Bundesverwaltungsgericht
24.07.2020
W258 2190621-1
W258 2190621-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA Afghanistan, vertreten durch Mag. Irene OBERSCHLICK, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Weyrgasse 8/6, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom römisch 40 , Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.05.2020 zu Recht:
A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid wie folgt abgeändert, dass es insgesamt zu lauten hat:
römisch eins. römisch 40 , geb. römisch 40 , wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins, Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
römisch II. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass ihr damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die ordentliche Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
römisch eins. Verfahrensgang:
Die damals minderjährige Beschwerdeführerin (in Folge kurz „BF3“) stellte am 18.11.2015 gemeinsam mit ihren ebenfalls noch minderjährigen Brüdern AMIR (in Folge kurz „BF2“) und MILAD („BF1“) in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
In ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.11.2015 gab die BF3 an, sie sei am römisch 40 geboren und besitze die Staatsbürgerschaft der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz „Afghanistan“). Sie sei schiitische Muslima, ledig, kinderlos und habe für sechs Jahre die Grundschule besucht. Sie habe Afghanistan verlassen, weil sie Angst vor den Taliban und dem Krieg hatte und weil sie um ihr Leben fürchtete.
In ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge „belangte Behörde“) am 29.03.2017 gab die nunmehr volljährige BF3 ergänzend an, dass sie aus Bamyan stamme, zuletzt für sieben oder acht Jahre mit ihrer Familie in Kabul gelebt habe und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Sie habe in Begleitung ihrer gesamten Familie (Eltern und Geschwister) Afghanistan verlassen. An der iranischen-türkischen Grenze habe sie und die BF1 und BF2 den Rest der Familie verloren; sie seien dann alleine bis nach Österreich gekommen. Zu ihrem Fluchtgrund befragt, gab die BF3 zusammenfassend an, dass ihr Vater auf Grund seiner Arbeit, seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seinem Glauben mehrmals von den Taliban angehalten und auch schriftlich bedroht worden sei. Zudem sei sie auch wegen Bildungs- und Berufsmöglichkeiten und der Bewegungsfreiheit nach Österreich geflohen. Als Frau in Afghanistan sei es sehr schwierig, sie könne nichts lernen und auch nicht arbeiten. Zu ihrem Leben in Österreich führt die BF3 aus, dass sie gemeinsam mit ihren Brüdern lebe, an verschiedenen Deutschkursen teilnehme, in ihrer Freizeit schwimmen gehe und ihrer Nachbarin helfe.
Mit Bescheid vom römisch 40 wies die belangte Behörde den Antrag auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) und den Antrag auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt römisch II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG (Spruchpunkt römisch III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch IV.), stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt römisch VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, die BF3 habe keine persönliche Verfolgung oder Gefährdung glaubhaft machen können, eine besondere Gefährdung der BF3 liege nicht vor. Die BF3 könne gemeinsam mit ihrem volljährigen Bruder in den Familienverband zurückkehren und sei somit wirtschaftlich ausreichen abgesichert.
Dagegen wendet sich die gegenständliche Beschwerde der BF3 vom 16.03.2018 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit, Begründungsmängeln und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Der BF3 sei durch ihren westlichen Lebensstil in Afghanistan asylrelevant verfolgt. Im Falle einer Rückkehr wäre sie durch die volatile Sicherheitslage struktureller Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt und es sei zu bedenken, dass sie keine Berufsausbildung und keine Familienangehörige in Afghanistan habe. Somit drohe der BF3 die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, wobei eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht in Betracht komme.
Mit Schriftsatz vom 26.03.2018 legte die belangte Behörde die Beschwerde unter Anschluss des Verwaltungsaktes dem erkennenden Gericht vor.
Mit Beschwerdeergänzung vom 21.01.2019 (OZ 5) verwies die BF3 auf ein Gutachten zur Situation afghanischer Frauen ua in der Stadt Kabul und ergänzend ausgeführt, dass der BF3 aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „westlich orientierten afghanischen Frauen“ Verfolgung drohe und bei richtiger rechtlichen Beurteilung der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen wäre.
Mit Stellungnahme vom 26.05.2020 (OZ 14) wies die BF3 nochmals auf die offenkundige westliche Orientierung der BF3 hin, brachte vor, dass sie in einer Beziehung sei und legte verschiedene Dokumente zu ihrer Integration in Österreich.
In der am 27.05.2020 hg durchgeführten mündlichen Verhandlung wurde die BF3 neuerlich zu ihrem Fluchtvorbringen befragt.
Beweise wurden aufgenommen durch Einvernahme der BF3 und ihrer Brüder (BF1 und BF2) als Partei, der Einvernahme von römisch 40 (Z1) und römisch 40 (Z2) als Zeugen sowie Einsicht in den Verwaltungsakt (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:
● UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in Folge kurz „UNHCR“; Beilage ./I),
● Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 18.05.2020 (in Folge kurz „LIB“; Beilage ./II),
● EASO – European Asylum Support Office: Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019 (in Folge kurz „EASO Country Guidance“; Beilage ./III),
● die vorgelegten Beilagen der BF3:
o Folder des Vereins Zwirnschmalz,
o Unterstützungserklärung von römisch 40 vom 24.05.2020,
o Bestätigung der Mitgliedschaft und Grünungsmitglied des Vereins Zwirnschmalz und Unterstützungserklärung von römisch 40 ,
o Diverse Lichtbilder, die die BF3 bei diversen Freizeitaktivitäten, teils gemeinsam mit ihrem Verlobten, zeigen, als Konvolut,
o Bestätigung über gemeinnützige Tätigkeiten in der Stadtgemeinde römisch 40 vom 10.04.2019,
o ÖSD Zertifikat Deutsch A2 vom 24.07.2018,
o Bestätigungsschreiben über ehrenamtliche Dienste im Sozialprojekt römisch 40 ,
o Empfehlungsschreiben Lena SATTMANN, undatiert,
o Unterstützungserklärungen von römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 , römisch 40 und römisch 40 und
o diverse Länderberichte zur Situation hinsichtlich der aktuellen COVID-19-Pandemie in Afghanistan im Allgemeinen und in Mazar-e Sharif und Herat im Besonderen.
