraqi interim government of premier Ayad Allawi, and a tribal leader of one of Iraq's largest predominantly Sunni tribes, was arrested, handcuffed and insulted by US soldiers manning a checkpoint leading into the Green Zone where he worked. Only when a senior bodyguard of the prime minister intervened was he released. That same day he resigned from government. […]

römisch 40 , apart from being one of Iraq's most revered tribal sheikhs, is also a highly educated man who found himself in an awkward position after the war. He leads one of the largest tribes in what is known now as the triangle of death south of Baghdad. He is also a western-educated former Opec official who knows how to talk to the Americans as well as the UN. Finally, when he puts on his traditional Arab dress, he becomes the charming sheikh who can reason with everyone including Ayatollah Sistani. For almost two years now he has been trying very hard to bridge the ever growing gap between his community and the Americans; as fruitless a task as one might imagine.

römisch 40 is one of the few Sunni leaders still involved in this weekend's elections. Most others have announced their decision to boycott them. Nevertheless, when one junior American officer was fed up with this bald, thin man who insisted on knowing why he couldn't get to his office - despite his US-approved ministerial ID card - he was arrested on the spot.” (Guardian, 26. Jänner 2005)

Die US-amerikanische Tageszeitung Christian Science Monitor (CSM) erwähnt in einem Artikel vom November 2007 zur Lage in Bagdad einen Stadtteil („block“) namens Janabat, dessen EinwohnerInnen vorwiegend zum sunnitischen römisch 40 -Stamm gehören würden:

„The group of fighters is accused by Shiites of planting roadside bombs aimed at both US and Iraqi forces. They are also thought to be responsible for displacing Shiite families from the block known as the ‘Janabat’ - historically, most of the residents there are from the Sunni römisch 40 tribe - and killing many Shiite residents in the rest of Amel by sniper fire.” (CSM, 27. November 2007)

Niqash, eine auf Englisch, Arabisch und Kurdisch publizierende Informationswebseite zum Irak, die Beiträge zu Politik, Medien und Kultur in der Region veröffentlicht und die von der Medienorganisation Media in Cooperation and Transition mit Sitz in Berlin betrieben wird, berichtete im Juli 2008 über das „Todesdreieck“, bestehend aus den Gebieten Latifiyah, Mahmoudiyah und Youssifiyah. Latifiyah sei eine Hochburg von bewaffneten Gruppierungen gewesen, die Verbindungen zu al-Qaida gehabt hätten. Al-Qaida habe sich dort mit den Stämmen römisch 40 und al-Jbour verbündet, den größten Stämmen, die Saddam Hussein gegenüber loyal gewesen seien. Diese Allianz habe zu vermehrten Angriffen auf Schiiten geführt, die daraufhin in Massen geflohen seien. Heute (im Jahr 2008, Anmerkung ACCORD) erinnere man sich an den heroischen Standpunkt von Scheich Ahmad römisch 40 , der 2006 alle mit al-Qaida in Verbindung stehenden Organisationen aufgefordert habe, die Stadt zu verlassen, und ihnen andernfalls mit Krieg gedroht habe:

„The road that separates Latifiyah neighborhood (35 kilometers south of Baghdad) from Hayyin, one a Sunni enclave and the other Shiite, empties of traffic as the curfew hour approaches. Along with tribal members, security forces deploy at security checkpoints not more than 50 meters away from each another in order to secure the main road which runs through an area once known as the ‘triangle of death’. And for the first time in years, the area has relative calm. The name ‘triangle of death’, used by the media to describe areas south of Baghdad (Latifiyah and Mahmoudiyah and Youssifiyah), involves a degree of exaggeration.

However, for four years al-Qaeda was able to ally itself with local tribes, transforming these areas, especially Latifiyah, into zones of intense violence.

Until recently, Shiites did not dare enter Latifiyah which was a stronghold of the ‘Ansar al-Sunnah Army’ and the ‘Army of Muslims,’ two al-Qaeda-linked armed factions. In Latifiyah al-Qaeda allied with römisch 40 and al-Jbour, the biggest and most loyal tribes to Saddam Hussein. This alliance led to increased attacks and assassinations on Shiites who in turn left in mass until the city was empty of Shiites.

Today, the people of Latifiyah remember the heroic stance of Sheikh Ahmad römisch 40 when he demanded that all organizations affiliated with al-Qaeda leave the city or face war in 2006. ‘Tribal sheikhs realized that al-Qaeda had transformed their area into a Taliban republic and that they had lost their status, obliging them to obey orders from a simple Arab fighter’, Sheikh römisch 40 told Niqash.

‘We opened our homes to them and treated them the way guests should be treated, offering them hospitality and care. Some of us married them, but they obliged us to obey their rules and they started to fight everyone with a different opinion than their own even if he was a Sunni,’ added römisch 40 .” (Niqash, 7. Juli 2008)

Musings on Iraq, der Internetblog des amerikanischen Irak-Analysten Joel Wing, schreibt in einem Artikel vom Februar 2011 ausführlich über Adnan römisch 40 , den damals neu ernannten Leiter des Öl-Komitees im irakischen Parlament. römisch 40 habe diesen Posten im Rahmen eines Abkommens zwischen seiner irakischen Nationalbewegung und der kurdischen Koalition erhalten, die im Gegenzug den Vorsitz im Rechtskomitee erhalten habe. Es sei bereits das zweite Mal gewesen, dass römisch 40 diese Position innegehabt habe, da er ein Mitglied der Baath-Partei gewesen sei und in einer leitenden Position im Saddam Husseins Regierung für Öl zuständig gewesen sei. Die Familie von Adnan römisch 40 leite den römisch 40 -Stamm in Babil. Die römisch 40 seien von Saddam Hussein bevorzugt worden („favored“), der sich während des Iran-Irak-Kriegs und nochmals nach dem Golfkrieg (von 1990/91, Anmerkung ACCORD) wegen Unterstützung und innerer Sicherheit an Stämme gewandt habe. römisch 40 sei in den Reihen der Baath-Partei unter Saddam Hussein groß geworden. 1996 sei er ins irakische Parlament gewählt worden, wo er das erste Mal zum Leiter des Öl-Komitees ernannt worden sei. Nach der Invasion von 2003 habe sich römisch 40 der Nationalen Liste von Ayad Allawi angeschlossen und sei Staatssekretär („Minister of State“) in der Übergangsregierung geworden. Ende 2005 sei er Kandidat der Nationalen Liste gewesen, sei aber von der Entbaathifizierungs-Kommission nicht zugelassen worden. Später habe man ihn von den Anschuldigungen freigesprochen. 2010 habe er wieder für die Nationale Bewegung von Allawi kandidiert, sei aber wieder von der Kommission für Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit nicht zu den Wahlen zugelassen worden. Er sei aber noch auf den Wahllisten gestanden und habe etwas mehr als 6.000 Stimmen in Bagdad erhalten. Später sei römisch 40 wieder von den Anschuldigungen freigesprochen worden, dann abermals von den Wahlen ausgeschlossen und dann nochmals von den Anschuldigungen freigesprochen worden, was letztendlich zur Bestätigung seiner Wahl geführt habe:

„On February 10, 2011 Adnan Abdul-Munim Rashid römisch 40 was named the head of the oil committee in the new Iraqi parliament. römisch 40 received his chairmanship as part of a deal between his Iraqi National Movement and the Kurdish Coalition who received control of the legal committee in return. This was actually the second time that römisch 40 held this position, as he was a Baathist, and leading petroleum official in Saddam Hussein’s government.

Adnan römisch 40 family is the head of the römisch 40 tribe in Babil. The römisch 40 were favored by Saddam, who turned towards tribes for support and internal security during the Iran-Iraq War and again after the Gulf War. Adnan was actually an urban technocrat, who had little say in his tribe’s affairs.

römisch 40 was western educated, and rose up the Baathist ranks under Saddam. He went to school in England, where he received a degree in economics. In the 1970s he became the head of marketing at the Oil Ministry, and then the head of its foreign relations in the 1980s. He became the Iraqi representative to OPEC in their Vienna offices as a result. In 1996 he was elected to the Iraqi parliament, where he was appointed the head of the oil committee for the first time. During that period he also received oil vouchers from Saddam, which was a means for the regime to break United Nations sanctions and restrictions on their oil sales. With the vouchers, römisch 40 and others could receive oil at discounted prices, and then resell it for a profit.

After the 2003 invasion, römisch 40 became part of Iyad Allawi’s Iraqi National List. In 2004 römisch 40 was named Minister of State in Allawi’s interim government. The next year he was named to the deputy head of the committee drafting the new Iraqi constitution, and helped include more Sunnis in that body. At the end of 2005, he was a candidate for the Iraqi Nationalist List, and ran Allawi’s election campaign where he was accused of attempting to bribe reporters. römisch 40 , along with 90 others, was then banned by the deBaathification Commission. The deBaathification law said that officials could be barred for enriching themselves under Saddam, which römisch 40 did by receiving the oil vouchers. He was then cleared.

A similar series of events happened to him in 2010. Again, he ran as part of an Allawi led list, the Iraqi National Movement, and again he was barred by the Accountability and Justice Commission that replaced the deBaathification Commission. He was still on the ballot however, and received just over 6,000 votes in Baghdad. Afterward, römisch 40 was cleared, barred again, and then cleared once more for his Baathist past. That led to the confirmation of his election to office, and his eventual return to the powerful oil committee.

Adnan römisch 40 has had a charmed life. He rose through the ranks of Saddam’s Iraq, and spent nearly thirty years in the oil industry, both with the Oil Ministry and the oil committee in parliament. The fall of the former regime, was not as much of a setback as one would expect for an ex-Baathist. By joining Allawi’s Iraqi National List, he was able to gain new prominent positions, such as being the deputy head of the constitutional committee. Even when he was twice targeted for his Baathist past in 2005 and 2010, he was able to be cleared due to his close connections to Allawi. He is now back to being the head of the oil committee fifteen years after his first stay as chairman. Rather than being a sign of redemption or political reconciliation in the new Iraq, römisch 40 represents the political compromises and backroom deals between the country’s powerful elite that really characterize the country today.” (Musings on Iraq, 17. Februar 2011)

The News & Advance, eine Tageszeitung aus Lynchburg in den USA, zitiert nach der Ermordung eines bekannten sunnitischen Scheichs, Qasim römisch 40 , einen ehemaligen Dolmetscher, der für die US-Streitkräfte bei Gesprächen mit Stammeskämpfern gedolmetscht habe. Seinen Aussagen zufolge könnte der römisch 40 -Stamm wegen seiner eigenen Geschichte mit al-Qaida Sunniten rund um Bagdad gegen den IS mobilisieren. Im Gegensatz zu anderen Gruppen, die sich nach dem Abzug der US-Truppen 2011 öffentlich auf die Seite von Maliki gestellt hätten, werde der römisch 40 -Stamm nicht als Verräter angesehen:

„Just this week, a popular Sunni sheik, Qasim römisch 40 , was kidnapped and murdered. His family blamed Shiite militias for the crime. Sterling Jensen, who was the U.S. Army's translator with the Iraqi tribal fighters during the surge in 2007 and 2008, said römisch 40 tribe was crucial to any U.S. efforts to rebuild an awakening movement in Iraq. ‘If you want a tribe that will mobilize Sunni Iraqis in areas around Baghdad against the Islamic State, the römisch 40 tribe are the ones to do it because of their history with... al-Qaida in Iraq,’ he said. Jensen explained that unlike other groups who publicly aligned with Maliki after the withdrawal of U.S. troops in 2011, the römisch 40 tribe ‘is not seen as traitors who have jumped in with the government.’” (The News & Advance, 22. Februar 2015)

