Bundesverwaltungsgericht
31.08.2020
I403 2137107-1
I403 2137107-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Irak, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 17.08.2016, Zl. römisch 40 römisch 40 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.08.2020 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
römisch eins. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Irak, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, welchen er im Wesentlichen damit begründete, sich vom Islam abgewandt und diesen Umstand auch in seinem persönlichen Umfeld geäußert zu haben. Aufgrund dessen sei er in seinem Herkunftsstaat der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt. Ein Scheich, welcher ein hochrangiges Mitglied der schiitischen Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq gewesen sei, habe den Beschwerdeführer zu einem Gespräch in einer Moschee gebeten, was dieser jedoch nicht wahrgenommen habe. Zudem habe er vor seiner Ausreise einen Anruf erhalten, in welchem er von einer unbekannten Person mit dem Tod bedroht worden sei.
Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA / belangte Behörde) vom 17.08.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß „§ 3 Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, Asylgesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005, (AsylG) idgF“ abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß „§ 8 Absatz eins, AsylG“ wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.). Eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde ihm gemäß „§ 8 Absatz 4, AsylG“ bis zum 17.08.2017 erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
Gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides wurde fristgerecht mit Schriftsatz vom 29.09.2016 Beschwerde erhoben. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den Bescheid dahingehend abändern, dass der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird; in eventu den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückverweisen; eine mündliche Verhandlung anberaumen.
Beschwerde und Bezug habender Akt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 13.10.2016 vorgelegt. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 15.04.2020 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung I403 neu zugewiesen.
Am 11.08.2020 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers und seiner Rechtsvertretung abgehalten.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt römisch eins. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos, Staatsangehöriger des Irak sowie Angehöriger der Volksgruppe der Araber. Seine Identität steht fest.
Er ist gesund und erwerbsfähig.
Er ist mit dem moslemisch-sunnitischen Glauben aufgewachsen und gibt an, sich im Erwachsenenalter vom Islam abgewandt zu haben. Er ist im Bundesgebiet bislang allerdings nicht aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten.
Er stammt aus Nasiriya, der Hauptstadt des Gouvernements Dhi Qar im süd-östlichen Teil des Irak, wo er bis zu seiner Ausreise bei seinen Eltern gelebt hat. Er hat in seinem Herkunftsstaat insgesamt zwölf Jahre die Schule und vier Jahre eine Universität in Bagdad besucht, wo er einen Abschluss in Rechtswissenschaften erworben hat. Seinen Lebensunterhalt in seinem Herkunftsstaat hat er als Angestellter bei einem Immobilienmakler bestritten. Die Kernfamilie, bestehend aus den Eltern und drei Schwestern des Beschwerdeführers, lebt nach wie vor in seiner Heimatstadt und steht er regelmäßig mit ihnen in Kontakt. Überdies lebt ein Onkel von ihm in Bagdad.
Er hält sich aktuell auf Grundlage einer bis zum 17.08.2021 gültigen Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter im Bundesgebiet auf.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Entgegen seinem Fluchtvorbringen ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in den Irak nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund einer tatsächlichen oder ihm unterstellten Abkehr vom Islam einer individuellen Gefährdung unterliegt oder psychischer und/oder physischer Gewalt ausgehend von Angehörigen der schiitischen Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq oder von anderweitigen Akteuren ausgesetzt ist.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage im Irak:
Auf Basis des aktuellen Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zum Irak vom März 2020 wird Folgendes festgestellt:
1.3.1. Allgemeine Sicherheitslage:
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vergleiche AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vergleiche Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vergleiche Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020
- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020
- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020
- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020
1.3.2. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen:
Die Zahl der durch Gewalt ums Leben gekommenen ist zwischen 2017 und 2019 erheblich gesunken. Waren 2015 noch etwa 17.500 zivile Gewaltopfer im Irak zu beklagen, so ist diese Zahl im Jahr 2019 auf rund 2.300 Gewaltopfer gesunken. Im Jahr 2020 gab es nach vorläufigen Schätzungen bis einschließlich Juni 522 zivile Todesopfer im Irak (Statista 18.8.2020).
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad Anmerkung, ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Februar 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Quellen:
- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020
- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
- Statista Research Department - deutsches Online-Portal für Statistik (22.05.2020): Anzahl der dokumentierten zivilen Todesopfer im Irakkrieg und in den folgenden Jahren von 2003 bis 2020*, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163882/umfrage/dokumentierte-zivile-todesopfer-im-irakkrieg-seit-2003/#professional, Zugriff 18.08.2020
1.3.3. Sicherheitslage Südirak:
Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).
Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 gab es im Gouvernement Babil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten (Joel Wing 2.12.2019), im Dezember 2019 drei Vorfälle mit drei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020) und im Februar 2020 zwei Vorfälle mit einem Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).
Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar, Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vergleiche Joel Wing 3.10.2019).
Quellen:
- CEDOCA - Centre de documentation et de recherches du Commissariat général aux réfugiés et aux apatrides (28.2.2018): IRAK: Situation sécuritaire dans le sud de l‘Irak, https://www.cgra.be/sites/default/files/rapporten/coi_focus_irak_situation_securitaire_dans_le_sud_de_lirak_20180228.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ISW - Institute for the Study of War (22.10.2019): Iraq's Sustained Protests and Political Crisis, https://iswresearch.blogspot.com/2019/10/iraqs-sustained-protests-and-political.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.10.2019): Iraq’s October Protests Escalate And Grow, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/iraqs-october-protests-escalate-and-grow.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (9.9.2019): Islamic State’s New Game Plan In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/09/islamic-states-new-game-plan-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
- Landinfo - The Norwegian COI Centre (31.5.2018): Irak: Sikkerhetssituasjonen i Sør-Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434620/1226_1528700530_irak-temanotat-sikkerhetssituasjonen-i-syarirak-hrn-31052018.pdf, Zugriff 13.3.2020
1.3.4. Volksmobilisierungskräfte (PMF) / al-Hashd ash-Sha’bi:
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017; vergleiche FPRI 19.8.2019; Clingendael 6.2018; Wilson Center 27.4.2018). Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen (GIZ 1.2020a; vergleiche FPRI 19.8.2019; Wilson Center 27.4.2018) und werden vorwiegend vom Iran unterstützt (GS 18.7.2019). PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS (Reuters 29.8.2019). Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei (Wilson Center 27.4.2018).
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien (Clingendael 6.2018). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 11.3.2020; vergleiche Clingendael 6.2018). In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist (Reuters 29.8.2019).
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.1.2019). Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus (Reuters 29.8.2019).
Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.1.2019; vergleiche FPRI 19.8.2019). Leiter der PMF-Dachorganisation, der al-Hashd ash-Sha‘bi-Kommission, ist Falah al-Fayyad, dessen Stellvertreter Abu Mahdi al-Mohandis eng mit dem Iran verbunden war (Al-Tamini 31.10.2017). Viele PMF-Brigaden nehmen Befehle von bestimmten Parteien oder konkurrierenden Regierungsbeamten entgegen, von denen der mächtigste Hadi Al-Amiri ist, Kommandant der Badr Organisation (FPRI 19.8.2019). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen sie, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten des Assad-Regimes in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind (USDOS 13.3.2019).
Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und den iranischen Revolutionsgarden. Es ist keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch den Premierminister und die ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 13.3.2019).
In vielen der irakischen Sicherheitsoperationen übernahm die PMF eine Führungsrolle. Als Schnittstelle zwischen dem Iran und der irakischen Regierung gewannen sie mit der Zeit zunehmend an Einfluss (GS 18.7.2019).
Am 1.7.2019 hat der irakische Premierminister Adel Abdul Mahdi verordnet, dass sich die PMF bis zum 31.7.2019 in das irakische Militär integrieren müssen (FPRI 19.8.2019; vergleiche TDP 3.7.2019; GS 18.7.2019), oder entwaffnet werden müssen (TDP 3.7.2019; vergleiche GS 18.7.2019). Es wird angenommen, dass diese Änderung nichts an den Loyalitäten ändern wird, dass aber die Milizen aufgrund ihrer nun von Bagdad bereitgestellte Uniformen nicht mehr erkennbar sein werden (GS 18.7.2019). Einige Fraktionen werden sich widersetzen und versuchen, ihre Unabhängigkeit von der irakischen Regierung oder ihre Loyalität gegenüber dem Iran zu bewahren (FPRI 19.8.2019). Die Weigerung von Milizen, wie der 30. Brigade bei Mossul, ihre Posten zu verlassen, weisen auf das Autoritätsproblem Bagdads über diese Milizen hin (Reuters 29.8.2019).
Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa‘ib Ahl al-Haqq und den Kata’ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen bezüglich Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF (AA 12.1.2019).
Die PMF gehen primär gegen Personen vor, denen eine Verbindung zum IS nachgesagt wird, bzw. auch gegen deren Familienangehörigen. Betroffen sind meist junge sunnitische Araber und in einer Form der kollektiven Bestrafung sunnitische Araber im Allgemeinen. Es kann zu Diskriminierung, Misshandlungen und auch Tötungen kommen (DIS/Landinfo 5.11.2018; vergleiche USDOS 21.6.2019). Einige PMF gehen jedoch auch gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor (USDOS 11.3.2020).
Die PMF sollen, aufgrund guter nachrichtendienstlicher Möglichkeiten, die Fähigkeit haben jede von ihnen gesuchte Person aufspüren zu können. Politische und wirtschaftliche Gegner werden unabhängig von ihrem konfessionellen oder ethnischen Hintergrund ins Visier genommen. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass die PMF über die Fähigkeit verfügen, in der Kurdischen Region im Irak (KRI) zu operieren. Dementsprechend gehen sie nicht gegen Personen in der KRI vor. Nach dem Oktober 2017 gab es jedoch Berichte über Verstöße von PMF-Angehörigen gegen die kurdischen Einwohner in Kirkuk und Tuz Khurmatu, wobei es sich bei den angegriffenen zumeist um Mitglieder der politischen Partei KDP und der Asayish gehandelt haben soll (DIS/Landinfo 5.11.2018).
Geleitet wurden die PMF von Jamal Jaafar Mohammad, besser bekannt unter seinem Nom de Guerre Abu Mahdi al-Mohandis, einem ehemaligen Badr-Kommandanten, der als rechte Hand von General Qasem Soleimani, dem Chef der iranischen Quds-Brigaden fungierte (GS 18.7.2019). Am 3.1.2020 wurden Abu Mahdi Al-Muhandis und Generalmajor Qassem Soleimani bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet (Al Monitor 23.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020). Als Rechtfertigung diente unter anderem ein Raketenangriff, der der Kataib-Hezbollah (KH) zugeschrieben wurde, auf einen von US-Soldaten genutzten Stützpunkt in Kirkuk, bei dem ein Vertragsangestellter getötet wurde (MEMO 21.2.2020). Infolge dessen kam es innerhalb der PMF zu einem Machtkampf zwischen den Fraktionen, die einerseits dem iranischen Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei, andererseits dem irakischen Großayatollah Ali as-Sistani nahe stehen (MEE 16.2.2020).
Der iranische Oberste Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannte Brigadegeneral Esmail Ghaani als Nachfolger von Soleimani (Al Monitor 23.2.2020). Am 20.2.2020 wurde Abu Fadak Al-Mohammedawi zum neuen stellvertretenden Kommandeur der PMF ernannt (Al Monitor 23.2.2020; vergleiche MEMO 21.2.2020). Vier PMF-Fraktionen, die dem schiitischen Kleriker Ayatollah Ali as-Sistani nahe stehen, haben sich gegen die Ernennung Mohammadawis ausgesprochen und alle PMF-Fraktionen aufgefordert, sich in die irakischen Streitkräfte unter dem Oberbefehl des Premierministers zu integrieren (Al Monitor 23.2.2020).
Die Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq
Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak (Süß 21.8.2017). Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch (Clingendael 6.2018). Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern (Süß 21.8.2017). Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden (Wilson Center 27.4.2018; vergleiche Al-Tamini 31.10.2017). Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017; vergleiche Wilson Center 27.4.2018).
Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF
Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017).
Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014 (TDP 3.7.2019). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017).
Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung (FPRI 19.8.2019). Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontrollieren, was von diesen zurückgewiesen wird (Reuters 29.8.2019). Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger auszuüben (ACCORD 11.12.2019). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).
Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind (Posch 8.2017).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/document/2021156.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020
- Al-Tamini - Aymenn Jawad Al-Tamimi (31.10.2017): Hashd Brigade Numbers Index, http://www.aymennjawad.org/2017/10/hashd-brigade-numbers-index, Zugriff 13.3.2020
- Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (6.2018): Power in perspective: Four key insights into Iraq’s Al-Hashd al-Sha’abi, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-06/PB_Power_in_perspective.pdf, Zugriff 13.3.2020
- DIS/Landinfo - Danish Immigration Service; Norwegian Country of Origin Information Center (5.11.2018): Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_iraq-report-security-idps-and-access-nov2018.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ICG - International Crisis Group (30.7.2018): Iraq’s Paramilitary Groups: The Challenge of Rebuilding a Functioning State, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/188-iraqs-paramilitary-groups-challenge-rebuilding-functioning-state, Zugriff 13.3.2020
- FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/, Zugriff 13.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 13.3.2020
- GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.htm, Zugriff 13.3.2020
- MEE - Middle East Eye (16.2.2020): Iran and Najaf struggle for control over Hashd al-Shaabi after Muhandis's killing, https://www.middleeasteye.net/news/iran-and-najaf-struggle-control-over-hashd-al-shaabi-after-muhandis-killing, Zugriff 13.3.2020
- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020
- Posch, Walter (8.2017): Schiitische Milizen im Irak und in Syrien –Volksmobilisierungseinheiten und andere, per E-mail
- Reuters (29.8.2019): Baghdad's crackdown on Iran-allied militias faces resistance, https://www.reuters.com/article/us-iraq-militias-usa/baghdads-crackdown-on-iran-allied-militias-faces-resistance-idUSKCN1VJ0GS, Zugriff 13.3.2020
- Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 13.3.2020
- TDP - The Defense Post (3.7.2019): Mahdi orders full integration of Shia militias into Iraq’s armed forces, https://thedefensepost.com/2019/07/03/iraq-mahdi-orders-popular-mobilization-units-integration/, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq, Zugriff 13.3.2020
1.3.5. Sunnitische Araber:
Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt (AA 12.1.2019). Bei willkürlichen Verhaftungen meist junger sunnitischer Männer wird durch die Behörden auf das Anti-Terror-Gesetz verwiesen, welches das Recht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren vorenthält (USDOS 21.6.2019). Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richten sich vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.1.2019).