● Strafregisterauszug der BF3 vom 26.05.2020.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Der folgende Sachverhalt steht fest:
1.1. Zur individuellen Situation der BF3:
1.1.1. Allgemeines:
Die weibliche, volljährige, gesunde, ledige und kinderlose BF3 ist afghanische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitische Muslima. Die Muttersprache der BF3 ist Dari und sie hat sechs Jahre die Schule besucht.
Sie wurde am römisch 40 in Kabul geboren, ihre Familie stammt aus Bamiyan, die BF3 hat allerdings den Großteil ihres Lebens in der Stadt Kabul verbracht.
Die Kernfamilie der BF3 besteht aus ihren Eltern, vier Brüdern und zwei Schwestern, wobei sie mit zwei jüngeren Brüdern (BF1 und BF2) gemeinsam in Österreich wohnhaft ist. Die Familie reiste im Herbst 2015 aus Afghanistan aus und wurde an der iranischen-türkischen Grenze getrennt. Die BF3 gelangte gemeinsam mit BF1 und BF2 nach einem ca. dreimonatigen Aufenthalt in der Türkei weiter bis nach Österreich, wo sie gemeinsam am 18.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Der Aufenthaltsort der restlichen Familienmitglieder, zu denen kein Kontakt besteht, ist unbekannt.
Zudem lebt sie mit ihren zwei jüngeren Brüdern in einem gemeinsamen Haushalt und kümmert sich emotional und auch im Alltag (Wäsche, kochen, Haushalt, Freizeitgestaltung, Taschengeld etc.) um ihre Brüder, insbesondere um den noch minderjährigen BF2.
Die BF3 ist strafgerichtlich unbescholten.
Zum Zeitpunkt der Einreise und Stellung des Asylantrags am 18.11.2015 waren der BF1 16 Jahre, der BF2 7 Jahre und die BF3 17 Jahre alt.
1.1.2. Zum Fluchtvorbringen der „westlichen Orientierung“:
Bei der BF3 handelt es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte junge Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lehnt sie Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab.
Diese Ablehnung hat sie bereits in Afghanistan gelebt: So war die BF3 war in Afghanistan Mitglied der Partei „ römisch 40 “ und hat in diesem Rahmen und auf die fehlenden Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten und Bewegungseinschränkungen für Frauen aufmerksam gemacht.
Die BF3 nimmt ihre Freiheiten als Frau in Österreich wahr, identifiziert sich mit ihnen und hat die Freiheit für sich zu entscheiden und über ihren eigenen Lebensweg zu bestimmten derart verinnerlicht, dass sie sich diesbezüglich kein anderes Leben mehr vorstellen kann. Sie möchte auch finanziell nicht von anderen Personen abhängig sein.
Sie lebt ihre Freiheiten auch aus. Sie bewegt sich in Österreich alleine im öffentlichen Raum und geht in ihrer Freizeit einkaufen, joggen, schwimmen, Fahrrad fahren und ist Vereins- und römisch 40 römisch 40 mitglied römisch 40 einem gemeinnützigen Verein. Die BF3 ist bemüht die deutsche Sprache zu erlernen und spricht Deutsch auf Niveau A2. Sie arbeitet in diesem Rahmen ehrenamtlich in der Nähwerkstatt mit und erzeugt ua textile Kleinigkeiten aus Altwaren (Stoffen mit Geschichte). Die BF3 lebt in einer außerehelichen Beziehung; sie lebt mit ihrem Lebenspartner in Geschlechtsgemeinschaft und verbringt ihre Freizeit mit ihm, indem sie beispielsweise mit ihm Ausflüge macht. Sie kleidet sich nach westlicher Mode und trägt kein Kopftuch. Zudem verrichtete die BF3 im Jahr 2019 gemeinnützige Tätigkeiten für die Stadtgemeinde römisch 40 (Vor-und Nachbereitung bei Veranstaltungen) und ist ehrenamtliche Helferin bei dem Sozialprojekt römisch 40 . In Zukunft möchte sie den Beruf der Köchin erlernen und auch ausüben.
1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat der BF3:
1.2.1. Zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan:
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen anderen gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren (LIB, Kapitel 2). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel römisch II. B).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus (LIB, Kapitel 2).
1.2.2. Ethnische Minderheiten:
In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel 16).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind die schiitische Konfession (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) und ihre ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ihre Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Es bestehen keine sozialen oder politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel 16.3).
Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 16.3).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, dies steht im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen. Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – halten an (LIB, Kapitel 16.3).
1.2.3. Religionen:
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB Kapitel 15).
Schiiten
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen (LIB, Kapitel 15.1).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel 15.1).
1.2.4. Herkunftsprovinz Kabul:
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt. Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB, Kapitel 2.2).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.2).
1.2.5. Zur Situation von Frauen in Afghanistan
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte. Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (LIB, Kapitel 17.1).
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 17.1).
Die afghanische Gesellschaft ist von Männern dominiert. Frauen brauchen ein männliches Familienmitglied, das sie begleitet. Frauen, die allein nach draußen gehen oder zur Arbeit gehen, sind häufig sexueller Belästigung auf der Straße ausgesetzt (EASO Country Guidance, S 63).
Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben, der sich bemüht Gewalt gegen Frauen – beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken – zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen. Wenngleich die afghanische Regierung Schritte unternommen hat, um das Wohl der Frauen zu verbessern und geschlechtsspezifische Gewalt zu eliminieren, bleibt die Situation für viele Frauen unverändert, speziell in jenen Regionen wo nach wie vor für Frauen nachteilige Traditionen fortbestehen (LIB, Kapitel 17.1).