IUVM Press, eine Nachrichtenagentur, die Inhalte staatlicher und regierungsfreundlicher iranischer Medien im Internet verbreite, schreibt in einem Artikel vom Februar 2018, dass der römisch 40 -Stamm Saddam Hussein nahegestanden habe und Personen aus diesem Stamm zur Baath-Partei gehört und hohe Positionen in den Sicherheitskräften bekleidet hätten. Vor allem Ala’ Al-Deen römisch 40 habe Saddam Hussein sehr vertraut. Der römisch 40 -Stamm habe sich an Tötungen von Schiiten beteiligt und es gebe nach wie vor einige Mitglieder der Baath-Partei, die zu diesem Stamm gehören würden. Nach der Ankunft des IS („Daesh“) im Irak habe der Stamm diesen unterstützt, weil er gegen das Ende der Baath-Partei gewesen sei. Hunderte Stammesmitglieder hätten sich dem IS angeschlossen, um an dem Angriff auf Karbala teilzunehmen. Abdullah römisch 40 sei der Anführer des IS in Fallujah gewesen. Abdul Nasir römisch 40 habe den Stamm im irakischen Parlament vertreten, sei aber nach seiner „Identifizierung“ („identification“) nach Jordanien geflohen. Viele andere Mitglieder des Stammes, denen vorgeworfen werde, an terroristischen Handlungen beteiligt gewesen zu sein, würden vom irakischen Geheimdienst und den Sicherheitskräften strafrechtlich verfolgt:

„ römisch 40 tribe was close to Saddam Hussein and people of the same tribe were in Ba’ath Party and at the top positions of security. One of them was Ala’ Al-Deen römisch 40 , on whom Saddam used to trust more than his eyes. There was also a major role of this tribe in Shi’ite massacre in Iraq, and still some of the Ba’ath Party members are from the same tribe. After the arrival of Daesh in Iraq, the tribe supported Daesh because they were against the end of the Ba’ath party, and the area of Jurf al Nasr has since become a dream of terrorists. After the occupation of ISIL in 2014, the group’s spokesman declared the area Jurf Al Nasr as a gate to capture Baghdad, Karbala and Basra. Hundreds of people of the tribe have joined the ISIS to participate in the attack of Karbala. Abdullah römisch 40 of this tribe was the head of ISIS in the Fallujah. And Abdul Nasir römisch 40 was the representative of this tribe in the Iraqi Parliament, after his identification, he fled to Jordan. Similarly, many other members of the tribe who are charged with participating in terrorist operations are being prosecuted by Iraqi intelligence and security forces.” (IUVM Press, 6. Februar 2018)

Im Folgenden finden Sie ausgewählte Beispiele zu Personen mit dem Namen römisch 40 im Irak:

Die US-amerikanische Tageszeitung Washington Post meldet im August 2007, dass im Süden Bagdads sieben Mitglieder einer sunnitischen Familie mutmaßlich von schiitischen Milizen getötet worden seien. Alle getöteten Familienmitglieder hätten zum römisch 40 -Stamm gehört:

„In mounting bloodshed south of Baghdad, suspected Shiite Muslim militiamen stormed into a Sunni Arab home Tuesday and gunned down seven family members, including a baby being bounced on her mother's shoulder. […] Other witnesses and neighbors said Shiite Mahdi Army militiamen were responsible for the killings of the family, members of the römisch 40 tribe.” (Washington Post, 21. August 2007)

Die deutsche Tageszeitung Süddeutsche Zeitung (SZ) meldet im Mai 2010:

„Bei einem Einsatz in der Widerstandshochburg Falludscha hat die US-Armee einen früheren General der Republikanischen Garden gefasst. Künftig sollen auch Milizionäre ehemaliger Oppositionsgruppen an der Seite der Amerikaner den Terror bekämpfen. […] Zuvor hatte eine Sprecherin der Besatzungstruppen mitgeteilt, dass ein weiterer Verdächtiger in Falludscha gefasst worden sei. Abu Bilal römisch 40 werde vorgeworfen, Aufständische finanziert zu haben. In der Nähe von Falludscha hoben die Truppen der Sprecherin zufolge zudem ein großes Waffenversteck aus. Darin seien unter anderem 650 Panzerabwehrminen, 400 Anti-Personen-Minen und 280 Panzerabwehrraketen gewesen.” (SZ, 19. Mai 2010)

Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit meldet im Februar 2011:

„Ein irakischer Informant hat zugegeben, vor dem Irakkrieg falsche Angaben über die Existenz von Massenvernichtungswaffen in dem Land gemacht zu haben. ‚Vielleicht hatte ich Recht, vielleicht nicht‘, sagte Rafid Ahmed Alwan römisch 40 der britischen Zeitung The Guardian. ‚Ich hatte die Chance, etwas zu fabrizieren, um das Regime zu stürzen‘, sagte der Iraker, der dem Bundesnachrichtendienst (BND) unter dem Codenamen ‚Curveball‘ Informationen über vermeintliche Biowaffen und geheime Anlagen geliefert hatte.“ (Die Zeit, 16. Februar 2011)

Der in Doha ansässige arabische Nachrichtensender Al Jazeera berichtete im Februar 2015, dass ein bekannter sunnitischer Stammesführer, Qassem Sweidan römisch 40 , mit seinem Sohn und sieben seiner Bodyguards in Bagdad getötet worden sei:

„A prominent Sunni tribal leader and his son and seven bodyguards have been killed in the Iraqi capital in an attack that has raised fresh questions about the role of armed groups.

Officials said on Saturday that Sheikh Qassem Sweidan römisch 40 was killed in Sadr City, a mainly Shia district in east Baghdad, after his convoy was ambushed. römisch 40 , a moderate Sunni, was found shot in the head with his hands tied behind his back. His son was killed by a bullet to the chest while most of his seven bodyguards were shot in the head. The sheikh's nephew, politician Zayed römisch 40 , was also detained during the ambush but released unharmed. […]

Adnan römisch 40 , a member of parliament from the same tribe, said Sheikh Qassem, who was a particularly prominent figure in the religiously mixed areas south of Baghdad, was a key player in efforts to combat sectarianism.” (Al Jazeera, 15. Februar 2015)

In einem im Dezember 2016 von der United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) und dem United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) veröffentlichten Bericht zum bewaffneten Konflikt im Irak und zum Schutz von ZivilistInnen, wird erwähnt, dass in der Provinz Babli am 1. Mai 2016 vier Personen getötet und drei weitere entführt worden seien. Am 2. Mai sei eine Person getötet und eine entführt worden. Die meisten Opfer hätten dem sunnitischen römisch 40 -Stamm angehört:

„It was reported that on 1 May, one member of AAH [Asayib Ahl al Haq] died due to the wounds he sustained in the 25 March ISIL attack in al-Hasswa on 25 March. Unverified reports were received that after the news of his death was reported, four people were killed and three others abducted in the al-Shuhadaa and al-Intissar areas of al-Hasswa in revenge attacks by AAH. In the evening of 2 May, gunmen alleged to be members of a militia operating under PMU broke into a pharmacy in al-Shuhadaa, al-Hasswa, and killed the owner and abducted an assistant. The victims of these incidents were members of the Sunni Arab community, with most coming from the römisch 40 Sunni tribe.“ (UNAMI/OHCHR, 30. Dezember 2016, Sitzung 18)

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 15. Jänner 2019)

Al Jazeera: Sunni tribal leader killed in Baghdad ambush, 15. Februar 2015 https://www.aljazeera.com/news/middleeast/2015/02/sunni-tribal-leader-killedbaghdad-ambush-150214194342794.html

CSM – Christian Science Monitor: How fragile is Baghdad's calm?, 27. November 2007 https://www.csmonitor.com/2007/1127/p01s04-wome.html

Die Zeit: Angeblicher Chemie-Ingenieur narrte BND und Bush-Regierung, 16. Februar 2011 https://www.zeit.de/politik/ausland/2011-02/irakkrieg-massenvernichtungswaffen-bnd

Guardian: 'The US is behaving as if every Sunni is a terrorist', 26. Jänner 2005 https://www.theguardian.com/world/2005/jan/26/iraq-middleeast

IUVM Press: Facts behind the refusal of refugees return to Jurf Al Nasr, 6. Februar 2018 http://iuvmpress.com/21795

Musings on Iraq: A Closer Look At Adnan römisch 40 , The New Head Of Iraq’s Oil Committee, 17. Februar 2011 http://musingsoniraq.blogspot.com/2011/02/closer-look-at-adnan- römisch 40 -new-headof.html

Nakash, Yitzhak: The Shi'is of Iraq, 1995 (Auszüge auf Google Books verfügbar) https://books.google.at/books?id=zYZeDwAAQBAJ&pg=PA43&lpg=PA43&dq= römisch 40 +ZUBAYD+tribe&source=bl&ots=CfewjE8O1B&sig=-ysBsCto3UbdvVswFaVmYIfUSnw&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwizmZ-Xt3fAhXJSxUIHW3rAlI4ChDoATACegQIBxAB#v=onepage&q= römisch 40 %20ZUBAYD%20tribe&f=false

Niqash: A Tribal Story from the \"Triangle of Death\", 7. Juli 2008 http://www.niqash.org/en/articles/politics/2241/

Quantum Research International: Iraq Tribal Study – Al-Anbar Governorate: The Albu Fahd Tribe, The Albu Mahal Tribe and the Albu Issa Tribe, 18. Juni 2006 https://turcopolier.typepad.com/files/iraqi-tribal-study---final-1.pdf

Stolzoff, Sam G.: The Iraqi Tribal System: A Reference for Social Scientists, Analysts, and Tribal Engagement, 2009 http://www.academia.edu/23293647/THE_IRAQI_TRIBAL_SYSTEMSZ – Süddeutsche Zeitung: USA fassen General von Saddams Elitetruppe, 19. Mai 2010 https://www.sueddeutsche.de/politik/irak-usa-fassen-general-von-saddams-elitetruppe-1.917334

The News & Advance: Can Iraq's Sunni tribes awaken to ISIS threat?, 22. Februar 2015 (Verfügbar auf Factiva)

UNAMI - United Nations Assistance Mission for Iraq; OHCHR - United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights: Report on the Protection of Civilians in the Armed Conflict in Iraq: 1 November 2015 – 30 September 2016, 30. Dezember 2016 https://www.ecoi.net/en/file/local/1395804/1226_1488889078_unami-ohchr-report-onpoc-in-iraq-01nov2015-30sep2016-final-13jan2017r-copy.pdf

Washington Post: Iraqi Gunmen Kill Baby, 6 Others in Home, 21. August 2007 http://www.washingtonpost.com/wpdyn/content/article/2007/08/21/AR2007082100327_pf.html“

Aus der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.01.2019 zum Irak: Lage von Mitarbeitern des Büros des ehemaligen Vizepräsidenten Tariq al-Haschimi; […] [a-10834-2 (10835)] ergibt sich:

„Die Alkarama Foundation, eine unabhängige in der Schweiz ansässige Menschenrechtsorganisation, listet in einem Aufruf vom April 2015 zur Freilassung von ehemaligen Mitarbeitern von Tariq al-Haschimi die Namen von 17 Personen auf, die zum Zeitpunkt des Aufrufs im Irak festgehalten würden. Die 17 Personen seien aufgrund tatsächlicher und vermuteter Verbindungen zum ehemaligen irakischen Vizepremierminister Tariq al-Haschimi verhaftet worden. Sie seien an geheimen Orten festgehalten und gefoltert worden. Man habe sie wegen der Verübung von Terrorakten angeklagt und der zentrale irakische Strafgerichtshof habe sie auf der Grundlage ihrer erzwungenen Geständnisse zum Tode verurteilt. Zwischen November 2011 und Dezember 2012 seien alle persönlichen Mitarbeiter von Al-Haschimi Opfer von Verschwindenlassen geworden. Die folgenden elf Mitarbeiter von al-Haschimi seien von den von Premierminister Al-Maliki kontrollierten Sicherheitskräften verhaftet worden:

1. Rasha Nemer Jaafar Al Husseini, 39, persönliche Sekretärin und Medienverantwortliche;

2. Sohail Akram Salman Al Gehiche, 34, Sekretär;

3. Yasser Saadi Hassoun Al Zubaidi, 29, Sicherheitsbediensteter;

4. Osama Hamid Hammoud Al Halbusi, 30, Sicherheitsbediensteter;

5. Natek Abdullah Ibrahim Al Aqidi, 40, Sicherheitsbediensteter;

6. Hekmat Nasser Hamad Dahi Al Obeidi, 36, Sicherheitsbediensteter;

7. Ali Mahmoud Al Dulaimi, 36, Sicherheitsbediensteter;

8. Marwan Mokhayber Ahmed Al Dulaimi, Sicherheitsbediensteter;

9. Qais Qader Mohammad Ali Abbas Al Bayati, 38, Sicherheitsbediensteter;“

10. Ahmed Shawki Abdel Karim Mohammed Al Sharabati, 44, Major der Sicherheitspatrouille;

11. Mohammed Hussein Obaid Hussein römisch 40 , 41, Hauptmann der Sicherheitspatrouille;

Alkarama listet des Weiteren die Namen von sechs Personen auf, die Freunde oder Verwandte von Mitarbeitern al-Haschimis seien und ebenfalls festgenommen worden seien. Alle Opfer seien von Alkarama an die Arbeitsgruppe zu willkürlicher Inhaftierung der Vereinten Nationen verwiesen worden und würden zum Berichtszeitpunkt in Erwartung einer Berufungsverhandlung unter schlechten und menschenunwürdigen Zuständen festgehalten. Unter den angeführten Mitarbeitern bzw. Freuden von Mitarbeitern von al-Haschimi finden sich auch zwei mit dem Namen römisch 40 : Mohammed Hussein Obaid Hussein Al Janabi (Hauptmann der Sicherheitspatrouille) sowie Ali Jalil Ali römisch 40 (ein ehemaliger Anwalt, der als Freund von al-Haschimis Bodyguards denunziert worden sei):

„On 15 April 2015, Alkarama sent a communication asking the United Nations Working Group on Arbitrary Detention (WGAD) to call upon the Iraqi authorities to immediately release 17 people arrested for their real or perceived link with former Vice President Tariq Al Hashimi. Secretly detained and tortured, they have all been accused of acts of ‘terrorism‘ and sentenced to death by the Central Criminal Court of Iraq on the basis of their forced confessions. […]

The security services, tightly controlled by former Prime Minister Al Maliki, continued to arrest dozens of Al Hashimi's staff, amongst which the 17 following victims. Between November 2011 and March 2012, all members of Al Hashimi's personal staff were abducted:

1. Rasha Nemer Jaafar Al Husseini, 39, personal secretary and media officer;

2. Sohail Akram Salman Al Gehiche, 34, secretary;

3. Yasser Saadi Hassoun Al Zubaidi, 29, security officer;

4. Osama Hamid Hammoud Al Halbusi, 30, security officer;

5. Natek Abdullah Ibrahim Al Aqidi, 40, security officer;

6. Hekmat Nasser Hamad Dahi Al Obeidi, 36, security officer;

7. Ali Mahmoud Al Dulaimi, 36, security officer;

8. Marwan Mokhayber Ahmed Al Dulaimi, security officer;

9. Qais Qader Mohammad Ali Abbas Al Bayati, 38, security officer;

10. Ahmed Shawki Abdel Karim Mohammed Al Sharabati, 44, major of the security patrol;

11. Mohammed Hussein Obaid Hussein römisch 40 , 41, captain of the security patrol;

That same wave of arrests targeted friends and relatives of people working for Al Hashimi, including:

12. Asim Jabbar Aath Fayyad Al Mashhadani, 34, friend of one of Al Hashimi's security officers;

13. Ahmed Shawki Saoud Al Kubaisi, 31, employee of the Supreme Commission for Public Elections and brother of one of Al Hashimi's security officers;

14. Ali Jalil Ali römisch 40 , 41, a former lawyer, who was denounced as a friend of Al Hashimi's bodyguards by a secret informant;

15. Raad Hammoud Salloum Hussein Al Dulaimi, 34, working in the government's real estate department, accused of having participated to a car bomb attack with some of Al Hashimi's bodyguards;

16. 17. Amjad, 27, and Arshad Hamid Ozgar M'hidi Al Dulaimi, 24, two brothers working as farmers, whose names were given during an interrogation under torture by one of Al Hashimi's security officers.

All the victims referred to the WGAD [United Nations Working Group on Arbitrary Detention] by Alkarama are currently all detained in poor and inhumane conditions, pending their appeal.“ (Alkarama, 15. April 2015)

In einem an den UNO-Ausschuss gegen Folter eingereichten Bericht vom Juli 2015 berichtet die Alkarama Foundation, dass Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte im Dezember 2011 auf Befehl des Premierministers al-Maliki das Haus des damaligen Vizepremierministers Tariq al-Haschimi umstellt hätten. Da al-Haschimi nicht zu Hause gewesen sei, seien mehrere seiner Verwandten und Mitarbeiter stattdessen festgenommen worden. Am 19. Dezember 2011 seien die mit vorgehaltener Waffe erzwungenen Geständnisse von dreien seiner Leibwächter im staatlichen Fernsehsender al-Iraqiya gezeigt worden. Die Leibwächter seien im Vorfeld schwerer Folter ausgesetzt gewesen und hätten mit ihren erzwungenen Geständnissen al-Haschimi belastet. Am selben Tag habe der Innenminister auf einer Pressekonferenz die Videos der erzwungenen Geständnisse gezeigt und bekanntgegeben, dass ein Haftbefehl gegen al-Haschimi wegen der „Durchführung von Bombenanschlägen“ erlassen worden sei. Gleichzeitig hätten die irakischen Sicherheitskräfte unter Kontrolle des Premierministers al-Maliki dutzende von al-Haschimis Mitarbeitern und Leibwächtern verhaftet und an geheime Orte gebracht, wo sie gefoltert und gezwungen worden seien, Geständnisse zu unterzeichnen, die sowohl sie selbst als auch al-Haschimi belastet hätten. Alkarama lägen die Aussagen von 21 ehemaligen Mitarbeitern von al-Haschimi sowie von Freunden und Verwandten der Mitarbeiter vor, die alle zwischen Dezember 2011 und März 2012 verhaftet worden seien. Sie alle hätten angegeben, während mehrerer Monate, in denen sie ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden seien, Folter ausgesetzt gewesen zu sein. Während der Zweck der Folter zunächst gewesen zu sein scheine, ein Geständnis im Hinblick auf terroristische Handlungen im Auftrag von al-Haschimi zu erhalten, sei es schließlich auch darum gegangen, die Festgenommenen kollektiv dafür zu bestrafen, dass sie für al-Haschimi gearbeitet hätten. Sie seien in Einzelhaft gehalten, geschlagen, und unbekleidet sehr kalten Temperaturen ausgesetzt worden. Auch das Würgen mit Plastiktüten und elektrische Schocks an empfindlichen Körperstellen seien eingesetzt worden. Mitarbeiter der Sicherheitskräfte hätten den Festgehaltenen ebenfalls gedroht, ihre Frauen und Mütter zu verhaften und sie vor ihren Augen zu vergewaltigen. Rascha al-Husseini, die persönliche Sekretärin vom Tariq al-Haschimi, sei vergewaltigt worden. Alle Personen seien auf Grundlage ihrer durch Folter erhaltenen Geständnisse wegen der „Ausführung terroristischer Handlungen” von der Abteilung des zentralen irakischen Strafgerichtshofes in al-Karkh verurteilt worden. Infolge extrem mangelhafter Gerichtsverfahren, in denen die unter Folter erlangten Geständnisse als einziges Beweismittel zugelassen worden seien, seien alle Festgenommenen auf Basis des 2005 erlassenen Antiterrorgesetztes zum Tode verurteilt worden:

„In December 2011, Iraqi security forces, ordered by Prime Minister al Maliki, surrounded the house of Vice-President Tariq Al Hashimi, a leading member of the Iraquiya coalition, al Maliki's main electoral rival, who was criticising what he saw as al Maliki's attempts to centralise power. This was marking an escalation of tensions between Al Maliki and Al Hashimi who had been at odds over the formation of a unity government. As Al Hashimi was not home, the security forces arrested several of his relatives and members of his staff instead. On 19 December 2011, forced confessions at gunpoint of three of his bodyguards who were severely tortured beforehand were aired on state-run channel Al Iraquiya incriminating Al Hashimi. The same day, the Ministry of Interior held a press conference to announce that an arrest warrant had been issued against Al Hashimi for having ‘orchestrated bombing attacks’ and broadcasted the coerced confessions, in violation of the principle of presumption of innocence. Meanwhile, the security services, tightly controlled by Al Maliki, continued to arrest dozens of Al Hashimi's staff and bodyguards and took them to secret locations where they were severely tortured and forced to sign confessions incriminating both Al Hashimi and themselves. Alkarama has gathered testimonies regarding 21 of Al Hashimi’s staff, their relatives and friends, who were all arrested between December 2011 and March 2012. All reported having been severely tortured while detained incommunicado for several months, following the same pattern. While the purpose of the torture was at first to have them confess that they took part in terrorist acts on behalf of Al Hashimi, it also turned to a collective punishment simply for having worked for him. In addition to being held in solitary confinement, they were being beaten up (falaqa), forced to strip and exposed to extremely low temperatures. They were also choked with plastic bags and subjected to electric shocks via electrodes placed on sensitive parts of their body. The security services agents, who had access to the prison facilities, also threatened to arrest their wives and mothers and rape them in front of them. Mrs Rasha Nemer Jaafar Al Husseini, Al Hashimi’s personal secretary and media officer, was also raped. They were all later charged on the basis of their confessions extracted under torture with ‘carrying out terrorist attacks’ by the investigating judge of the Central Criminal Court of Iraq (CCCI) branch in Al Karkh. After heavily flawed trials during which their confessions under torture were admitted as the sole pieces of evidence, they were all sentenced to death on the basis of article 4 of the Iraq's Anti-terrorism Law of 2005.” (Alkarama, 13. Juli 2015, Sitzung 11)

Alkarama berichtet des Weiteren auch über Repressalien gegenüber Rechtsanwälten, die Mitarbeiter von al-Haschimi verteidigt hätten. So sei eine Gruppe bewaffneter Personen am 24. März 2013 in das Büro eines der Rechtsanwälte, Salah Al-Obeidi, eingedrungen und habe ihn erschossen. Laut Zeugenberichten habe eine Einheit der Sicherheitskräfte, die sich in der Nähe von Al-Obeidis Büro befunden habe, nicht eingegriffen und die bewaffneten Personen nach der Erschießung ungehindert gehen lassen. Es seien keine Ermittlungen in Bezug auf seine Erschießung eingeleitet worden. Am 21. November 2012 sei ein weiterer Anwalt, Ziad Al- Naseri, in Haft genommen und eine Woche lang in menschenunwürdigen Zuständen in einem Anti-Terror-Gefängnis in Tikrit festgehalten worden. Am 31. März 2013 habe ein dritter Anwalt, Mouayad Al-Ezzi, einen Haftbescheid des Gerichtes in Al-Karkh erhalten. Dieser Haftbefehl sei am 24. Juni vom selben Gericht wieder aufgehoben worden:

„Salah Khabbas Al Obeidi, Mouayad Obeed Al Ezzi and Ziad Ghanem Shaaben Al Naseri are the lawyers of former Vice President Tariq Al Hashimi's staff members. In the morning of 24 March 2013, Al Obeidi was in his office in the Al Saidiya district when a group of armed people broke in and executed him. Although a detachment of the Security Forces was standing near Al Obeidi's office, witnesses report that they did not intervene neither during nor after the execution, letting the armed men leave. No inquiry was opened into his execution either. Al Ezzi and Al Naseri were themselves victims of arbitrary arrest and detention on the basis of the Anti-Terrorism Law. On 21 November 2012, Al Naseri was arrested and detained for one week in inhumane conditions in the Anti-Terrorism prison of Tikrit. Five months later, on 31 March 2013, Al Ezzi was notified of an arrest warrant issued by the Central Investigating Court of Al Karkh, adjacent to the Green Zone in Baghdad. On 24 June 2013, his arrest warrant was cancelled by the same court.” (Alkarama, 13. Juli 2015, Sitzung 13)

Laut Alkarama sei ein Mitarbeiter von al-Haschimis Sicherheitspersonal, Amir al-Batawi, am 21. Dezember 2011 von Mitarbeitern der irakischen Sicherheitskräfte verhaftet worden. Er sei auf Grundlage des Anti-Terrorgesetzes von 2005 wegen Terrorismus verurteilt und in das Baladiyat-Gefängnis in Bagdad verlegt worden. In Baladiyat, einer Haftanstalt, die unter Kontrolle des Justizministeriums stehe, seien auch weitere ehemalige Mitarbeiter von al-Haschimi ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Hier sei al-Batawi am 15. März 2012 unter Folter gestorben. Al-Batawis Anwalt habe in einem forensischen Labor gesehen, dass Al-Batawi vor seinem Tod enorm an Gewicht verloren habe. Sein Körper habe klare Spuren der Folter, Wunden an empfindlichen Stellen sowie Brandspuren aufgezeigt, außerdem sei Al-Batawi die Zunge abgeschnitten worden. Drei Wochen vor Al-Batawis Tod sei ein Bericht des Obersten Justizrates veröffentlicht worden, in dem eine gerichtliche Untersuchungskommission festgestellt habe, dass sich keine der 73 Personen, die in Verbindung mit al-Haschimi festgenommen worden seien, über Folter oder andere Formen der Misshandlung beschwert habe:

„Amir Al Batawi, a 40-year-old member of former Vice President Al Hashimi's security personnel, was arrested by the Iraqi Security Force s on 21 December 2011. Charged with terrorism on the basis of the Iraqi Anti-Terrorism Law No.13 of 2005, Al Batawi was transferred to Baladiyat prison in Baghdad – a detention centre falling under the control of the Ministry of Justice where other members of Al Hashimi's staff were detained incommunicado – where he died under torture on 15 March 2012. Five days later, when his body was shown at the Forensic Laboratory of Baghdad, Al Batawi's lawyer saw the victim had lost an enormous amount of weight and that he bore obvious signs of torture on his body, such as wounds on sensitive parts of his body, burn marks, and a cut-off tongue. […]

römisch eins t is noteworthy that Al Batawi died three weeks following the publication of a report by the Supreme Judicial Council in which its judicial investigating committee concluded that none of the 73 people detained in relation to the Al Hashimi had complained of torture or other ill- treatment.” (Alkarama, 13. Juli 2015, Sitzung 14-15)

Die international tätige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) berichtet im Dezember 2014, dass die Sekretärin des ehemaligen Vizepräsidenten Tariq al-Haschimi, Rascha al-Husseini, am 22. Oktober 2014 vom Strafgerichtshof in Bagdad wegen Terrorismus zum Tode verurteilt worden sei. Die Entscheidung des Gerichtes basiere allem Anschein nach allein auf al-Husseinis Geständnis, obwohl ihre Anwälte behaupten würden, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte al-Husseini körperlich und psychisch gefoltert hätten. Sicherheitskräfte hätten al-Husseini und etwa ein Dutzend weitere Mitarbeiter von Tariq al-Haschimi Ende Dezember 2011 verhaftet. Im März 2012 habe HRW Beweise vorgebracht, dass einige von ihnen gefoltert worden seien. Ein Leibwächter namens Amir Al-Batawi sei drei Monate nach seiner Verhaftung gestorben. Sein Körper habe Spuren der Folter aufgewiesen, jedoch habe die Regierung die Foltervorwürfe zurückgewiesen und sich geweigert, Ermittlungen einzuleiten. Al-Husseinis Familie habe gegenüber HRW angegeben, dass sie sich bei den Büros des irakischen Präsidenten und Premierministers darüber beschwert habe, dass Al-Husseinis Geständnis erzwungen worden sei, dass Sicherheitskräfte sie im Baladiyat-Gefängnis mit Elektroschocks gefoltert, sie geschlagen, an der Decke aufgehängt und damit gedroht hätten, sie, ihre Schwestern und ihre Mutter zu vergewaltigen. Statt Ermittlungen einzuleiten, hätten beide Büros angegeben, dass sich das Rechtssystem um diesen Fall kümmern werde. Al-Husseini befinde sich nun in der Kadhimiyya-Haftanstalt und warte auf ihre Überstellung in die Todeszelle. Laut Angaben von Familienmitgliedern hätten diese al-Husseini erst dann in Haft besuchen dürfen, nachdem sie Sicherheitsbediensteten 500 US-Dollar pro Besuch gezahlt hätten. Al-Husseini habe gegenüber HRW erwähnt, dass Sicherheitsbeamte ihr versprochen hätten, man lasse sie frei, wenn sie Informationen über al-Haschimis terroristische Aktivitäten erfinde:

„On October 22, 2014, Baghdad’s Central Criminal Court sentenced Rasha al-Husseini, a secretary to former Vice President Tariq Al-Hashimi, to death on terrorism charges. The court’s judgment appears to be based entirely on al-Husseini’s confession. Her lawyers allege that security forces psychologically and physically tortured her. […]

Security forces arrested al-Husseini and about a dozen other Hashimi staff members in late December 2011. In March 2012, Human Rights Watch reported evidence that several of them had been tortured. One, a bodyguard named Amir Sarbut Zaidan al-Batawi, died about three months after his arrest. His body displayed signs of torture, including in several sensitive areas. The government denied the torture allegations and did not investigate. Al-Husseini’s family told Human Rights Watch that they had complained to the office of Iraq’s president and prime minister about irregularities in her case, including allegations that to force her confession, security forces at the Intelligence Directorate in the Baladiyat neighborhood of Baghdad tortured her with electric shocks, beat her, suspended her from the ceiling, and threatened to rape her, her sisters, and her mother. Rather than investigate the allegations, both offices told the family that the legal system would take care of the case, the family members said. Al-Husseini is in the Kadhimiyya detention facility, awaiting transfer to death row. Family members said they were only able to visit al-Husseini in detention after paying US$500 to security officers at each visit. Lawyers representing al- Husseini told Human Rights Watch that she told them security officers promised her that if she fabricated information about the former vice president’s alleged terrorist activities, they would release her.” (HRW, 14. Dezember 2014)

Alkarama Foundation berichtet im August 2014, dass sie die Arbeitsgruppe der UNO für willkürliche Inhaftierungen dazu aufgefordert habe, sich bei den irakischen Behörden für die Freilassung von vier ehemaligen Sicherheitsbediensteten von Tariq al-Haschimi, nämlich Ghassan Al Kubaisi, Omar Al Noaemy, Abdulrazak Al Duleimi und Uday Al Ithawi einzusetzen, die zwischen Dezember 2011 und Januar 2012 verhaftet, schwer gefoltert und gezwungen worden seien, falsche Geständnisse abzulegen, auf Basis derer sie schließlich vom Zentralen Strafgerichtshof zum Tode verurteilt worden seien. Die vier Personen würden noch immer im Baladiyat-Gefängnis unter sehr schlechten und unmenschlichen Haftbedingungen festgehalten. Al-Kubaisi, Al-Noaemy und Al-Ithawi seien ein Jahr nach ihrer Verhaftung, nach einer Anhörung, in der ihnen die Aussage verwehrt worden sei, über ihr Todesurteil informiert worden. Al-Duleimi warte weiterhin auf sein Urteil. Alle seien auf Grundlage von Artikel 4 des Antiterrorgesetzes von 2005 verurteilt worden, dem zufolge „jeder, der als Hauptverantwortlicher oder als Teilnehmer Terrorakte verübt habe (…), zum Tode verurteilt werde.“ Das Gesetz bestimme auch, dass „jeder, der vorsätzlich einen Terrorakt verschleiere, zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt werde.“ Laut Alkarama sei dieses Gesetz sehr ungenau und erlaube willkürliche Verhängungen der Todesstrafe. Die meisten Hinrichtungen im Irak würden infolge von Verurteilungen des Zentralen Strafgerichtshofes durchgeführt, die sich auf dieses Antiterrorgesetz berufen würden:

„On 5 August 2014, Alkarama sent a communication to the UN Working Group on Arbitrary Detention to call upon the Iraqi authorities to end the arbitrary detention of four security officers by releasing them immediately. Ghassan Al Kubaisi, Omar Al Noaemy, Abdulrazak Al Duleimi and Uday Al Ithawi were all arrested between December 2011 and January 2012, severely tortured and forced to make false confessions, on the basis of which they were later sentenced to death by the Central Criminal Court of Iraq (CCCI). Today, these four individuals are still detained in Al Baladiyat Prison in extremely poor and inhumane conditions of detention. […]

About a year after their arrest, Al Kubaisi, Al Noaemy, and Al Ithawi were notified of their condemnations to death after a speedy hearing during which they were not permitted to speak. Until now, Al Duleimi is still awaiting his sentence. They were all sentenced on the basis of article 4 of the Iraq's Anti-terrorism Law of 2005, according to which ‘anyone who committed, as a main perpetrator or a participant, any of the terrorist acts [...], shall be sentenced to death.’ In addition, this law states that ‘anyone, who intentionally covers up any terrorist act [...], shall be sentenced to life imprisonment.’ Alkarama argues that this provision is extremely vague and allows for the arbitrary imposition of death penalty. In fact, in Iraq, the majority of executions are carried out following sentences issued by the Central Criminal Court of Iraq which are based on this very law.“ (Alkarama, 21. August 2014)

Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) berichtet im Jänner 2012 ebenfalls über den Fall von Rascha al-Husseini und schreibt, dass zwei Mitarbeiterinnen von Tariq al-Haschimi, Rascha al-Hussein und Bassima Kiryakos, am 1. Jänner von Sicherheitskräften in ihren Häusern verhaftet worden seien. Beide Frauen würden im Medienteam von al-Haschimi arbeiten, nach dem die irakischen Behörden wegen Terrorverdachts fahnden würden. Die beiden Frauen seien ohne Haftbefehl festgenommen worden und ihre Familien seien ohne weitere Erklärungen informiert worden, dass die beiden zu Vernehmungen mitgenommen würden. Bassima habe ihren Mann am 20. Jänner angerufen, um mitzuteilen, dass sie am nächsten Tag freigelassen werde, es gebe allerdings seither keine Informationen über den Verbleib der beiden Frauen. Bassima sei bereits einmal im Dezember verhaftet, geschlagen und schließlich nach drei Tagen ohne Anklage wieder freigelassen worden:

„Rasha Nameer Jaafer al-Hussain and Bassima Saleem Kiryakos were arrested by security forces at their homes on 1 January. Both women work in the media team of Iraqi Vice- President Tareq al-Hashemi, who is wanted by the Iraqi authorities on terrorism-related charges. Al-Hashimi has denied the charges, saying the accusations are politically motivated. […]

Security forces detained the two women without arrest warrants, informing the women’s families that they were being taken away for questioning, without explanation. Bassima Kiryakos called her husband on 20 January and informed him she was to be released the following day but neither woman has been heard from since. Bassima Kiryakos was previously arrested and beaten in December but released without charge after three days in detention.“ (AI, 30. Jänner 2012)

Al-Sumaria News, ein unabhängiger irakischer Fernsehsender, berichtet im Jänner 2012, dass das Büro von Tariq al-Haschimi erklärt habe, eine Kampagne zur Verteidigung von zweien seiner ehemaligen Mitarbeiterinnen zu starten, die im Zuge der Verhaftungen seiner MitarbeiterInnen und seines Sicherheitspersonals festgenommen worden seien. Basma Salim Kiryakos, eine christliche Mitarbeiterin, sei zu Silvester festgenommen worden und einem Untersuchungsrichter vorgeführt worden, der ihre sofortige Freilassung veranlasst habe. Trotzdem befinde sich Basma weiter in Haft und ihrem Verteidiger sei es nicht erlaubt, sie anzurufen. Rascha al-Husseini, eine schiitische Angestellte von al-Haschimi, habe sich selbst den Behörden gestellt im Vertrauen darauf, dass sie sich nichts zuschulden habe kommen lassen, jedoch habe man sie gezwungen, falsche Geständnisse zu unterschreiben. (Al-Sumaria, 22. Jänner 2012)

Die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen des UNO-Menschenrechtsrats schreibt in einer Stellungnahme vom August 2017, dass man im Jänner 2017 bezüglich Rasha Nemer Jaafar al-Husseini und 18 weiterer Personen eine Mitteilung an die irakische Regierung übermittelt habe, worauf letztere am 15. März 2017 geantwortet habe. Laut der Quelle der Mitteilung seien die 19 betroffenen irakischen StaatsbürgerInnen, um die es in dem Dokument geht, alle Bedienstete von al-Haschimi oder Personen mit mutmaßlichen persönlichen Verbindungen zu ihm gewesen. Sie alle seien zwischen November 2011 und März 2012 verhaftet und in der Folge im Geheimen festgehalten, gefoltert und zum Tode verurteilt worden.

Rasha Nemer Jaafar al-Husseini habe als persönliche Sekretärin und Medienverantwortliche von al-Haschimi gearbeitet, so die Quelle der Mitteilung. Sie sei im Dezember 2011 ohne Haftbefehl verhaftet worden. Sie sei in der Folge drei Jahre lang in Bagdad festgehalten worden und habe während dieser Zeit keine Besuche von Familienmitgliedern oder Anwälten erhalten dürfen oder mit ihnen kommunizieren dürfen. Außerdem sei sie während der ersten drei Monate ihrer Haft mutmaßlich schwer gefoltert worden, unter anderem mittels Schlägen und Vergewaltigung, um ein Geständnis von ihr zu erlangen. Der Anwalt von al-Husseini habe eine Untersuchung der Foltervorwürfe gefordert, was das Gericht Berichten zufolge abgelehnt habe. Im Oktober 2014 sei al-Husseini vom zentralen irakischen Strafgerichtshof wegen terroristischer Taten zum Tode verurteilt worden. Ihr Anwalt habe im November 2014 Berufung dagegen eingelegt, die jedoch noch anhängig sei.

Was die anderen 18 Personen angehe, so seien auch diese wegen ihrer starken Verbindungen zu al-Haschimi verhaftet und festgehalten worden, so die Quelle der Mitteilung weiters. Die meisten seien seine MitarbeiterInnen gewesen. Es sei jedoch besorgniserregend, dass einige der Opfer ins Visier geraten seien, nur weil sie Verwandte oder Freunde von MitarbeiterInnen al-Haschimis gewesen seien.

Die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen des UNO-Menschenrechtsrats merkt an, dass die Beweise und Stellungnahmen, die von der Quelle der Mitteilung übermittelt worden seien, überzeugend seien („compelling nature“) und die irakische Regierung es verabsäumt habe, die erforderlichen Formalitäten einzuhalten, um die Rechtgrundlage für die Verhaftung der 19 Personen zu schaffen. Die Regierung habe zwar behauptet, dass alle 19 Personen unabhängig vom Fall von al-Haschimi vor Gericht gestanden und verurteilt worden seien, und dass einige der Verfahren nach wie vor anhängig seien bzw. noch ermittelt werde, es sei jedoch sehr schwer zu glauben, dass die Verhaftungen, Verfahren und Todesurteile keine Verbindung zu al-Haschimi hätten. Die Arbeitsgruppe merke an, dass al-Haschimi selbst auf Grundlage von „Geständnissen“ seiner Bodyguards zwei Mal zum Tode verurteilt worden sei. Die Arbeitsgruppe habe keine andere Wahl, als zu glauben, dass alle 19 Personen tatsächliche oder angenommene Verbindungen zu al-Haschimi gehabt hätten:

„In accordance with its methods of work (A/HRC/33/66), on 27 January 2017 the Working Group transmitted to the Government of Iraq a communication concerning Rasha Nemer Jaafar al-Husseini and 18 other individuals. The Government replied to the communication on 15 March 2017. […]

Communication from the source

4. According to the source, the 19 Iraqi citizens listed below are all employees or persons with alleged personal connections with the former Vice-President of Iraq, Tariq al- Hashimi. They were all arrested by the Iraqi security forces between November 2011 and March 2012 and were secretly detained, tortured and sentenced to death under the Anti- Terrorism Law (Law No. 13) of 7 November 2005 by the Central Criminal Court of Iraq.

5. Rasha Nemer Jaafar al-Husseini, born in 1976, used to work as the personal secretary and media officer of Mr. Al-Hashimi. Ms. Al-Husseini usually resides in the Zayouna neighbourhood of Baghdad.

6. According to the source, on 27 December 2011, Ms. Al-Husseini was arrested at her house, after midnight, by members of the intelligence service, who did not provide an arrest warrant. She was subsequently detained for a period of three years on the premises of the former General Security Directorate in Baladiyat, Baghdad. She was not permitted to receive any visits from her family or her lawyer, nor was she allowed to communicate with them until the beginning of April 2012.

7. Furthermore, during the first three months of her detention, she was allegedly subjected to severe torture, including through beatings and rape, with the purpose of extracting information to be used as evidence in the course of her trial. On 18 April 2012, her lawyer submitted to the medico-judicial committee of the Central Criminal Court of Iraq a list of detainees, including Ms. Al-Husseini, who had been subjected to torture, demanding an investigation into their cases. On 1 April 2013, the Court reportedly dismissed the case of Ms. Al-Husseini and decided not to open an investigation into her allegations of torture. On the contrary, her forced confession was aired on Al-Fayhaa TV on 3 December 2012 during the news programme.

8. The source reports that on 18 February 2015, during an official visit to Al- Kazimiyah prison, Ms. Al-Husseini told the General Prosecutor of the Central Criminal Court of Iraq that she had been tortured by three named officials while detained in Baladiyat. However, no investigation was reportedly opened.

9. According to the source, it was only on 16 June 2012, i.e. almost six months after her arrest, that Ms. Al-Husseini was first referred to the Central Criminal Court of Iraq and notified of the fact that she was being charged for having ‘smuggled silenced weapons into Mr. Al-Hashimi’s house in Al-Yarmouk’ and that the charges were based on her confessions, which had been extracted under torture and in the absence of any material evidence.

10. On 22 October 2014, the Al-Karkh branch of the Central Criminal Court of Iraq in Baghdad found her guilty of ‘having provided and transferred silenced guns for terrorist ends’, considered a terrorist act under articles 2 (1), (3) and (7) of the Anti-Terrorism Law.

The Court subsequently sentenced her to death on the basis of article 4 of the Law, which provides for the death penalty for the above-mentioned terrorist act. Her lawyer filed an appeal on 11 November 2014, which is still pending. […]

31. According to the source, in December 2011, in an escalation of tensions between Mr. Al-Maliki and Mr. Al-Hashimi, who were at odds over the formation of a unity government, the Iraqi security forces, under the orders of Mr. Al-Maliki, raided Mr. Al- Hashimi’s house. However, since he had left Baghdad on 18 December 2011 and fled to the semiautonomous Kurdistan region, he could not be found. Mr. Al-Hashimi then left Kurdistan for security reasons to seek refuge in Turkey.

32. The source reports that, in retaliation, all members of his staff were arrested and individuals close to him allegedly continue to be victims of reprisals by the Iraqi authorities. On 19 December 2011, the Ministry of the Interior announced during a press conference that an arrest warrant had been issued against Mr. Al-Hashimi for having ‘orchestrated bombing attacks’. During the press conference, the State-run channel Al- Iraquiya aired the confessions made at gunpoint by three of Mr. Al-Hashimi’s bodyguards, who had been severely tortured and were still bearing signs of torture, claiming that Mr. Al- Hashimi had orchestrated the attacks of which he had been accused.” (HRC, 3. August 2017, Sitzung 1-3)

„54. The source submits that the above-mentioned individuals were arrested and detained because of discrimination based on their alleged political affiliation to Mr. Al-Hashimi.

55. The source recalls that all the victims had a strong link with Mr. Al-Hashimi and that most were his employees, working either as secretaries in his office or as his bodyguards. Nevertheless, it is worrying to note that some victims have been targeted for merely being relatives or friends of his employees, as in the cases of Messrs. Al- Mashhadani and Al-Kubaisi, or for having been allegedly named during coerced confessions, as in the cases of the Al-Dulaimi brothers.

56. In addition, the source notes that all the victims, including Mr. Al-Hashimi, were charged under the Anti-Terrorism Law. The source highlights that, according to international human rights law organizations, that Law is routinely used in Iraq to silence the opposition and critical voices.

57. Finally, the source recalls with utmost concern that all the above-mentioned individuals were sentenced to death by the Central Criminal Court of Iraq on the sole basis of confessions extracted under torture and after heavily flawed trials and that this is an indication of the politicized nature of their prosecution.” (HRC, 3. August 2017, Sitzung 6)

„82. The Working Group finds that the evidence and statements submitted by the source in the present case are of a compelling nature and that the Government has failed to follow the necessary formal procedures to establish the legal basis for the arrests of the 19 individuals by obtaining a judicially approved warrant.” (HRC, 3. August 2017, Sitzung 9)

„96. While the Government claims that all 19 individuals were tried and sentenced by the Central Criminal Court for cases separate from the main one and that some of them still have cases pending before the Court or under investigation, it is very difficult to believe that their arrest, trial and death sentences have no connection with Mr. Al-Hashimi. The Working Group notes that Mr. Al-Hashimi himself has been sentenced to death in absentia based on his bodyguards’ ‘confessions’ on 9 September 2012 followed by a second death sentence in November 2012 for ‘plotting to assassinate government officials’ and ‘having ordered bombings and other attacks from 2005 to 2011’.