Es gibt zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, PMF und Peshmerga (USDOS 11.3.2020). Noch für das Jahr 2018 gibt es Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen von sunnitischen Muslimen in und um Mossul (USCIRF 4.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html, Zugriff 13.3.2020
1.3.6. Religionsfreiheit:
Aufgrund der komplexen Verflechtung religiöser und ethnischer Identitäten ist eine strikte Unterscheidung zwischen rein religiösen Minderheiten und rein ethnischen Minderheiten im Irak oft nur schwer möglich. Um eine willkürliche Trennung zu vermeiden, werden alle Minderheiten, ein-schließlich derer, bei denen das religiöse Element überwiegt, im Abschnitt 15 (Minderheiten) behandelt.
Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 12.1.2019). Es darf kein Gesetz erlassen werden, das den „erwiesenen Bestimmungen des Islams“ widerspricht. In Absatz 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen oder Atheisten (RoI 15.10.2005; vergleiche USDOS 21.6.2019).
Artikel 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 12.1.2019; vergleiche ROI 15.10.2005). Artikel 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten (AA 12.1.2019; vergleiche ROI 15.10.2005).
Die folgenden religiösen Gruppen werden durch das Personenstandsgesetz anerkannt: Muslime, chaldäische Christen, assyrische Christen, assyrisch-katholische Christen, syrisch-orthodoxe Christen, syrisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, armenisch-katholische Christen, römisch-orthodoxe Christen, römisch-katholische Christen, lateinisch-dominikanische Christen, nationale Protestanten, Anglikaner, evangelisch-protestantische Assyrer, Adventisten, koptisch-orthodoxe Christen, Jesiden, Sabäer-Mandäer und Juden. Die staatliche Anerkennung ermöglicht es den Gruppen, Rechtsvertreter zu bestellen und Rechtsgeschäfte wie den Kauf und Verkauf von Immobilien durchzuführen. Alle anerkannten religiösen Gruppen haben ihre eigenen Personenstandsgerichte, die für die Behandlung von Ehe-, Scheidungs- und Erbschaftsfragen zuständig sind. Laut der Regierung gibt es jedoch kein Personenstandsgericht für Jesiden (USDOS 21.6.2019).
Das Gesetz verbietet die Ausübung des Bahai-Glaubens und der wahhabitischen Strömung des sunnitischen Islams (USDOS 21.6.2019; vergleiche UNHCR 5.2019).
Die alten irakischen Personalausweise enthielten Informationen zur Religionszugehörigkeit einer Person, was von Menschenrechtsorganisationen als Sicherheitsrisiko im aktuell herrschenden Klima religiös-konfessioneller Gewalt kritisiert wurde. Mit Einführung des neuen Personalausweises wurde dieser Eintrag zeitweise abgeschafft. Mit Verabschiedung eines Gesetzes zum neuen Personalausweis im November 2015 wurde allerdings auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen (AA 12.1.2019). Die Religionen, die auf dem Antrag für den nationalen Personalausweis angegeben werden können, sind christlich, sabäisch-mandäisch, jesidisch, jüdisch und muslimisch. Dabei wird zwischen den verschiedenen Konfessionen des Islams (Shi‘a-Sunni) bzw. den unterschiedlichen Denominationen des Christentums nicht unterschieden. Personen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, können nur dann einen Ausweis erhalten, wenn sie sich selbst als Muslim, Jeside, Sabäer-Mandäer, Jude oder Christ deklarieren (USDOS 21.6.2019) Artikel 26 besagt, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden (AA 12.1.2019). Es wird berichtet, dass das Gesetz faktisch zu Zwangskonvertierungen führt, indem Kinder mit nur einem muslimischen Elternteil als Muslime angeführt werden müssen. Christen, die formell als Muslims registriert sind, aber den christlichen oder einen anderen Glauben praktizieren, berichten auch, dass sie gezwungen sind, ihr Kind als Muslim zu registrieren oder das Kind undokumentiert zu lassen, was die Berechtigung auf staatliche Leistungen beeinträchtigt (USDOS 21.6.2019; vergleiche USCIRF 4.2019).
Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im irakischen Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Jesiden, Mandäer-Sabäer, Schabak und Faili Kurden). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und assyrische Christen sowie einen für Armenier vor (AA 12.1.2019).
Institutionelle und gesellschaftliche Einschränkungen der Religionsfreiheit sowie Gewalt gegen Minderheitengruppen sind nach Ansicht von Religionsführern und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auf Religionsfreiheit konzentrieren, nach wie vor weit verbreitet. Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Diskriminierung von Minderheiten durch Regierungstruppen, insbesondere durch manche PMF-Gruppen, und andere Milizen, sowie das Vorgehen verbliebener aktiver IS-Kämpfer, hat ethnisch-konfessionelle Spannungen in den umstrittenen Gebieten weiter verschärft. Es kommt weiterhin zu Vertreibungen wegen vermeintlicher IS- Zugehörigkeit. Kurden und Turkmenen in Kirkuk, sowie Christen und andere Minderheiten im Westen Ninewas und in der Ninewa-Ebene berichten über willkürliche und unrechtmäßige Verhaftungen durch Volksmobilisierungskräfte (PMF) (USDOS 11.3.2020).
Da Religion, Politik und Ethnizität oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, viele Vorfälle als ausschließlich auf religiöser Identität beruhend zu kategorisieren (USDOS 11.3.2020).
Vertreter religiöser Minderheiten berichten, dass die Zentralregierung im Allgemeinen nicht in religiöse Handlungen eingreift und sogar für die Sicherheit von Gotteshäusern und anderen religiösen Stätten, einschließlich Kirchen, Moscheen, Schreinen, religiösen Pilgerstätten und Pilgerrouten, sorgt. Manche Minderheitenvertreter berichten jedoch über Schikane und Restriktionen durch lokale Behörden (USDOS 21.6.2019).
Vertreter religiöser Minderheiten berichten weiterhin über Druck auf ihre Gemeinschaften Landrechte abzugeben, wenn sie sich nicht stärker an islamische Gebote halten (USDOS 21.6.2019).