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte – einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit – vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (LIB, Kapitel 17.1).
Einem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen 2.286 Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt, was an zunehmendem Bewusstsein und dem Willen der Frauen, sich bei Gewaltfällen an relevante Stellen zu wenden, liegt (LIB, Kapitel 17.1).
Bildung und Berufstätigkeit von Frauen
Landesweit waren im Jahr 2016 182.344 Studenten an 36 staatlichen (öffentlichen) Universitäten eingeschrieben, davon waren 41.041, also nur 22,5%, weiblich. Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung – Kankor – ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (LIB, Kapitel 17.1).
Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach. In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (LIB, Kapitel 17.1).
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht. Für das Jahr2018 wurde der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung von der Weltbank mit 35,7% angegeben. Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an. So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen. Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: 11 stellvertretende Ministerinnen, 3 Ministerinnen und 5 Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv – manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden. Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollen mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 haben 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen sind in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden. Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen; traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig – was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird. Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (LIB, Kapitel 17.1).
Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (LIB, Kapitel 17.1).
Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender – Radio Roshani – nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen. Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Damen von Zan-TV bedroht und beleidigt (LIB, Kapitel 17.1).
Strafverfolgung, rechtliche Unterstützung und Frauenhäuser
Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den „Familienfrieden“ durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert. Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen. Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs. Gesellschaftlicher Widerstand erschwert es den FRUs Verbrechen geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel anzuzeigen. Stand 2017 gab es landesweit 208 FRUs (LIB, Kapitel 17.1).
Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet (LIB, Kapitel 17.1).
Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch die weit verbreitete häusliche Gewalt (AA 2.9.2019). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung; Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung, und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern – das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, bis zu 20 Jahren oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten. Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen – auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert. Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor. Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch; obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter EVAW fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, werden Ehrenmorde und andere schwere Straftaten von EVAW-Institutionen und NGOs oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme verwiesen (LIB, Kapitel 17.1).
Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Frauenhäuser werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (LIB, Kapitel 17.1).
Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können. In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal werden Frauen stellvertretend für verurteilte männliche Verwandte inhaftiert, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (LIB, Kapitel 17.1).
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin. Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (LIB, Kapitel 17.1).
Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet. Die Datenlage hierzu ist sehr schlecht. Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre. Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden. In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Das verhindert, dass Mädchen vor dem Alter von fünfzehn Jahren heiraten. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht. Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert. Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens ein Kind unter 18 Jahren verheiratet (LIB, Kapitel 17.1).
Familienplanung, Reisefreiheit, Bewegungsfreiheit und Kleidervorschriften
Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben. Dem Strafgesetzbuch zufolge, ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (LIB, Kapitel 17.1).
Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter. Frühe und Kinderheiraten und eine hohe Fertilitätsrate mit geringen Abständen zwischen den Geburten tragen zu einer sehr hohen Müttersterblichkeit [Anm.: Tod einer Frau während der Schwangerschaft bis 42 Tage nach Schwangerschaftsende] bei. Diese ist mit 661 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten die höchste in der Region (zum Vergleich Österreich: 4). Es gibt keine Berichte zu Zwangsabtreibungen oder unfreiwilligen Sterilisierungen (LIB, Kapitel 17.1).
Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen eingeschränkt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (LIB, Kapitel 17.1).
Gemäß Aussagen der Direktorin von Afghan Women‘s Network können sich Frauen ohne Burqa und ohne männliche Begleitung im gesamten Land frei bewegen. Nach Aussage einer NGO-Vertreterin kann sie selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie lokale Kleidungsvorschriften einhält (z.B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen. In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert (LIB, Kapitel 17.1).
Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In unzähligen Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind (LIB, Kapitel 17.1).
UNHCR Risikoprofile
● Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben
Die Regierung hat seit 2001 eine Reihe von Schritten zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Verabschiedung von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe der Frauen und die Schaffung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten. Allerdings stieß die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung immer wieder auf Widerstände. Das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen wurde 2009 durch Präsidialerlass verabschiedet, doch lehnten es konservative Parlamentsabgeordnete und andere konservative Aktivisten weiterhin ab. Das überarbeitete Strafgesetzbuch Afghanistans, das am 4. März 2017 mit Präsidialerlass verabschiedet wurde, enthielt ursprünglich alle Bestimmungen des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und stärkte die Definition des Begriffs Vergewaltigung. Jedoch wies Präsident Ghani das Justizministerium im August 2017 angesichts der Ablehnung durch die Konservativen an, das diesem Gesetz gewidmete Kapitel aus dem neuen Strafgesetzbuch zu entfernen. Das neue Strafgesetzbuch trat im Februar 2018 in Kraft, während in einem Präsidialerlass klargestellt wurde, dass das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen von 2009 als eigenes Gesetz weiterhin Geltung hat. Laut Berichten, halten sich die Verbesserungen in der Lage der Frauen und Mädchen insgesamt sehr in Grenzen. Laut der Asia Foundation erschweren „der begrenzte Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ungerechte Bestrafungen für, Verbrechen gegen die Sittlichkeit, ungleiche Teilhabe an der Regierung, Zwangsverheiratung und Gewalt“ nach wie vor das Leben der Frauen und Mädchen in Afghanistan. Depressionsraten aufgrund von häuslicher Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen nehmen Berichten zufolge unter afghanischen Frauen zu. Es wird berichtet, dass 80 Prozent der Selbstmorde in Afghanistan von Frauen begangen werden und sich manche von ihnen durch Selbstverbrennung das Leben nehmen (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
