Bundesverwaltungsgericht
22.07.2019
L510 2196103-2
L510 2196103-2/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. am römisch 40 , StA. Türkei, vertreten durch Michael GENNER, Asyl in Not, gegen die Spruchpunkte römisch IV., römisch fünf., römisch VII. und römisch VIII. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.06.2019, Zl: römisch 40 , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 idgF in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG idgF, Paragraphen 52, Absatz 2, Ziffer 2,, 46, 55 Absatz eins a, FPG idgF, Paragraph 18, BFA-VG, Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, FPG, als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Die beschwerdeführende Partei (bP) wurde im Jahr römisch 40 im römisch 40 Bundesgebiet des Mordes beschuldigt und reiste während des laufenden Gerichtsverfahrens zurück in die Türkei und anschließend weiter zu ihrem in Kanada lebenden Cousin.
Aufgrund eines internationalen Haftbefehls wurde sie in Kanada festgenommen und zurück in die römisch 40 überstellt.
Mit Urteil vom römisch 40 wurde sie vom römisch 40 wegen Mordes und schweren Raubes zu 16 Jahren Haftstrafe verurteilt.
Am 08.04.2013 wurde vom römisch 40 ein schengenweites Einreiseverbot gegen die bP erlassen, welches bis zum 31.12.2099 gültig ist.
Nach ihrer verbüßten Haftstrafe in der römisch 40 wurde sie in ihren Herkunftsstaat Türkei abgeschoben.
Am 17.03.2017 reiste sie trotz des gültigen Einreiseverbots durch die Vorlage eines gefälschten Reisepasses in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte bei einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der LPD römisch 40 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Die bP stellte dar, dass sie Staatsangehöriger der Türkei, alevitischen Glaubens sei, der Volksgruppe der Kurden angehöre und aus römisch 40 ., stamme.
Anlässlich der Erstbefragungen durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.03.2017 gab die bP zum Fluchtgrund an, dass es in ihrer Heimatstadt ein Flüchtlingslager gebe. Sie habe gegen das Flüchtlingslager demonstriert, sei von der Polizei festgenommen worden, einvernommen worden und sei gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet worden. Sie befürchte deswegen in ihrer Heimat festgenommen zu werden, weshalb sie die Türkei verlassen habe. Sie sei in Istanbul stellvertretender Geschäftsführer einer Firma gewesen. Die Firma sei von den Behörden gesperrt worden und sei der Geschäftsführer nach Kanada geflüchtet. Sie habe Angst in ihrer Heimat eingesperrt zu werden. Ansonsten habe sie mit keinen Sanktionen zu rechnen.
In der Einvernahme beim BFA am 07.06.2017 brachte die bP im Wesentlichen vor, dass sie türkischer Staatsangehöriger, Kurde, Alevit, ledig sei und keine Sorgepflichten habe. Sie legte diverse türkische Schriftstücke vor, wie einen Haftbefehl für einen Verhandlungstermin am 05.07.2017, Unterlagen über den Verhandlungstermin, Fotos mit Aziz Tunc. Glaublich seien die Fotos im Juni 2015 oder Juni 2016 gemacht worden. Sie habe damals gegen das Flüchtlingslager in ihrem Heimatdorf demonstriert und sei von Soldaten festgenommen worden. Die bP legte Fotos und einen Zeitungsartikel in Bezug auf die Demonstrationen vor. Die Personen in diesem Artikel seien genauso wie sie festgenommen worden. Laut Feststellungen des Dolmetschers scheint der Name der bP in diesem Artikel nicht auf, was auch durch die bP nicht weiter bestritten wurde. Weiter legte die bP Fotos mit der Fahne der HDP vor, welche im Juni 2015 gemacht worden seien. Es erfolgte die Dokumentenvorlage über die Ermordung eines Verwandten mütterlicherseits im Jahr 1994, welcher Vorsitzender der HDP gewesen sei.
In Österreich habe sie entfernte Verwandte, mit welchen sie aber nicht in gemeinsamen Haushalt lebe. In der römisch 40 lebe die gesamte Familie.
Sie sei in der römisch 40 wegen Mordes verhaftet worden. Dann sei sie frei gelassen worden und habe sie auf das Gerichtsverfahren gewartet. Sie sei jedoch in die Türkei zurückgekehrt und von 1998 bis 2000 dort geblieben. Danach sei sie nach Kanada zu ihrem Cousin geflogen. In Kanada sei sie aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen und in die römisch 40 verbracht worden. Sie sei dort angeklagt und verhaftet worden. 2013 sei sie in die Türkei abgeschoben worden. In der Türkei sei sie nicht im Gefängnis gewesen, sondern sei wegen der Demonstration nur kurz festgenommen worden. Sie sei nicht Mitglied einer Partei gewesen. Sie sei nur Sympathisant der HDP gewesen und sei bei Wahlen gewesen. Sie sei Beisitzer gewesen und habe die Wahlen überwacht. Sonst sei sie nicht tätig gewesen. Sie werde in der Türkei als Kurde und Alevit unterdrückt. Sie hätten Angst gehabt, dass viele IS Kämpfer in das Flüchtlingslager gebracht worden wären. 1978 seien viele Aleviten umgebracht worden. Damals sei auch ihr Haus angezündet worden. Ein IS Mitglied habe 40 Kilometer von der Stadt entfernt bei einer kurdischen Hochzeit HDP Leute umgebracht. IS Mitglieder hätten viele Anschläge gegen HDP und Linksparteien vollzogen. Sie habe Angst festgenommen zu werden, da sie angezeigt worden sei. Ihr Arbeitgeber in Istanbul sei bei der Gülen Bewegung gewesen. Das Geschäft sei geschlossen worden und der Arbeitgeber sei ins Ausland gegangen. Deshalb habe sie Angst gehabt, dass sie auch festgenommen werden könnte. Sie sei aber nicht Gülen Anhänger und habe dort nur gearbeitet. Sie sei dann in ihr Heimatdorf römisch 40 zurückgegangen. Sie habe einen Imkerkurs gemacht, sich Bienen gekauft und sei bis zu ihrer Ausreise Bienenzüchter gewesen.
Zur Festnehme konkretisierte die bP, dass sie in das Camp hineingehen wollte. Dort sei eine Demonstration organisiert worden, doch hätten ihr Soldaten den Weg versperrt. Sie sei dann festgenommen und einvernommen worden. Es sei mit einer hohen Geldstrafe gedroht worden. Ein Abgeordneter der HDP sei bei den Festgenommenen dabei gewesen und es seien Journalisten und Anwälte dabei gewesen. Dann sei sie entlassen worden. Den Befehl zur Verhaftung habe ein Kommandant gegeben, den Namen kenne sie nicht. Strafe hätte sie nicht bezahlen müssen, jedoch sei eine hohe Strafe angedroht worden, die anwesenden Anwälte hätten alles geklärt. Der bestehende Haftbefehl sei von der Staatsanwaltschaft ausgestellt worden. Danach sei sie in die Stadt römisch 40 gegangen und habe sich dort bis zu ihrer Ausreise versteckt.
Sie sei dann legal mit dem Flugzeug von Istanbul nach Moldawien ausgereist. Die Schlepperkosten hätten Euro 10.000 betragen. Sie habe 11 Jahre lang in der römisch 40 und in Istanbul gearbeitet und das Geld gespart. In Istanbul und Ankara habe sie Verwandte. Diesen gehe es gut.
2. Der Antrag auf internationalen Schutz wurde folglich vom BFA mit Bescheid vom 18.04.2018 gemäß Paragraph 3, Absatz 3, Ziffer 2 i, fünf m, Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13 und Paragraph 6, Absatz eins, Ziffer 3,, 4 AsylG 2005 abgewiesen und der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt römisch eins.).
Gem. Paragraph 8, Absatz eins, AsylG in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.).
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gem. Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III).
Gem. Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gem. Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV).
Gem. Paragraph 52, Absatz 9, FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem. Paragraph 46, FPG in die Türkei zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.)
Gem. Paragraph 55, Absatz eins a, FPG wurde festgestellt, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt römisch VI).
Gem. Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 2,, 3 und 6 BFA-Verfahrensgesetz wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Entscheidung aberkannt (Spruchpunkt römisch VII).
Gem. Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer eins und 5 FPG wurde gegen die bP ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VIII).
3. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Im Wesentlichen wurde dargelegt, dass die Identität durch die Vorlage des türkischen Identitätsnachweises feststellbar wäre. Zudem verkenne die belangte Behörde, dass sie sehr wohl zur Prüfung des Refoulement-Verbots verpflichtet sei, auch wenn sie den Antrag auf Asyl ohne Prüfung abweisen durfte. Artikel 3, EMRK sei in jedem Fall zu beachten. Die Behörde habe sich unzureichend mit den in der Einvernahme zu Protokoll gebrachten Gerichtsakten und dem Haftbefehl gewidmet. Erstmals wurde im Verfahren vorgebracht, dass die bP aufgrund der Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen und ihrer Sympathie und ihrer Wahlhelferschaft für die HDP bereits mehrfach in der Türkei festgenommen worden sei. Zudem sei ein Verfahren gegen sie und andere Demonstranten nach Paragraph 2911 des türkischen Strafgesetzbuches eröffnet worden. Es sei ein Haftbefehl ausgestellt worden und werde eine Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren gegen sie angestrebt. Ein solches Strafausmaß stehe in keinem Verhältnis zu einer Verwaltungsübertretung wie der Teilnehme an der Demonstration.
Es wurden allgemeine Ausführungen zum Refoulement-Verbot getätigt. Sie könne in der Türkei nicht mit einem fairen Verfahren rechnen. Es sei kein angemessener Schutz vor erniedrigender und unmenschlicher Behandlung oder gar Folter gegeben. Beigefügt wurde ein Bericht der Musikerin Pinar AYDINLAR, bei welcher eine Nacktdurchsuchung stattgefunden habe. Die Haftbedingungen würden nationalen Standards nicht entsprechen. Es wurde ein Bericht von Nils Melzer beigefügt. Selbst wenn die bP nicht Mitglied der Gülen-Bewegung sei, reiche der Verdacht, um unmenschliche Behandlung zu befürchten. Berühmtestes Beispiel sei Murat Arslan. Es wurde ein entsprechender Bericht beigebracht wonach man sehe, dass Anklageerhebungen in der Türkei völlig willkürlich erfolgen würden und kein faires Verfahren möglich sei. Gülen Anhänger, Assoziierte sowie Kurden und Aleviten würden in der Haft erniedrigt und gefoltert, was sich aus beigefügten Länderberichten ergeben würde.
4. Mit Mail vom 24.05.2018 wurde seitens Asyl in Not dem BVwG die Vollmacht vom 30.05.2017 übermittelt, welche auch eine Zustellvollmacht enthält.
5. Mit Beschluss des BVwG vom 30.05.2018 wurde der Bescheid des BA behoben und die Angelegenheit gemäß Paragraph 28, Absatz 3, des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG) zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverwiesen.
6. In der Folge wurden seitens des BFA die im Verfahren vorgelegten Unterlagen übersetzt.
7. Am 28.01.2019 erfolgte eine ergänzende niederschriftliche Einvernahme der bP vor dem BFA. Im Zuge dieser Einvernahme stellte sich heraus, dass ihr in der Türkei anhängiges Gerichtsverfahren immer noch laufend war und ihr Verhandlungstermin (ein weiteres Mal) auf den 14.02.2019 verschoben wurde.
8. Am 14.02.2019 wurde durch das BFA eine Anfrage an die Staatendokumentation zum Thema "Teilnahme an illegaler Demonstration in römisch 40 , Strafausmaß" gestellt. Die diesbezügliche Anfragebeantwortung der Staatendokumentation langte am 13.03.2019 beim Bundesamt ein.
9. Am 08.04.2019 wurde die bP erneut einvernommen. Im Rahmen dieser Niederschrift ergab sich, dass sowohl ihr Verhandlungstermin, als auch der für alle weiteren Angeklagten, abermals verschoben und auf den 12.09.2019 angesetzt wurde.
10 Mit im Spruch bezeichneten Bescheid des BFA vom 07.06.2019 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 17.03.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz 3 Ziffer 2 in Verbindung mit Paragraph 2, Ziffer 13 und Paragraph 6, Absatz 1 Asylgesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005, (AsylG) idgF, abgewiesen Spruchpunkt römisch eins.).
Gemäß Paragraph 8, Absatz 3a in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.).
Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
Gemäß Paragraph 10, Absatz 1 Ziffer 3 AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-Verfahrensgesetz, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012, (BFA-VG) idgF, wurde gegen die bP eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr 100 aus 2005, (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt römisch IV.).
Gemäß Paragraph 55, Absatz 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt römisch fünf.).
Ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei wurde gemäß Paragraph 8, Absatz 3a AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz 2 AsylG und Paragraph 52, Absatz 9 FPG für unzulässig erklärt (Spruchpunkt römisch VI.).
Gemäß Paragraph 53, Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 3 Ziffer 1 und 5 Fremdenpolizeigesetz, Bundesgesetzblatt Nr. 100 aus 2005, (FPG) idgF, wurde gegen die bP ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt römisch VII.).
Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß Paragraph 18, Absatz 1 Ziffer 2 und 3 BFA-Verfahrensgesetz, Bundesgesetzblatt Nr. 87 aus 2012,, (BFA-VG) idgF, die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt römisch VIII.).
11. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde gegen die Spruchpunkte römisch IV., römisch fünf., römisch VII., und römisch VIII. eingebracht und der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt.
Im Wesentlichen wurde dargelegt, dass es nicht nachvollziehbar sei, weshalb das BFA davon ausgehe, dass nur mit einem Einreiseverbot in unbefristeter Höhe das Auslangen gefunden werden könne. Die Abwägung sei nur sehr oberflächlich erfolgt. Es sei nur auf die strafrechtliche Verurteilung verwiesen worden. Es sei jedoch das Gesamtverhalten zur Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose heranzuziehen. Das BFA würdige nicht, dass sich die bP seit der Verurteilung vor über einem Jahrzehnt wohl verhalten habe. Die Einreise mit einem gefälschten Reisepass sei menschlich verständlich und nachvollziehbar. Es sei zwar richtig, dass die bP keine nennenswerten familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet habe, jedoch würden Verwandte des Ehegatten der Nichte in Österreich leben und bestehe reger Kontakt zu diesen. Darüber hinaus befinde sich ein Großteil der erweiterten Kernfamilie im Schengenraum. Bei der Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes wäre es der bP nie wieder möglich, diese Familienmitglieder zu besuchen.
12. Am 18.07.2019 langte der Verwaltungsverfahrensakt bei der zuständigen Gerichtsabteilung ein.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der bP:
Die Identität der bP steht fest.
Die bP wurde am 01.01.1977 in der Provinz römisch 40 , in der Türkei, geboren und lebte bis zum Jahr 1985 ununterbrochen in ihrer Heimatprovinz, bis sie gemeinsam mit ihrer Familie in die römisch 40 gezogen ist. Sie ist ledig, hat keine Kinder und keine Obsorgepflichten. Sie ist gesund und arbeitsfähig. Sie besuchte mindestens zehn Jahre lang - davon acht Jahre Grundschule und zwei Jahre Gymnasium - die Schule. Sie hat Berufserfahrungen in verschiedenen Richtungen gesammelt, zumal sie jedenfalls in der Türkei als stellvertretender Geschäftsführer einer Firma im Bereich der Elektrotechnik sowie als Imker beschäftigt war. Ihre Muttersprache ist Kurdisch und verfügt sie über sehr gute Französischkenntnisse. Sie verfügt über Familienangehörige sowohl in der römisch 40 , als auch in Kanada und in der Türkei. Ihre Kernfamilie (Eltern und Geschwister) lebt in der römisch 40 . Eine Nichte und eine Schwester leben in Deutschland. Zwei Cousinen leben in Istanbul bzw. Ankara und sind verheiratet. Die Ehegatten ihrer Cousinen sind als Koch und Ingenieur für Maschinenbau beschäftigt und geht es diesen gut. Es leben Verwandte des Ehegatten der Nichte in Österreich und besteht seitens der bP Kontakt zu diesen Personen. Ein besonderes Naheverhältnis zu diesen Personen wurde nicht dargetan.
Die bP wurde im römisch 40 römisch 40 wegen Mordes und schweren Raubes zu 16 Jahren Strafhaft verurteilt und wurde ein schengenweites Einreiseverbot gegen sie ausgeschrieben, welches sie mittels gefälschten Reisepass übergangen hat, wodurch sie in Österreich einreisen konnten.
Zum Zeitpunkt liegen in Österreich keine rechtskräftigen Verurteilungen vor, jedoch wurde die bP aufgrund der Totalfälschung ihres vorgelegten Reisepasses bereits zur Anzeige gebracht.
1.2. Zu den Gründen für die Erlassung eines Einreiseverbotes:
Mit Strafurteil vom römisch 40 , welches am römisch 40 in Rechtskraft erwuchs, wurde die bP vom Obergericht des römisch 40 römisch 40 römisch 40 wegen Mordes und gemäß römisch 40 wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren Zuchthaus verurteilt. Gegen die bP ist in der Türkei ein Gerichtsverfahren anhängig, weshalb sie die Türkei verließ und mittels gefälschtem Reisepass in Österreich einreiste um hier einen Asylantrag zu stellen.
1.3. Das Bundesamt stellte im Bescheid folgende umfassenden und als aktuell anzusehende Länderfeststellungen der Staatendokumentation dar. Zudem tätigte das BFA individuelle Feststellungen zur bP, welche schließlich dazu führten, dass das BFA feststellte, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der bP aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei unzulässig ist.
- Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
KI vom 14.3.2019, Resolution des Europäischen Parlaments zur Menschenrechtslage (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 6.Folter und unmenschliche Behandlung, 12.Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, 12.Meinungs- und Pressefreiheit, 16.Religionsfreiheit
Infolge schwerer politischer und demokratischer Rückschritte in den letzten Jahren empfahl das Europäische Parlament (EP) am 13.3.2019 in einer Resolution die offizielle Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (EP 13.3.2019a).
Das EP begrüßte zwar den Beschluss vom 19. Juli 2018 zur Aufhebung des Ausnahmezustands, bedauerte jedoch, dass im Juli 2018 neue Rechtsvorschriften verabschiedet wurden, insbesondere das Gesetz Nr.7145, mit denen viele der dem Präsidenten und der Exekutive im Rahmen des Ausnahmezustandes verliehenen Machtbefugnisse beibehalten wurden, und Präsident und Exekutive praktisch weiter wie bisher mittels der entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten und grundlegender Menschenrechte handeln können. Laut EP hat der lang andauernde Ausnahmezustand zu einer Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte geführt. Darüber hinaus würden viele der während des Ausnahmezustands geltenden Befugnisse von der Polizei und den lokalen Verwaltungen nach wie vor angewendet. Das EP zeigte sich beunruhigt angesichts der gravierenden Rückschritte in den Bereichen des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Verfahrens- und Eigentumsrechte. Dazu zählen auch Verhaftungen legitimer oppositioneller Stimmen, darunter Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Oppositionelle, nebst der Tatsache, dass sich über 50.000 Personen zumeist ohne schlüssige Beweise weiterhin in Haft befinden. Von den 152.000 Staatsbediensteten, die aufgrund der Notstandsdekrete entlassen wurden, haben 125.000 Einspruch bei der Sonderkommission erhoben. 81.000 Beschwerden sind dort noch immer anhängig, wobei die positiven Bescheide im Sinne einer Wiedereinstellung nur sieben Prozent ausmachen.