Die Kurdische Region im Irak (KRI) war für viele religiöse und ethnische Minderheiten im Nordirak ein wichtiger Zufluchtsort, während der Phase der konfessionellen Gewalt nach 2003 und während der IS-Krise (USCIRF4.2019). Einige jesidische und christliche Führer berichten über Schikanen und Misshandlungen durch Peshmerga und Asayesh im von der kurdischen Regionalregierung (KRG) kontrollierten Teil von Ninewa, jedoch sagen einige dieser Führer, dass die Mehrheit dieser Fälle eher politisch als religiös motiviert seien (USDOS 21.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 13.3.2020
- UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (5.2019): International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007789/5cc9b20c4.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html, Zugriff 13.3.2020
Konversion und Apostasie
Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z.B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z.B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht (AA 12.1.2019). Das Zivilgesetz sieht einen einfachen Prozess für die Konversion eines Nicht-Muslims zum Islam vor. Die Konversion eines Muslims zu einer anderen Religion ist jedoch gesetzlich verboten (USDOS 21.6.2019; vergleiche EASO 3.2019). Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion übertreten, müssen ihre Kinder daher weiterhin als Muslime registrieren (DIS/Landinfo 9.11.2018). Muslimische Männer dürfen eine nicht-muslimische Frau heiraten, muslimische Frauen dürfen jedoch keine Nicht-Muslime heiraten (RoI 30.12.1959).
Personen, die vom Islam zum Christentum konvertieren, können auf Schwierigkeiten mit den Behörden stoßen. Hauptursache für Probleme stellen in der Regel jedoch die Gesellschaft und die Familie dar (EASO 6.2019; vergleiche Open Doors 4.2019). Es wird nur selten über Fälle offener Konversion vom Islam zum Christentum berichtet. Personen halten eine Konversion geheim, da Feindseligkeit gegenüber Konvertiten aus der islamischen irakischen Gesellschaft weit verbreitet sind. Familien und Stämme können die Konversion eines ihrer Angehörigen als einen Affront gegen ihre kollektive „Ehre“ interpretieren, weswegen eine offene Konversion Ächtung und/oder Gewalt durch die Gesellschaft, den Stamm, die Familie oder bewaffnete Gruppen nach sich ziehen kann (UNHCR 5.2019).
Es gibt keine gemeldeten Fälle von Personen, die in der Kurdischen Region im Irak (KRI) wegen eines Religionswechsels vor Gericht gestellt wurden. Die Zahl der zum Christentum konvertierten Personen in der KRI wird auf wenige hundert geschätzt (EASO 6.2019). Personen, die vom Islam zu Christentum konvertieren, sind in der KRI in Gefahr Opfer von (auch tödlicher) Gewalt zu werden (DIS/Landinfo 9.11.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- DIS/Landinfo - Danish Immigration Service; Norwegian Country of Origin Information Center (9.11.2018): Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, https://www.ecoi.net/en/file/local/2016438/Iraq-KRI-Women-and-men-in-honour-related-conflicts-Udl%C3%A6ndingestyrelsen-og-Landinfo-09112018.pdf, Zugriff 13.3.2020
- EASO - European Asylum Support Office (6.2019): Country Guidance: Iraq; Guidance note and common analysis, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/Country_Guidance_Iraq_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- EASO - European Asylum Support Office (3.2019): Iraq; Targeting of Individuals, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003960/Iraq_targeting_of_individuals.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Open Doors (2020): World Watch List - Iraq, https://www.opendoorsusa.org/christian-persecution/world-watch-list/iraq/, Zugriff 13.3.2020
- RoI - Republic of Iraq (30.12.1959) Iraq: Personal Status Law and Its Amendments (1959) [Iraq], https://www.refworld.org/docid/5c7664947.html, Zugriff 13.3.2020
- UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (5.2019): International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007789/5cc9b20c4.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html, Zugriff 13.3.2020
Atheismus, Agnostizismus, Kritik an konfessioneller Politik
Das irakische Strafgesetzbuch enthält keine Artikel, die eine direkte Bestrafung für Atheismus vorsehen. Es gibt auch keine speziellen Gesetze, die Strafen für Atheisten vorsehen. (Al-Monitor 1.4.2018). Atheismus ist im Irak zwar nicht illegal (NBC 5.4.2019), aber die irakische Verfassung garantiert Atheisten nicht die freie Glaubensausübung (USDOS 21.6.2019; vergleiche EASO 3.2019).
Staatliche Akteure setzen Atheismus typischerweise mit Blasphemie gleich (UKHO 10.2019). Atheisten wurden Berichten zufolge wegen „Schändung von Religionen“ und damit zusammenhängenden Anklagen verfolgt (UNHCR 5.2019; vergleiche Al Monitor 1.4.2018). Im März 2018 wurden in Dhi Qar Haftbefehle gegen vier Iraker aufgrund von Atheismus-Vorwürfen erlassen. Einer wurde verhaftet, während die übrigen drei geflohen sind (Al-Monitor 1.4.2018; vergleiche USCIRF 4.2019). Ende 2018 wurde ein atheistischer Buchhändler im südirakischen Gouvernement Nasriyah verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen Atheismus verbreiten zu wollen (AW 20.7.2019; vergleiche NBC 5.4.2019).
Atheisten im Irak sind eine wachsende Minderheit (AW 20.7.2019). Berichten zufolge gibt es auch eine kleine, wachsende Bewegung von Agnostikern im Irak (NBC 5.4.2019).
Offener Atheismus ist im Irak äußerst selten, da die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Atheisten sehr begrenzt ist, wie die öffentliche Rhetorik einiger Politiker und religiöser Führer zeigt. Atheisten halten ihre Ansichten oft geheim, aus Furcht vor Diskriminierung und Gewalt durch die eigene Familie, Milizen oder auch religiös-konservative Gruppen (UKHO 10.2019). Milizen sollen Mittel haben, um die Personen hinter Social Media-Einträgen ausfindig zu machen. Angeblich werden Atheisten ins Visier genommen (NBC 5.4.2019).
Personen, die gegen die strenge Auslegungen der islamischen Regeln in Bezug auf Kleidung, soziales Verhalten und Berufe verstoßen, einschließlich Atheisten und säkular gesinnte Personen, Frauen und Angehörige religiöser Minderheitsgruppen, sind Berichten zufolge mit Entführungen, Schikanen und körperlichen Angriffen durch verschiedene extremistische bewaffnete Gruppen und Milizen konfrontiert (UNHCR 5.2019).
Obwohl in der Bevölkerung verschiedene Grade der Religiosität vertreten sind, und ein Segment der Iraker eine säkulare Weltanschauung vertritt, ist es dennoch selten, dass sich jemand öffentlich zum Atheismus bekennt. Die meisten Atheisten verstecken ihre Identität und behaupten Muslime zu sein (EASO 3.2019).
Viele Geistliche, die islamischen politischen Parteien nahe stehen, haben missverständliche Vorstellungen zu dem Thema und bezeichnen z.B. oft den Säkularismus als Atheismus (Al-Monitor 1.4.2018).
An den Wahlen von 2018 nahm auch eine Reihe eher säkularer Parteien teil (FH 4.3.2020).