Die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan (AIHRC) stellte fest, dass Gewalt gegen Frauen noch immer eine „weit verbreitete, allgemein übliche und unleugbare Realität” ist und dass Frauen in unsicheren Provinzen und im ländlichen Raum besonders gefährdet durch Gewalt und Missbrauch sind. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte sehr oft straflos bleiben. Sexuelle Belästigung und die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleiben, so die Berichte, endemisch. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen Berichten zufolge überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen. Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz der Frauenrechte weiterhin nur langsam umgesetzt werden, vor allem was das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen betrifft. Das Gesetz stellt 22 gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche, einschließlich Kinderheirat, Zwangsheirat sowie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, unter Strafe und legt die Bestrafung der Täter fest. Den Behörden fehlt Berichten zufolge jedoch der Wille, das Gesetz umzusetzen. Dementsprechend werde es nicht vollständig angewendet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Frauen hätten nur in sehr geringem Maße Zugang zur Justiz. Die überwiegende Mehrheit der Fälle von gegen Frauen gerichteten Gewaltakten, einschließlich schwerer Verbrechen gegen Frauen, würden noch immer nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen geschlichtet, anstatt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. Berichten zufolge leiten sowohl die afghanische nationale Polizei (ANP) als auch die Staatsanwaltschaften sowie Einrichtungen gemäß dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen zahlreiche Fälle, auch schwere Verbrechen, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiter und unterminieren dadurch die Umsetzung dieses Gesetzes und fördern die Beibehaltung schädlicher traditioneller Bräuche. Durch Entscheidungen dieser Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanen und Ausgrenzung ausgesetzt (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
Das schiitische Personenstandsgesetz, das Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbrecht für Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft regelt, enthält mehrere für Frauen diskriminierende Bestimmungen, insbesondere in Bezug auf Vormundschaft, Erbschaft, Ehen von Minderjährigen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses. Während die in diesem Abschnitt beschriebenen Menschenrechtsprobleme Frauen und Mädchen im gesamten Land betreffen, gibt die Situation in Gebieten, die effektiv von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, Anlass zu besonderer Sorge. Regierungsfeindliche Kräfte schränken Berichten zufolge die Grundrechte von Frauen in diesen Gebieten weiterhin massiv ein, darunter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit, politische Teilhabe, Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung. Außerdem besteht in von regierungsfeindlichen Kräften kontrollierten Gebieten eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich den Frauen beim Zugang zur Justiz besondere Hindernisse entgegenstellen und dass ihnen keine wirksamen Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Verfügung stehen. Die von regierungsfeindlichen Kräften in den von ihnen kontrollierten Gebieten betriebene Paralleljustiz verletzt Berichten zufolge regelmäßig die Rechte von Frauen (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
a) Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Afghanistan ist nach wie vor weit verbreitet: Die Zahl der angezeigten Fälle nimmt zu, doch die Dunkelziffer dürfte weit höher sein als die angezeigten Fälle. Im März 2018 bezeichnete die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan Gewalt gegen Frauen als „eine der größten Herausforderungen im Bereich der Menschenrechte in Afghanistan”. Dazu gehören „Ehrenmorde“, Entführungen, Vergewaltigungen, sexuelle Belästigung, erzwungene Schwangerschaftsabbrüche und häusliche Gewalt. Da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familie betrachtet werden, besteht für Opfer von Vergewaltigungen außerhalb der Ehe die Gefahr, geächtet, zur Abtreibung gezwungen, inhaftiert oder sogar getötet zu werden. Es wurde festgestellt, dass gesellschaftliche Tabus und die Angst vor Stigmatisierung und Vergeltungsmaßnahmen, einschließlich durch die eigene Gemeinschaft oder Familie, ausschlaggebend dafür sind, dass Überlebende von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt keine Anzeige erstatten.
Das neue Strafgesetzbuch Afghanistans, das im Februar 2018 in Kraft trat, stellt ohne die Zustimmung der Frau durchgeführte „Jungfräulichkeitstests“ unter Strafe. Obwohl diese Praxis einen Straftatbestand darstellt, ist das „Jungfräulichkeitstesten“ von Frauen, die des Ehebruchs beschuldigt werden oder Opfer sexueller Straftaten sind, einschließlich Vergewaltigung oder sexueller Nötigung, in Afghanistan Berichten zufolge nach wie vor weit verbreitet. Diese Praxis wurde als „sexuelle Nötigung und Folter“ beschrieben. Das neue Strafgesetzbuch stellt auch zina (Geschlechtsverkehr zwischen einem nicht verheirateten Paar) unter Strafe. Artikel 636 des neuen Strafgesetzbuches enthält auch eine „klarere und umfassendere Definition von Vergewaltigung, die nicht von zina ausgeht”. Berichten zufolge bleiben für häusliche Gewalt oder Zwangsheirat verantwortliche Männer nahezu grundsätzlich ungestraft. Da Frauen außerdem in der Regel wirtschaftlich von den Gewalttätern abhängig sind, werden viele von ihnen faktisch davon abgehalten, Anklage zu erheben, und sie haben wenig andere Möglichkeiten, als weiterhin in von Missbrauch geprägten Situationen zu leben (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
Der Zugang zur Justiz wird für Frauen, die Gewalttaten anzeigen möchten, zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass der Anteil der Frauen unter den Polizeikräften im Land nur bei etwas unter zwei Prozent liegt, da Polizistinnen weitgehend stigmatisiert werden. Berichten zufolge sind Polizistinnen selbst der Gefahr von sexueller Belästigung und von Übergriffen am Arbeitsplatz, unter anderem der Vergewaltigung durch männliche Kollegen, ausgesetzt. Sie seien außerdem durch gewalttätige Angriffe seitens regierungsfeindlicher Kräfte gefährdet. Berichten zufolge besteht Straflosigkeit bei Handlungen von sexueller Gewalt auch deswegen weiter fort, weil es sich bei den mutmaßlichen Vergewaltigern in einigen Gebieten um mächtige Befehlshaber oder Mitglieder bewaffneter Truppen oder krimineller Banden handelt oder um Personen, die zu solchen Gruppen oder einflussreichen Personen Kontakt haben und von ihnen vor Inhaftierung und Strafverfolgung geschützt werden (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
b) Schädliche traditionelle Bräuche
Schädliche traditionelle Bräuche sind in Afghanistan weiterhin weitverbreitet und kommen in unterschiedlichem Ausmaß landesweit sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gemeinschaften und in allen ethnischen Gruppen vor. Die schädlichen traditionellen Bräuche, die in diskriminierenden Ansichten zur Rolle und Position der Frauen in der afghanischen Gesellschaft wurzeln, betreffen in unverhältnismäßig hohem Maße Frauen und Mädchen. Zu diesen Bräuchen gehören unterschiedliche Formen der Zwangsheirat, einschließlich Kinderheirat, Hausarrest und Ehrenmorde. Zu den Formen der Zwangsheirat in Afghanistan gehören:
(i) „Verkaufsheirat“, bei der Frauen und Mädchen gegen eine bestimmte Summe an Geld oder Waren oder zur Begleichung von Schulden der Familie verkauft werden,
(ii) baad, eine Methode der Streitbeilegung gemäß Stammestraditionen, bei der die Familie der „Angreifer“ der Familie, der Unrecht getan wurde, ein Mädchen anbietet, zum Beispiel zur Begleichung einer Blutschuld,
(iii) baadal, eine Vereinbarung zwischen zwei Familien, ihre Töchter durch Heirat „auszutauschen“, oft um Hochzeitskosten zu sparen,
(iv) Zwangsverheiratung von Witwen mit einem Mann aus der Familie des verstorbenen Ehemanns.