Das EP zeigte sich zutiefst besorgt wegen der von mehreren Menschenrechtsorganisationen und dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte geäußerten Vorwürfe, dass Gefangene misshandelt und gefoltert würden. Das EP sieht die Antiterrormaßnahmen als Missbrauch zur Legitimation der Verstöße gegen die Menschenrechte und fordert die Türkei nachdrücklich auf, bei ihren Antiterrormaßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ihre Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung an die internationalen Menschenrechtsnormen anzupassen.
Das EP verurteilte die verstärkte Kontrolle der Arbeit von Richtern und Staatsanwälten durch die Exekutive und den politischen Druck, dem sie ausgesetzt sind. Besorgnis herrschte angesichts der mangelnden Achtung der Religionsfreiheit, der fortgesetzten Diskriminierung religiöser Minderheiten und der aus religiösen Gründen verübten Gewalttaten. Besorgniserregend seien auch die Lage im Südosten der Türkei und die schwerwiegenden Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen, übermäßiger Gewaltanwendung, Folter und der massiven Beschneidung des Rechts auf Meinungsfreiheit und politische Teilhabe (EP 13.3.2019b)
Das türkische Außenministerium verlautbarte, dass es der Resolution keinen Wert beimesse, da sie einseitig, voreingenommen und unfair sei. Es sei u.a. bedenklich, dass der extreme rechte und linke Flügel, die das Europäische Parlament zu dominieren begännen, die Resolution in einen ausgrenzenden, diskriminierenden und populistischen Text verwandelt hätten, der nicht der Realität entspräche (TFM 13.3.2019).
Quellen:
EP - Europäisches Parlament (Presseraum) (13.3.2019a): Parlament will EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, http://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20190307IPR30746/parlament-will-eu-beitrittsverhandlungen-mit-der-turkei-aussetzen, Zugriff 14.3.2019
EP - European Parliament (13.3.2019b): 2018 Report on Turkey - European Parliament resolution of 13March 2019 on the 2018 Commission Report on Turkey (2018/2150(INI)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2019-0200+0+DOC+PDF+V0//EN, Zugriff 14.3.2019
TFM - Turkish Foreign Ministry (13.3.2019): No: 52, 13 March 2019, Press Release Regarding the European Parliament's Resolution Regarding 2018 Report on Turkey, http://www.mfa.gov.tr/no_52_-avrupa-parlamentosu-2018-turkiye-raporu-hk.en.mfa, 14.3.2019
KI vom 28.1.2019, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) zur Menschenrechtslage und der Situation der Opposition (relevant für die Abschnitte 4.Rechtsschutz/Justizwesen, 11.Allgemeine Menschenrechtslage und 13.1.Opposition)
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat am 24.1.2019 eine Resolution [Nr.2260] zur weiterhin besorgniserregenden Lage der Demokratie, sowie zur Verschlechterung der Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verabschiedet. Mit Sorge sieht PACE die Aufhebung der Immunität von über 154 Parlamentariern, wovon die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) unverhältnismäßig stark betroffen ist; die Auswirkungen der, während des Ausnahmezustandes zwischen Juli 2016 und Juli 2018 erlassenen Notstandsdekrete auf die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Medien und die lokale Demokratie;
die Verfassungsreformen von 2017; die übereilte Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 und die, diesen unmittelbar vorausgegangene, Wahlrechtsreform. Die Meinungsfreiheit steht laut PACE vor dauerhaften Herausforderungen, insbesondere durch das Anti-Terror-Gesetz und dessen breite Auslegung sowie durch die Artikel 299 und 301 des Strafgesetzbuches.
In diesem Zusammenhang bringt die Versammlung ihre Besorgnis über die Inhaftierung von oppositionellen Parlamentariern, einschließlich des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtas, zum Ausdruck. Laut PACE diente die wiederholte Haftverlängerung für Demirtas, gerade während der entscheidenden Kampagnen zum Verfassungsreferendum und den Präsidentschaftswahlen, dem Zweck den Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken. Enttäuschend und besorgniserregend ist hierbei die Behauptung von Staatspräsident Erdogan, wonach die Türkei trotz der Verpflichtung, Gerichtsurteile gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention umzusetzen, im Fall von Herrn Demirtas nicht an das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden sei, das dessen sofortige Freilassung eingemahnt hat. PACE ist daher der Ansicht, dass diese Entwicklungen in Summe die Fähigkeit der Oppositionspolitiker, ihre Rechte auszuüben und ihre demokratischen Rollen innerhalb und außerhalb des Parlaments zu erfüllen, zunehmend verringern, behindern oder untergraben. Zudem sind gemäß PACE die Rechte von Oppositionspolitikern auf lokaler Ebene eingeschränkt, insbesondere im Zusammenhang mit der Kurdenfrage, nämlich infolge des Austauschs von über 90 gewählten Bürgermeistern der HDP oder ihrer Schwesterpartei durch von der Regierung ernannte Treuhänder, unter Verstoß gegen die Europäische Charta der lokalen Selbstverwaltung. Dies habe das Funktionieren der lokalen Demokratie, insbesondere im Südosten der Türkei, ernsthaft beeinträchtigt. Die Situation der Oppositionspolitiker hat sich in einem Kontext verschlechtert, der durch kontinuierliche restriktive Maßnahmen der Behörden gekennzeichnet ist, um insbesondere Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Wissenschaftler und andere abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (PACE 24.1.2018).
Quellen:
PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (24.1.2019): The worsening situation of opposition politicians in Turkey: what can be done to protect their fundamental rights in a Council of Europe member State? [Resolution 2260 (2019)], http://assembly.coe.int/nw/xml/Xref/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=25425&lang=en, Zugriff 28.1.2019
Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Artikel 2, ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, römisch eins der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vergleiche HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vergleiche ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vergleiche SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018
AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018
OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018
OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018
SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018
TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018
TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018
ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018
Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, römisch 40 und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018
BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018
CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf, Zugriff 19.9.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018
MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018
OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018
SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017
Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).
Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).
Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muinieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Muinieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).
Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).
Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).
Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).
Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vergleiche taz.gazete 9.2.2018).
Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).
Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).
Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].
Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vergleiche NYT 5.4.2018).
Quellen:
Anadolu (24.9.2018): Turkey: Over 20 FETO suspects arrested in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-over-20-feto-suspects-arrested-in-istanbul/126289, Zugriff 24.9.2018
BBC News (21.7.2016): Turkey coup: What is Gulen movement and what does it want? http://www.bbc.com/news/world-europe-36855846, Zugriff 20.9.2018
bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (1.9.2014): Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung, Zugriff 20.9.2018
bpb - Bundeszentrale für politische Bildung. Dohrn, Kristina (27.2.2017): Aus Politik und Zeitgeschichte - Türkei: DIE GÜLEN-BEWEGUNG - Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks, http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ApuZ_2017-09-10_online.pdf, Zugriff 20.9.2018
CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (7.10.2016): Memorandum on the human rights implications of the measures taken under the state of emergency in Turkey [CommDH(2016)35], https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016806db6f1, Zugriff 20.9.2018
DS - Daily Sabah (11.2.2018): Depositing money in Bank Asya on Gülen's order proof of FETÖ membership, https://www.dailysabah.com/investigations/2018/02/12/depositing-money-in-bank-asya-on-gulens-order-proof-of-feto-membership-1518386092, Zugriff 21.9.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
GM - Gülen Movement (o.D.): What is the Gülen Movement, http://www.gulenmovement.us/gulen-movement/what-is-the-gulen-movement, Zugriff 20.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (27.5.2016): Turkey to add Gülen movement to list of terror groups: President, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-to-add-gulen-movement-to-list-of-terror-groups-president-.aspx?pageID=238&nID=99762&NewsCatID=338, Zugriff 20.9.2018
NYT - New York Times (13.4.2017): Inside Turkey's Purge, https://www.nytimes.com/2017/04/13/magazine/inside-turkeys-purge.html, Zugriff 24.9.2018
NYT - New York Times (5.4.2018): Turkish Secret Agents Seized 80 People in 18 Countries, Official Says, https://www.nytimes.com/2018/04/05/world/europe/turkey-coup-arrests-extraditions.html?module=inline, Zugriff 9.10.2018
PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Ad hoc Sub-Committee on recent developments in Turkey (15.12.2016): Report on the fact-finding visit to Ankara (21-23 November 2016)[ AS/Pol (2016) 18rev], http://website-pace.net/documents/18848/2197130/20161215-Apdoc18.pdf/35656836-5385-4f88-86bd-17dd5b8b9d8f, Zugriff 20.9.2018
Der Standard (30.11.2017): EU sieht in Gülen-Bewegung keine Terrororganisation, https://derstandard.at/2000068784722/EU-sieht-in-Guelen-Bewegung-keine-Terrororganisation, Zugriff 20.9.2018
Der Standard (20.12.2014): Haftbefehl gegen Erdogan-Feind Gülen, https://derstandard.at/2000009628933/hTuerkischer-Zaman-Chefredakteur-unter-Auflagen-frei#, Zugriff 20.9.2018
Der Standard (3.10.2018): Polizeieinsatz vor Haus des Erdogan-Gegners Gülen in Pennsylvania, https://derstandard.at/2000088624065/Polizeieinsatz-vor-Haus-des-Erdogan-Gegners-Guelen-in-Pennsylvania, Zugriff 9.10.2018
SCF - Stockholm Center for Freedom (28.4.2018): Turkish gov't jailed 77,081 people since controversial coup attempt in 2016 over alleged links to Gülen movement, https://stockholmcf.org/turkish-govt-jailed-77081-people-since-controversial-coup-attempt-in-2016-over-alleged-links-to-gulen-movement/, Zugriff 21.9.2018
SCF - Stockholm Center for Freedom (20.6.2018): Turkish gov't investigates 203,518 people over links to Gülen movement thus far, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-203518-people-over-links-to-gulen-movement-thus-far/, Zugriff 21.9.2018
taz.gazete (9.2.2018): 7 Jahre Knast wegen 1 Dollar, https://gazete.taz.de/article/?article=!5483559, Zugriff 18.10.2018
TM - Turkish Minute (27.11.2017): Turkey detains close to 6,000 over Gülen links in last two months, https://www.turkishminute.com/2017/11/27/turkey-detains-close-to-6000-over-gulen-links-in-last-two-months/, Zugriff 21.9.2018
TM - (30.5.2018): Detention warrants issued for 59 Bank Asya customers over alleged Gülen links, https://www.turkishminute.com/2018/05/30/detention-warrants-issued-for-59-bank-asya-customers-over-alleged-gulen-links/, Zugriff 21.9.2018
TP - Turkey Purge (2.9.2018): 445,000 people in Turkey faced investigation over Gulen links so far: ministry, https://turkeypurge.com/445000-people-in-turkey-faced-investigation-over-gulen-links-so-far-ministry, Zugrif 21.9.2018
VB -Verbindunsbeamter (VB) des BM.I für die Türkei (26.9.2018): Auskunft des VB per Mail
Rechtsschutz/Justizwesen
Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Artikel 9, erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Artikel 138, der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 3.8.2018).
Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte), und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danistay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyusmazlik Mahkemesi). Die Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri-DGM) wurden im Zuge der Reformen für die EU-Beitrittsverhandlungen 2004 abgeschafft und die laufenden Fälle an die Großen Strafkammern (Agir Ceza Mahkemeleri) abgegeben (ÖB 10.2017).
Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vergleiche AI 22.2.2018).
Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).
Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).
Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (EC 17.4.2018).
Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vergleiche AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).
Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten (AA 3.8.2018).
Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017).
Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat mehr als 30 Dekrete erlassen, die nach der Verfassung "rechtskräftig" sind. Diese Notverordnungen betrafen die Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte, der Ausweitung der Polizeibefugnisse und der Befugnisse der Staatsanwälte für Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, die massiven Entlassungen von Beamten und die Schließung von Körperschaften sowie die Liquidation ihres Vermögens durch den Staat. Sie betreffen zudem Schlüsselrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand und das Recht auf Schutz des Eigentums. Sie enthalten Änderungen für andere wichtige Rechtsmaterien, die auch nach dem Ausnahmezustand Wirkung zeigen werden, insbesondere in Bezug auf Eigentumsrechte, lokale Behörden, öffentliche Verwaltung und Telekommunikation. Die Dekrete werfen ernsthafte Fragen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen betreffend auf. Sie wurden vom Parlament nicht sorgfältig und wirksam geprüft und zudem verspätet verabschiedet. Folglich standen die Dekrete lange Zeit nicht der gerichtlichen Überprüfung offen, da die Verabschiedung durch das Parlament ein notwendiger Schritt vor jeder rechtlichen Anfechtung vor dem Verfassungsgericht ist. Keines der Dekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (EC 17.4.2018).
Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates - der Venedig-Kommission - verabschiedetes Gutachten kommt zum Schluss, dass die türkischen Behörden zwar "mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung" konfrontiert waren und "gute Gründe" hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. Etwa die Massenentlassungen zehntausender Beamter auf der Grundlage von den Notdekreten beigefügten Listen, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist zu vage definiert, und selbst wenn Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, sollte dieser Umstand nicht dazu verwendet werden, gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen (CoE-VC 9.12.2016).
Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen (USDOS 20.4.2018).
Die Regierung setzte auch ihre groß angelegte Entlassung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst fort. Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden insgesamt 115.158 Beamte, Richter und Staatsanwälte entlassen. Das breite Spektrum und der kollektive Charakter dieser Maßnahmen wirft ernsthafte Fragen im Hinblick auf die mangelnde Transparenz der Verwaltungsverfahren, die zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst führen, und die Unklarheit der Kriterien für die Bestimmung angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und die persönliche Beteiligung am Putschversuch auf. Von den Entlassungen waren vor allem das Innen- und Bildungsministerium betroffen. Tausende von Polizeibeamten, Lehrern, Akademikern, Gesundheitspersonal und Angehörigen der Justiz gehören zu denen, die aus dem Amt entfernt wurden (EC 17.4.2018).
Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen, die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereinen und Firmen entgegenzunehmen (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017, vergleiche EC 17.4.2018). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission
können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017). Bis zur Einsetzung der Kommission wurden 3.604 Personen per Dekret wieder ins Amt eingesetzt, während weitere 36.000 Wiedereinsetzungen nach einem unklaren und undurchsichtigen Verwaltungsverfahren in verschiedenen Institutionen erfolgten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch etwa 28.000 bei ihm eingegangene Beschwerden an die Berufungskommission weitergeleitet. Infolgedessen hat die Beschwerdekommission bis Anfang März 2018 insgesamt rund 107.000 Beschwerdeanträge erhalten. Die Urteilsverkündungen begannen im Dezember 2017. Bis Anfang März 2018 wurden insgesamt 6.400 Fälle untersucht, darunter 1.984 vorläufige Prüfungsentscheidungen zu Personen, die per Dekret wieder eingegliedert wurden. Die Beschwerdekommission hat über 4.400 Prüfungsentscheidungen getroffen. Von diesen waren 100 positiv und 4.316 wurden abgelehnt. Es bedarf laut Europäischer Kommission einer größeren Transparenz der Arbeit der Beschwerdekommission und einer klaren Begründung für ihre Entscheidungen auf der Basis einer individuellen Prüfung jeder Akte nach ihren eigenen Gesichtspunkten (EC 17.4.2018).
Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht, welches u. a. die Straffreiheit von Zivilisten regelt, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Hierbei wurde Artikel 121 des Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen Beamte die beim Putschversuch und in diesem Zusammenhang in nachfolgenden Terroraufständen Widerstand geleistet haben, juristisch nicht belangt werden können (Turkishpress 25.12.2017). Kritiker befürchten, dass dies in Zukunft einen Freifahrtschein für ungezügelte Gewalt und Misshandlungen gegen Oppositionelle bedeute und den Aktionen paramilitärischer Einheiten Vorschub leiste (FNS 31.12.2017; vergleiche OHCHR 3.2018). Der türkische Justizminister bekräftigte, dass das Notstandsdekret keine Blanko-Amnestie sei und sich ausschließlich auf die Umstände während der Putschnacht und der Periode unmittelbar danach bezöge (Turkishpress 25.12.2017, vergleiche FNS 31.12.2017).
288 Prozesse wurden landesweit wegen des Putschversuches durchgeführt, bei denen die Gerichte 180 Urteile gefällt haben. 636 Verdächtige erhielten eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe, während 888 zu lebenslangen und 653 zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten bis zu 20 Jahren verurteilt wurden. In den Prozessen wegen des Putschversuches wurden 1.552 Verdächtige freigesprochen, und in 595 Fällen wurde eine sog. Nichtverfolgungsentscheidung getroffen (SCF 20.6.2018, HDN 7.6.2018). So verhängte ein Gericht in Izmir gegen 104 der 280 Angeklagten wegen "versuchten Umsturzes der Verfassungsordnung" sogenannte "verschärfte" lebenslange Haftstrafen. 21 weitere Angeklagte wurden zu zwanzigjährigen Haftstrafen wegen der versuchten Ermordung von Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan verurteilt. 31 Angeklagte müssen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" für zehneinhalb Jahre in Haft. Alle Angeklagten seien frühere Angehörige des Militärs gewesen, darunter mehrere Generäle und ranghohe Offiziere (ZO 21.5.2018).
Per Dekret wurde Staatspräsident Erdogan im August 2017 ermächtigt, ausländische Gefangene ohne Einschaltung der Justiz in deren Heimatländer abzuschieben oder gegen türkische Staatsbürger auszutauschen (HB 28.8.2017). Dies geschieht auf Antrag des Außenministers. Somit kann die Türkei festgehaltene Ausländer in diplomatischen Verhandlungen nützen (AM 30.8.2017).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html, Zugriff 19.9.2018
AM - Al Monitor (9.11.2016): AKP targets judicial independence in latest post-coup takedown, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/11/turkey-silenced-critical-judges.html, Zugriff 19.9.2018
AM - Al Monitor (30.8.2017): Erdogan hastens executive presidency with new decree, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/08/turkey-emergency-decree-redesigns-vital-intstitutions.html, Zugriff 18.9.2018
Bianet - BIA News Desk (7.8.2017): Constitutional Court Rejects 70,771 Applications Regarding State of Emergency, http://bianet.org/english/law/188906-constitutional-court-rejects-70-771-applications-regarding-state-of-emergency, Zugriff 18.9.2018
CoE-VC - Council of Europe/ Venice Commission (9.12.2016): Turkey had good reasons to declare the state of emergency but went too far with the emergency measures: Venice Commission, https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?p=&id=2449431&Site=DC&BackColorInternet=F5CA75&BackColorIntranet=F5CA75&BackColorLogged=A9BACE&direct=true, Zugriff 19.9.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html, 19.9.2018
FNS - Friedrich Naumann Stiftung (31.12.2017): TÜRKEI BULLETIN 24/17 (Berichtszeitraum: 18. - 31. Dezember 2017), http://shop.freiheit.org/download/P2@727/126939/TB_2017-24.pdf, Zugriff 19.9.2018
HB - Handelsblatt (28.8.2017): Sieben Jahre Haft - ohne Urteil, http://www.handelsblatt.com/politik/international/neues-dekret-von-erdogan-sieben-jahre-haft-ohne-urteil/20247280.html, Zugriff 18.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (8.8.2017): Turkish state of emergency commission receives over 38,000 appeals, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-state-of-emergency-commission-receives-over-38000-appeals-.aspx?pageID=238&nID=116469&NewsCatID=338, Zugriff 18.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (7.6.2018): Over 2,000 suspects given jail terms in Turkey coup trials: Ankara, http://www.hurriyetdailynews.com/over-2-000-suspects-given-jail-terms-in-turkey-coup-trials-ankara-132964, 21.9.2018
PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Ad hoc Sub-Committee on recent developments in Turkey (15.12.2016): Report on the fact-finding visit to Ankara (21-23 November 2016)[ AS/Pol (2016) 18rev], http://website-pace.net/documents/18848/2197130/20161215-Apdoc18.pdf/35656836-5385-4f88-86bd-17dd5b8b9d8f, Zugriff 19.9.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 19.9.2018
SCF - Stockholm Center for Freedom (20.6.2018): Turkish gov't investigates 203,518 people over links to Gülen movement thus far, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-203518-people-over-links-to-gulen-movement-thus-far/, Zugriff 21.9.2018
Turkishpress (25.12.2017): Türkei: Streit um Notstandsdekret 696, https://turkishpress.de/news/politik/25-12-2017/tuerkei-streit-um-notstandsdekret-696, Zugriff 19.9.2018
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 19.9.2018
ZO - Zeit Online (21.5.2018): Gericht verhängt mehr als 100 lebenslange Haftstrafen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-05/tuerkei-militaerputsch-lebenslange-haft-putschisten, 21.9.2018
Sicherheitsbehörden
Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz.Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Auch das traditionelle Selbstverständnis der türkischen Armee als Hüterin der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus), ist in Frage gestellt (AA 3.8.2018).