97. The Working Group cannot but believe that all of the 19 accused had real or perceived connections with Mr. Al-Hashimi. Many of them were his former staff or bodyguards; some were arrested at his residence or offices.” (HRC, 3. August 2017, Sitzung 12)

Am Ende des Dokuments werden folgende 19 Personen aufgelistet, darunter auch Mohammed Hussein Obaid Hussein römisch 40 :

1. Rasha Nemer Jaafar al- Husseini

2. Ghassan Abbas Jasim al-Kubaisi

3. Omar Sameer Jawad al- Noaemy

4. Uday Ghazy Amin al- Ithawi

5. Yasser Saadi Hassoun Al Zubaidi

6. Osama Hamid Hammoud al-Halbusi

7. Asim Jabbar Aath Fayyad al- Mashhadani

8. Natek Abdullah Ibrahim al- Aqidi

9. Ahmed Shawki Saoud al- Kubaisi

10. Hekmat Nasser Hamad Dahi Al Obeidi

11. Sohail Akram Salman al- Gehiche

12. Ali Mahmoud al-Dulaimi

13. Marwan Mokhayber Ahmed al- Dulaimi

14. Amjad Hamid Ozgar M'hidi al- Dulaimi

15. Arshad Hamid Ozgar M'hidi al- Dulaimi

16. Raad Hammoud Salloum Hussein al- Dulaimi

17. Ahmed Shawki Abdel Karim Mohammed al-Sharabati

18. Mohammed Hussein Obaid Hussein römisch 40

19. Qais Qader Mohammad Ali Abbas al-Bayati

Alkarama Foundation berichtet im Oktober 2017, dass Rasha al-Husseini, die Sekretärin von al-Haschimi, freigelassen worden sei, nachdem der zentrale irakische Strafgerichtshof entschieden habe, alle Anklagepunkte gegen sie fallen zu lassen:

„On October 4, 2017, Rasha Al Husseini, secretary to former Vice President Tariq Al Hashimi, was released after the Central Criminal Court in Baghdad decided to drop the charges held against her. Al Husseini was arrested on December 27, 2011, as part of a wave of arrests which targeted individuals believed to be close to the former vice president.

Between November 2011 and March 2012, Rasha Al Husseini and 18 other individuals, most of whom were Al Hashimi’s bodyguards, were arrested by the Iraqi security forces. They were secretly detained, tortured in order to obtain confessions, and sentenced to death by the Central Criminal Court of Iraq under the repressive Anti-Terrorism Law of 2005. […]

From 2006 to 2012, Tariq Al Hashimi served as Vice President of Iraq. He became one of the key figures in the opposition against the former Prime Minister, Nouri Al Maliki, whose sectarian policies drew criticism.

On December 18, 2011, Al Hashimi fled the country after the government accused him of terrorism. The Central Criminal Court of Iraq sentenced him in absentia to death the following year. The members of his staff who remained in the country were found guilty by association and arrested.” (Alkarama Foundation, 4. Oktober 2017)

In einer Stellungnahme vom Juli 2018 schreibt die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen des UNO-Menschenrechtsrats, dass man im Jänner 2018 bezüglich 24 Personen eine Mitteilung an die irakische Regierung übermittelt habe.

Laut der Quelle der Mitteilung seien diese 24 Personen alle MitarbeiterInnen oder Personen mit mutmaßlichen Verbindungen zu al-Haschimi gewesen. Sie alle seien zwischen November 2011 und März 2012 verhaftet, im Geheimen festgehalten und gefoltert worden. Mehrere der Personen seien zum Tode verurteilt worden, andere hätten lebenslange oder 15-jährige Haftstrafen erhalten. In wenigen Fällen seien die Anklagen wegen Terrorismus fallengelassen worden, aber die Personen seien wegen anderer Anklagepunkte weiterhin festgehalten worden. Laut der Quelle der Mitteilung handle es sich um willkürliche Inhaftierungen von Bediensteten oder Personen mit mutmaßlichen Verbindungen zu al-Haschimi.

Die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen des UNO-Menschenrechtsrats merkt an, dass es schwierig sei, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass diese Personen in diskriminierender Art und Weise von der Justiz behandelt worden seien („discriminatory wheels of justice“). Zu diesem Schluss sei man auch in der Stellungnahme von 2017 gekommen, in der es um 19 Personen mit ähnlichen Verbindungen zu al-Haschimi gegangen sei:

„According to the source, the following 24 Iraqi citizens are all employees or persons with alleged personal connections with the former Vice-President, Tariq Al Hashimi. They were all arrested by the Iraqi Security Forces between November 2011 and March 2012, secretly detained and tortured. Several of the individuals were sentenced to death under the Anti-Terrorism Law No. 13 of 2005 by the Central Criminal Court of Iraq, while others were sentenced to life imprisonment or 15 years of imprisonment. In a few cases, the terrorism charges were dropped but the individuals remain detained on other charges. […]

The source submits that the above cases illustrate a pattern of arbitrary detention of employees or persons with alleged connections with the former Vice-President of Iraq, Tariq Al Hashimi. […]

According to the source, in December 2011, in an escalation of tension between Mr. Al Maliki and Mr. Al Hashimi, at odds over the formation of a unity Government, the Iraqi Security Forces, under the orders of former Prime Minister Al Maliki, raided Mr. Al Hashimi’s house, but did not find him there. He had left Baghdad on 18 December 2011 and fled first to the semi-autonomous Iraqi region of Kurdistan. He then left Kurdistan for security reasons to seek refuge in Turkey. The source reports that in retaliation, all members of his staff were arrested and individuals close to him allegedly continue to be victim of reprisals by the Iraqi authorities. […]

The source reports that between November 2011 and March 2012, the security services, tightly controlled by Prime Minister Al Maliki, carried out dozens of arrests targeting persons allegedly close to Mr. Al Hashimi, among them the individuals listed above. They were reportedly all taken to secret locations where they were severely tortured and forced to sign confessions incriminating themselves and Mr. Al Hashimi, on the basis of which they were later sentenced to death, life imprisonment or 15 years of imprisonment under the Anti-Terrorism Law No. 13 of 2005.” (HRC, 12. Juli 2018, Sitzung 2-4)

„In the present case, which involves 24 individuals with alleged connections to Mr. Al- Hashimi, it is difficult for the Working Group not to conclude that they have been caught up in apparently neutral but actually discriminatory wheels of justice, as it did in its opinion No. 33/2017 when it considered the case of 19 other individuals with similar connections to Mr. Al Hashimi.” (HRC, 12. Juli 2018, Sitzung 10-11)

Am Ende des Dokuments werden folgende 24 Personen aufgelistet:

1. Mohammed Hamid Ali Abdullah Al Jabouri

2. Mohammed Nehme Abbas Mahmoud Al Jabouri

3. Ahmad Ali Najim Rsan Al Abadi

4. Omar Ali Najim Rsan Al Abadi

5. Uday Hafiz Abbas Ali Al Ali

6. Ali Adel AbdelKarim Ismail Al Hashemi

7. Mazen Ahmad Sattar Hasan Al Obaidi

8. Riad Abdullah Razik

9. Mohammad Shawki Saoud Rahim Al Kubaisi

10. Buraq Abdel Ilah Jassim Mohamad Al Habsh

11. Qusay Saeed Abed Abbas Al Mashhadani

12. Malik Abed Sultan Hamad

13. Mohammad Firas Bahr Shati

14. Hammad Zaidan Khalaf Al Fahdawi

15. Abdul Razak Abdul Rahman Hasan Al Dulaimi

16. Rafid Walid Rachid Majid Al Obaidi

17. Hicham Ali Nayef Shatr

18. Mustafa Mohammad AbdelKarim Salih Al Samurai Al Hasani

19. Ismail Nasif Jassim Al Mashhadani

20. Ali Moussa Hussein Al Ameri

21. Salam Ashour Khalil Ibrahim Al Jumaili

22. Qusay Obaid Ibrahim Salloum

23. Loay Obaid Ibrahim Salloum

24. Saad Alwan Hamadi Yassin Al Mashhadani

[…]

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 15. Jänner 2019)

             AI - Amnesty International: Iraq must reveal whereabouts of Vice-President’s detained aides, 30. Jänner 2012 http://www.amnesty.org/en/news/iraq-must-reveal-whereabouts-vice-president-sdetained-aides-2012-01-30

             Al-Sumaria: Übergangsbüro von al-Haschimi beginnt Kampagne zur Verteidigung einer christlichen und einer schiitischen Mitarbeiterin, die für al-Haschimi gearbeitet haben [maktab al-haschimi al-mu’aqat yatliq hamla li-l-difac can muwazhafatayn masihiyya washiciyya kanata tacamilan ladayh], 22. Jänner 2012 http://www.alsumaria.tv/news/1119/%D9%85%D9%83%D8%AA%D8%A8-%D8%A7%D9%84%D9%87%D8%A7%D8%B4%D9%85%D9%8A-%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%A4%D9%82%D8%AA-%D9%8A%D8%B7%D9%84%D9%82-%D8%AD%D9%85%D9%84%D8%A9-%D9%84%D9%84%D8%AF%D9%81%D8%A7%D8%B9-%D8%B9%D9%86#

             Alkarama: Iraq: Four Security Officers of Former Vice-President Al Hashimi Arbitrarily Detained on Basis of False Confessions Obtained Under Torture, 21. August 2014 http://en.alkarama.org/1482-iraq-four-security-officers-of-former-vice-president-alhashimi-arbitrarily-detained-on-basis-of-false-confessions-obtained-under-torture

             Alkarama: Iraq: Politically-Driven Mass Arrests and Arbitrary Detention Target Former Vice-President Al Hashimi's Staff, 15. April 2015 https://www.alkarama.org/en/articles/iraq-politically-driven-mass-arrests-andarbitrary-detention-target-former-vice-president

             Alkarama Foundation: Iraq; Shadow report, 13. Juli 2015 (veröffentlicht von CAT) http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1437562754_int-cat-css-irq-21162-e.pdf

             Alkarama Foundation: Iraq: Secretary of former Vice President Tariq Al Hashimi released after six years behind bars, 4. Oktober 2017 https://www.alkarama.org/en/articles/iraq-secretary-former-vice-president-tariq-alhashimi-released-after-six-years-behind-bars

             HRC - UN Human Rights Council - Working Group on Arbitrary Detention: Opinions adopted by the Working Group on Arbitrary Detention at its 78th session, 19-28 April 2017, 3. August 2017 https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Detention/Opinions/Session78/A_HRC_WGAD_2017_33.pdf

             HRC - UN Human Rights Council - Working Group on Arbitrary Detention: Opinions adopted by the Working Group on Arbitrary Detention at its eighty-first session, 17 to 26 April 2018, 12. Juli 2018 https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Detention/Opinions/Session81/A_HRC_WGAD_2018_38.pdf

             HRW - Human Rights Watch: Death Sentences for Political Rivals, 14. Dezember 2014 http://www.ecoi.net/local_link/292526/413165_en.html“

Wie sich aus einem Bericht von ALKAMARA vom 26.05.2020 ergibt vergleiche dazu insbesondere S 7 ff https://www.ecoi.net/de/dokument/2033888.html vom 26.05.2020), Zugriff am 01.02.2021) befanden sich zum Zeitpunkt der Berichterstattung (daher Mitte des Jahres 2020) noch immer einige der 19 jedenfalls zwischen November 2011 und März 2012 von irakischen Sicherheitskräften festgenommenen Personen, welchen eine Verbindung zum vormaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi unterstellt wurden, trotz internationaler Interventionen in Haft und wurde über diese, neben Folter und anderer Drohungen zur Erzwingung von Geständnissen jeweils die Todesstrafe verhängt.