Wirtschaftliche Unsicherheit und der andauernde Konflikt sowie damit verbundene Vertreibung, Verlust von Eigentum und Verarmung der Familien sind Gründe, warum das Problem der Kinder- und Zwangsheirat fortbesteht, da diese oftmals als die einzige Überlebensmöglichkeit für das Mädchen und seine Familie angesehen wird. Nach dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen stellen einige schädliche traditionelle Bräuche einschließlich des Kaufs und Verkaufs von Frauen zu Heiratszwecken, die Benutzung von Frauen als Mittel zur Streitbeilegung nach dem „baad“-Brauch sowie Kinder- und Zwangsheirat Straftatbestände dar (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
c) Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen
Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören strenge Kleidungsvorschriften sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer, wie etwa Witwen und geschiedene Frauen, sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Lebensgrundlagen, sind sie kaum in der Lage zu überleben. Bestrafungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia treffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, etwa Inhaftierung aufgrund von „Verstößen gegen die Sittlichkeit“ wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat und „Weglaufen von zu Hause“ (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Einem beträchtlichen Teil der in Afghanistan inhaftierten Mädchen und Frauen wurden „Verstöße gegen die Sittlichkeit“ zur Last gelegt. Es wird berichtet, dass weibliche Inhaftierte oft Tätlichkeiten sowie sexueller Belästigung und Missbrauch ausgesetzt sind. Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen „Verstößen gegen die Sittlichkeit“ Anlass zu Gewalt oder Ehrenmorden geben können, versuchen die Behörden Berichten zufolge in einigen Fällen, die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
Zusammenfassung: Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles ist UNHCR der Auffassung, dass bei Frauen, die unter folgende Kategorien fallen, wahrscheinlich ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz besteht: a) Überlebende von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Personen, die entsprechend gefährdet sind; b) Überlebende schädlicher traditioneller Bräuche sowie Personen, die entsprechend gefährdet sind; und c) Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen. Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles kann bei dieser Personengruppe ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, ihrer Religion, ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor einer solchen von nichtstaatlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen (UNHCR, Kapitel römisch III.A).
1.2.6. Außereheliche sexuelle Beziehungen („zina“):
In Afghanistan werden Frauen und Mädchen als Trägerinnen der Familienehre gesehen. Wenn sie gegen Bräuche, Traditionen oder Ehre verstoßen, sind sie auch diejenigen, die die Konsequenzen dafür tragen müssen. Afghanische Frauen, die vergewaltigt wurden, werden als Schande für ihre Familie oder die Gemeinschaft gesehen und werden dafür ein weiteres Mal durch Ehrenmorde bestraft. Eine ähnliche Situation zeigt sich auch für Frauen, die außerehelichen Liebesziehungen („zina“) verdächtigt werden und dadurch Schande über ihre Familien bringen. Sie riskieren auf diese Weise, durch einen Ehrenmord getötet zu werden, der entweder von einem männlichen Familienmitglied ausgeht oder auf Anweisung eines lokalen, aus Männern bestehenden Ältestenrat geschieht (UNHCR S 85).
Frauen in Afghanistan werden häufig für sogenannte „moralische Verbrechen“, wie etwa zina oder die Absicht, zina zu begehen, verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Die Gerichtsverfahren kennzeichnen sich dadurch, dass keine Rechtsstaatlichkeit gegeben ist, und es auch passiert, dass Personen für moralische Verbrechen verurteilt werden, die nicht gesetzlich verankert sind. (UNHCR S 88)
Das afghanische Strafgesetzbuch stellt zina (Geschlechtsverkehr zwischen einem nicht verheirateten Paar) unter Strafe; einem unverheirateten Täter drohen bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe (UNHCR S 83).
2. Die Feststellungen ergeben sich aus der folgenden Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen der individuellen Situation der BF3 und zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zu den persönlichen Daten (Staatsangehörigkeit, Familienstand, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit), zum Gesundheitszustand, zur Muttersprache, zur Schulbildung der BF3 und ihrer Ausreise nach Europa ergeben sich aus den im Wesentlichen gleichbleibenden, übereinstimmenden und schlüssigen Aussagen der BF3 und ihren Brüdern (BF1 und BF2) im behördlichen und im gerichtlichen Verfahren.