Quellen:
- Al-Monitor (1.4.2018): Iraqi courts seeking out atheists for prosecution, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/03/atheists-iraq-human-rights.html, Zugriff 13.3.2020
- AW - Arab Weekly, The (20.7.2019): ‘Iraq’s growing community of atheists no longer peripheral’, https://thearabweekly.com/iraqs-growing-community-atheists-no-longer-peripheral, Zugriff 13.3.2020
- EASO - European Asylum Support Office (3.2019): Iraq; Targeting of Individuals, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003960/Iraq_targeting_of_individuals.pdf, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- NBC News (5.4.2019): Iraq's atheists go underground as Sunni, Shiite hard-liners dominate, https://www.nbcnews.com/news/world/iraq-s-atheists-go-underground-sunni-shiite-hard-liners-dominate-n983076, Zugriff 13.3.2020
- UKHO - UK Home Office (10.2019): Country Information and Guidance Iraq: Religious minorities, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018421/Iraq_-_Religious_Minorities_-_CPIN_-_v2.0__October_2019__-_EXT.odt, Zugriff 13.3.2020
- UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (5.2019): International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2007789/5cc9b20c4.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html, Zugriff 13.3.2020
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz, in die zitierten Länderberichte zum Irak sowie in die seitens des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren vorgelegten Unterlagen.
Der oben unter Punkt römisch eins. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
Überdies wurde Beweis aufgenommen durch die Abhaltung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 11.08.2020 in Anwesenheit des Beschwerdeführers und seiner Rechtsvertretung.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Identität des Beschwerdeführers steht aufgrund seines im Original in Vorlage gebrachten irakischen Personalausweises Nr. römisch 40 fest.
Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinen Familienverhältnissen, seiner Herkunft, seiner Berufserfahrung, seinem Gesundheitszustand, seiner Erwerbsfähigkeit, seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seiner Konfession ergeben sich aus den diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers aufkommen lässt.
Dass der Beschwerdeführer einen Universitätsabschluss in Rechtswissenschaften an einer Universität in Bagdad erworben hat, ergibt sich aus einem in Vorlage gebrachten Originalzeugnis der Universität vom 16.01.2016.
Dass sich der Beschwerdeführer aktuell auf Grundlage einer bis zum 17.08.2021 gültigen Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter im Bundesgebiet aufhält, ergibt sich aus einer Abfrage im Informationsverbund Zentrales Fremdenregister (IZR).
2.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer begründete seinen verfahrensgegenständlichen Asylantrag im Wesentlichen mit dem Umstand, dass er im Irak der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt sei, da er sich vom Islam abgewendet habe. Das Bundesverwaltungsgericht gelangt auf Grundlage der ergänzenden Ermittlungen sowie insbesondere aufgrund des unmittelbaren und persönlichen Eindrucks, welcher vom Beschwerdeführer im Rahmen der Verhandlung am 11.08.2020 gewonnen werden konnte, zum Schluss, dass sein Vorbringen nicht glaubhaft ist. Dies aufgrund folgender Erwägungen:
In seiner Erstbefragung am 27.10.2015 gab der Beschwerdeführer zunächst an, dass Sunniten im Irak eine Minderheit wären und es „in letzter Zeit“ gehäuft zu Entführungen vieler Sunniten durch Schiiten gekommen sei. Aufgrund dessen habe er seinen sunnitischen Glauben aufgegeben (AS 19). Diese Schilderungen würden den Schluss nahelegen, der Beschwerdeführer habe sich gerade deshalb von seiner sunnitischen Konfession abgewendet, um der Gefahr einer Verfolgung im Irak zu entgehen.
In seiner Einvernahme vor dem BFA am 22.06.2016 behauptete er hingegen, sich ausführlich mit seiner Religion und der Scharia befasst, Exegese-Bücher über den Koran als auch die Geschichte des islamischen Propheten gelesen und dann aus innerer Überzeugung den Entschluss gefasst zu haben, den Islam zu verlassen. Konfessionelle Unruhen im Irak als Teil dieses Entscheidungsfindungsprozesses erwähnte er hingegen nur beiläufig (AS 47).
Generell erschöpfte sich das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers bis zuletzt in der Beschwerdeverhandlung am 11.08.2020 in der Darlegung von Eckpfeilern einer oberflächlich vorgetragenen, vagen Rahmengeschichte, welche aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes Realkriterien, wie sie für Erzählungen von selbst wahrgenommenen Ereignissen typisch sind - etwa eigene Gefühle oder auch nur unwesentliche Details oder Nebenumstände – vermissen ließ. Er behauptete zusammengefasst, mit seiner Familie sowie mit zwei Freunden über seine Zweifel am Islam gesprochen zu haben. Daraufhin habe ihn ein Scheich namens A römisch 40 , welcher in der örtlichen Gemeinschaft des Beschwerdeführers ein hochrangiges Mitglied der schiitischen Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq gewesen sei, zu einem Gespräch in eine Moschee geladen, welchem der Beschwerdeführer jedoch fernblieb. Zudem habe er einen Drohanruf von einer unbekannten Person erhalten.
Im Hinblick auf sein Vorbringen rund um den Scheich A römisch 40 ist bemerkenswert, dass der Beschwerdeführer ausdrücklich angab, diesen gar nicht persönlich zu kennen und wurde erstmalig im Beschwerdeschriftsatz vorgebracht, die Einladung zu dem in Rede stehenden Gespräch sei erfolgt, indem ein Mann den Vater des Beschwerdeführers in dessen Geschäft aufgesucht habe. Den Schilderungen im Beschwerdeschriftsatz ist jedoch sinngemäß zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer den angeblichen Drohanruf bereits bekommen habe, bevor er zu dem Gespräch mit A römisch 40 geladen worden sei vergleiche AS 155f: „Da meine Entscheidung in der Ortschaft bekannt wurde, erhielt ich einen Anruf. Der Anrufer sagte, weil ich das schiitische Dogma kritisiert habe, wird er mich umbringen. In derselben Woche hat ein Mann meinen Vater in seiner Arbeit aufgesucht und ihn aufgefordert, mich ins Freitagsgebet zu schicken und auch zu einem persönlichen Gespräch nach dem Gebet zum Scheich A römisch 40 zu schicken. Sowohl für meine Familie als auch für mich war es klar, dass ich nun um mein Leben fürchten muss und ich bin aus Angst um mein Leben nicht zu dem Termin gegangen. Ich bin gleich untergetaucht und entschied mich das Land zu verlassen“). In der Beschwerdeverhandlung schilderte er die Reihenfolge der Ereignisse jedoch genau umgekehrt vergleiche Protokoll S 8: „Ich habe mit meinen Freunden gesprochen. Ich sprach über eine wichtige Person bei den Schiiten. Ein bester Freund von mir hat sich aufgeregt. Nach ein paar Tagen ging eine Person zu meinem Vater. Wir haben einen Scheich von der Moschee römisch 40 . Der wollte mit mir reden. Eine Person kam zu meinem Vater und hat zu ihm gesagt, dass er mit mir reden möchte und zwar nach dem Freitagsgebet. Ich ging aber nicht hin. Darauf bekam ich eine telefonische Bedrohung und dann habe ich den Irak verlassen“).