Am 9.7.2018 erließ Staatspräsident Erdogan ein Dekret, das die Kompetenzen der Armee neu ordnet. Der türkische Generalstab wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der Oberste Militärrat wurde aufgelöst. Erdogan hat auch den Nationalen Sicherheitsrat und das Sekretariat für nationale Sicherheit der Türkei abgeschafft. Ihre Aufgaben werden vom Komitee für Sicherheit und Außenpolitik (Board of Security and Foreign Policy) übernommen, einem von neun beratenden Gremien, die dem Staatspräsidenten unterstehen. Ebenfalls per Dekret wird der Verteidigungsminister nun zum wichtigsten Entscheidungsträger für die Sicherheit. Landstreitkräfte, Marine- und Luftwaffenkommandos wurden dem Verteidigungsminister unterstellt. Der Präsident kann bei Bedarf direkt mit den Kommandeuren der Streitkräfte verhandeln und Befehle erteilen, die ohne weitere Genehmigung durch ein anderes Büro umgesetzt werden sollen. Hiermit soll die Schwäche der Sicherheitskommando-Kontrolle während des Putschversuchs in Zukunft vermieden werden (AM 17.7.2018).
Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MIT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MIT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen (z.B. Journalist Can Dündar). Auch Personen, die dem MIT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MIT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle April 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten. Seit September 2017 untersteht der türkische Nachrichtendienst MIT direkt dem Staatspräsidenten und nicht mehr dem Amt des Premierministers (ÖB 10.2017).
Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vergleiche FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).
Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
AM - Al Monitor (17.7.2018): Erdogan makes major security changes as he starts new term, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/07/turkey--revamping-national-security-apparatus.html, Zugriff 18.9.2018
Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 18.9.2018
EC - European Commission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD (2016)366 final], http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 18.9.2018
FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 18.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 18.9.2018
HDN - Hürriyet Daily News (8.7.2018): Over 18,500 Turkish public workers dismissed with new emergency state decree, http://www.hurriyetdailynews.com/over-18-500-turkish-public-workers-dismissed-with-new-emergency-state-decree-134290, Zugriff 18.9.2018
Independent (7.1.2017): Turkey dismisses 6,000 police, civil servants and academics under emergency measures following coup, http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/turkey-sacks-workers-emergency-measures-police-civil-servants-academics-a7514021.html, 18.9.2018
NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712, Zugriff 18.9.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
Folter und unmenschliche Behandlung
Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert. Menschenrechtsinstitutionen in der Türkei geben an, dass Fälle von Folterungen in Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden sind. Folter bleibt in vielen Fällen straflos - wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben wird und Verurteilungen erfolgen (ÖB 10/2017).
Die deutliche Zunahme von Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten während des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Militärputsches und während des Konflikts in Südost- und Ostanatolien nach Juli 2015, setzte sich auch 2017 fort, wenn auch in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 (IHD 6.4.2018, vergleiche AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018). Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Vorwürfen zu Folter und anderer Misshandlungen von Häftlingen und Festgenommenen auf der Basis des Ausnahmezustandes. Bei Demonstrationen wurde von Sicherheitskräften Gewalt die gegen Personen angewendet wurden, die ihr Demonstrations- und Versammlungsrecht ausübten, die das Ausmaß von Folter und anderer Misshandlung erreichte. Nach Angaben des Menschenrechtsverbandes (IHD) sind 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlung ausgesetzt gewesen (IHD 6.4.2018).
Folter und Misshandlungen betreffen insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Es gibt weit verbreitete Berichte, dass die Polizei Häftlinge geschlagen, misshandelt und mit Vergewaltigung bedroht, Drohungen gegen Anwälte ausgestoßen und sich bei medizinischen Untersuchungen eingemischt hat (HRW 18.1.2018). Es gibt keine funktionierende nationale Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung, die ein Mandat zur Überprüfung von Hafteinrichtungen hat. Ebenso wenig sind Statistiken zur Untersuchung von Foltervorwürfen verfügbar. (AI 22.2.2018). Es gibt Berichte über nicht identifizierte Täter, die angeblich im Auftrag staatlicher Institutionen mindestens sechs Männer entführt und an geheimen Orten festgehalten haben sollen (HRW 18.1.2018).
Es gibt Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen andere zu belasten (Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe (OHCHR 27.2.2018, vergleiche OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter, Berichten zufolge von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Artikel 9, des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018). Der UN-Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selbst in Verdacht zu geraten (SRF 1.3.2018).
Viele Häftlinge haben bei späteren Gerichtsauftritten erzwungene Geständnisse zurückgezogen. Zu den Tätern gehörten auch Mitglieder der Polizei, der Gendarmerie, der Militärpolizei und der Sicherheitskräfte. Tausende von unzensierten Bildern von Folterungen mutmaßlicher Putschverdächtiger unter erniedrigenden Umständen wurden nach dem Putsch vom Juli 2016 in den türkischen Medien und sozialen Netzwerken verbreitet, ebenso wie Aussagen, die zu Gewalt gegen Regierungsgegner anstachelten. OHCHR erhielt Berichte über Personen, die von Anti-Terror-Polizeieinheiten und Sicherheitskräften in improvisierten Haftanstalten wie Sportzentren und Krankenhäusern ohne Anklage festgehalten und misshandelt wurden (OHCHR 3.2018).
Quellen:
AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html, Zugriff 24.8.2018
HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html, Zugriff 24.8.2018
IHD - Insan Haklari Dernegi (6.4.2018): 2017 BALANCE - SHEET OF HUMAN RIGHTS VIOLATIONS IN TURKEY - The year that Passed under State of Emergency, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_report-2.pdf, Zugriff 18.9.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 24.8.2018
OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (27.2.2018): Turkey: UN expert says deeply concerned by rise in torture allegations, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=Berichten 22718&LangID=E, Zugriff 18.9.2018
SRF - römisch 40 Radio und Fernsehen (1.3.2018): Foltervorwürfe an Türkei - Schläge, Elektroschocks, Eiswasser, sexuelle Übergriffe, https://www.srf.ch/news/international/foltervorwuerfe-an-tuerkei-schlaege-elektroschocks-eiswasser-sexuelle-uebergriffe, Zugriff 18.9.2018
Korruption
Korruption ist im öffentlichen und privaten Sektor der Türkei weit verbreitet. Öffentliche Aufträge und Bauprojekte sind besonders anfällig für Korruption, und es werden häufig Bestechungsgelder verlangt. Das türkische Strafgesetzbuch kriminalisiert verschiedene Formen korrupter Aktivitäten, darunter aktive und passive Bestechung, Korruptionsversuche, Erpressung, Bestechung eines ausländischen Beamten, Geldwäsche und Amtsmissbrauch. Aber Anti-Korruptionsgesetze werden uneinheitlich durchgesetzt und die Anti-Korruptionsbehörden arbeiten ineffizient. Die Strafe für Bestechung kann eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren umfassen, und Unternehmen können mit der Beschlagnahme von Vermögenswerten und dem Entzug staatlicher Betriebsgenehmigungen rechnen. Es besteht ein hohes Korruptionsrisiko im Umgang mit der türkischen Justiz. Bestechungsgelder und Zahlungen als Gegenleistung für günstige Gerichtsurteile werden von den Unternehmen als recht häufig bezeichnet. Etwa ein Drittel der Türken und Türkinnen empfinden Richter und Gerichtsvollzieher als korrupt. Politische Einmischung, langsame Verfahren und ein überlastetes Gerichtssystem stellen ein hohes Risiko für Korruption in der türkischen Justiz dar. Korruption in der türkischen Polizei ist ein mittelgradiges Risiko. Unternehmen geben an, dass sie die Polizei als nicht ausreichend zuverlässig empfinden (BACP 6.2018).
Bei der Beseitigung der zahlreichen Lücken im türkischen Antikorruptionsrahmen sind keine Fortschritte zu verzeichnen. Korruption ist nach wie vor weit verbreitet und gibt Anlass zur Sorge. Laut Europäischer Kommission muss der rechtliche und institutionelle Rahmen weiter an internationale Standards angepasst werden, da weiterhin eine unangemessene Einflussnahme der Exekutive bei der Ermittlung und Verfolgung von High-Profile-Korruptionsfällen vorliegt. Die Erfolgsbilanz der Türkei bei Ermittlungen, Strafverfolgung und Verurteilung in Korruptionsfällen ist nach wie vor schlecht, insbesondere bei hochkarätigen Korruptionsfällen. Die korruptionsbezogenen Verurteilungen durch die Gerichte gingen von 5.497 im Jahr 2016 auf 3.889 im Jahr 2017 zurück. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben Urteile keine abschreckende Wirkung. Besonders anfällig für Korruption sind die Kommunalverwaltungen, Behörden, die für die Flächennutzung zuständig sind, das öffentliche Beschaffungswesen sowie die Bau- und Verkehrswirtschaft (EC 17.4.2018).
Es gibt nach wie vor keine ständige, funktionell unabhängige Anti-Korruptionsbehörde und auch keine ausreichende Koordination der verschiedenen Institutionen, die für die Prävention oder Korruptionsbekämpfung zuständig sind. Die Inspektionskommission des Premierministers koordiniert präventive Antikorruptionsmaßnahmen, ist aber nicht unabhängig und hat keine eigenständigen Untersuchungsbefugnisse. Anti-Korruptions-Aufklärungskampagnen wurden nicht regelmäßig durchgeführt, und die Auswirkungen bleiben begrenzt. Die Antikorruptionsstrategie und der Aktionsplan 2010-2014 haben die meisten ihrer ursprünglichen Ziele nicht erreicht. Die in dem 2016 angekündigten Aktionsplan für Transparenz und Korruptionsbekämpfung vorgesehenen Maßnahmen wurden noch nicht umgesetzt. Es gibt keine umfassende Politik zur Verhinderung von Korruption im privaten Sektor. Dem Land fehlt nach wie vor eine spezialisierte Staatsanwaltschaft, die Antikorruptionsuntersuchungen leitet. Es gibt auch wenige spezialisierte Gerichte. Der derzeitige Rechtsrahmen verhindert, dass Beamte, die als Gerichtspolizei tätig sind, wirksame Ermittlungen durchführen können, ohne dass die Exekutive einen unzulässigen Einfluss ausüben kann (EC 17.4.2018).
Die Regierung hat Strafverfolgungsbeamte, Richter und Staatsanwälte verfolgt, die korruptionsbezogene Ermittlungen oder Verfahren gegen Regierungsbeamte eingeleitet hatten, und behauptete, die Angeklagten hätten dies auf Geheiß der Gülen-Bewegung getan. Auch Journalisten, die der Veröffentlichung der Korruptionsvorwürfe beschuldigt werden, wurden strafrechtlich belangt. Kein hoher Regierungsbeamter sah sich einer Untersuchung wegen angeblicher Korruption gegenüber (USDOS 20.4.2018).
Korruption - einschließlich Geldwäsche, Bestechung und Absprachen bei der Vergabe von Regierungsaufträgen - bleibt ein großes Problem. Die seit dem Putschversuch 2016 durchgeführten Säuberungen haben die Möglichkeiten der Korruption angesichts der massiven Enteignung von Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stark erhöht. Milliarden von Dollar an beschlagnahmten Vermögenswerten werden von staatlich bestellten Treuhändern verwaltet, was die engen Beziehungen zwischen der Regierung und befreundeten Unternehmen weiter verstärkt (FH 1.2018).
Transparency International reihte die Türkei im Korruptionswahrnehmungsindex 2017 auf Rang 81 von 180 untersuchten Ländern und Territorien (2016: Platz 75 von 176) (21.2.2018).
Quellen:
BACP - GAN-Business Anti-Corruption Portal (6.2018): Turkey Country Profile, Business Corruption in Turkey, http://www.business-anti-corruption.com/country-profiles/europe-central-asia/turkey/snapshot.aspx, Zugriff 23.8.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 23.8.2018
FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html, 21.8.2018
TI - Transparency International (21.2.2018): Corruption Perceptions Index 2016, http://www.transparency.org/country/TUR, Zugriff 25.1.2017
USDOS - US Department of State (13.4.2016): Country Report on Human Rights Practices 2015, http://www.ecoi.net/local_link/322542/462019_de.html, Zugriff 17.1.2017
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 23.8.2018
Allgemeine Menschenrechtslage
Vor dem Hintergrund des andauernden Ausnahmezustands kam es zu Menschenrechtsverletzungen. Abweichende Meinungen wurden rigoros unterdrückt, davon waren u. a. Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es wurden weiterhin Fälle von Folter bekannt, doch in geringerer Zahl als in den Wochen nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Die weitverbreitete Straflosigkeit verhindert die wirksame Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der Behörden verübt wurden. Es kam auch 2017 zu Menschenrechtsverstößen durch bewaffnete Gruppen; im Januar wurden zwei Anschläge verübt. Doch Bombenanschläge gegen die Bevölkerung, die in den Vorjahren regelmäßig stattfanden, gab es im Jahr 2017 nicht. Für die Lage der im Südosten des Landes vertriebenen Menschen wurde keine Lösung gefunden (AI 22.2.2018).
Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCHR) erhielt weiterhin Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche, die im Berichtszeitraum in der Südosttürkei im Rahmen der Sicherheitsoperationen seitens türkischer Organe begangen wurden. Die NGO "Human Rights Association" veröffentlichte Statistiken über solche Verletzungen, die angeblich im ersten Quartal 2017 in der ost- und südöstlichen Region Anatoliens stattgefunden haben. Demnach belief sich die Gesamtzahl der Verstöße auf 7.907, darunter 263 Vorfälle von Folterungen in Haft, und über 100 Vorfälle von Kriminalisierung von Personen für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung (OHCHR 3.2018).
Die Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte, einschließlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten. Auch in den Bereichen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Verfahrens- und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. Seit September 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in 163 (von 168) Fällen festgestellt, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit bezogen (EC 17.4.2018).
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit im April 2018 dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen (Zeit 25.4.2017). Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist (PACE 25.4.2017). Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo- und Xenophobie (DS 25.4.2017).
In einer Resolution Anfang Februar 2018 zur Menschenrechtslage erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verschlechtert sich stetig und es mangelt der Justiz an Unabhängigkeit. Justiz und Verwaltung machen Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen, um Zehntausende zu verfolgen. Deshalb fordert das EP die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen (EP 8.2.2018).
Die routinemäßige Verlängerung des Ausnahmezustands [am 18.7.2018 aufgehoben] hat zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Hunderttausende von Menschen geführt - von willkürlichem Entzug des Rechts auf Arbeit und Bewegungsfreiheit, über Folter und andere Misshandlungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen und Verletzungen des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit (OHCHR 20.3.2018, vergleiche ZO 20.3.2018).
Quellen:
AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425117.html, Zugriff 20.8.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 14.8.2018
EP - Europäisches Parlament (8.2.2018): Die aktuelle Menschenrechtslage in der Türkei - Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Februar 2018 zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Türkei (2018/2527(RSP)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+TA+P8-TA-2018-0040+0+DOC+PDF+V0//DE, Zugriff 20.8.2018
DS - Daily Sabah (25.4.2017): Turkey-EU relations hit historic low after controversial PACE decision, https://www.dailysabah.com/eu-affairs/2017/04/26/turkey-eu-relations-hit-historic-low-after-controversial-pace-decision, Zugriff 20.8.2018
OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018
OHCHR - The Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (20.3.2018): Turkey: UN report details extensive human rights violations during protracted state of emergency, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22853&LangID=E, Zugriff 21.8.2018
PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.4.2017): PACE reopens monitoring procedure in respect of Turkey, http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6603&lang=2&cat=8, Zugriff 20.8.2018
ZO - Zeit Online (25.4.2017): Europarat eröffnet Verfahren gegen Türkei, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/verfassungsreferendum-tuerkei-europarat-menschenrechte-beobachtung, Zugriff 20.8.2018
ZO - Zeit Online (20.3.2018): Gericht verurteilt Türkei wegen Inhaftierung zweier Journalisten, http://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/europaeischer-gerichtshof-fuer-menschenrechte-turkei-inhaftierte-journalisten-militaerputsch, Zugriff 21.8.2018
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Die türkische Verfassung garantiert Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (AA 3.8.2018). Der Rechtsrahmen im Bereich der Versammlungsfreiheit entsprach bis zum Putschversuch 2016 im Großen und Ganzen den europäischen Standards (ÖB 10.2017). Bereits seit den regierungsfeindlichen Demonstrationen im Sommer 2013 wurde die Versammlungsfreiheit allmählich eingeschränkt. Nach dem Putschversuch ist sie noch weiter eingeschränkt worden (BTI 2018). Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten bzw. die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind (AA 3.8.2018; vergleiche FH 1.2018).
Während Pro-Regierungskundgebungen durchgeführt werden dürfen, werden z.B. die Feierlichkeiten zum 1. Mai von linken und Arbeitergruppen, Veranstaltungen sexueller Minderheiten, Proteste von Opfern der staatlichen Säuberungen und Versammlungen der Oppositionsparteien eingeschränkt. In der Praxis werden bei pro-kurdischen oder politischen Versammlungen des linken Spektrums regelmäßig dem Veranstaltungszweck zuwiderlaufende Auflagen bezüglich Ort und Zeit gemacht und zum Teil aus sachlich nicht nachvollziehbaren Gründen Verbote ausgesprochen. Betroffen von Versammlungsverboten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind auch immer wieder Gewerkschaftsmitglieder. Die Behörden in Ankara verhängten Ende September 2017 ein pauschales Demonstrationsverbot, das später verlängert wurde und bis zum Jahresende 2017 in Kraft blieb (FH 1.2018; vergleiche EC 17.4.2018). Auf Grundlage von während des Ausnahmezustandes eingeräumten Befugnissen (Ausweitung der Befugnisse von Gouverneuren, Sicherheitsbeamten, Staatsanwälten etc.) wurden Demonstrationen in einigen Provinzen und Bezirken völlig verboten (ÖB 10.2017; vergleiche EC 17.4.2018). Im Dezember 2017 hob der Verfassungsgerichtshof auf Antrag einer Oppositionspartei mehrere Beschränkungen für Zusammenkünfte und Märsche auf (EC 17.4.2018).