Die Feststellungen zu den Familienangehörigen und zur Herkunft der BF3 ergeben sich aus den Niederschriften des behördlichen Verfahrens und den übereinstimmenden Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vergleiche OZ 1, S 81 f; Verhandlungsprotokoll, S 10). Dass die BF3 gemeinsam mit ihren jüngeren Brüdern – BF1 und BF2 – in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt wohnt, ergibt sich aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben im gesamten Verfahren und den Aussagen der Zeugin WAHIDA in der Beschwerdeverhandlung.
Die Feststellungen zur Einreise und zum behördlichen Asylverfahren der BF3 ergeben sich aus den unbedenklichen Verwaltungsakten.
Die Feststellung zu den Deutschkenntnissen der BF3 basieren auf den glaubhaften Angaben in der mündlichen Beschwerdeverhandlung und der Vorlage des ÖSD Zertifikat Deutsch Niveau A2 vergleiche OZ 14, S 10; Verhandlungsprotokoll, S 11).
Die Feststellung der strafgerichtlichen Unbescholtenheit der BF3 ergibt sich aus der Einsicht in den Strafregisterauszug am 26.05.2020.
Die Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan ergeben sich aus den bei den jeweiligen Feststellungen angeführten Quellen, die sich auf mehrere, im Wesentlichen übereinstimmende Berichte verschiedener, anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nicht staatlicher Institutionen und Personen gründen. Insoweit in den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zu Grunde liegen, so wurde zwischenzeitlich das Länderinformationsblatt um aktuelle Informationen zur Auswirkungen der COVID-19 Pandemie in Afghanistan ergänzt, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuellen Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
2.2. Zu den Feststellungen zur „westlichen Orientierung“ der BF3:
Dass es sich bei der BF3 um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau handelt, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist basiert zum einen auf den diesbezüglich glaubhaften und schlüssigen Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht. Sie legte glaubhaft, schlüssig und in sich widerspruchsfrei dar, dass sie die ihr in Österreich zukommende Freiheiten als Frau wahrnimmt, sich mit diesen bereits identifiziert und sich diesbezüglich auch kein anderes Leben mehr vorstellen kann und sie die Freiheit für sich zu entscheiden und über ihren eigenen Lebensweg zu bestimmten verinnerlicht hat. So hat sie ua ausgeführt, dass sie nicht von anderen Personen finanziell abhängig sein möchte und sie konnte ihre – realistischen – beruflichen Zukunftspläne klar erörtern (Verhandlungsprotokoll, S 10: „Den Mädchen stehen einfach nicht die gleichen Chancen und Möglichkeiten offen, wie den Burschen. Die Möglichkeiten und Freiheiten, die ich in Österreich habe, die bleiben mir in Afghanistan verwehrt. Ich kann hier selbst Lebensentscheidungen treffen. Ich entscheide über meine Ausbildung, meinen Beruf, meine Kleidung, wo ich hingehe, wen ich treffe, um welche Uhrzeit ich aus dem Haus gehe. Ich brauche keine männliche Begleitung. Ich möchte hier in Österreich meine Ausbildung beenden, einen Beruf ergreifen und auf eigenen Beinen stehen. Ich will von niemandem abhängig sein.“).
Insbesondere die Bildungsmöglichkeiten und die Freiheit selbst Entscheidungen zu treffen und ihren Alltag und ihre Freizeit nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, führt die BF3 ausführlich und wiederholend aus. Sie hat in der mündlichen Beschwerdeverhandlung glaubhaft ausgesagt, dass sie sich in Österreich alleine im öffentlichen Raum bewegt sowie laufen, schwimmen, radfahren und einkaufen geht.
Hinzu kommt, dass die BF3 auch überzeugend darlegen konnte, dass sie die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ablehnt. Sie engagierte sich bereits in Afghanistan dafür, mittels Mitgliedschaft bei einer Partei namens „ römisch 40 “, die sich für Frauenrechte einsetzte, andere Frauen und Mädchen, auf die fehlende Bildung, Eigenständigkeit und anderen Probleme für Frauen in Afghanistan aufmerksam zu machen (Verhandlungsprotokoll, S 10). So wäre es nach den Angaben der BF3 auch unvorstellbar eine außereheliche Beziehung, wie sie sie in Österreich führt, öffentlich in Afghanistan zu führen, frei über eine Heirat und den Ehemann zu entscheiden, über eigenes Geld zu verfügen und alleine aus dem Haus zu gehen. Demgegenüber bestehen diese Bewegungs- und Entscheidungseinschränkungen in Österreich nicht und die BF3 möchte viele Möglichkeiten und Perspektiven nach eigenen Vorstellungen und Wünschen ergreifen (Verhandlungsprotokoll, S 11).
Die Feststellung bezüglich des eindeutig als westlich zu bezeichnenden Kleidungsstils der BF3 basiert auf den Eindruck des erkennenden Richters in der Beschwerdeverhandlung und den vorgelegten Fotos der Freizeit- und Vereinsaktivitäten (Verhandlungsprotokoll, S 11).
Die Ausführungen der BF3 decken sich im Wesentlichen auch mit den Aussagen der Zeugen und den vorgelegten Unterstützungsschreiben, sowie verschiedenen Integrationsbestätigungen. Ihr Lebenspartner bestätigt in der Beschwerdeverhandlung als Zeuge, dass er die BF3 kenne und mit ihr seit mehr als zwei Jahren zusammen sei und sie gemeinsam Ausflüge machen und etwas essen oder trinken gehen (Verhandlungsprotokoll, S 22). Dies bestätigten auch mehrere vorgelegte Fotos, die die BF3 mit ihren Freund oder Bruder an verschiedenen Ausflugsorte in Österreich zeigt.
Die Obfrau des Vereins römisch 40 bestätigt in einem ausführlichen Unterstützungsschreiben, dass sie die BF3 und ihre Geschwister zu Beginn des Jahres 2016 kennengelernt habe und mittlerweile beinahe wöchentlich bei der „Nährunde“ trifft und die BF3 quasi Gründungsmitglied des Vereins sei. Die BF3 habe auch Fortschritte beim Deutschlernen gemacht und den Verein tatkräftig bei diversen Märkten und Ausstellungen als höfliche Verkäuferin unterstützt (OZ 14, S 2ff).