Bemerkenswert ist überdies, dass der Beschwerdeführer in seiner zweiten Einvernahme vor dem BFA am 01.08.2016 ausdrücklich zu Protokoll gab, bereits ca. sechs bis sieben Monate vor seiner tatsächlichen Ausreise den Entschluss gefasst zu haben, den Irak zu verlassen (AS 66), während er im Verfahren ansonsten behauptete, erst etwa zwei bis vier Monate vor seiner Ausreise seinem Umfeld eröffnet zu haben, dass er sich vom Islam abgewendet habe vergleiche etwa AS 48, Verhandlungsprotokoll S 5), dass „ca. eine Woche bzw. acht Tage“ vor seiner Flucht das Gespräch mit A römisch 40 hätte stattfinden sollen (AS 48) und er „ca. eine Woche bevor ich den Irak verlassen habe“ den behaupteten Drohanruf erhalten habe (AS 67). Dies stellt nicht nur einen ausdrücklichen Widerspruch zu seinem an oberer Stelle zitierten Beschwerdevorbringen oder seinen Angaben in der Erstbefragung dar, wo er behauptet hatte, sein Vater habe ihn aufgefordert zu flüchten, nachdem er von Schiiten mit dem Tode bedroht worden sei (AS 19), sondern würde unstreitig bedeuten, er habe seinen Ausreiseentschluss gänzlich unabhängig von und bereits lange vor dem verweigerten Gespräch mit dem Scheich A römisch 40 oder dem angeblich erhaltenen Drohanruf gefasst.
Diese erheblichen Widersprüche im Kern des Fluchtvorbringens lassen in einer Zusammenschau mit den diesbezüglich oberflächlichen Schilderungen des Beschwerdeführers im Rahmen der Beschwerdeverhandlung erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit seines Fluchtvorbringens aufkommen.
Eine konkrete Bedrohungs- oder Verfolgungshandlung seiner Person gegenüber durch den Scheich A römisch 40 oder anderweitige Angehörige der schiitischen Miliz Asa’ib Ahl al-Haqq hat der Beschwerdeführer jedoch – nachdem er diesen weder gekannt noch mit diesem gesprochen habe – ohnedies zu keinem Zeitpunkt konkret vorgebracht und konnte er auch nicht schlüssig darlegen, wie A römisch 40 denn überhaupt Kenntnis von seiner Abwendung vom Islam erlangt habe. Wenig überzeugend gab er in der Beschwerdeverhandlung zu Protokoll, er „glaube“, es sei einer seiner beiden Freunde gewesen, gegenüber welchen er sich einmalig kritisch über den Islam geäußert habe, jedoch wisse er es nicht, da er zu jenem Freund seit besagtem Gespräch auch keinen Kontakt mehr habe (Protokoll S 9).
Die einzige konkrete Bedrohungshandlung, welche der Beschwerdeführer im Verfahren geltend gemacht hat, war der angeblich kurz vor seiner Ausreise erhaltene Anruf, wobei es seinen Angaben zufolge auch eine reine Mutmaßung seinerseits darstellt, dass dieser überhaupt mit dem verweigerten Gespräch nach dem Freitagsgebet in Zusammenhang gestanden sei, nachdem er in der Beschwerdeverhandlung ausdrücklich zu Protokoll gab, dass sich der Anrufer weder vorgestellt habe noch er dessen Stimme erkannt habe (Protokoll S 11f).
Zum Inhalt des Anrufes gab der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung zunächst an, man habe zu ihm gesagt, dass man ihn in der nächsten Zeit töten wolle und man werde ihm zeigen, was passiere, weil er über „Al-Hussein“ Anmerkung, bei „Al-Husain ibn ʿAlī“ handelt es sich um eine zentrale, historische Figur im schiitischen Glauben) gesprochen habe. Wenig später gab er wiederum an, der Anrufer habe lediglich gesagt, man werde ihm eine Lehre erteilen, weil er über „Hussein“ gesprochen habe und zu ihm kommen, und dies würde im Irak bedeuten, man werde getötet. Die Frage der erkennenden Richterin, weshalb jemand den Beschwerdeführer im Falle einer tatsächlichen Tötungsabsicht denn überhaupt telefonisch hätte vorwarnen sollen und nicht sogleich zur Tat geschritten sei, vermochte er ebenfalls nicht schlüssig zu beantworten (Protokoll S 11f).
Ein Asylwerber hat für die Glaubhaftmachung der Angaben die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig zu schildern. Damit ist die Pflicht verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der Voraussetzungen und für eine Asylgewährung spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzungen liefern. Der Aussage des Asylwerbers kommt hierbei wesentliche Bedeutung zu bzw. trifft diesen eine erhöhte Mitwirkungspflicht (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, Paragraph 3,, E23).
Das gegenständliche Vorbringen erfüllt diese Kriterien nicht und ist nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer tatsächlich im Irak einer konkreten Bedrohung- oder Verfolgungshandlung ausgesetzt gewesen ist.
Darüber hinaus ist auch der generellen Behauptung des Beschwerdeführers, er habe sich zur Gänze vom Islam abgewendet, nicht zu folgen. Wenngleich angesichts seines im Verfahren demonstrierten Hintergrundwissens, insbesondere im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA am 22.06.2016 sowie in der Beschwerdeverhandlung, durchaus glaubhaft ist, dass er sich tiefgreifend und auch kritisch mit dieser Religion auseinandergesetzt hat, so ließen seine Ausführungen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Atheismus bzw. der Frage, was es bedeutet Atheist zu sein, vermissen, wäre eine solche jedoch in Anbetracht des dahingehenden Vorbringens zu erwarten gewesen, zumal gerade bei einer behaupteten Ablehnung jeglicher Religion – eine Überzeugung, die nicht durch (religiöse oder anderweitige) Aktivitäten nach Außen tritt und daher besonders schwierig zu überprüfen ist – aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes hohe Anforderungen an die Schlüssigkeit und Ausführlichkeit des dahingehenden Vorbringens zu stellen sind. Da der Beschwerdeführer nichts Substantielles zu seiner behaupteten atheistischen Einstellung vorbringen konnte, sondern nur betonte, dass er zwar an einen Gott glaube, jedoch an einen, welcher weit weg von allen Religionen sei, da alle Religionen „Blut hinter sich gelassen“ hätten (Protokoll S 7), kann das Bundesverwaltungsgericht beim Beschwerdeführer keine aktuelle innere atheistische (Glaubens-)Überzeugung erkennen. Wenn der Beschwerdeführer zudem eine starke innere atheistische Überzeugung hätte, wäre davon auszugehen, dass er sich nach der Möglichkeit eines Austrittes aus der islamischen Glaubensgemeinschaft erkundigt und diesen während seines mehrjährigen Aufenthaltes in Österreich auch vollzogen hätte. Jedoch gab er zuletzt in der Beschwerdeverhandlung ausdrücklich an, bislang nicht offiziell aus der islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten zu sein und gar nicht gewusst zu haben, dass diese Möglichkeit bestehe (Protokoll S 7).