Die Organisation von Demonstrationen ist fast unmöglich geworden, da die Sicherheitskräfte regelmäßig massive Gewalt anwenden, um "illegale" Versammlungen zu verhindern (BTI 2018). Es gab eine erhöhte Anzahl von Strafen für Teilnehmer an nicht genehmigten Veranstaltungen, die ebenfalls abschreckend wirkten. Die unbefugte Abhaltung solcher Demonstrationen führte mitunter zu einer gewaltsamen Auflösung durch die Polizeikräfte (EC 17.4.2018). Fälle von massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte, polizeilicher Ingewahrsamnahmen und strafrechtlichen Ermittlungen bei der Teilnahme an nicht genehmigten oder durch Auflösung unrechtmäßig werdenden Demonstrationen kommen nicht selten vor. Nicht genehmigte Versammlungen werden häufig unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken aufgelöst (AA 3.8.2018). Sicherheitsbeamte haben willkürliche und unverhältnismäßige Gewalt gegen Demonstranten angewendet, inklusive des Einsatzes von Wasserwerfern, Plastikkugeln und scharfer Munition (ÖB 10.2017).
Das Sicherheitsgesetz vom 23.5.2015 klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015).
Mit Beendigung des Ausnahmezustandes im Juli 2018 trat ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft. Demnach können Gouverneure die Bewegungsfreiheit von Personen für einen Zeitraum von 15 Tagen einschränken, die im Verdacht stehen, die öffentliche Ordnung an bestimmten Orten zu stören. Die Gouverneure können das Zusammentreffen von Personen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten einzuschränken sowie Einzelpersonen verbieten, ihre auch lizenzierten Waffen oder Munition zu tragen oder zu transportieren. Sie werden befugt, außergewöhnliche Sicherheitsmaßnahmen zu verkünden. Im neuen Gesetz wird in einem vorläufigen Artikel, der dem türkischen Anti-Terror-Gesetz hinzugefügt wurde, die Haftdauer bei terroristischen Verbrechen auf 48 Stunden festgelegt, obwohl sie bei kollektiver Begehung auf vier Tage verlängert werden kann. Dieser Artikel hat eine Gültigkeit von drei Jahren ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens. Die Haftdauer kann bei Bedarf zweimal verlängert werden (TM 25.7.2018).
Eine UN-Expertengruppe hielten den türkischen Behörden im Juli 2017 vor, ständig Sicherheitsüberlegungen ins Treffen zu führen, um Dissens und Kritik ins Visier zu nehmen. Dies hat zur Folge, dass das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt wird (OHCHR 14.7.2018).
Während das Gesetz die Vereinigungsfreiheit vorsieht, gibt es hier zunehmend Einschränkungen. Laut Gesetz müssen die Behörden zwar nicht über die Gründung einer Vereinigung informiert werden, doch müssen die Behörden im Voraus in Kenntnis gesetzt werden, wenn es zu einem Interagieren mit internationalen Organisationen kommt. Bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland muss den Behörden eine umfangreiche Dokumentation vorgelegt werden, was laut Verbänden und Vereinen eine Last für deren Wirken darstellt (USDOS 20.4.2018). Nach dem gescheiterten Militärputsch wurden mehrere Dekrete erlassen, die u. a. auch die Schließung von Vereinen vorsahen. Per Dekret wurden von den insgesamt 110.000 Vereinen in der Türkei 1.495 geschlossen (ÖB 10.2017; vergleiche USDOS 20.4.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package, http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 18.9.2018
BTI - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Turkey Country Report, http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Turkey.pdf, Zugriff 14.8.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 14.8.2018
FH - Freedom House 1.2018): Freedom in the World 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html, 13.8.2018
HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 18.9.2018
OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (14.7.2017): Turkey: UN experts seek release of all rights defenders as clampdown worsens, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=21875&LangID=E, Zugriff 14.8.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
TM - Turkish Minute (25.7.2018): First post-OHAL anti-terrorism law approved by Turkish Parliament, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/first-post-ohal-anti-terrorism-law-approved-by-turkish-parliament/, Zugriff 18.9.2018
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 14.8.2018
Haftbedingungen
Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Dennoch gibt es - trotz Bemühungen der türkischen Behörden - Kritik an den Haftbedingungen: v.a. Hochsicherheitsgefängnisse (Typ F) weisen Mängel auf (ÖB 10.2017). In der Türkei gibt es zurzeit 386 Gefängnisse, darunter 17 sogenannte F-Typ-Gefängnisse für Häftlinge, die wegen Terrorismus oder organisiertem Verbrechen verurteilt wurden. In den vergangenen elf Jahren wurden insgesamt 207 Haftanstalten geschlossen. Bis 2018 wurden insgesamt 151 neue Gefängnisse eröffnet (AA 3.8.2018).
Überbelegung und die Verschlechterung der Haftbedingungen sind besorgniserregend. Die Zahl der Gefangenen ist auf 290 pro 100.000 Einwohner angewachsen, und die Zahl der Gefangenen liegt jetzt bei 234.673 (EC 17.4.2018). Im Juni 2017 gab es in der Türkei rund 225.000 Gefangene, die Kapazität der Haftanstalten lag bei rund 203.000. Mit Stand August 2017 befanden sich 2.767 Minderjährige zwischen zwölf und 18 Jahren in Haft (USDOS 20.4.2018). Nach Angaben des Justizministeriums waren im Sommer 2017 noch 668 Kinder mit ihren Müttern in türkischen Gefängnissen festgehalten (PPJ 18.10.2018). Der Anteil der Untersuchungshäftlinge betrug zu Jahresende 2017 43,1%. Von diesen hatten 79% noch kein laufendes Gerichtsverfahren (ICPS 2018).
In den Gefängnissen der Türkei gibt es zahlreiche Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, darunter willkürliche Einschränkungen der Rechte von Gefangenen und die Anwendung von Folter, Misshandlung und Einzelhaft als Disziplinarmaßnahmen. Es wird behauptet, dass kranken Insassen regelmäßig der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt wird. Die für die Überwachung der Haftbedingungen zuständigen staatlichen Kommissionen wurden nach dem Putschversuch 2016 aufgelöst oder bleiben weitgehend wirkungslos. Das Ergebnis ist, dass Gefängniswärter und -verwaltungen weitgehend unbeaufsichtigt arbeiten. Des weiteren wirkt sich der Mangel an Psychologen, Sozialarbeitern und Soziologen negativ auf die Rehabilitation von Häftlingen aus (EC 17.4.2018). Allerdings werden Gefängnisse auch von UN-Einrichtungen und dem "Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter" besucht (ÖB 10.2017). So berichtet etwa der UN-Sonderberichterstatter für Folter im Dezember 2016 zwar von Überbelegung, aber auch davon, dass die Haftbedingungen in den Gefängnissen in Ankara, Diyarbakir, Sanliurfa und Istanbul generell befriedigend sind (DW 2.12.2016).
Mindestens 22.000 Verhaftete oder Verurteilte müssen in den Haftanstalten auf dem Boden oder in Schichten schlafen. Laut Regierung werden Minderjährige, so vorhanden, in getrennten Gefängnissen untergebracht, andernfalls werden diese in gesonderten Abschnitten von Gefängnissen untergebracht. Untersuchungshäftlinge werden in denselben Einrichtungen wie verurteilte Häftlinge festgehalten (USDOS 20.4.2018).
Fallweise untersuchen die Behörden glaubwürdige Vorwürfe von Missbrauch und unmenschlichen oder erniedrigenden Bedingungen in den Haftanstalten, veröffentlichen die Ergebnisse solcher Untersuchungen jedoch in der Regel nicht und ergriffen keine Maßnahmen, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Menschenrechtskommission des Parlaments und die Institution der Ombudsperson haben die Genehmigung, Gefängnisse, einschließlich Militärgefängnisse, ohne vorherige Genehmigung zu besuchen und zu inspizieren (USDOS 20.4.2018).
Am 14.10.2016 erklärte der Generaldirektor der Gefängnisse und Haftanstalten vor dem Untersuchungsausschuss des türkischen Parlaments: Häftlinge werden nackt durchsucht; Foltervorwürfe werden als diskrete Fälle behandelt; die Treffen zwischen Häftling und Anwalt werden aufgezeichnet; Häftlinge dürfen sich keine Kleidung von außen besorgen, sondern sind gezwungen, sie aus dem Laden im Gefängnis zu kaufen; Selbstmorde sind unvermeidbar (PPJ 18.10.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.7.2018
DW - Deutsche Welle (2.12.2016): UN expert: Torture and abuse 'widespread' in Turkey following July coup bid, http://www.dw.com/en/un-expert-torture-and-abuse-widespread-in-turkey-following-july-coup-bid/a-36623632, Zugriff 26.7.2018
ICPS - International Centre for Prison Studies (2018): World Prison Brief http://www.prisonstudies.org/country/turkey, Zugriff 19.7.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
PPJ - Platform for Peace and Justice (18.10.2017): In Prison 2017: A Comprehensive Report On The Prison Conditions In Turkey, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/IN-PRISON-2017.pdf, Zugriff 26.7.2018
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 18.7.2018
Religionsfreiheit
In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, 77,5% davon sind schätzungsweise Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Es gibt einen beträchtlichen Anteil an Aleviten. Die Aleviten-Stiftung geht von 25 bis 31% der Bevölkerung aus. Die schiitische Dschafari-Gemeinde schätzt ihre Anhängerschaft auf 4% der Einwohner. Die nicht-muslimischen Gruppen konzentrieren sich überwiegend in Istanbul und anderen großen Städten sowie im Südosten des Landes. Präzise Zahlen bestehen nicht. Laut Eigenangaben sind ungefähr 90.000 Mitglieder der Armenisch-Apostolischen Kirche, 25.000 römische Katholiken und 16.000 Juden. Darüber hinaus sind 25.000 syrisch-orthodoxe Christen, 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) und ca. 10.000 Baha'is. Die Jesiden machen weniger als 1.000 Anhänger aus. 5.000 sind Zeugen Jehovas, ca. 7.000 Protestanten verschiedener Richtungen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.000 sind griechisch-orthodoxe Christen. Eine Umfrage legt nahe, dass ca. 2% der Bevölkerung Atheisten sind (USDOS 29.5.2018).
Laut Verfassung ist die Türkei ein sekulärer Staat (USDOS 29.5.2018). Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nicht-staatliche Repressionsmaßnahmen und staatliche Diskriminierungen (z. B. bei Anstellungen im öffentlichen Dienst) kommen vereinzelt vor (AA 3.8.2018). Übergriffe auf Aleviten oder nicht-muslimische Vertreter finden vereinzelt statt und werden mit unterschiedlicher Intensität verfolgt und geahndet. Es wird berichtet, dass die Zahl an tätlichen oder gar tödlichen Übergriffen aus religiösen Motiven rückläufig ist; auch in der öffentlichen Meinung werden solche Vorkommnisse breit verurteilt. Die Regierung ist bemüht, den Religionsdialog zu fördern; zu einer Änderung der Gesetzeslage hat dies jedoch nicht geführt (ÖB 10.2017).
Das türkische Zivilrecht kennt keine explizite Anerkennung von Minderheiten. Begrenzte (Schutz-, nicht Freiheits-)Rechte religiöser Minderheiten gehen auf die "Stiftungen" (Vakif) nicht-muslimischer Minderheiten im Osmanischen Reich zurück; ein System, welches durch den Vertrag von Lausanne (1923) und die Einführung des Stiftungsgesetzes (Deklaration aus 1936) gestützt wurde. Derzeit gibt es insgesamt 161 solcher Stiftungen, das sind 75 griechische, 52 armenische, 18 jüdische, zehn syrisch-orthodoxe, drei chaldäische, zwei bulgarische, eine georgische und eine türkisch-orthodoxe (ÖB 10.2017). Die Türkei erkennt (nicht-muslimische) Minderheiten als Gruppen mit rechtlichem Sonderstatus grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des Lausanner Vertrags an, der türkischen Staatsangehörigen, die nicht-muslimischen Minderheiten angehören, die gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechte wie Muslimen garantiert. Weiterhin sichert er den nicht-muslimischen Minderheiten das Recht zur Gründung, Verwaltung und Kontrolle karitativer, religiöser und sozialer Institutionen und Schulen sowie anderer Einrichtungen zur Unterweisung und Erziehung zu. Nach offizieller türkischer Lesart beschränkt sich der Schutz allerdings auf drei Religionsgemeinschaften: die griechisch-orthodoxe, die armenisch-apostolische Kirche und die jüdische Gemeinschaft. Am 18.6.2013 entschied erstmals ein türkisches Gericht, dass auch aramäische (syrisch-orthodoxe) Türken und ihre Zusammenschlüsse von den Rechten des Lausanner Vertrages profitieren können (AA 3.8.2018).
Die Regierung bildet weiterhin sunnitische Geistliche aus, während sie andere religiöse Gruppen daran hindert, Geistliche innerhalb des Landes auszubilden. Das Gesetz verbietet Sufi- und andere religiös-soziale Orden (Tarikats) und Logen (Cemaats), obwohl die Regierung diese Einschränkungen im Allgemeinen nicht anwendet (USDOS 29.5.2018).
Religiöse Fragen werden vom Direktorat für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) koordiniert und bestimmt. Das Mandat von Diyanet ist, den Glauben, die Ausübung und die moralischen Grundsätze des Islams zu fördern, mit dem primären Fokus auf den sunnitischen Islam (USDOS 29.5.2018). Kritiker behaupten, dass die regierende AKP eine religiöse Agenda hat, die sunnitische Muslime begünstigt. Der Beleg sei u. a. die Vergrößerung der Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) und die angebliche Nutzung dieser Institution für politische Klientelarbeit und für regierungsfreundliche Predigten in Moscheen (FH 1.2018).
Nicht-muslimische Minderheiten, auch die offiziell anerkannten, sehen sich mit erheblichen Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit konfrontiert. Eines der wichtigsten Probleme in diesem Zusammenhang besteht darin, dass aufgrund eines Mangels an theologischen Schulen kein Klerus ausgebildet werden kann (EC/DGJC 2016). Positiv ist allerdings die zunehmende Renovierung bzw. Neueröffnung von Kirchen (ÖB 10.2017).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
EC/DGJC - European Commission/ Directorate-General for Justice and Consumers, European Network of legal experts in gender equality and non-discrimination (2016): Country report: Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd, Zugriff 17.7.2018
FH - Freedom House 1.2018): Freedom in the World 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1426448.html, 10.10.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
USDOS - US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1436892.html, Zugriff 17.7.2018
Aleviten
Die Türkei hat weltweit den größten Anteil an Aleviten. Man geht von 15 bis 25 Millionen Aleviten aus. Vor allem die Provinzen römisch 40 , Elazig, Bingöl, Sivas, Erzincan, Malatya, Kaysereri, Adana und Tokat sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Die alevitische Religion weist viele unterschiedliche Einflüsse aus anderen Religionen - auch aus vor-islamischer Zeit - auf. Außerdem ist das Alevitentum in seinen Vorstellungen recht heterogen. Ob Aleviten zum Islam gehören oder nicht, ist sowohl innerhalb der Aleviten als auch außerhalb der Glaubensgemeinschaft ein Streitthema (ÖIF Monographien 2013; vergleiche MRG 6.2018). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollten. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen. Dies könnte zu neuen ethno-religiösen Konflikten führen (MRGI 6.2018).
Die offizielle Türkei erkennt das Alevitentum als kulturelles Phänomen, nicht aber als religiöses Bekenntnis, an (ÖB 10.2017). Ein wichtiger Meilenstein für die alevitische Gemeinschaft war im Dezember 2015 die Ankündigung einer Reihe von erweiterten Rechten für Aleviten, einschließlich der rechtlichen Anerkennung von Cemevis, ihren Gotteshäusern - einem seit langem bestehenden Bereich der Diskriminierung (MRGI 6.2018).
Trotz dieser Fortschritte gibt es weiterhin Probleme. Immer wieder werden alevitische Häuser mit abfälligen oder türkisch-nationalistischen Parolen beschmiert. Im November 2017 brachten die alevitischen Gemeindeleiter ihre Besorgnis zum Ausdruck, als 13 Häuser in der östlichen Provinz Malatya mit roten Kreuzen beschmiert wurden. Und im selben Monat griff ein Mob ein Cem-Haus in Istanbul an und versuchte es in Brand zu setzen (MRGI 6.2018).
Die Aleviten bleiben im Land politisch marginalisiert, mit einer begrenzten Vertretung in offiziellen Machtpositionen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 und den anschließenden Aktionen der Regierung gegen ihre vermeintlichen Gegner wurden zahlreiche Journalisten inhaftiert und die Medien geschlossen, darunter die meisten, die über die alevitische Kultur berichteten (MRGI 6.2018). Außerdem wurden nach dem Putschversuch tausende Aleviten festgenommen oder verloren ihre Arbeit. Sie wurden von Staatspräsident Erdogan und der regierenden AK-Partei pauschal verdächtigt, mit dem Militär und mit den Putschisten sympathisiert zu haben. Die massive Verfolgung der Aleviten ist bis heute vor allem in der Provinz Dersim (türkisch: römisch 40 ), im alevitischen Kernland spürbar (Telepolis 10.8.2016; vergleiche GI 18.1.2018). Auch alevitische Journalisten sind betroffen. TV10, der Fernsehsender "die Stimme der Aleviten", wurde im September 2016 geschlossen, angeblich wegen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation (GI 18.1.2018). Im Jänner 2018 wurden die Leiter des stillgelegten alevitischen Fernsehsenders TV10 wegen "Terrorismus" verhaftet (Ahval 19.1.2018). Ende Dezember 2016 wurde nach einer Entscheidung des türkischen Obersten Radio- und Fernsehrates (RTÜK) die Ausstrahlung des alevitischen Senders "Yol TV" wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten und der Huldigung terroristischer Organisationen eingestellt (TM 29.12.2016). Ende März 2018 ließen türkische Gerichte 16 Mitglieder des alevitischen "Pir Sultan Abdal" Kulturverbandes (PSAKD) verhaften. Die Mitglieder wurden beschuldigt, eine terroristische Organisation zu unterstützen (SCF 24.3.2018).
Die türkische Regierung betrachtet den Alevismus weiterhin als heterodoxe muslimische Sekte. Obwohl die alevitischen Gruppen in der Lage waren, neue Cemevis zu bauen, lehnte die Regierung weiterhin ab, ihren Bau finanziell zu unterstützen. Repräsentanten der Aleviten berichteten, dass die Zahl der 2.500 bis 3.000 Cemevis im Land nicht ausreicht, um die Nachfrage zu befriedigen Die Regierung erklärte hingegen, dass die von der Diyanet finanzierten Moscheen den Aleviten und allen Muslimen unabhängig von ihrer Religionsschule zur Verfügung stünden (USDOS 29.5.2018).
Quellen:
Ahval (19.1.2018): Turkey detains executives of shut down Alevi TV station on 'terrorism' charges - newspaper, https://ahvalnews.com/press-freedom/turkey-detains-executives-shut-down-alevi-tv-station-terrorism-charges-newspaper, Zugriff 17.7.2018
EC/DGJC - European Commission/ Directorate-General for Justice and Consumers, European Network of legal experts in gender equality and non-discrimination (2016): Country report: Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd, Zugriff 17.7.2018
GI - Gatestone Institute (18.1.2018): Persecution of Alevis in Turkey: Threats, Arbitrary Arrests, https://www.gatestoneinstitute.org/11744/turkey-alevis-persecution, Zugriff 17.7.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
ÖIF Monographien (2013): Die Aleviten. In: Taucher, W. et al, (Hg.): Glaubensrichtungen im Islam. Wien: ÖIF, Sitzung 75-88.
MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey - Alevis, http://minorityrights.org/minorities/alevis/, Zugriff 17.7.2018
SCF - Stockholm Center for Freedom (24.3.2018): Turkey arrests 16 members of Alevi association in Turkey, https://stockholmcf.org/turkey-arrests-16-members-of-alawite-association-in-turkey/, Zugriff 17.7.2018
Telepolis (10.8.2016): Die Aleviten in der Türkei stehen unter Generalverdacht, https://www.heise.de/tp/features/Die-Aleviten-in-der-Tuerkei-stehen-unter-Generalverdacht-3291449.html?seite=all, Zugriff 17.7.2018
TM - Turkish Minute (29.12.2016): Turkey terminates broadcasting of Yol TV, https://www.turkishminute.com/2016/12/29/turkey-terminates-broadcasting-yol-tv/, Zugriff 17.7.2018
USDOS - US Department of State (29.5.2018): 2017 Report on International Religious Freedom - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1436892.html, Zugriff 17.7.2018
Ethnische Minderheiten
Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei nicht-muslimischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 20.4.2018).
Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 6 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 3.8.2018). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (wengier als 20.000) und Assyrer (25.000) vorwiegend in Istanbul und 3.000 im Südosten (MRGI 6.2018).
Das Gesetz erlaubt den Bürgern private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. In der Praxis war dieses Recht jedoch nicht geschützt (USDOS 20.4.2018).
Was die kulturellen Rechte betrifft, so ist die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch im öffentlichen Dienst nicht gestattet (EC 17.4.2018; vergleiche USDOS 20.4.2018). Zum Beispiel hat der von der Regierung ernannte Treuhänder [nach Ablöse des gewählten Bürgermeisters] des Edremit-Distrikts in der Provinz Van die Verwendung des Armenischen und Kurdischen abgeschafft. Die Behörden haben auch die Entfernung arabischer Aufschriften in bestimmten Gebieten angeordnet. Im April 2017 ordnete die Stadtverwaltung in Adana die Entfernung arabischsprachiger Schilder von Geschäftslokalen an, um "die türkische Sprache zu schützen". Obwohl Kurdisch offiziell in der privaten Bildung und im öffentlichen Diskurs erlaubt ist, hat die Regierung die Erlaubnis zum kurdischen Sprachunterricht nicht auf die öffentliche Bildung ausgeweitet (USDOS 20.4.2018).
Die gesetzlichen Einschränkungen für den muttersprachlichen Unterricht in der Primar- und Sekundarstufe blieben bestehen. Optionale Kurse in Kurdisch wurden in öffentlichen staatlichen Schulen und Universitäten in Kurdisch, Arabisch, Syrisch und Zazaki weiterhin angeboten. Einige Universitätsdozenten der kurdischen Sprache und Literatur wurden im Januar 2017 durch eine Notverordnung entlassen, was den Mangel an qualifizierten Dozenten auf Kurdisch noch verstärkte. Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden zahlreiche Theater, Bibliotheken, Kultur- und Kunstzentren aufgrund dieses Dekrets geschlossen (EC 17.4.2018). Andere nationale oder ethnische Minderheiten, darunter Assyrer, Caferis, Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen, durften ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (ARC 21.11.2017). Weiterhin werden mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen (AA 3.8.2018).
Das gesamte Bildungssystem basiert auf dem Türkentum. Auf nicht-türkische Gruppen wird entweder kein Bezug genommen oder sie werden auf eine negative Weise dargestellt (MRGI 27.10.2015). Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azinlik") ist negativ konnotiert. Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet. Mittlerweile ist sogar die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments dahingehend angepasst worden, dass die Verwendung der Begriffe "Kurdistan", "kurdische Gebiete" und "Völkermord an den Armeniern" im Parlament verboten ist, mit einer hohen Geldstrafe geahndet wird und Abgeordnete dafür aus Sitzungen ausgeschlossen werden können (bpb 17.2.2018). Zwar werden Gespräche zwischen der Regierung und Vertretern von Minderheiten fortgesetzt. Trotzdem bleiben Hassreden und Drohungen gegen Minderheiten ein ernstes Problem. Eine zivilgesellschaftliche Umfrage zu Hassreden in den Medien ergab, dass Artikel/Nachrichten, die sich gegen nationale, ethnische und religiöse Gruppen richten, im Berichtszeitraum zugenommen haben. Antisemitische Rhetorik in den Medien und von Beamten besteht weiterhin (EC 17.4.2018).
Die türkische Regierung hat mehrere Male gegenüber dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung wiederholt, dass sie keine quantitativen oder qualitativen Daten in Bezug auf den ethnischen Hintergrund ihrer Bürger sammelt, speichert oder verwendet. Allerdings sammeln die Behörden in der Tat Daten zur ethnischen Herkunft der Bürger, zwar nicht für Rechtsverfahren oder zu Studienzwecken, aber zwecks Profilerstellung und Überwachung, insbesondere von Kurden und Roma (EC/DGJC 2016).
Die nationale Strategie (2016-2021) und der Aktionsplan (2016-2018) für Roma-Bürger werden umgesetzt, aber der zuständige Ausschuss zur Überwachung und Bewertung der Strategie trat nur einmal zusammen. Es bedarf insbesondere der Zuteilung budgetärer Mittel zur Unterstützung des Aktionsplanes. Laut einer umfassenden Umfrage steigt das Bildungsniveau unter jungen Roma. Davon abgesehen, ist das allgemeine Bildungsniveau unter den Roma niedrig. Extreme Armut und ein Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs sind in den Haushalten der Roma nach wie vor weit verbreitet. Die Gesamtbeschäftigungsquote ist mit 31% niedrig. Die Roma leben im Allgemeinen in sehr schlechten Wohnverhältnissen, oft ohne Grundversorgung und mit Segregation konfrontiert. Das Stadterneuerungsprojekt führte häufig dazu, dass Roma-Siedlungen abgerissen und Familien vertrieben wurden. Der Zugang zu öffentlichen Diensten ist für Roma, die keinen ständigen Wohnsitz haben, eine große Herausforderung (EC 17.4.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
ARC - Asylum Research Consultancy (21.11.2017): Turkey Country Report - Update November 2017 [3rd edition], https://www.ecoi.net/en/file/local/1418404/1226_1511364755_5a1313bf4.pdf, Zugriff 10.7.2018
bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (17.2.2018): Die Türkei im Jahr 2017/2018, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253187/die-tuerkei-im-jahr-2017-2018#footnode12-12, Zugriff 11.7.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 10.7.2018
EC/DGJC - European Commission/ Directorate-General for Justice and Consumers, European Network of legal experts in gender equality and non-discrimination (2016): Country report: Non-discrimination -Turkey, http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd, Zugriff 10.7.2018
MRGI - Minority Rights Group International (27.10.2015): Education system in Turkey criticised for marginalising ethnic, religious and linguistic minorities, http://minorityrights.org/2015/10/27/education-system-in-turkey-criticised-for-marginalising-ethnic-religious-and-linguistic-minorities/, Zugriff 10.7.2018
MRGI - Minority Rights Group International (2015): Discrimination Based on Colour, Ethnic Origin, Language, Religion and Belief in Turkey's Education System, http://minorityrights.org/wp-content/uploads/2015/10/EN-turkiye-egitim-sisteminde-ayirimcilik-24-10-2015.pdf, Zugriff 10.7.2018
MRGI - Minority Rights Group International (6.2018): World Directory of Minorities and Indigenous Peoples, Turkey, http://minorityrights.org/country/turkey/, Zugriff 10.7.2018
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 10.7.2018
Kurden
Die Kurden (ca. 20% der Bevölkerung) leben v.a. im Südosten des Landes sowie, bedingt durch Binnenmigration und Mischehen, in den südlich und westlich gelegenen Großstädten (Istanbul, Izmir, Antalya, Adana, Mersin, Gaziantep) (ÖB 10.2017). Mehr als 15 Millionen türkische Bürger haben einen kurdischen Hintergrund und sprechen einen der kurdischen Dialekte (USDOS 20.4.2018). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt (AA 3.8.2018). Einige Universitäten bieten Kurdisch-Kurse an, und zwei Universitäten haben Abteilungen für die Kurdische Sprache (USDOS 20.4.2018).
Die kurdischen Gemeinden waren überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt. Kurdische und pro-kurdische NGOs sowie politische Parteien berichteten von zunehmenden Problemen bei der Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (USDOS 20.4.2018). Hunderte von kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und kurdischsprachigen Medien wurden 2016 nach dem Putschversuch per Regierungsverordnung geschlossen (USDOS 20.4.2018; vergleiche EC 17.4.2018). Durch eine sehr weite Auslegung des Kampfes gegen den Terrorismus wurden die Rechte von Journalisten und Menschenrechtsverteidigern, die sich mit der Kurdenfrage auseinandersetzen, zunehmend eingeschränkt (EC 17.4.2018). Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender. Am 16.08.16 wurde z. B. die Tageszeitung "Özgür Gündem" per Gerichtsbeschluss geschlossen. Der Zeitung wird vorgeworfen, "Sprachrohr der PKK" zu sein (AA 3.8.2018; vergleiche EFJ 30.10.2016). Im Jahr 2017 wurden kurdische Journalisten wegen Verbindungen zur bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wegen ihrer Berichterstattung verfolgt und inhaftiert. Dutzende von Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich an einer Solidaritätskampagne mit der inzwischen geschlossenen pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem beteiligten, wurden wegen terroristischer Propaganda verfolgt (HRW 18.1.2018; vergleiche USDOS 20.4.2018). Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Region seit dem Zusammenbruch des Friedensprozesses im Jahr 2015 setzte sich fort und betraf im Jahr 2017 die städtischen Gebiete in geringerem Maße. Stattdessen waren ländliche Gebiete zusehends betroffen. Es gab keine Entwicklungen in Richtung der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses, der für eine friedliche und nachhaltige Lösung notwendig ist. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden zahlreiche kurdische Lokalpolitiker wegen angeblicher Verbindung zur PKK inhaftiert. Im Osten und Südosten gab es zahlreiche neue Festnahmen und Verhaftungen von gewählten Vertretern und Gemeindevertretern auf der Basis von Vorwürfen, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. An deren Stelle wurden Regierungstreuhänder ernannt (EC 17.4.2018; vergleiche AM 12.3.2018, USDOS 20.4.2018).
Mehr als 90 Bürgermeister wurden durch von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt. 70 von ihnen befinden sich in Haft. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Funktionäre und Mitglieder der pro-kurdischen HDP verhaftet (AM 12.3.2018; vergleiche USDOS 20.4.2018). [siehe auch Kapitel 13.1. Opposition]
Die pro-kurdische HDP schaffte bei den Wahlen im Juni 2018 den Wiedereinzug ins Parlament mit einem Stimmenanteil von 11,5% und 68 Abgeordneten, dies trotz der Tatsache dass der Spitzenkandidat für die Präsidentschaft und acht weitere Abgeordnete des vormaligen Parlaments im Gefängnis saßen, und Wahlbeobachter der HDP schikaniert wurden (MME 25.6.2018). Während des Wahlkampfes bezeichnete der amtierende Präsident und Spitzenkandidat der AKP für die Präsidentschaftswahlen, Erdogan den HDP-Kandidaten Demirtas bei mehreren Wahlkampfauftritten als Terrorist (OSCE 25.6.2018). Bereits im Vorfeld des Verfassungsreferendums 2017 bezeichnete auch der damalige Regierungschef Yildirim die HDP als Terrorunterstützerin (HDN 7.2.2017).
Am 8.9.2016 suspendierte das Bildungsministerium mittels Dekret 11.285 kurdische Lehrer unter dem Vorwurf Unterstützer der PKK zu sein. Alle waren Mitglieder der linksorientierten Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige, Egitim Sen (AM 12.9.2016). Bereits öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei kann bei entsprechender Auslegung den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (AA 3.8.2018).
[für weiterführende Informationen siehe Kapitel 3 "Sicherheitslage"]
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
AM - Al Monitor (12.3.2018): Some 40 million Turks ruled by appointed, not elected, mayors, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/03/turkey-becoming-land-of-trustees.html, Zugriff 11.7.2018
AM - Al Monitor (12.9.2016): Kurds become new target of Ankara's post-coup purges, https://www.newcoldwar.org/kurds-become-new-target-of-ankaras-post-coup-purges/, Zugriff 10.7.2018
CB - Covcas Bulletin (22.9.2015): The revival of Turkey's 'lynching' culture, http://www.covcasbulletin.info/?p=1730, Zugriff 11.7.2018
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 11.7.2018
EFJ - European Federation of Journalists (30.10.2016): Turkish government shuts down 15 Kurdish media outlets, http://europeanjournalists.org/blog/2016/10/30/turkish-government-shuts-down-15-kurdish-media-outlets/, Zugriff 11.7.2018
HDN - Hürriyet Daily News (7.2.2017): Main opposition in same boat as terror-supporting HDP: PM Yildirim, http://www.hurriyetdailynews.com/main-opposition-in-same-boat-as-terror-supporting-hdp-pm-yildirim-109443, Zugriff 11.7.2018
HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World report 2018 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/document/1422518.html, Zugriff 11.7.2018
MME - Middle East Eye ( 25.6.2018) Turkey election: Erdogan wins, the opposition crashes - but don't write off the HDP, http://www.middleeasteye.net/columns/turkey-election-erdogan-wins-akp-chp-opposition-crashes-dont-write-off-hdp-776290051, Zugriff 11.7.2018
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 26.6.2018
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 11.7.2018
Bewegungsfreiheit
Bewegungsfreiheit im Land, Reisen ins Ausland, Auswanderung und Repatriierung werden gesetzlich garantiert, die Regierung schränkt diese Rechte allerdings ein. Die Verfassung besagt, dass die Reisefreiheit innerhalb des Landes nur durch einen Richter in Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Untersuchung oder Verfolgung eingeschränkt werden kann. Die Regierung beschränkte Auslandsreisen für Zehntausende von Bürgern, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen wird. Die Bewegungsfreiheit ist auch im Osten und Südosten des Landes angesichts des Konfliktes zwischen Sicherheitskräften und der PKK sowie deren Unterstützer ein Problem. Beide Konfliktparteien errichten Kontrollpunkte und Straßensperren. Die Regierung schuf spezielle Sicherheitszonen und rief Ausgangssperren in mehreren Provinzen als Reaktion auf die PKK-Angriffe aus. Flüchtlinge, die den Status des bedingten Asyls haben sowie Syrer, denen sog. temporärer Schutz gewährt wurde, erfahren ebenfalls Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Flüchtlinge mit bedingtem Schutzstatus bedürfen einer Erlaubnis der örtlichen Behörden, um in andere als die ihnen zugewiesenen Städte reisen zu können. Syrern ist das Verlassen der auf ihrer Registrierungskarte vermerkten Provinz ohne Genehmigung verboten (USDOS 20.4.2018).
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Es kann vorkommen, dass türkischen Staatsangehörigen, denen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt wurde, bei der Einreise oder der versuchten Einreise in die Türkei dieses Ausweisdokument an der Grenze abgenommen wird. Diese Gefahr besteht insbesondere bei Personen, deren Ausweise nicht für die Türkei gültig sind, denen jedoch befristet eine auch für dieses Land geltende Reiseerlaubnis gewährt wurde. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Seit dem Putschversuch verhängen türkische Behörden vermehrt Ausreiseverbote. Diese werden an allen Land-, See- und Luftgrenzübergängen überprüft. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar (AA 3.8.2018).
Am 12.12.2017 verkündete der türkische Innenminister, Süleyman Soylu, dass seit dem Putschversuch 234.419 Pässe als Teil der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung annulliert worden sind (TM 12.12.2017). Die Annullierung erfolgte mit dem Notverordnungsgesetz Nr.667 mit der Begründung, dass die entlassenen Angestellten des öffentlichen Sektors und andere Mitarbeiter eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen und sie eine Mitgliedschaft, Zugehörigkeit oder Verbindung zu terroristischen Organisationen haben. Per Dekret Nr.673 wurden die Pässe der Ehegatten der Betroffenen ebenfalls annulliert. Tausende Pässe wurden auch jenseits des Rechtsrahmens für ungültig erklärt, wo keinerlei vermeintliche Verbindungen zu terroristischen Organisationen und somit eine Gefährdung der nationalen Sicherheit vorlagen (PPJ 10.3.2018). Nach dem Ende des zweijährigen Ausnahmezustands widerrief das türkische Innenministerium am 25.7.2018 die Annullierung von 155.350 Pässen, die in erster Linie Ehepartnern sowie Verwandten von Personen entzogen worden waren, die angeblich mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen (HDN 25.7.2018; vergleiche TM 25.7.2018).
Die türkische Regierung hat Anfang Jänner 2017 ein Dekret erlassen, dank dem sie im Ausland lebende Türken unter bestimmten Bedingungen die Staatsbürgerschaft entziehen kann. Die entsprechenden Notstandsdekrete gelten für Personen, die schwerer Straftaten (etwa Putschversuche, Gründung einer bewaffneten Organisation) beschuldigt werden und trotz Aufforderung nicht innerhalb von drei Monaten in ihre Heimat zurückkehren (ZO 7.1.2017).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
HDN - Hürriyet Daily News (5.1.2018): CHP leader vows to win Istanbul despite mayor row, http://www.hurriyetdailynews.com/chp-leader-vows-to-win-istanbul-despite-mayor-row-125306, Zugriff 9.7.2018
HDN - Hürriyet Daily News (25.7.2018): Turkish Interior Ministry reinstates 155,350 passports, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-interior-ministry-reinstates-155-350-passports-135000, Zugriff 17.9.2018
PPJ - Platform Peace and Justice (10.3.2018): Cancellations Of Turkish Passports And Prevention Of The Freedom Of Movement, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/Cancellation-of-Turkish-Passports.pdf, Zugriff 9.7.2018
TM - Turkish Minute (12.12.2017): Turkish interior minister: 55,665 jailed, 234,419 passports revoked over Gülen links, https://www.turkishminute.com/2017/12/12/turkish-interior-minister-55665-jailed-234419-passports-revoked-over-gulen-links/, Zugriff 6.7.2018
TM - Turkish Minute (25.7.2018): Turkey removes restrictions from 155,350 passports, https://www.turkishminute.com/2018/07/25/turkey-removes-restrictions-from-155350-passports/, Zugriff 17.9.2018
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 6.7.2018
ZO - Zeit Online (7.1.2017): Kabinett kann Türken nun Staatsbürgerschaft entziehen, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-01/recep-tayyip-erdogan-tuerkei-staatsbuergerschaft-entzug-ausland, Zugriff 9.7.2018
Grundversorgung/ Wirtschaft
Für die Türkei werden Marktturbulenzen, starke Währungsabwertungen und erhöhte Unsicherheiten erwartet, die Investitionen und die Konsumnachfrage belasten und eine deutliche negative Korrektur der Wachstumsaussichten rechtfertigen. In der Türkei führten die Besorgnis über die zugrunde liegenden Fundamentaldaten und die politischen Spannungen mit den Vereinigten Staaten zu einer starken Abwertung der Währung (27% zwischen Februar und Mitte September 2018) und sinkenden Vermögenswerten. Das Wachstum in der Türkei war 2017 und Anfang 2018 sehr stark, dürfte sich aber deutlich abschwächen. Das reale BIP-Wachstum wird für 2018 mit 3,5% prognostiziert, soll aber entgegen den positiven ursprünglichen Prognosen 2019 auf 0,4% sinken. Die türkische Wirtschaft ist nach wie vor sehr anfällig für plötzliche Veränderungen der Kapitalströme und geopolitischen Risiken (IMF 8.10.2018).