Die Angaben der BF3, sie habe in Afghanistan auch lange Kleidung und darüber eine Burka tragen müssen und sie habe nicht als Köchin arbeiten dürfen (Verhandlungsprotokoll, S 11, 13), waren in Hinblick auf die Länderberichte, wonach in der Stadt Kabul die Kleidungsvorschriften für Frauen nicht derart streng seien und es für Frauen auch möglich sei, Berufe zu ergreifen, nicht zu folgen; insbesondere gibt es keine Hinweise darauf, dass es – wie die BF3 vermeint – in einzelnen Bezirken Kabuls strengere Kleidungsvorschriften gelten. In Bezug auf die sonst überzeugenden und in sich schlüssigen Ausführungen konnte dennoch von einer grundsätzlichen Glaubwürdigkeit der BF3 und der Glaubhaftigkeit der restlichen Angaben ausgegangen werden.
3. Rechtlich folgt daraus:
Zu A)
Zu Spruchpunkt römisch eins.:
3.1. Zur Frage des Vorliegens eines Familienverfahren (Paragraph 34, Absatz 2, Asylgesetz 2005):
Die BF bringen (erstmals) in der Beschwerdeverhandlung vor, es läge ein Familienverfahren im Sinne des Paragraph 34, Absatz 2, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz 2, Ziffer 22, Asylgesetz 2005 vor, weil die BF3 nach dem Verlust der restlichen Familienmitglieder die faktische Obsorge für die BF1 und BF2 übernommen hätte. Dem kann nicht gefolgt werden:
Gemäß Paragraph 34, Absatz 2, Asylgesetz 2005 hat die Behörde auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist, die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist.
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, Asylgesetz 2005, die vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 26.06.2020, G 298/2019, (erst) mit Ablauf des 30.06.2021 zur Gänze aufgehoben worden ist und zum Entscheidungszeitpunkt daher nach wie vor anzuwenden ist, ist Familienangehöriger ua der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist und sofern das rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise bestanden hat.
Die Definition von Familienangehörigen basiert dabei auf der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes („Status-RL“). Wer gesetzlicher Vertreter iSd Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, Asylgesetz 2005 ist, ist daher – mangels Definition im nationalen Recht – richtlinienkonform zu interpretieren.
Gemäß Litera j, des mit „Begriffsbestimmungen“ betitelten Artikel 2, der Status-RL ist „Familienangehörige“ ua das folgende Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, das sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhält, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:
● ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist.
Durch die Voranstellung des Begriffs „anderer Erwachsenen“ geht hervor, dass der EU-Rechtsgeber unabhängig vom anwendbaren nationalen Recht – das über die Regeln zum internationalen Privatrecht auf afghanisches Recht verweisen könnte – davon ausgeht, dass der gesetzliche Vertreter nur ein Erwachsener sein kann, wobei der Begriff des Erwachsenen europarechtlich autonom auszulegen ist.
„Erwachsener“ ist dabei bereits begrifflich aber auch nach der Status-RL als Gegensatz zum Minderjährigen zu sehen. So wird in der Definition des „unbegleiteten Minderjährigen“ in Artikel 2, Litera l, der Status-RL der Minderjährige als Gegensatz zum Erwachsenen verstanden.
Gemäß Artikel 2, Litera k, der Status-RL ist „Minderjähriger“, wer ein Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren ist. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass ein Erwachsener ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ist, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.
„Gesetzlicher Vertreter“ im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, Asylgesetz 2005 kann bei einer richtlinienkonformen Interpretation daher nur sein, wer 18 Jahre oder älter ist. Da das rechtserhebliche Verhältnis, dh gesetzlicher Vertreter zu sein, bereits vor der Einreise bestanden haben muss, ist eine nach der Einreise eingetretene Volljährigkeit unbeachtlich.
Angewendet auf den Sachverhalt bedeutet das:
Da die nunmehr volljährigen Geschwister (BF1 und BF3) zum gemäß Paragraph 2, Absatz 2, Ziffer 22, Asylgesetz 2005 maßgeblichen Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet unter 18 Jahre alt waren, können sie nicht gesetzlicher Vertreter im Sinne des Paragraph 2, Absatz 2, Ziffer 22, Asylgesetz 2005 sein, und zwar selbst dann nicht, wenn sie faktisch die Verantwortung über ihren jüngeren Bruder übernommen hätten und eine solche faktische Obsorge als gesetzliche Vertretung im Sinne des Paragraph 2, Absatz 2, Ziffer 22, Asylgesetz 2005 zu subsumieren wäre.
Es war daher hinsichtlich der Geschwister BF1, BF2 und BF3 von keinem Familienverfahren im Sinne des Paragraph 34, Asylgesetz 2005 auszugehen, weshalb die Verfahren der Beschwerdeführer getrennt zu entscheiden waren.
3.2. Asyl nach Paragraph 3, Asylgesetz 2005:
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, Asylgesetz 2005 (in Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention (in Folge GFK) droht.
Flüchtling im Sinn Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen vergleiche VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr vergleiche VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).
Auch einer von Privatpersonen bzw privaten Gruppierungen ausgehender und auf einem Konventionsgrund beruhender Verfolgung kommt Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 03.03.2017, Ra 2016/01/0293). Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann aber nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der GFK genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist vergleiche VwGH 06.07.2011, Ra 2008/19/0994; 24.02.2015, Ra 2014/18/0063; zum Erfordernis der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit siehe VwGH 15.03.2016, Ra 2015/01/0069).
Relevant kann dabei nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss zum Entscheidungszeitpunkt vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche ua VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265; 03.05.2016, Ra 2015/18/0212 mwN).
Gemäß Paragraph 3, Absatz 2, AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignisse beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).