2. Beweiswürdigung:

Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt römisch eins. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

Zu den Personen der beschwerdeführenden Parteien:

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität (Namen, Geburtsdatum), Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit und Familienstand der Beschwerdeführerinnen getroffen wurden, beruhen diese auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, denen in der gegenständlichen Beschwerde nicht entgegengetreten wurde, sowie den Angaben der Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und in ihrer Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht nahm weiters hinsichtlich der Beschwerdeführerinnen Einsicht in das Fremdenregister, das Zentrale Melderegister, das Strafregister sowie in die Grundversorgungs- und Sozialversicherungsdaten und hinsichtlich der Söhne/Brüder römisch eins. und F. sowie der Ehefrau und den Kindern des F., in deren Gerichtsakten zu den Zahlen G308 2176519-1, G308 2150612-1, G308 2150613-1, G308 2150933-1, G308 2150923-1; G308 2150925-1, G308 2150614-1, G308 2150928-1 und G308 2230961-1. Aktenkundig ist darüber hinaus das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.02.2021, mit welchem dem Sohn/Bruder F., seiner Frau und deren Kindern der Status von Asylberechtigten zuerkannt wurde.

Kopien der irakischen Personalausweise Beschwerdeführerinnen, an deren Echtheit keine Bedenken aufgekommen sind, liegen im Verwaltungsakt ein.

Zu den Feststellungen hinsichtlich des Gesundheitszustandes der Erstbeschwerdeführerin ist festzuhalten, dass sie zwar in der Einvernahme vor dem Bundesamt am 05.09.2017 angab, an Bluthochdruck und Diabetes zu leiden, diesbezüglich aber keine Medikamente einzunehmen und auch sonst nicht medizinisch behandelt zu werden. Vor dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 17.09.2020 gab die Erstbeschwerdeführerin zu ihrem Gesundheitszustand befragt an, sie leide immer wieder an Migräne und nehme dafür Medikamente ein. Weiters leide sie an hohem Blutdruck, sei zuckerkrank und nehme das Medikament Saroten 25 mg ein, wenn sie starke Kopfschmerzen habe. Wegen der „Zuckerkrankheit“ werde sie nicht behandelt, sie achte auf ihre Ernährung. Dazu ist auszuführen, dass abgesehen von einem Blutdruck-Tagebuch kein einziger medizinischer Befund oder ein Rezept aktenkundig ist, das die von der Erstbeschwerdeführerin vorgebrachten Erkrankungen oder deren medikamentöse Behandlung nachweisen würde. Das Vorbringen zum Gesundheitszustand erweist sich somit als unsubstanziiert, sodass allfällige (behandlungsbedürftige) Erkrankungen nicht festgestellt werden konnten. Darüber hinaus besucht die Erstbeschwerdeführerin Kurse in Österreich, sodass das erkennende Gericht davon ausgeht, dass sie auch arbeitsfähig ist.

Die übrigen Feststellungen ergeben sich aus den im Verwaltungs- bzw. Gerichtsakt einliegenden Beweismitteln und insbesondere den im gesamten Verfahren insbesondere den Beschwerdeführerinnen gemachten eigenen Angaben, welche jeweils in Klammer zitiert und von ihnen zu keiner Zeit bestritten wurden.

Zum Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien:

Im Wesentlichen stützen sich die Beschwerdeführerinnen bei ihren Fluchtgründen auf das Vorbringen des Sohnes/Bruders F. in dessen Verfahren über seinen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte zusammengefasst vor, dass er und sein Bruder N. Mitarbeiter des Kabinetts des ehemaligen irakischen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi, einem Sunniten gewesen seien, dem vom schiitischen Ministerpräsidenten Al-Maliki im Dezember 2011 terroristische Handlungen unterstellt und gegen den ein Haftbefehl und in weiterer Folge die Todesstrafe verhängt worden sei. Auch die Mitarbeiter des Al-Hashimi seien vom Regime des Al-Maliki bedroht gewesen. So habe man auch nach F. und seinem Bruder N. (aller Wahrscheinlichkeit nach durch Angehörige von schiitischen Milizen) gesucht und bei erfolgloser Suche den Vater der beiden erschossen. Auch die Familienangehörigen, darunter Ehefrauen, Kinder, aber auch andere Verwandte wie Eltern und Geschwister wären von der Verfolgung insofern betroffen, als man diesen Gewalt androhe, um auf die eigentlichen gesuchten Personen zugreifen zu können.

Dazu ist einerseits auf das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.02.2021 zu verweisen, wonach das erkennende Gericht das Fluchtvorbringen des F. als glaubhaft und asylrelevant beurteilt hat. Die entsprechenden beweiswürdigenden Erwägungen wurden im gegenständlichen Erkenntnis festgestellt.

Dazu ist zu ergänzen, dass auch die beiden Beschwerdeführerinnen gleichlautend und darüber hinaus in Übereinstimmung mit den Angaben des F. und seiner Ehefrau dieselben Fluchtgründe vorbrachten.

In Anbetracht der beweiswürdigenden Überlegungen des erkennenden Gerichtes im Erkenntnis vom 08.02.2021 in Zusammenschau mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerinnen und den festgestellten Länderberichten ergibt sich auch im gegenständlichen Fall eine nicht mit der nötigen Wahrscheinlichkeit ausschließbare, maßgebliche und auch zum Entscheidungszeitpunkt nach wie vor aktuelle Verfolgungsgefahr der Beschwerdeführerinnen im Falle einer Rückkehr in den Irak aufgrund ihrer Eigenschaft als nahe Verwandte (Mutter bzw. Schwester) des F. und des N. durch schiitische Milizen bzw. irakische Sicherheitskräfte.

Aus der festgestellten ACCORD-Anfragebeantwortung vom 15.01.2019 ergibt sich, dass irakische Sicherheitskräfte im Dezember 2011 nach Erlassung eines Haftbefehls durch Premierminister Al-Maliki gegen den Vizepräsidenten Al-Hashimi gleichzeitig dutzende von Al-Hashimis Mitarbeitern und Leibwächtern verhaftet und an geheime Orte gebracht worden sind. Sie wären alle mehrere Monate, ohne Kontakte zur Außenwelt festgehalten und Folter ausgesetzt worden. Dabei sei ihnen auch gedroht worden, dass ihre Frauen und Mütter verhaftet und vor ihren Augen vergewaltigt würden. Alle Festgenommenen seien zum Tode verurteilt worden. Wie sich aus einem Bericht von Alkamara vom 26.05.2020 ergibt vergleiche dazu insbesondere S 7 ff https://www.ecoi.net/de/dokument/2033888.html vom 26.05.2020), Zugriff am 28.01.2021) befanden sich zum Zeitpunkt der Berichterstattung (daher Mitte des Jahres 2020) noch immer einige der 19 jedenfalls zwischen November 2011 und März 2012 von irakischen Sicherheitskräften festgenommenen Personen, welchen eine Verbindung zum vormaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi unterstellt wurden, trotz internationaler Interventionen in Haft und wurde über diese, neben Folter und anderer Drohungen zur Erzwingung von Geständnissen jeweils die Todesstrafe verhängt.

Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass die, insbesondere dem Sohn/Bruder F. der Beschwerdeführerinnen, aber auch die Beschwerdeführerinnen selbst im Falle einer Rückkehr in den Irak drohende Verfolgungsgefahr nach wie vor aktuell ist.

Die aktuelle Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer stellt sich für das Bundesverwaltungsgericht als unstrittig dar. In Zusammenschau mit der aktuellen Lage hinsichtlich der ehemaligen Mitarbeiter von Al-Hashimi und der allgemeinen Lage im Herkunftsland ergibt sich für das erkennende Gericht, dass die, die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak treffende, Verfolgungsgefahr nach wie vor aktuell ist.

Aus den Länderberichten ergibt sich zur aktuellen Sicherheitslage in Bagdad, dass das Gouvernement Bagdad das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen ist. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden. Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden. Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt.

Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen, doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen. Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden. Dabei wurden am 7. und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet. Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad.

Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet, im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten. Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar. Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren. Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.

Die gegenständlich relevanten Länderberichte untermauern im Ergebnis das von den Beschwerdeführerinnen vorgebrachte Fluchtvorbringen, wonach ihnen wegen der Tätigkeit des F. (bzw. auch des N.) für den ehemaligen Vizepräsidenten Al-Hashimi seitens der irakischen Sicherheitskräfte oder schiitischer Milizen nach wie vor Verfolgung drohen könnte. Dass sich die Lage der Beschwerdeführerinnen im Falle einer neuerlichen Rückkehr aufgrund der gegenständlich vorliegenden besonderen Konstellation inzwischen verbessert hätte, konnte nicht festgestellt werden, zumal sich auch aus den aktuellen Berichten aus dem Jahr 2020 ergibt, dass sich trotz des inzwischen verstrichenen, langen Zeitraums, noch immer ehemalige Mitarbeiter in Haft befinden und die Todesstrafe erwarten.

Insgesamt ist es den Beschwerdeführerinnen gelungen – entsprechend dem notwendigen Beweismaß der Glaubhaftmachung – nach Ansicht des erkennenden Gerichts im konkreten Fall hinreichend nachvollziehbar und glaubhaft darzulegen, dass ihnen im Herkunftsstaat Irak entsprechend den Feststellungen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht.

Demgegenüber konnten die Beschwerdeführerinnen mangels eines substanziierten Vorbringens nicht glaubhaft machen, dass ihnen im Falle einer Rückkehr in den Irak jeweils eine Zwangsehe drohe, zumal sie selbst angaben, es würden keinerlei nähere (männliche) Verwandte mehr im Irak leben. Auch wurde zu keiner Zeit konkret dargelegt, warum genau den Beschwerdeführerinnen eine solche Zwangsehe im Falle einer Rückkehr drohen würde, zumal sich auch aus den diesbezüglichen Länderberichten ergibt, dass es im Irak, insbesondere auch in Bagdad, sehr viele von Frauen geführte Haushalte gibt.

Aus den Länderberichten ist zur allgemeinen, den gesamten Irak betreffenden, Lage von Frauen mit westlichem bzw. nicht-konservativem Lebensstil zu entnehmen, dass sowohl Männer als auch Frauen unter Druck stehen, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Dies trifft insbesondere auf den schiitischen Südirak zu, wo auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, zB der Kopftuchzwang an Schulen oder Universitäten, stärker durchgesetzt werden. Ebenso werden Frauen unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen, sich westlich kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten (insbesondere in Basra). Im Allgemeinen wird im Irak, auch in der kurdischen Autonomieregion, von Frauen erwartet, Männern gegenüber unterwürfig zu sein. Mädchen und Frauen haben einen schlechteren Zugang zu Bildung.

Seitens des erkennenden Gerichtes ist es aufgrund dieser Berichte durchaus nachvollziehbar, dass sich insbesondere die Zweitbeschwerdeführerin gesellschaftlich unter Druck gesetzt gefühlt haben bzw. fühlen würde, diese islamischen Regeln zu befolgen. Jedoch muss auch bezüglich dieses Teils ihres Fluchtvorbringens - erneut - auf ihr unsubstanziiertes Vorbringen hingewiesen werden. Die Zweitbeschwerdeführerin konnte auch diesbezüglich keinen einzigen konkreten Vorfall nennen, bei dem es zu einer tatsächlichen persönlichen Bedrohung von ihr wegen des Umstandes, dass sie eine Frau ist, nennen. Die Zweitbeschwerdeführerin hat im Irak eine 11-jährige Schulbildung abgeschlossen. Es kann nicht erkannt werden, dass ihr die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Fall einer Rückkehr in den Irak generell verwehrt wäre.