Die Arbeitslosigkeit bleibt ein gravierendes Problem und verharrt trotz leichter Erholung bei knapp 11% (September 2017). Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, können dort aber nicht vollständig absorbiert werden. Die bereits hohe Jugendarbeitslosigkeit stieg 2017 gegenüber dem Vorjahr weiterhin an. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen wandert die ländliche Bevölkerung daher weiterhin in die Städte und industriellen Zentren ab. Herausforderungen für den Arbeitsmarkt bleiben der weiterhin hohe Anteil der Schwarzarbeit und die niedrige Erwerbsquote von Frauen. Dabei bezieht der überwiegende Teil der in Industrie, Landwirtschaft und Handwerk erwerbstätigen Arbeiter und Arbeiterinnen weiterhin den offiziellen Mindestlohn. Er wurde für das Jahr 2017 auf 1.777,50 Lira brutto festgesetzt. Die Entwicklung der Realeinkommen hält mit der Wirtschaftsentwicklung nicht Schritt, so dass insbesondere die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten empfindlich am Rande des Existenzminimums leben (AA 10.2017c).
Das türkische Arbeitsrecht muss noch an die EU-Standards angepasst werden. Obwohl die nicht registrierte Beschäftigung auf 27,8% zurückgegangen ist, bestehen weiterhin große Unterschiede in Bezug auf Sektor, Beschäftigungsstatus und Geschlecht (BS 2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (10.2017c): Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/wirtschaft/201964#content_1, Zugriff 4.7.2018
BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Turkey Country Report, http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Turkey.pdf, Zugriff 4.7.2018
IMF - International Monetary Found (8.10.2018): World Economic Outlook - Challenges to Steady Growth, https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/WEO/2018/October/English/main-report/Text.ashx?la=en, Zugriff 17.10.2018
Arbeitslosenunterstützung
Alle Arbeitnehmer, einschließlich derer, die in der Landwirtschaft, im Forstwesen und im Bereich Dienstleistung tätig sind, sind unterstützungsberechtigt, wenn sie zuvor ein geregeltes Einkommen im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung erhalten haben. Selbständige sind nicht anspruchsberechtigt. Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe ist auf den Betrag des Mindestlohnes begrenzt. Benötigte Dokumente sind: ein entsprechender Antrag an das Direktorat des Türkischen Beschäftigungsbüros (ISKUR) innerhalb von 30 Tagen nach Verlust des Arbeitsplatzes, einschließlich schriftlicher Bestätigung vom Arbeitnehmer und der Personalausweis (IOM 12.2015). Der Arbeitnehmer muss die letzten 120 Tage vor dem Leistungsbezug ununterbrochen in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Für die Dauer des Leistungsbezugs übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Kranken- und Mutterschutzversicherung (ÖB 10.2017).
Unterstützungsleistungen: 600 Tage Beitragszahlung ergeben 180 Tage Arbeitslosenhilfe; 900 Tage Beitragszahlung ergeben 240 Tage Arbeitslosenhilfe; 1.080 Tage Beitragszahlung ergeben 300 Tage Arbeitslosenhilfe (IOM 2017; vergleiche ÖB 10.2017). Das zentrale Arbeitsamt nimmt Bewerbungen entgegen und bietet türkischen Staatsbürgern Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche an. Die Behörde verfügt über Filialen im ganzen Land. Weitere Informationen stehen hier zur Verfügung: www.iskur.gov.tr (IOM 2017).
Quellen:
IOM - International Organisation for Migration (12.2015): Länderinformationsblatt - Türkei 2015
IOM - International Organisation for Migration (2017): Country Fact Sheet Türkei 2017, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2017_T%C3%Bcrkei_DE.pdf, Zugriff 4.7.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
Medizinische Versorgung
Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, aufgrund der staatlichen sanitären Zustände in den Spitälern und der Hygienestandards, die nicht dem westlichen Standard entsprechen. Dies gilt v.a. in staatlichen Spitälern in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten (ÖB 10.2017). Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es 2016 1.510 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 217.771 Betten, davon ca. 58% in staatlicher Hand (AA 3.8.2018). Die Gesundheitsreform ist als Erfolg zu werten, da mittlerweile 90% der Bevölkerung eine Krankenversicherung haben, die Müttersterblichkeit bei Geburt um 70%, die Kindersterblichkeit um 2/3 gesunken ist, und dies von der Welt Bank als eine der größten Erfolgsgeschichten bezeichnet wird. Allerdings warnt die Welt Bank vor explodierenden Kosten. Zahlreiche Ärzte kritisieren die sinkende Qualität der Behandlungen (aufgrund der reduzierten Konsultationsdauer und der geringeren Ressourcen pro Patient) (ÖB 10.2017).
Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. Im Fall von Krebsbehandlungen kann nach aktuellen Medienberichten aufgrund des gesunkenen Wertes der türkischen Währung keine ausreichende Versorgung mit bestimmten Medikamenten aus dem Ausland gewährleistet werden; es handelt sich aber nicht um ein flächendeckendes Problem (AA 3.8.2018).
Auch durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen. Das neu eingeführte, seit 2011 flächendeckend etablierte Hausarztsystem ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach soll das Hausarztsystem die bisherigen Gesundheitsstationen (Saglik Ocagi) ablösen und zu einer dezentralen medizinischen Grundversorgung führen. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig (AA 3.8.2018).
Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der "Praxisgebühr" unentgeltlich. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es nach wie vor üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden (AA 3.8.2018). NGOs, die sich um Bedürftige kümmern, sind in der Türkei vereinzelt in den Großstädten vorhanden, können jedoch kaum die Grundbedürfnisse der Bedürftigen abdecken (ÖB 10.2017).
Um vom türkischen Gesundheits -und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Guvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Sofern Patienten bei der SGK versichert sind, sind Behandlungen in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos. Die Kosten von Behandlungen in privaten Krankenhäusern werden von privaten Versicherungen gedeckt. Sobald man bei der SGK versichert ist, erhält man folgende Leistungen kostenlos: Impfungen, Diagnosen und Laboruntersuchungen, Gesundheitschecks, Schwangerschafts -und Geburtenbetreuung, Notfallbehandlungen. Beiträge sind einkommensabhängig (zwischen 65,88 TRY und 395,28 TRY) (IOM 2017). Die SGK refundiert auch die Kosten in privaten Hospitälern, sofern mit diesen ein Vertrag besteht. Die Kosten in privaten Krankenhäusern unterliegen, je nach Qualitätsstandards, gewissen, von der SGK vorgegebenen Grenzen. Die Kosten dürfen maximal 90% über denen von der SGK verrechneten liegen. Notfalldienste, Intensivmedizin, Verbrennungen, Krebstherapie, Neugeborenenversorgung, alle Transplantationen, Operationen bei angeborenen Anomalien, Hämodialyse und kardiovaskuläre Chirurgie sind von diesen zusätzlichen Zahlungen im privaten Sektor ausgenommen. Für die stationäre Versorgung kann das Privatkrankenhaus dem Patienten einen Zuschlag für Unterbringungsleistungen in Rechnung stellen (IBZ 10.7.2015).
Die meisten Rückkehrer, die über keine Krankenversicherung verfügen und eine Aufenthaltserlaubnis besitzen und bereits mindestens ein Jahr in der Türkei leben, müssen monatlich in den Fond einzahlen. Dazu müssen sie im System registriert sein und mindestens 180 Tage Beitragszahlungen leisten. Rückkehrer werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Kinder gelten automatisch als versichert, sobald die Eltern bei der SGK registriert sind (IOM 2017).
Der Mindestbetrag für die Grundversorgung - sofern keine Versicherung durch den Arbeitgeber bereits besteht - beträgt zwischen 6-12% des monatlichen Einkommens. Personen ohne ein reguläres Einkommen müssen ca. 15 EUR/Monat in die Krankenkasse einzahlen. Bei Nachweis über ein sehr geringes Einkommen (weniger als 150,- EUR/Monat) werden die Grundversorgungsbeiträge vom Staat übernommen (ÖB 10.2017).
Die Einrichtungen sind auf Personen mit besonderen Bedürfnissen abgestimmt (Familien, Kinder, Senioren und erkrankte Menschen, Menschen mit psychischen Erkrankungen) sowie auf ökonomisch benachteiligte Menschen. Der Patient kann sich direkt an eine Apotheke (ECZANE) wenden, ohne vorher einen Anmeldevorgang durchlaufen zu müssen. Apotheken sind überall verfügbar. Für einige Medikamente benötigt man ein grünes bzw. ein rotes Rezept. Andere Medikamente können ohne Rezept gekauft werden (IOM 2017).
Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Insgesamt standen 2016 zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern(AA 3.8.2018). Insgesamt 32 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in Adana, Ankara (4), Antalya, Bursa (2), Denizli, Diyabakir, Edirne, Elazig, Eskisehir, Gaziantep, Istanbul (5), Izmir (3), Kayseri, Konya, Manisa, Mersin, Sakarya, Samsun, Tokat und Van (2) (AA 3.8.2018).
Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite, allerdings versorgt das Gesundheitsministerium derzeit alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphinen, auch können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten künftig in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben (AA 3.8.2018).
Im Rahmen der häuslichen Krankenbetreuung sind in allen Landesteilen staatliche mobile Teams im Einsatz (bestehend meist aus Arzt, Krankenpfleger, Fahrer, ggf. Physiotherapeut etc.), die Kranke zu Hause betreuen. Etwa 15% der Bevölkerung profitiert von diesen Angeboten (AA 3.8.2018).
Eine AIDS-Behandlung kann in allen Provinzen mit Universitätskrankenhäusern durchgeführt werden. In Istanbul stehen drei, in Ankara und Izmir jeweils zwei private Krankenhäuser für eine solche Behandlung zur Verfügung (AA 3.8.2018).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
IBZ - Federal Public Service Home Affairs General Directorate Aliens' Office Belgium, MedCOI - Belgian Desk on Accessibility (10.7.2015): Country Fact Sheet Access to Healthcare: Turkey, Zugriff 4.7.2018
IOM - International Organisation for Migration (2017): Country Fact Sheet Türkei 2017, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2017_T%C3%Bcrkei_DE.pdf, Zugriff 2.7.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
Behandlung nach Rückkehr
Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr polizeilicher oder justizieller Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen (AA 3.8.2018). Personen die für die PKK oder eine Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türkische Hisbollah, Al-Qaida) (ÖB 10.2017). Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische PYD bzw. die YPG als von der als terroristisch eingestuften PKK geschaffene Organisationen, welche mit der PKK hinsichtlich der Führungskader, der Organisationsstrukturen sowie der Strategie und Taktik verbunden sind (MFA o.D.).
Seit dem versuchten Militärputsch im Juni 2016 werden Personen, die mit dem Gülen-Netzwerk in Verbindung sind, als Terroristen gesehen. Auf die sog. Mitglieder der "FETÖ" (Fetullah-Gülenistische Terrororganisation), die im Ausland leben, werden von der Türkei Einreiseverbote verhängt. Hierbei handelt es sich meistens um nicht-türkische Staatsbürger mit türkischem Ursprung (ÖB 10.2017). Die türkische Regierung hat im Nachgang zu dem Putschversuch 2016 zahlreiche ausländische Regierungen um Mithilfe bei der Ermittlung von Mitgliedern des sog. "Gülen-Netzwerkes" gebeten. Es ist wahrscheinlich, dass türkische Stellen Regierungsgegner und Gülen-Anhänger im Ausland ausspähen. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung zumindest als Propaganda für eine terroristische Organisation führen (AA 3.8.2018).
Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht oder ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Es ist in den letzten Jahren jedoch kein Fall bekannt geworden, indem ein in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (AA 3.8.2018).
Rückkehrprobleme im Falle einer Asylantragstellung im Ausland sind keine bekannt. Nach Artikel 23 der türkischen Verfassung bzw. Paragraph 3 des türkischen Passgesetzes ist die Türkei zur Rückübernahme türkischer Staatsangehöriger verpflichtet, wenn zweifelsfrei der Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit vorliegt (ÖB 10.2017).
Türkischen Staatsangehörigen im Ausland, die von den türkischen Behörden der Beteiligung an der Gülen-Bewegung verdächtigt werden, werden ihre Pässe für ungültig erklärt und durch einen Ein-Tages-Pass ersetzt , mit dem sie in die Türkei zurückkehren, um vor Gericht gestellt zu werden, wo sie ihre Unschuld zu beweisen haben. Lehrer und Militärangehörige scheinen besonders betroffen zu sein, aber auch Kurden und Journalisten (UKHO 2.2018).
Es gibt Vereine, welche von türkischen Rückkehrern gegründet wurden. Hier werden spezielle Programme angeboten, welche die Rückkehrer in Fragen wie Wohnungssuche, Versorgung etc. unterstützen und zugleich eine Netzwerkplattform zur Verfügung stellen. Im Folgenden eine kleine Auswahl:
Rückkehrer Stammtisch Istanbul, Frau Çigdem Akkaya, LinkTurkey, E-Mail: info@link-turkey.com
Die Brücke, Frau Christine Senol, Email: info@bruecke-istanbul.org , http://bruecke-istanbul.com/
TAKID, Deutsch-Türkischer Verein für kulturelle Zusammenarbeit, ÇUKUROVA/ADANA, E-Mail. almankulturadana@yahoo.de , www.takid.org (ÖB 10.2017).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
EP - European Parliament, Vice-President Mogherini on behalf of the Commission (23.6.2016): Answer given by Vice-President Mogherini on behalf of the Commission [E-000843/2016], http://www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do?reference=E-2016-000843&language=EN, Zugriff 27.1.2017
MFA - Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs (o.D.): PKK, http://www.mfa.gov.tr/pkk.en.mfa, Zugriff 2.7.2018
ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017): Asylländerbericht Türkei
UKHO - United Kindom Home Office (2.2018): Country Policy and Information Note Turkey: Gülenist movement, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/682868/Turkey_-_Gulenists_-_CPIN_-_v2.0.pdf, Zugriff 2.7.2018
Anfragebeantwortung der Staatendokumentatin zu "Zustände in Polizeihaft und Gefängnissen"
Haben sich die Bedingungen von Personen in Polizeihaft seit dem Putschversuch gebessert? Wenn ja, inwiefern?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch einige Informationen gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt. Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm. Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt "Einzelquellen" näher beschrieben.
Anmerkungen:
Der Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter, Nils Melzer, vom Dezember 2017, welcher der Anfrage beigelegt wurde, wird hier nicht nochmals zitiert. Obschon sich der Bericht auf den Beobachtungszeitraum vom 27. November bis 2. Dezember 2016 bezieht, ist er trotz alledem einer der rezentesten Berichte dieses Umfanges seitens internationaler bzw. europäischer Institutionen.
Zu den Haftbedingungen sei auch auf das entsprechende Kapitel im Länderinformationsblatt TÜRKEI verwiesen.
Zusammenfassung:
Die Europäische Kommission, der UN-Sonderberichterstatter zu Folter und NGOs zeigten sich über die anhaltenden Vorwürfe hinsichtlich Folter, Misshandlung sowie grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen besorgt bzw. berichteten selbst über solche Vorfälle.
Einzelquellen:
Human Rights Watch führt in seinem Jahresbericht 2019, der sich auf die Entwicklungen im Jahr 2018 bezieht, von anhaltenden Vorwürfen hinsichtlich Folter, Misshandlung sowie grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen.
[...] Continued allegations of torture, ill-treatment, and cruel and inhuman or degrading treatment in police custody and prison and the lack of any meaningful investigation into them remained a deep concern. These issues were raised by the UN special rapporteur on torture in a February statement. [...]
Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002213.html, Zugriff 14.2.2019
Die Europäische Kommission schreibt in ihrem Türkei-Bericht vom Frühjahr 2018, dass die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung nach wie vor Anlass zu großer Sorge gibt. In mehreren glaubwürdigen Berichten von Menschenrechtsorganisationen wird behauptet, dass im Zuge der Notverordnungen wichtige Schutzmechanismen außer Kraft traten, sodass sich die Zahl der Fälle von Folter und Tötung in Haft sowie das Risiko der Straffreiheit für Täter erhöht haben. Auch die Bearbeitung von Beschwerden gilt als unwirksam und birgt die Gefahr von Repressalien. Nach seinem Besuch in der Türkei Ende 2016 äußerte der UN-Sonderberichterstatter für Folter auch Bedenken über die Türkei als ein "Umfeld, das der Folter förderlich ist".
[...] The situation with regards to the prevention of torture and ill-treatment remains a source ofserious concern. Several credible reports from human rights organisations have alleged thatthe removal of crucial safeguards by emergency decrees has augmented the risk of impunityfor perpetrators of such crimes and has led to an increase in the number of cases of torture andill-treatment in custody. The handling of complaints is also reported to be ineffective andallegedly entails a risk of reprisals. After his visit to Turkey in late 2016, the UN Special Rapporteur on torture also voiced concerns on Turkey as an 'environment conducive to torture'. [...]
EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 14.2.2019
Ende Februar 2018 zeigte sich der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, ernsthaft besorgt über die seit seinem offiziellen Besuchs in der Türkei im Dezember 2016 zunehmenden Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen in türkischem Polizeigewahrsam. Melzer sagte, er sei beunruhigt über Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans - PKK zu haben, brutalen Verhörmethoden ausgesetzt seien, die darauf abzielten, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Gefangene zu zwingen, andere zu belasten. Zu den Misshandlungen gehörten schwere Schläge, Stromschläge, das Eintauchen in Eiswasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe. Der Sonderberichterstatter sagte, dass die Behörden offensichtlich keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen haben, um diese Vorwürfe zu untersuchen oder die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Stattdessen sollen Beschwerden über die Behauptung der Folter von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung Nr. 667 abgewiesen worden sein, die Beamte von der strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Rahmen des Ausnahmezustands befreit.
The UN Special Rapporteur on torture, Nils Melzer, expressed serious concerns about the rising allegations of torture and other ill-treatment in Turkish police custody since the end of his official visit to the country in December 2016.
Melzer said he was alarmed by allegations that large numbers of individuals suspected of links to the Gülenist Movement or the armed Kurdistan Workers' Party were exposed to brutal interrogation techniques aimed at extracting forced confessions or coercing detainees to incriminate others.
Reported abuse included severe beatings, electrical shocks, exposure to icy water, sleep deprivation, threats, insults and sexual assault.
The Special Rapporteur said no serious measures appeared to have been taken by the authorities to investigate these allegations or to hold perpetrators accountable.
Instead, complaints asserting torture were allegedly dismissed by the prosecutor citing a 'state of emergency decree (Article 9 of Decree no. 667)' which reportedly exempts public officials from criminal responsibility for acts undertaken in the context of the state of emergency.
"The human right to be free from torture and other ill-treatment is absolute and non-derogable, and continues to apply in all situations of political instability or any other public emergency," the Special Rapporteur said. No circumstances, however exceptional and well argued, can ever justify torture or any form of impunity for such abuse.
"Torture is not only a notoriously ineffective interrogation method, but it constitutes the most fundamental assault on human dignity and is invariably listed among the most serious international crimes, including war crimes and crimes against humanity."
Melzer said by inviting his mandate to visit the country in December 2016, soon after an attempted coup, the Government had demonstrated its commitment to its official "zero tolerance" policy on torture.
"However, the authorities' failure to publicly condemn torture and ill-treatment, and to enforce the universal prohibition of such abuse in daily practice seems to have fostered a climate of impunity, complacency and acquiescence which gravely undermines that prohibition and, ultimately, the rule of law," he said.