Bei dem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Asylgrund der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der sich in weiten Bereichen mit den gründen „Rasse, Religion und Nationalität“ überschneidet, jedoch weiter gefasst ist als diese. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine – nicht sachlich gerechtfertigte – Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten (VwGH 26.06.2007, Ra 2007/01/0479).
3.2.1 Zur Gefährdung der BF3 als „westlich orientierte Frau“:
Die BF3 bringt sinngemäß vor sie hätte eine westliche Geisteshaltung und einen westlichen Lebensstil angenommen und sei daher als Angehöriger der sozialen Gruppe der „westlich orientierten Frauen“ in Afghanistan asylrelevant verfolgt. Damit ist die BF3 im Recht:
Aus den vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Afghanistan ergeben sich zwar keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen allein auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter sowie individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen) Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Intensität von den in den Länderberichten aufgezeigten Einschränkungen und Diskriminierungen kann jedoch bei Hinzutreten weiterer maßgeblicher individueller Umstände, insbesondere einer diesen – traditionellen und durch eine konservativ-religiöse Einstellung geprägten – gesellschaftlichen Zwängen nach außen hin offen widerstrebenden Wertehaltung einer Frau, ein asylrelevantes Ausmaß erreichen.
So ist den UNHCR Richtlinien, insbesondere auch den Risikoprofilen, welchen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken ist (siehe VwGH 08.08.2017, Ra 2017/19/0118, mit Verweis auf VwGH 22. 11.2016, Ra 2016/20/0259, mwN), beispielsweise zu entnehmen, dass sich die afghanische Regierung zwar bemüht, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, jedoch Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind und gerade Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, gesellschaftlich stigmatisiert werden und hinsichtlich ihrer Sicherheit gefährdet sind. Frauen sind daher besonders gefährdet, in Afghanistan Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten – wie z.B. die freie Fortbewegung oder eine ausgeübte Erwerbstätigkeit – als nicht mit den von der Gesellschaft, von der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird.
Demgemäß können nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt werden würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen vergleiche VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0301; 22.03.2017, Ra 2016/18/0388).
Die BF3 konnte eine derartige Lebensführung glaubhaft machen:
So hat sie sich bereits in Afghanistan für Frauenrechte eingesetzt. Dem folgenden nimmt sie auch in Österreich ihre Freiheiten als Frau wahr, insbesondere für sich entscheiden zu können und über ihren eigenen Lebensweg selbst bestimmen zu können, identifiziert sich mit ihnen und hat sie derart verinnerlicht, dass sie sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen kann. Sie führt ein selbstbestimmtes Leben und legt Wert darauf, nicht von Dritten abhängig zu sein. Dementsprechend bemüht sie sich Deutsch zu lernen und hat bereits Niveau A2 erreicht. Sie bewegt sich alleine im öffentlichen Raum, indem sie beispielsweise alleine einkaufen geht und in ihrer Freizeit ihre Hobbies Laufen, Schwimmen und Fahrrad fahren nachgeht. Sie engagiert sich sozial. So ist sie Vereins- und römisch 40 römisch 40 mitglied römisch 40 einem gemeinnützigen Verein, bei dem sie maßgeblich mitarbeitet, sie verrichtet gemeinnützige Tätigkeiten für die Stadtgemeinde römisch 40 und hilft ehrenamtliche bei dem Sozialprojekt römisch 40 mit. Sie hat konkrete und realistische Berufswünsche als Köchin. Die BF3 lebt in einer außerehelichen Lebensgemeinschaft, was als solches bereits in der afghanischen Gesellschaft nicht akzeptiert werden würde und zu strafrechtlicher Verfolgung bis hin zu Ehrenmorden führen könnte (siehe dazu auch das entsprechende UNHCR-Risikoprofil in Bezug auf Personen, die (vermeintlich) gegen die Sharia verstoßen, UNHCR S 73). Sie kleidet sich nach westlicher Mode und trägt kein Kopftuch.
Nach den Länderfeststellungen würde die BF3 in Afghanistan mit diesem Lebensstil – auch in den vergleichsweise progressiven Städten – gegen die dort herrschenden Normen für Frauen verstoßen und asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt sein; eine Änderung dieser Lebensweise ist ihr nicht zumutbar. Der Staat könnte sie davor nicht schützen. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative steht ihr nicht zur Verfügung, weil am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frauen im gesamten Staatsgebiet mit asylrelevanten Eingriffen zu rechnen haben.
Sie ist somit als Zugehörige der sozialen Gruppe der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen sowie auf Grund Ihrer außerehelichen Beziehung als Frau, die gegen die Sharia verstößt, in Afghanistan asylrelevant verfolgt. Es war ihr daher – mangels Asylausschlussgründe – der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
3.2.2. „Asyl auf Zeit“:
Festzuhalten ist, dass die BF3 den Asylantrag am 18.11.2015, d.h. nach dem 15.11.2015, gestellt hat, und somit Paragraph 3, Absatz 4, Asylgesetz 2005 („Asyl auf Zeit“) anzuwenden ist (Paragraph 75, Absatz 24, Asylgesetz 2005).
Zu Spruchpunkt römisch II.:
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, Asylgesetz 2005 ist die Entscheidung, mit der einem Fremden auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Da der BF3 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt worden ist, war spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Eine im Rahmen der vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Grundsätze vorgenommene Beweiswürdigung, hier zur Frage, ob die BF3 eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau ist, bei der diese Lebensweise zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, ist nicht reversibel. Da der Beschwerde der BF3 vollinhaltlich stattgegeben worden ist, ist sie durch die Entscheidung, dass hinsichtlich ihrer Geschwister BF1 und BF3 kein Familienverfahren im Sinne des Paragraph 34, Asylgesetz 2005 vorliegt, nicht beschwert.
ECLI:AT:BVWG:2020:W258.2190621.1.00