Zudem meinte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung, dass er erst kurz vor seiner Ausreise mit seinen beiden Freunden, einem Sunniten und einem Schiiten, über seine Haltung zur Religion gesprochen habe. Dies erscheint angesichts des Umstandes, dass er zugleich behauptete, sein schiitischer Freund sei „sehr religiös“ gewesen, wenig plausibel. Wenn sich der Beschwerdeführer tatsächlich über Monate hinweg vom islamischen Glauben abgewandt hätte, wäre es ihm schwer möglich gewesen, die Freundschaft zu einem streng religiösen Menschen zu wahren. Auch ist es nicht glaubhaft, dass, wie vom Beschwerdeführer in der Verhandlung behauptet, in einer Freundschaft zu einem sehr religiösen Menschen kein einziges Mal über Religion gesprochen wurde, bis zu dem Moment, als der Beschwerdeführer seine Zweifel offenbarte.
Das Bundesverwaltungsgericht geht in einer Gesamtwürdigung der erörterten Umstände davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht einer inneren atheistischen (Glaubens-)Überzeugung anhängt, sondern allenfalls religionslos bzw. säkular lebt, was er wiederholt im Verfahren zum Ausdruck gebracht hat, indem er etwa in der Beschwerdeverhandlung erklärte, der Irak sei zerstört worden, indem Religion und Politik vermischt worden seien (Protokoll S 7). Auch wenn säkular orientierte Personen im Irak fallweise unter gesellschaftlicher Ausgrenzung und öffentlicher Geringschätzung leiden, existieren auch keine Gesetze im irakischen Zivil- oder Strafrecht, die Strafen für Personen vorsehen, die vom islamischen Glauben abfallen oder sich nicht religiös betätigen. Eine systematische Verfolgung durch Privatpersonen, wie etwa Kämpfer schiitischer Milzen, geht aus den getroffenen Feststellungen zur Lage von Atheisten, säkular orientierten Personen und Personen, die sich vom Islam abgewandt haben, nicht hervor.
Im Hinblick auf die seitens des Beschwerdeführers im Rahmen der Verhandlung in Vorlage gebrachten Bedrohungen und Beschimpfungen, welche er aufgrund von Facebook-„Posts über religiöse Menschen“ vergleiche Protokoll S 16) erhalten habe, ist zunächst festzuhalten, dass diesen privaten Nachrichten laut der seitens des Dolmetschers im Rahmen der Verhandlung vorgenommenen Übersetzung kein konkreter, konfessioneller Bezug zu entnehmen ist.
Das Facebook-Profil des Beschwerdeführers römisch 40 vergleiche https://www.facebook.com/ römisch 40 , Zugriff 27.08.2020), auf welches dieser in der Verhandlung konkret hingewiesen hat, ist öffentlich zugänglich, wenngleich einzelne seiner Beiträge nicht für die Öffentlichkeit (sprich für Personen, welche auf der Plattform nicht mit ihm „befreundet“ sind) sichtbar sind. Auf dem Profil des Beschwerdeführers ist nicht zu erkennen, dass er dort offensiv eine atheistische oder islamkritische Haltung nach außen tragen würde. Eine Sichtung seiner öffentlichen Beiträge ab Anfang des Jahres 2015 ergab, dass nur einzelne davon einen konfessionellen Bezug aufweisen. Der Beschwerdeführer postet regelmäßig unterschiedlichste Inhalte wie Beiträge von Nachrichten-Agenturen oder anderweitige Videos, teils auch mit politischem Bezug zum Irak (welche vermutlich konfessionelle Themen fallweise tangieren, jedoch nicht zentral zum Inhalt haben), jedoch auch vielfach komödiantische, romantische, wissenschaftliche oder künstlerische Inhalte und betätigt er sich dort auch keineswegs „missionarisch“.
Konkrete Beiträge, welchen unmittelbar eine islamkritische Haltung unterstellt werden könnte, finden sich auf seinem Facebook-Profil folgende:
Am 01.05.2016 verlinkte der Beschwerdeführer ein Video einer Facebook-Gruppe mit dem Namen römisch 40 und schreibt er über diesem auf Arabisch (Übersetzung mit „Google-Translator“): „Dieser Kerl ist ein Schiit“. Auf dem Video ist ein Mann mit Turban vor einigen Mikrofonen zu sehen (das „Setting“ mutet an wie eine Pressekonferenz auf einem Nachrichtenkanal) und unter dem Video steht auf Arabisch der Text „Auf Ihrer Pilgerreise durch Gott werden 90% der Muslime das Paradies betreten“ vergleiche https://www.facebook.com/ römisch 40 , Zugriff 27.08.2020). Unter dem Video auf der Seite des Beschwerdeführers findet sich ein Kommentar (übersetzt: „ich wünsche [sic] dir“) und wurde das Video 4-mal „geliked“, davon zweimal mit einem lachenden „Emoji“.
Am 25.02.2017 verlinkte er ein Video einer Facebook-Gruppe, deren Arabischer Name (übersetzt mit „Google-Translator“) römisch 40 lautet; der Text unter dem Video wird übersetzt mit „Warum sind Muslime stolz auf Gelehrte, die gesühnt, einige getötet und der Häresie beschuldigt wurden???“ vergleiche https://www.facebook.com/ römisch 40 , Zugriff 27.08.2020). Dieser Beitrag wurde auf dem Profil des Beschwerdeführers 11-mal „geliked“ und finden sich darunter lediglich drei „heitere“ Kommentare auf Arabisch.
Am 12.03.2018 verlinkte er noch einen Beitrag einer anderen Privatperson, in welchem es um eine Debatte über Säkularismus und die Zulässigkeit eines säkularen Treffens ging vergleiche https://www.facebook.com/ römisch 40 , Zugriff 27.08.2020).
Nach März 2018 ist keinem seiner öffentlichen Beiträge mehr ein unmittelbarer, offenkundiger Bezug zu islamkritischen oder atheistischen Themen zu entnehmen, insbesondere nicht zeitnah zu den in Vorlage gebrachten Beschimpfungen und Drohungen, welche er über Facebook-Nachrichten erhalten habe (25.08.2019, 16.09.2018, 03.02.2020; das Datum der letzten beiden in Vorlage gebrachten Chat-Verläufe ist auf diesen nicht ersichtlich).