The Special Rapporteur also said he remained keen to engage in a "direct and constructive dialogue" with the Turkish authorities to achieve full implementation of the prohibition on torture and ill-treatment.
OHCHR - Office of the High Commissioner (27.2.2018): Turkey: UN expert says deeply concerned by rise in torture allegations, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22718&LangID=E, Zugriff 19.2.2019
Laut Bericht der regierungskritischen Webseite "Turkish Minute" wurden gemäß Fotos der Nachrichtenagentur Mesopotamia im August 2018 vier Männer in Istnabul wegen Transport einer Pumpgun in ihrem Auto festgenommen und auf der Polizeistation gefoltert. Gemäß den Angaben einer der Männer wurden sie in einen Raum gebracht, in dem es keine Überwachungskameras gab, und die Polizisten begannen, sie zu schlagen, während sie mit Handschellen an den Heizkörperrohren angehängt waren. Obwohl der Arzt, der sie untersuchte, Anzeichen von Misshandlungen an ihren Körpern sah, stellte er keine Arztbefunde aus, die die Folterungen belegt hätten.
Four men who were detained by police in Istanbul for carrying a pump-action rifle in their automobile were subjected to acts of torture at the police station to which they were taken, according to photos obtained by the Mesopotamia news agency.
The men were detained in Istanbul's Bagcilar neighborhood on May 16 after their car was stopped by the police and were subsequently taken to the Bagcilar 100th Year Kemalpasa Police Station.
One of the men, Serkan Sezer, said acts of torture against him and his friends by the police began immediately after the rifle, which belongs to his father, was found.
He said the police officers began to use insulting words against them and handcuffed them from behind.
When the men were at the police station, Sezer said they were taken to a room where there were no security cameras and that the police officers began to hit them and fastened their handcuffs to radiator pipes in the room.
The men were taken to another police station that night and to a hospital for a medical examination before they were released in the morning of the next day.
Sezer said although the doctor who examined them saw signs of maltreatment on their bodies, he did not give them medical reports proving they were subjected to acts of torture because the police officers had had a talk with the doctor.
Sezer said he and his friends filed criminal complaints against the police officers after they were released and also sought judicial assistance from the Human Rights Association (IHD).
Since the declaration of a state of emergency in Turkey in the aftermath of a failed coup attempt on July 15, 2016, there have been widespread allegations of acts of torture and maltreatment in Turkey's prisons and detention centers.
Turkish Minute (5.6.2018): Photos revealed showing torture of 4 men under police custody in Istanbul, https://www.turkishminute.com/2018/06/05/photos-revealed-showing-torture-of-4-men-under-police-custody-in-istanbul/, Zugriff 19.2.2019
Wo liegen die Unterschiede in Bezug auf die Haftbedingungen in einem Typ F-Gefängnis und dem normalen Strafvollzug?
Wie unterscheiden sich konkret die Haftbedingungen zwischen politisch Inhaftierten und "einfach kriminellen" (z.B. Diebstahl, Urkundenfälschung etc)?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
siehe oben.
Hier sei auf die beigefügte Anfragebeantwortung TUER_PO_PAR_Anhänger der DHKP-C_Vorgehen der Behörden_Doppelbestrafung_Haftbedingungen_Meldewesen_2018_12_19_KE verwiesen, wo unter Punkt 6 auf die Zustände in Haftanstalten des Types F eingegangen wird.
Zusammenfassung:
Das Regime für Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F ist das Prinzip der Isolation. Die Zellen sind so angeordnet, dass der Gefangene die Zelle nie verlassen muss. Die Zellen sind schalldicht und selten größer als drei Meter in der Länge. Häftlinge haben keinen Kontakt zu ihren Mitgefangenen. Sie haben bis auf Ausnahmen weder Zugang zu Büchern noch zu Musik. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 haben sich die Haftbedingungen durch Überbelegung verschlechtert.
Einzelquellen:
Die ÖB in Ankara führt folgendes zu den aktuellen Haftbedingungen in ihrem Asylländerbericht 2018 an:
[...] Die materielle Ausstattung der Haftanstalten wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Schulung des Personals fortgesetzt. Kritik an den Haftbedingungen gibt es v.a. hinsichtlich der Hochsicherheitsgefängnisse (Typ F). Die Gefängnisse werden regelmäßig von den Überwachungskommissionen für die Justizvollzugsanstalten inspiziert und auch von VN-Einrichtungen und dem "Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter" besucht. Zu den unbestreitbaren Problemen in den Haftanstalten gehört, insbesondere bedingt durch eine große Zahl an Verhaftungen nach dem Putschversuch 2016, der Überbelegung und, damit zusammenhängend, eine unzulängliche Umsetzung der Bestimmungen über Gemeinschaftsaktivitäten, die Beschränkungen des Briefverkehrs und nicht durchwegs ausreichende Gesundheitsversorgung. Mehrere europäische Staaten überstellen dennoch Häftlinge zum Haftvollzug in der Türkei; teilweise wird dies an gewisse Auflagen geknüpft.
Die Bestimmungen über die Einzelhaft für Personen, die zu einer lebenslänglichen Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt wurden, sind nach wie vor in Kraft. Derartige Haftbedingungen dürfen nur über einen möglichst kurzen Zeitraum hinweg angeordnet werden, wobei eine individuelle Risikobewertung in Bezug auf den jeweiligen Häftling vorzunehmen ist. [...]
Österreichische Botschaft Ankara (12.2018): Asylländerbericht 2018
Im Hochsicherheitsgefängnis des Typs D in Diyarbakir [Kurdengebiet] waren laut der NGO "Platform Peace and Justice" (PPJ) mit Stand Oktober 2017 die physischen Bedingungen wirklich schlecht. An den Wänden befand sich Kondenswasser und Schimmel, der von den Häftlingen mit Kleidungsstücken gereinigt wurde. Die Stationen und die allgemeinen Teile des Gefängnisses waren schmutzig. Die Häftlinge hatten allerdings keine Probleme damit, Beschwerden einzureichen, ihre Anwälte zu treffen, die Bibliothek zu benutzen, Briefe zu versenden oder zu empfangen und ihren Ernährungsbedarf zu decken. Auch durften sie Besuch bekommen und telefonieren. Allerdings hatten sie keinen Zugang zu Zeitungen. Im Unterschied zu Mitgliedern der Hisbollah [Anm.: gemeint ist die islamistische sunnitisch-kurdische Hisbollah in der Türkei, nicht die schiitische Hisbollah in Syrien] und der PKK wurde Mitgliedern der Gülen-Bewegung das Recht auf Teilnahme an künstlerischen und kulturellen Aktivitäten verweigert. [...]
Im Hochsicherheitsgefängnis des F-Typs in Edirne war im Oktober 2017 in den Stationen rund um die Uhr Warmwasser verfügbar. Zwischen 10 und 18 Uhr waren die Türen zu den Innenhöfen offen. Die Häftlinge mussten die Reinigung selbst durchführen und die Reinigungskosten von ca. 400 TL ($110) übernehmen. Einmal pro Woche waren Besuche für eine Stundeerlaubt. Besuche mit physischem Kontakt fanden dagegen alle zwei Monate statt. Dies galt nur für unmittelbare Familienangehörige. Obwohl jeder auf den Stationen seine täglichen Gebete verrichten kann, stand vor allem der erste, der ankam, vor dem Problem, keine Ausgabe des Koran auf den Stationen zu haben und nicht über die täglichen Gebetszeiten informiert zu sein. Es gab drei Mahlzeiten am Tag. In Bezug auf das Recht auf Gesundheitsversorgung können die Häftlinge in die Gesundheitsklinik gehen und den Hausarzt besuchen, wann immer sie es brauchen. Es gibt keine zeitliche Begrenzung der Gesundheitschecks. Nur vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung haben kein Recht auf Teilnahme an kulturellen oder sportlichen Aktivitäten [...].
[...]
Diyarbakir Type D High Security Prison
Physical conditions in the Diyarbakir Type High Security Prison are really bad. There is condensation and mould on the walls, and it is cleaned by the detainees with pieces of clothes. The wards and general parts of the prison are dirty.
The detainees do not face any problems in: filing petitions and complaints, seeing their lawyers and the notary, using the library, sending/receiving letters, satisfying their nutritional needs and placing orders in the canteen.
The detainees are allowed to see their visitors at monthly contact visits, and at weekly non-contact visits. They are able to make 10-minute telephone calls once every 15 days.
They are denied access to all periodicals and non-periodicals. Despite their persistent requests, the Yeni Asya newspaper is still not brought to the prison.
Those who are detained or convicted with the crime of being a member of Hezbollah or the PKK, are able to use this right. Those who are accused of being a member of the Gülen Movement are denied the right to participate in arts and cultural activities. [...]
Edirne F Type High Security Closed Prison
The wards are 4-person duplexes, which have 24-hour running hot water. Between 10 am and 6 pm the doorsto the courtyards are left open. The first detainees to arrive were taken to very dirtywards. The detainees had to do the cleaning themselves and to paya cleaning cost of about 400 TL($110).Regarding the right to visit the detainees, non-contact visits are allowed once a weekfor 60 minutes. Contact visits, on the other hand, are made once every 2 months, again for 60 minutes. Only immediatefamily members and the father and mother-in-laws of the detainee are allowed to visit. The maximum number visitors at one time is limited to 4. The visitors have to go through an intensive body search, even the nappies of the babies are subjected to a thorough search.Regarding their rights to communication, the detainees are allowed to make a telephone callonce every 2 weeks, for 10 minutes toany of the 3 telephone numbers that havebeen approved by the prisonadministration.The detainees are allowed to send letters on weekdays. The sent and received letters are first read and checked by the letter reading commission.Although everyone on the wards can perform their daily prayers, the first to arrive, in particular, faced the problem of not being allowed to have copies of the Qur'an onthe wards and not being informed ofthe daily prayer times.The detainees are served 3 meals a day. römisch eins f adoctor has prescribed a special diet for an ill detainee, he is provided with that menu.Regarding the right to healthcare, the detainees are able to go to the health clinicand see the Gesetzgebungsperiode whenever they needto. There is notime limit onhealth check sessions. Appointments for dental checks are given for a date 1 or 2 months later. Onlythose who are detained underthe claim of being members of the Gulen Movement, are denied the right to participatein arts and cultural activities, and they are not allowed to attendthe courses organised in the prison orto usethe sports facilities. [...]
Platform Peace and Justice (18.10.201/): A Comprehensive Report On The Prison Conditions In Turkey: In Prison 2017, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/IN-PRISON-2017.pdf, Zugriff 19.2.2019
Im Gegensatz zu PPJ berichtet die in Frankreich gegründete NGO "Prison Inside", dass auch PKK-Mitglieder Gülen-Mitgliedernabgesehen von, , im Gegensatz zu anderen Häftlingen keinen Zugang zu den im Gefängnis organisierten kulturellen oder sportlichen Aktivitäten haben. Politische Gefangene dürfen ihre Zellen nicht verlassen.
Das Regime für Hochsicherheitsgefängnisse vom Typ F ist das Prinzip der Isolation. Die Zellen sind so angeordnet, dass der Gefangene die Zelle nie verlassen muss; sie bestehen aus Bad, Bett, Tisch und Stuhl. Sie sind schalldicht und selten größer als drei Meter in der Länge. Häftlinge haben keinen Kontakt zu ihren Mitgefangenen. Sie haben weder Zugang zu Büchern noch zu Musik.
[...] Political prisoners (members of the PKK), unlike other prisoners, do not have access to the cultural or sports activities organised in the prison. These restrictions particularly affect those accused of affiliation with the Gülen movement.
Political prisoners
Political prisoners are not permitted to leave their cells. They share a two-storey cell with five inmates. The toilets and showers are on the first floor and beds on the second. Hot water is available once a week. Cell maintenance is the inmates' responsibility and tasks are divided in turn.[...]
The regime for type F high security prisons is isolation. The cells are arranged so that the prisoner never has to leave; they include a bathroom, bed, table, and chair. They are soundproof and are rarely bigger than three metres long. Prisoners don't have contact with their fellow inmates. They have access to neither books nor music. [...]
Prison Insider (2.2018): TURKEY, Daily life, https://www.prison-insider.com/countryprofile/prisonsinturkey?s=le-quotidien#le-quotidien, Zugriff 19.2.2019
In einem Interview mit der Zeitschrift ze.tt, eine Partnerin der deutschen Zeitung "die Zeit", schildert Max Zirngast seine Zeit im Hochsicherheitsgefängnis folgendermaßen:
[...]
ze.tt: Max, du warst drei Monate in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis. Was fällt dir als erstes ein, wenn du an diese Zeit zurückdenkst?
Max Zirngast: Tja, das ist eine gute Frage. (Überlegt einen Moment) Ich habe das Zimmer unserer Zelle noch sehr klar vor Augen. Wir haben dort drei Monate rund um die Uhr verbracht, bis auf die Ausnahmen, wenn du zum Anwalt oder es wegen Familienbesuch verlassen darfst. Mein Freund und Zimmerkollege Mithat war zuvor schon zwei Mal kurz im Gefängnis und meinte mal, man vergesse das sehr schnell. Ich habe es noch nicht vergessen, in meinem Kopf ist das alles sehr klar vor mir.
Wie hat eure Zelle ausgesehen?
In Bezug auf Raum und Privatsphäre ist die Isolation eigentlich relativ komfortabel. Andere sind schließlich mit 20 Häftlingen in einer Zelle, wir waren immer nur zu zweit, nur die erste Woche in einem anderen Gefängnis in Sincan zu dritt. Im Hochsicherheitsgefängnis hatten wir zwei Stockwerke. Oben war es sehr hell, weil eine Seite nur aus Fenstern bestand und wir auf der Ost-Seite waren. Das war ein Glück! Im Oberstock gibt es drei Betten und drei Eisenschränke. Im unteren Stockwerk ist es hingegen sehr dunkel gewesen. Dort waren zwei Türen: eine in den Innenhof und eine in den Korridor. Im Unterstock findet sich dann auch ein Bad mit WC und Waschbecken und einer Art Duschtrasse, wir hatten aber keinen Duschhahn. Es gibt noch eine Art Küche, was ein Schrank und ein Waschbecken ist. Und ein Plastiktisch, dazu zwei Plastikstühle. Als das Wetter noch schön war, haben wir die Stühle und den Tisch in den Hof getragen, danach morgens meist in den Oberstock, weil da die Sonne reingeschienen hat.
Ihr hattet einen eigenen Hof?
Genau. Der Innenhof war zirka 50 Quadratmeter groß und umrandet von sehr hohen Mauern. Die sind so hoch, dass man nicht raus sieht. Man sieht nicht mal die Berge. Man sieht immer nur den Himmel, Wolken, Vögel, Flugzeuge, Sonne und Mond. Nur wenn man zum Arzt geht, weil man irgendein Problem hat oder Medizin braucht, kommt man innerhalb des Gefängnisses hoch genug rauf, um die Berge zu sehen. Isolation ist der Sinn von den Typ-F-Gefängnissen Anmerkung, so werden im türkischen Strafvollzugsrecht Hochsicherheitsgefängnisse bezeichnet). Gerade politische Gefangene kommen in der Türkei meist in diese Gefängnisse, damit sie möglichst fern gehalten werden von den anderen Häftlingen. Darum hatten wir auch den Hof für uns allein. Am Anfang erscheint einem das alles sehr klein. Wenn man drei Monate dort ist, wird es jeden Tag größer. Zu groß. Zu viel. Zu allein.
Wie hat euer Alltag im Gefängnis ausgesehen?
Zwischen acht und und 8:30 Uhr fand die Zählung statt. Uns war es wichtig, dass wir unser Frühstück schon davor zu uns nahmen und richtig wach waren. Wir sind meist so um sieben Uhr aufgestanden und haben Frühstück gemacht. Das Essen kommt zwei Mal am Tag zu Mittag und am frühen Abend. Nach dem Frühstück haben wir Zähne geputzt, uns angezogen und waren bereit. Das war immer unser Ziel: bereit zu sein, wenn sie kommen. Das ist psychologisch wichtig, damit man nicht auf dem falschen Fuß erwischt wird. Das Schlimmste wäre, von den Wärter*innen aus dem Schlaf gerissen zu werden, was uns zum Glück nie passiert ist. Nach der Zählung haben wir jeden zweiten Tag Sport gemacht im Hof: Joggen, Liegestützen und Sit-Ups oder eben gelesen. Zu Mittag kam dann die Zeitung. Als die Sonne im Herbst noch zu spüren war, sind wir oft im Hof gesessen. Dann ist aber der Winter gekommen, es wurde eiskalt und hat auch geschneit. Wir sind trotzdem immer raus, einfach, um uns zu bewegen und frische Luft zu atmen. Dann Abendessen. Abends haben wir manchmal Musik gemacht, wir hatten eine Gitarre und ein Radio. Die meiste Zeit haben wir viel gelesen und diskutiert. [...]
Wie waren die zehn Tage Polizeigewahrsam dazu im Vergleich?
Im Vergleich dazu ist das Hochsicherheitsgefängnis Luxus. Dort mussten wir auf Holzpritschen schlafen, bekamen keine Zahnpasta, haben unsere Zähne mit Salz gereinigt, es war kalt und das ständige Neonlicht schmerzte. Es ist der Sinn der Sache, dass man möglichst schwach und erniedrigt vor den Richter*innen und Staatsanwält*innen steht. Wir durften dort auch keine Bücher haben. Du kannst also nur in die Luft schauen. Man soll zumindest zum Teil verrückt und schwach werden, da bin ich mir sicher. Bei mir wurde zum Beispiel auch aktiv unterbunden, dass ich mit irgendjemanden spreche. Aber diese Zermürbungsversuche haben gar nicht so gut funktioniert, ich habe dort eine Stärke entwickelt, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie habe. Dann ist man plötzlich vor dem Staatsanwalt und die ganze Schwäche ist weg, man konzentriert sich nur mehr darauf, eine gute Aussage zu machen.
Was waren die Herausforderungen im Gefängnis?
Ich bin jemand, der täglich Zeitung liest, das Weltgeschehen verfolgt. Zuerst waren wir zehn Tage in Polizeigewahrsam und dann im Gefängnis. Wir sind am 21. September in das Gefängnis gekommen und hatten bis zum 1. Oktober keine Zeitung, denn die Zeitung musste man immer am Ende des Monats für den nächsten Monat abonnieren. Wir hatten dadurch im Prinzip drei Wochen lang keinen Zugang zur Außenwelt. Das eigene Denken wird dann schnell eindimensional. Unsere Bücher hingen auch in der Bildungskommission fest. Ich hatte fast einen Monat kein Buch in der Hand. Wir haben dann begonnen, den Koran zu lesen, weil der in jedem Zimmer liegt. In den Briefen, die ich geschrieben habe zu dieser Zeit, hab ich bemerkt, dass ich in meiner Realität festhing.
Was meinst du damit?
Unsere Gespräche haben sich nur mehr um das Gleiche gedreht. Alles, was man im Kopf hat, hat mit der unmittelbaren Realität zu tun: Ist unsere Kleidung gekommen? Sind unsere Bücher gekommen? Was können wir bestellen? Es fiel schwer, über die juristischen Prozesse und unseren Alltag im Gefängnis hinweg in die Welt rauszublicken. Erst durch das Lesen, als wir die Zeitung bekamen und unsere Bücher da waren, öffnete sich mein Blick wieder. Außerdem bin ich ein Mensch, der sehr gerne geht, stundenlang spaziert - mit oder ohne Ziel. Im Gefängnis geht das nicht, nach maximal acht bis zehn Metern stößt man wieder an die Wand.