In der Beschwerde wurde zudem unsubstanziiert ausgeführt, die Zweitbeschwerdeführerin pflege einen eindeutig westlichen Lebensstil. Die Zweitbeschwerdeführerin gab im Rahmen der mündlichen Verhandlung weiters an, sich in Österreich sicher und frei zu fühlen. Sie müsste kein Kopftuch tragen. Sie würde gerne ihre Ausbildung zur Pflegehilfe beenden und arbeiten wollen. Auch wurde vorgebracht, da die Beschwerdeführerinnen ohne männlichen Familienangehörigen im Haushalt leben würden, würden sie ihren Alltag selbstständig bewältigen. Sofern damit die Annahme einer westlichen Lebenseinstellung der Zweitbeschwerdeführerin vorgebracht wurde, muss jedoch entgegnet werden, dass nicht festgestellt werden konnte, dass sich eine westliche Lebenseinstellung in einem identitätsstiftenden Ausmaß in der Verhaltensweise der Zweitbeschwerdeführerin manifestiert hätte. Bis auf den Umstand, dass die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich kein Kopftuch mehr trägt (auf den vorgelegten Fotos ist sie meist mit Kopftuch zu sehen) und in der Lage ist, den Alltag als alleinstehende Frau zu bewältigen, wurde weder im Verfahren vor der belangten Behörde, in der Beschwerde noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht konkret dargelegt, welche weiteren Verhaltensweisen und Ansichten bei den Beschwerdeführerinnen, insbesondere der Zweitbeschwerdeführerin nunmehr vorliegen würden, um tatsächlich von der Annahme eines westlichen Lebensstils in identitätsstiftender Art und Weise vergleiche dazu VwGH vom 28.06.2018, Ra 2017/19/0579) auszugehen. Konkret hat die Zweitbeschwerdeführerin etwa nicht substantiiert vorgebracht, sich nicht mehr einer allfälligen Unterdrückung durch die irakische Gesellschaft zu unterwerfen, vielmehr gab sie dazu an, es würde ihr nicht leichtfallen. Das konkrete Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin hebt somit zwar die Vorteile und Möglichkeiten eines Lebens in Österreich (oder Europa) hervor, lässt jedoch die im Lichte der einschlägigen Judikatur des VwGH die nötige innere Überzeugung vermissen, ihr nunmehriges Verhalten als Ausfluss ihrer Grundrechte anzusehen.

Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den von ihr in das Verfahren eingebrachten und im Bescheid angeführten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen. Die belangte Behörde hat dabei Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. Diese Quellen liegen dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vor und decken sich im Wesentlichen mit dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgericht, das sich aus der ständigen Beachtung der aktuellen Quellenlage (Einsicht in aktuelle Berichte zur Lage im Herkunftsstaat) ergibt.

Darüber hinaus brachte das Bundesverwaltungsgericht für den konkreten Fall maßgebliche und zum Zeitpunkt der Entscheidung aktuelle Länderberichte gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung bzw. während der mündlichen Verhandlung in das Verfahren ein. Diesbezüglich wurde von der Rechtsvertretung eine schriftliche Stellungnahme abgegeben. Darüber hinaus sind in der Beschwerde keine Länderberichte enthalten, die den Feststellungen des erkennenden Gerichtes zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerinnen entgegenstünden oder eine andere Beurteilung erfordern würden. Die seitens des Bundesverwaltungsgerichtes in das Verfahren eingeführten Länderberichte blieben schlussendlich unbestritten. Bei den angeführten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation im Irak ergeben.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf eine Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Sowohl die Erstbeschwerdeführerin als auch die Zweitbeschwerdeführerin reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 20.09.2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Zum Zeitpunkt der Antragstellung war auch die Zweitbeschwerdeführerin bereits volljährig, sodass ein Familienverfahren gemäß Paragraph 34, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005 gegenständlich nicht vorliegt.

Das Bundesverwaltungsgericht erachtet es angesichts dessen, dass es sich bei beiden Beschwerdeführerinnen um Mutter und Tochter handelt, sie am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht haben und dieselben Fluchtgründe vorliegen (somit derselbe Sachverhalt vorliegt) jedenfalls unter den Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis gerechtfertigt, gemäß Paragraph 39, Absatz 2, AVG in Verbindung mit Paragraph 17, VwGVG die Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden.

Über die seitens der Beschwerdeführerinnen anhängigen Beschwerden wird somit mit der gegenständlichen Entscheidung gemeinsam abgesprochen.

Zu Spruchpunkt römisch eins. der angefochtenen Bescheide der Beschwerdeführerinnen:

Die Beschwerdeführerinnen stellten in Österreich jeweils am 20.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Gemäß den Übergangsbestimmungen des Paragraph 75, Absatz 24, AsylG 2005 sind auf Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz vor dem 15.11.2015 gestellt haben, die Paragraphen 2, Absatz eins, Ziffer 15,, 3 Absatz 4 bis 4b, 7 Absatz 2 a und 51a in der Fassung des Bundesgesetzes Bundesgesetzblatt römisch eins. Nr. 24 aus 2016, nicht anzuwenden. Für diese Fremden gilt weiter Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 15, AsylG 2005 in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 24 aus 2016,, daher somit in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015,.

Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 15, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015, ist der Status des Asylberechtigten das dauernde Einreise und Aufenthaltsrecht, dass Österreich Fremden nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes gewährt.

Der mit „Status des Asylberechtigten“ betitelte Paragraph 3, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015, lautet:

„§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.              dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2.              der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.

Anmerkung, Absatz 4, aufgehoben durch Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015,)

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.“

Im Hinblick auf die Neufassung des Paragraph 3, AsylG 2005 im Vergleich zu Paragraph 7, AsylG 1997 wird festgehalten, dass die bisherige höchstgerichtliche Judikatur zu den Kriterien für die Asylgewährung in Anbetracht der identen Festlegung, dass als Maßstab die Feststellung einer Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK gilt, grundsätzlich auch auf Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 anzuwenden ist.

Als Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Unter „Verfolgung“ im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen vergleiche VwGH vom 31.07.2018, Ra 2018/20/0182).

Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005 umschreibt „Verfolgung“ jede Verfolgungshandlung im Sinne des Artikel 9, der Statusrichtlinie, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15, Absatz 2, EMRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Artikel 2, EMRK geschützte Recht auf Leben und das in Artikel 3, EMRK niedergelegte Verbot der Folter vergleiche VwGH vom 31.07.2018, Ra 2018/20/0182, mit Verweis auf VwGH vom 08.09.2015, Ra 2015/18/0080).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459; 28.05.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031; 06.11.2009, 2008/19/0012). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011; 28.05.2009, 2008/19/1031). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid (bzw. das Asylerkenntnis) erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichen Schutzes einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinn ist die Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793).

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; 15.03.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "internen Flucht- oder Schutzalternative" innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539; 17.03.2009, 2007/19/0459).

Vorliegend ist festzuhalten, dass dem Vorbringen der Beschwerdeführerinnen im Ergebnis Asylrelevanz zukommt:

F., dem Sohn und Bruder der Beschwerdeführerinnen, als einem ehemaligen Kabinetts-Mitarbeiter des ehemaligen Vizepräsidenten Tariq Al-Hashimi droht im Falle seiner Rückkehr in den Irak nach wie vor Verfolgung seitens schiitischer Milizen oder allenfalls gar irakischer Sicherheitsbehörden. Von dieser Verfolgungsgefahr sind – wie den beweiswürdigenden Erwägungen zu entnehmen ist – auch die Familienangehörigen des F. – somit auch die beiden Beschwerdeführerinnen betroffen. Obwohl insbesondere seit den Ereignissen zwischen 2011 und 2012 betreffend den Haftbefehl und das Todesurteil gegen Al-Hashimi sowie der Verhaftungen ehemaliger Mitarbeiter, die gefoltert und ebenfalls zum Tode verurteilt wurden, inzwischen über neun Jahre vergangen sind, befinden sich nach wie vor zum Entscheidungszeitpunkt trotz internationaler Interventionen ehemalige Mitarbeiter des Al-Hashimi in Haft und erwarten die Vollstreckung ihres Todesurteils. Al-Hashimi selbst lebt in Qatar im Exil.

Es kann daher gegenständlich nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass trotz des inzwischen verstrichenen Zeitraumes im Falle einer Rückkehr keine Verfolgung oder Bedrohung mehr bestünde. Die irakischen Behörden und Sicherheitskräfte sind hinsichtlich einer Bedrohung durch eine schiitische Miliz nicht in der Lage bzw. Willens, den Beschwerdeführerinnen ausreichenden Schutz zu gewähren. Außerdem kann im gegenständlichen Fall nicht ausgeschlossen werden, dass die Bedrohungen oder Verfolgungshandlungen direkt von – dem irakischen Staat zurechenbaren – irakischen Sicherheitskräften ausgehen. Der Sohn/Bruder F. der Beschwerdeführerinnen läuft wegen der ihm unterstellten oppositionellen Gesinnung als Sunnit mit einer Tätigkeit für den ehemaligen sunnitischen Vizepräsidenten Al-Hashimi Gefahr, erheblichen Eingriffen in seine körperliche Integrität oder seines Lebens ausgesetzt zu sein und kann dies auch für die beiden gegenständlichen Beschwerdeführerinnen nicht mit der nötigen maßgeblichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Da weder die Erstbeschwerdeführerin noch die Zweitbeschwerdeführerin im Irak noch über nahe Verwandte verfügen bzw. zu den wenigen allenfalls verbliebenden seit Jahren keinerlei Kontakt besteht und viele Provinzen des Irak aber einen Bürgen und weitere Voraussetzungen (neben Sicherheitschecks) zur Niederlassung erfordern, darunter auch die Autonome Region Kurdistan, sowie den nach wie vor herrschenden konfessionellen Konflikten, den Protesten und der humanitären Lage und der wieder erhöhten Präsenz des IS liegt gegenständlich auch keine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative vor.

Demnach kann vor dem Hintergrund der festgestellten allgemeinen Lage nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerinnen als alleinstehende Frauen auch in der Autonomen Region Kurdistan Aufnahme, eine Unterkunft und die Möglichkeit zur Deckung ihrer Lebensbedürfnisse vorfinden würden. Vom Vorfinden einer gesicherten Existenzgrundlage kann keine Rede sein. Insgesamt kann vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak im konkreten Fall nicht davon ausgegangen werden, dass für die Beschwerdeführerinnen irgendwo im Irak eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative vorliegt, zumal eine Unterkunft in Flüchtlingslagern vom UNHCR nicht als „zu berücksichtigende Unterkunft“ angesehen wird.

Der festgestellte Sachverhalt war sohin insgesamt als asylrelevant zu qualifizieren.

Vor diesem Hintergrund war daher der Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin sowie auch der Zweitbeschwerdeführerin gegen den jeweiligen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides spruchgemäß stattzugeben und ihnen jeweils gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015, der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen, wobei dies gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 70 aus 2015, mit der Feststellung zu verbinden war, dass ihnen kraft Gesetzes jeweils die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Den Beschwerdeführerinnen kommt in der Folge aufgrund der Übergangsbestimmung des
§ 75 Absatz 24, AsylG 2005 eine unbefristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigte zu.

Zu Spruchpunkt römisch III.:

Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung der Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

Den Beschwerdeführerinnen wurde mit gegenständlichem Erkenntnis jeweils der Status von Asylberechtigten zuerkannt und daher ihrem Antrag auf internationalen Schutz diesbezüglich stattgegeben.

Die Voraussetzungen gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG sowie gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und damit in weiterer Folge auch der Abspruch über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG, die Zulässigkeit der Abschiebung gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG in Verbindung mit Paragraph 46, FPG sowie die Frist zur freiwilligen Ausreise liegen daher nicht mehr vor, weshalb diese Spruchpunkte ersatzlos zu beheben waren.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen, oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR zu Fragen des Asyls und zur Überschreitung der Eingriffsschwelle der Artikel 2 und Artikel 3, EMRK ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfragen vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich bei allen erheblichen Rechtsfragen an der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR orientiert und hat diese – soweit erforderlich – auch zitiert.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2021:G308.2182894.1.00