Wenn sich jemand auf Social-Media-Kanälen öffentlich zu politischen, gesellschaftlichen oder auch religiösen Themen äußert, ist es ein Phänomen unserer Zeit, dass die betreffende Person sich dadurch angreifbar macht und Anfeindungen im digitalen Raum ausgesetzt sein könnte. Diese Problematik ist zwischenzeitlich derart weit verbreitet, dass etwa das österreichische Bundesministerium für Arbeit, Familie und Jugend – wie dem Beschwerdeführer in der Verhandlung auch zur Kenntnis gebracht wurde – eine eigene „Beratungsstelle #Gegen Hass im Netz“ vergleiche https://www.bmfj.gv.at/service/beratung-information/beratungsstelle-gegen-hass-im-netz.html, Zugriff 27.08.2020) etabliert hat und sich zudem aktuell ein Gesetzespaket zur Bekämpfung dieses Phänomens in Ausarbeitung befindet vergleiche etwa DerStandard vom 14.082020, https://www.derstandard.at/story/2000119355277/edtstadlergesetz-gegen-hass-im-netz-soll-nicht-fuer-zeitungsforen-gelten, Zugriff 28.08.2020).
Jedoch ergibt sich aus Beschimpfungen und Anfeindungen im digitalen Raum für den Beschwerdeführer nicht die Gefahr einer individuell gegen seine Person gerichteten, asylrelevanten Verfolgung in seinem Herkunftsstaat, zumal er keine exponierte Person öffentlichen Interesses ist, seine „Reichweite“ auf Facebook äußerst überschaubar ist und er sich auch durch die Art und den Inhalt seiner Beiträge in keiner Weise maßgeblich hervorhebt.
Zusammenfassend gelangt das Bundesverwaltungsgerichte zum Ergebnis, dass die behauptete Gefahr einer Verfolgung des Beschwerdeführers aus religiösen Gründen im Rückkehrfall nicht glaubhaft ist. Eine über die Ablehnung bestimmter Aspekte des Islam hinausgehende atheistische Einstellung des Beschwerdeführers bzw. die glaubhafte Absicht, sich in diesem Sinne im Rückkehrfall öffentlich bzw. missionarisch betätigen zu wollen, trat im Beschwerdeverfahren – wie vorstehend ausführlich erörtert – nicht hinreichend zutage. Das Gericht geht daher von keiner Gefahr einer Verfolgung aufgrund einer atheistischen oder säkulare Überzeugung des Beschwerdeführers aus.
Sofern der Beschwerdeführer vorbrachte, aus dem moslemisch-sunnitischen Glauben bislang nicht ausgetreten zu sein und wiederholt im Verfahren auf konfessionelle Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten im Irak hingewiesen hat, ist der Vollständigkeit halber festzuhalten, dass seitens des Bundesverwaltungsgerichtes keineswegs verkannt wird, dass Sunniten im Irak eine religiöse Minderheit darstellen und vielfach Opfer von Diskriminierungen sind, welche teilweise auch in Gewalt münden vergleiche dazu die Ausführungen unter Punkt A) 1.3.5.). Es ist daher durchaus nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer insoweit im Alltag unangenehmen Situationen ausgesetzt gewesen ist. Den Länderfeststellungen ist jedoch nicht zu entnehmen, dass dies automatisch zu einer gefährlichen Konfrontation führen würde und brachte der Beschwerdeführer auch nicht vor, im Irak bislang nicht in der Lage gewesen zu sein, seinen Glauben gefahrlos ausüben zu können. Eine landesweite und systematische Verfolgung Angehöriger der sunnitischen Glaubensgemeinschaft, welche mit einem Anteil von ca. 35% bis 40% der Gesamtbevölkerung die größte Gruppe der Minderheiten des Irak darstellen und in allen Gesellschaftsbereichen als auch in der Politik vertreten sind, existiert im Irak nicht und schlägt sich dieser Umstand auch in der ständigen, höchstgerichtlichen Judikatur nieder vergleiche dazu den Beschluss des VwGH vom 25.04.2017, Ra 2017/18/0014, in welchem einer behaupteten Gruppenverfolgung von Sunniten in einer Revisionssache gar nicht nähergetreten wurde, oder zuletzt das Erkenntnis VwGH 29.06.2018, Ra 2018/18/0138, wo eine Gruppenverfolgung von Sunniten in Bagdad ausdrücklich verneint wurde).
Der Beschwerdeführer ist sohin auch unter diesem Gesichtspunkt nicht der Gefahr einer Verfolgung im Irak ausgesetzt.
2.4. Zum Herkunftsstaat:
Zu den zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat ausgewählten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen, sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten, von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen, diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um kritische Sachverhalte geht, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteinahme unterstellt werden kann. Zudem werden auch Quellen verschiedener Menschenrechtsorganisationen herangezogen, welche oftmals das gegenteilige Verhalten aufweisen und so gemeinsam mit den staatlich-diplomatischen Quellen ein abgerundetes Bild ergeben. Bei Berücksichtigung dieser Überlegungen hinsichtlich des Inhaltes der Quellen, ihrer Natur und der Intention der Verfasser handelt es sich nach Ansicht der erkennenden Richterin bei den Feststellungen um ausreichend ausgewogenes und aktuelles Material vergleiche VwGH 07.06.2000, Zl. 99/01/0210).
Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens wurde dem Beschwerdeführer mit Schriftsatz des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.06.2020 gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung zuletzt das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zum Irak übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, zu diesem spätestens in der Verhandlung eine Stellungnahme abzugeben.
Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde den unter Punkt A) 1.3. getroffenen Feststellungen zu allgemeinen Lage im Irak seitens des Beschwerdeführers bzw. seiner Rechtsvertretung nicht entgegengetreten und vielmehr auf einzelne, entscheidungswesentliche Passagen im aktuellen Länderinformationsblatt hingewiesen.
Ergänzend wurde in der Verhandlung seitens der Rechtsvertretung ein Bericht des USCIRF (United States Commission on International Religious Freedom) aus dem Jahr 2020 in Vorlage gebracht, dessen Inhalt sich im Wesentlichen mit den Ausführungen unter Punkt A) 1.3.6. („Religionsfreiheit“) deckt und als Beilage A zum Akt genommen wurde.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides):
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins,, Abschnitt A, Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention droht und keiner der in Artikel eins, Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Wie in der Beweiswürdigung unter Punkt A) 2.3. bereits dargelegt, konnte der Beschwerdeführer im gegenständlichen Verfahren keine begründete Furcht vor einer asylrelevanten Verfolgung glaubhaft machen. Die Verfolgung aus Gründen der Religion ist zwar nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK geschützt, wobei der Begriff der Religion auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst vergleiche Artikel 10, Absatz eins, Litera b, der Richtlinie 2011/95/EU – Statusrichtlinie) (VwGH, 13.12.2018, Ra 2018/18/0395). Der Beschwerdeführer ist aber in Nasiriya nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus Gründen der Religion ausgesetzt, da nicht festgestellt werden kann, dass er eine tiefgehende innere atheistische Überzeugung hat, die er nach außen tragen würde und zudem nicht festgestellt werden kann, dass jeder Atheist oder Anhänger des Säkularismus im Irak mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen muss.
Auch existiert im Irak keine landesweite und systematische Verfolgung von Angehörigen der sunnitischen Glaubensgemeinschaft.
Daher ist festzustellen, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat Irak keine Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK droht und der Ausspruch in Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides zu bestätigen ist.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
ECLI:AT:BVWG:2020:I403.2137107.1.00