Als die Bücher dann da waren, was hast du gelesen?
Wir durften fünf Bücher pro Person von draußen haben und uns fünf Bücher pro Person aus der Bibliothek dort ausleihen - die tauschten wir untereinander. Romane, Gedichtbände und Theorie zum türkischen Staat, zur türkischen Linken und Faschismus. Ich wollte vor allem türkische Literatur lesen, die nicht übersetzt wurde, weil die Übersetzungen kann ich draußen ja auch viel schneller lesen. Ich wollte die Zeit im Gefängnis möglichst sinnvoll nutzen. Das Umtauschen und Bestellen der Bücher war schwierig, darum war unsere Devise: Möglichst dicke Bücher. Erstens hat man drinnen die Zeit, sie zu lesen und zweitens hatte man von denen länger was - da ist man auf der sicheren Seite.
Du sprichst fließend Türkisch, was wäre, wenn du es nicht könntest?
Dann wäre ich ganz schön in der Tinte gesessen. Die Kommunikation, die Anträge, die Bestellungen im Gefängnis, alles ist auf Türkisch. Und ich hätte keine Bücher lesen können, das wäre mitunter das Schlimmste gewesen.
[...]
Wie ist dein Leben jetzt - kann man von Normalität sprechen; dass du ausgehst und Dinge unternimmst?
Drinnen ist wahrscheinlich sicherer als draussen. (Lacht) Ich glaube, man muss aufpassen, dass die Verfolgung nicht zu große Spuren hinterlässt. Sonst wäre die Zermürbung erfolgreich. Standhaft zu bleiben, ist für mich ganz wichtig und die beste Antwort auf solche Methoden.
ze.tt (7.1.2019): So sieht der Alltag in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis aus, https://ze.tt/so-sieht-der-alltag-in-einem-tuerkischen-hochsicherheitsgefaengnis-aus/, Zugriff 19.1.2019
Haben sich die Vorwürfe wegen Überbelegung in den Gefängnissen aufgrund der vielen Entlassungen relativiert?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
siehe oben.
Zusammenfassung:
Laut Quellen sind die türkischen Gefängnisse in Summe zu 18% überbelegt. Einer der Hauptgründe ist die hohe Anzahl an politischen Gefangenen, die sich zudem im hohen Ausmaß noch in Untersuchungshaft befinden.
Einzelquellen:
Das Analyseportal "Al Monitor" berichtete Anfang 2019, dass die Gefängnisse überfüllt sind, und zwar nicht nur mit den "üblichen Verdächtigen", sondern auch mit Tausenden von Minderjährigen.
Saban Yilmaz, türkischer Generaldirektor für Gefängnisse und Haftanstalten, gab am 14. November 2018 zum starken Anstieg der Gefängnisbelegung nach dem Putschversuch 2016 an, dass es in der Türkei 385 Gefängnisse gebe; 78 davon mit minimalen Sicherheitsvorkehrungen. Yilmaz sagte, dass die Gefängnisse heute eine Gesamtkapazität von 220.000 haben, während die Zahl der Gefangenen 260.000 beträgt, obwohl die Regierung in den letzten fünf Jahren 79 Gefängnisse gebaut hat, um insgesamt 66.000 Gefangene aufzunehmen. Das Justizministerium plant, in den nächsten fünf Jahren 228 weitere Gefängnisse zu bauen und eine Kapazität für weitere 140.000 Häftlinge zu schaffen.
Die größte Zahl der Kriminellen, etwa 50.000, wurde wegen Drogendelikten angeklagt. Das nächst-größte Segment umfasst 44.986 Personen, die wegen terroristischer Verbrechen angeklagt sind - rund 17%. Das heißt, von sechs Gefangenen ist einer wegen eines Terrorverbrechens inhaftiert, weit über dem globalen Durchschnitt. Von fast 45.000 Personen, die wegen terroristischer Verbrechen inhaftiert wurden, sind etwa 33.000 (73%) mit der Bewegung von Fethullah Gülen verbunden, 10.000 (23%) mit der PKK, 1.200 (2,8%) sind Dschihadisten und 800 (1,2%) radikale Linke.
Turkey's prisons are overflowing, and not just with the usual suspects. Thousands of minors, including hundreds under the age of three, are spending their childhood behind bars.
Saban Yilmaz, Turkey's director general of prisons and houses of detention, shared some striking information Nov. 14 on the state of the prison system during a recent meeting of the parliament's human rights commission. He was responding to widespread allegations of overcrowding and miserable conditions because of mass detentions and a sharp increase in prison populations after the 2016 coup attempt.
In his address, Yilmaz said that as of that day, there were 385 prisons in Turkey, 78 of them with minimum security. Yilmaz said the prisons today have a total capacity of 220,000, while the number of prisoners is 260,000, despite the government building 79 prisons in the past five years to house a total of 66,000 detainees. The Ministry of Justice is planning to build 228 more prisons and create a capacity for an additional 140,000 inmates in the next five years.
Yilmaz said the prisons hold 743 mothers and about 3,000 children below 15, including 343 aged three and under.
The largest number of criminals, about 50,000, are charged with narcotics consumption, possession or sale. The next-biggest segment comprises 44,986 people charged with terror-related crimes - about 17%. That means of every six prisoners, one is charged with a terror crime, far above global averages. For example, in the United Kingdom, as of December 2017, only 412 out of 84,746 inmates were imprisoned for terrorism crimes. As of February 2018, in the entire United States, around 400 inmates, 0.0003 % of prisoners in US federal and state prisons, were convicted of terror-related crimes.
An academic studying the Turkish prison system who spoke to Al-Monitor on condition of anonymity said that of almost 45,000 people imprisoned for terror-related crimes, about 33,000 (73%) are affiliated with the movement of Fethullah Gulen, 10,000 (23%) with the Kurdistan Workers Party (PKK), 1,200 (2.8%) with Islamic State-linked jihadists and 800 (1.2%) radical leftists. [...]
Al Monitor (6.12.2018): Turkey can't build prisons fast enough to house convict influx, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/11/turkey-overcrowded-prisons-face-serious-problems.html, Zugriff 19.2.2019
Laut dem "International Centre for Prison Studies" hatten die türkischen Gefängnisse unter Berufung auf offizielle Angaben mit Stand November 2018 in Summe einen Auslastungsgrad von rund 118%. Es wurden 260.000 Insassen bei 220.000 Plätzen gezählt.
Prison population total (including pre-trial detainees / remand prisoners) 260 000
at November 2018 (national prison administration)
Prison population rate (per 100,000 of national population) 318
based on an estimated national population of 81.68 million at November 2018 (from Eurostat figures)
Pre-trial detainees / remand prisoners (percentage of prison population) 43.1%
(31.12.2017)
Further Information
Female prisoners (percentage of prison population) 4.2%
(31.12.2017)
Further Information
Juveniles / minors / young prisoners incl. definition (percentage of prison population) 1.2%
(2.10.2017 - under 18)
Foreign prisoners (percentage of prison population) 2.2%
(1.9.2016)
Number of establishments / institutions 381
(2017)
Official capacity of prison system 220 000
(November 2018)
Occupancy level (based on official capacity) 118.2%
(November 2018)
ICPS - International Centre for Prison Studies (2018): World Prison Brief http://www.prisonstudies.org/country/turkey, Zugriff 18.2.2019
Gibt es nähere Informationen zu folgenden Aspekten in den türkischen Gefängnissen (und damit wird der Polizeigewahrsam ausgeschlossen):
- Verpflegung
- Medizinische Versorgung
- Soziale Interaktionen mit der Außenwelt (Besuche und Telefongespräche mit Anwälten und Familienmitglieder)
- Ausstattung der Haftzelle
- Freizeitaktivitäten (z.B Hofgang)
- Gebetsräume
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
siehe oben bzw. in den Antworten zu den Fragen 1-4.
Es sei wiederum auf das aktuelle Länderinformationsblatt (LIB) der BFA-Staatendokumentation zur TÜRKEI verwiesen, insbesondere Kapitel 14.Haftbedingungen (ab Seite 58).
Zusammenfassung:
Die Bedingungen in den Haftanstalten sind unterschiedlich. Abweichungen gibt es auch bei der Behandlung der Häftlinge im selben Gefängnis. Insbesondere vermeintliche Mitglieder der Gülen-Bewegung leiden unter weitreichenden Restriktionen. Ihnen wird der Zugang zu Kultur und Sport in der Regel verwehrt. Summarisch lässt sich folgendes sagen: Die Zellen sind klein und haben meist eine schlechte Belüftung. Der Kontakt zwischen den Häftlingen ist begrenzt. Gefangene unter dem "allgemeinen" Haftregime haben ganztägigen Zugang zum Außenbereich. Personen mit einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe haben in der Regel nur eine Stunde pro Tag Zutritt zum Außenbereich. Das in den Zellen verfügbare Leitungswasser ist nicht trinkbar, so dass die Gefangenen Wasserflaschen kaufen müssen. Häftlinge ohne finanzielle Mittel leiden unter Unterernährung. Die Temperaturen sind im Sommer hoch und im Winter niedrig. In einigen Anstalten ist eine Heizung verfügbar. In den überbelegten Anstalten haben sich die Hygienebedingungen stark verschlechtert. Die Überbelegung schränkt auch den Zugang der Häftlinge zu sanitären Einrichtungen ein. Der Zugang zu Wasser ist je nach Institution unterschiedlich. An einigen Orten wie dem Gefängnis Bandirma (Nordwesten) ist das Wasser begrenzt. Die Gefangenen haben einmal pro Woche fünf Minuten lang Zugang zu den Duschen. Das Hochsicherheitsgefängnis Typ F in Edirne hat nur begrenzten Zugang zu Warmwasser.
Das medizinische Personal ist unterbesetzt. Medikamente sind kostenlos, jedoch kommt es manchmal zu langen Verzögerungen, bis Insassen die Arzneien erhalten. Viele gesundheitliche Probleme sind mit den Haftbedingungen verbunden. Niedrige Temperaturen begünstigen etwa Fälle von wiederkehrender Grippe. In einigen Einrichtungen werden sportliche Aktivitäten wie Basketball oder Volleyball organisiert.
PKK- oder Gülen-Mitglieder haben im Gegensatz zu anderen Häftlingen keinen Zugang zu den im Gefängnis organisierten kulturellen oder sportlichen Aktivitäten. Politische Gefangene dürfen ihre Zellen nicht verlassen. Besuche bei Verwandten, getrennt durch eine Glasbarriere, finden einmal pro Woche und in einem Salon ohne Trennung einmal pro Monat statt.
Die Verwaltung verzeichnete im Jahr 2017 50.348 Gefangene, die einer Beschäftigung nachgingen. Die Arbeitsbedingungen im Gefängnis entsprechen jedoch nicht dem Arbeitsgesetz.
Die Achtung vor der freien Ausübung des Gebets variiert je nach Einrichtung. Es ist in einigen Institutionen vollständig erlaubt. Einige Institutionen behindern den Zugang zu religiösen Texten wie dem Koran.
Einzelquellen:
Die NGO Platform Peace and Justice (PPJ) ist eine Plattform, die die Entwicklungen in den Bereichen Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte mit besonderem Schwerpunkt auf der Türkei verfolgt und berichtet. Im Oktober 2017 veröffentlichte PPJ eine Studie zu den Zuständen in den türkischen Gefängnissen, basierend auf Aussagen von Rechtsanwälten und Familienangehörigen der Inhaftierten.
Laut Bericht wird die Mehrheit der Rechtsverletzungen gegen diejenigen begangen, die unter dem Vorwurf der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" inhaftiert wurden. Die Haftbedingungen sind in 72 von 80 untersuchten Gefängnissen unzureichend. Da die Anzahl der Toiletten und Duschräume für die ideale Kapazität der Gefängnisse gebaut wurde und die Anzahl der Häftlinge, die in einer Station bleiben, weit über dieser Kapazität liegt, müssen sich 25-30 Häftlinge eine Toilette und eine Dusche teilen, was zu langen Warteschlangen führt. Unter Berücksichtigung der begrenzten Verfügbarkeit von Warmwasser ist die Möglichkeit zum Duschen sehr begrenzt. In einigen Gefängnissen kann jeder Häftling nur einmal pro Woche und nur für fünf Minuten duschen. In Gefängnissen mit schlechten Bedingungen müssen einige Häftlinge aufgrund des Bettenmangels auf dem Boden schlafen. Oft wird das Recht der Häftlinge, fernzusehen und Radio zu hören, stark eingeschränkt. Einschränkungen bestehen auch hinsichtlich des Zuganges zu Zeitschriften und Büchern. Während regierungsfreundliche Zeitungen und Zeitschriften in den Gefängnissen erlaubt sind, sind Zeitungen, die als gegen die Regierung gerichtet gelten, nicht erlaubt. Eine weitere schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte ist laut Bericht das willkürliche Verbot der Teilnahme an Kultur- und Kunstveranstaltungen. Das Verbot gilt ausschließlich für vermeintliche Gülen-Mitglieder. Ihnen wird auch das Recht verweigert, an den im Gefängnis organisierten Kursen teilzunehmen bzw. die Sportanlagen zu benützen.
[...] Following the extensive detentions conducted after the July 15 event, the report draws attention to the fact that the majority of the rights violations are committed against those who have been detained under the accusation of "membership of a terrorist organisation".
römisch eins t has been observed that the facilities in 72 out of 80 prisons are inadequate. [...] Since the number of toilets and shower facilities were built for the ideal capacity of the prisons and because the number of detainees staying in one ward is well over that capacity, every 25-30 detainees have to share 1 toilet and 1 shower and this causes long queues. Taking into consideration, the limited availability of hot water as well, the opportunity for taking a shower is very limited. For instance, in some prisons, such as the Bandirma Type T Prison, each detainee can only take a shower once a week, and for only 5 minutes.
In prisons with poor conditions, due to the shortage of beds, some detainees have to sleep on bedding laid out on the floor.
römisch eins t is often reported that the right of detainees to watch television and listen to the radio is seriously restricted. While some prisons do not allow radio and television on the wards, the prisons that allow television and radio on the wards, allow only the channels that broadcast pro-government programmes, and the broadcast of opposition TV channels is banned by the prison administrations.
The limitations imposed on the right to follow periodicals and non- periodicals are also unusual: römisch eins t is reported that the detainees are forced to be content with only the few books available in the prison's library and they are denied the right to access books from outside. This is despite the fact that access to books is not banned by the courts. While pro- government newspapers and magazines are allowed in the prisons, the newspapers seen as opposing the government, such as Yeni Asya, are not allowed.
Another significant violation of human rights revealed in the report is the arbitrary ban imposed on participating in cultural and arts events, exclusively for those who are detained under the claim of membership to the Gulen Movement. In this regard, the detainees are not only denied the right to participate in such activities organised by the prison administrations, they are also not allowed to organise any such event themselves, either.
Apart from being banned from being involved in cultural and arts activities, these detainees are also denied the right to join the courses organised within the prison. Likewise, in most of the prisons, the detainees -a big majority of whom are those who are in custody due to claims that they are affiliated to the Gulen Movement - are not allowed to use the sports facilities in the prisons. In some prisons, however, the use of this facility is anyway very restricted. [...]
Platform Peace and Justice (18.10.2017): A Comprehensive Report On The Prison Conditions In Turkey: In Prison 2017, http://www.platformpj.org/wp-content/uploads/IN-PRISON-2017.pdf, Zugriff 19.2.2019
Die von Aktivisten in Frankreich gegründete NGO "Prison Insider" zielt darauf ab, das Bewusstsein für die Haftbedingungen zu schärfen und die Rechte und die Würde derjenigen zu wahren, denen die Freiheit entzogen wurde. Prison Insider berichtet unter Berufung auf diverse Quellen summarisch folgendes: Die Zellen sind klein und haben meist eine schlechte Belüftung. Ursprünglich für Gruppen von 20 bis 30 Personen gedacht, glichen sie einst kommunalen "Schlafsälen", sind aber mit der Zeit kleiner geworden. Das neue Modell hat eine maximale Kapazität von drei Personen, damit der Kontakt zwischen den Häftlingen begrenzt bleibt. Jede Zelle hat einen Außenhof von ca. 20m². Gefangene unter dem "allgemeinen" Haftregime haben ganztägigen Zugang. Personen mit einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe haben Zugang für eine Stunde pro Tag (in einigen Fällen bis zu vier Stunden). Die Überbelegung schränkt auch den Zugang der Häftlinge zu sanitären Einrichtungen ein.
Die Gefängnisleitung gibt drei Mahlzeiten pro Tag aus. Das in den Zellen verfügbare Leitungswasser ist nicht trinkbar, so dass die Gefangenen Wasserflaschen kaufen müssen. Häufige Beschwerden über die Qualität und Quantität der angebotenen Lebensmittel werden oft nicht beantwortet. Im Gefängnis von Silivri werden die Mahlzeiten kalt serviert und das Essen ist unzureichend. Nach Angaben der Gefängnisverwaltung ist der Nahrungsmangel auf die hohe Belegung zurückzuführen. Häftlinge ohne finanzielle Mittel leiden unter Unterernährung. Die Temperaturen sind im Sommer hoch und im Winter niedrig. In einigen Anstalten ist eine Heizung verfügbar.
In den überbelegten Anstalten haben sich die Hygienebedingungen stark verschlechtert. Die 100 Gefangenen, die in den provisorischen Gemeinschaftsschlafsälen in der Turnhalle des Gefängnisses Karabut leben, verfügen über drei Badezimmer und drei Duschen. Der schwierige Zugang zu sanitären Einrichtungen scheint ein weit verbreitetes Problem zu sein. Der Zugang zu Wasser ist je nach Institution unterschiedlich. An einigen Orten wie dem Gefängnis Bandirma (Nordwesten) ist das Wasser begrenzt. Die Gefangenen haben einmal pro Woche fünf Minuten lang Zugang zu den Duschen. Das Hochsicherheitsgefängnis Typ F in Endirne hat nur begrenzten Zugang zu Warmwasser. Das Gefängnis von Kirklareli (im Norden des Landes) ist veraltet und unhygienisch. Es ist von Ratten und Insekten befallen, und trotz mehrfacher Beschwerden haben sich die Behörden geweigert, Desinfektionsmaßnahmen zu ergreifen.
Das medizinische Personal ist unterbesetzt, insbesondere angesichts des hohen Zuwachses der Gefängnisinsassen. Der Mangel an geschultem Personal hat zu erheblichen Verletzungen der Menschenrechte von Gefangenen geführt. In Notfallsituationen ist es manchmal unmöglich, die Krankenschwester zu erreichen. Übereilte Konsultationen führen zu Fehldiagnosen. Medikamente sind kostenlos, jedoch kommt es manchmal zu langen Verzögerungen. Viele gesundheitliche Probleme sind mit den Haftbedingungen verbunden. Niedrige Temperaturen begünstigen Fälle von wiederkehrender Grippe. Unabhängig von ihrem Zustand müssen kranke Gefangene während des Appells anwesend sein.
Die meisten Zellen sind mit einem Außenhof verbunden. Dieser 40 m² große Innenhof ist von hohen Mauern umgeben und in den meisten Einrichtungen den ganzen Tag zugänglich. In einigen Einrichtungen werden sportliche Aktivitäten wie Basketball oder Volleyball organisiert. Politische Häftlinge, PKK- oder Gülen-Mitglieder haben im Gegensatz zu anderen Häftlingen keinen Zugang zu den im Gefängnis organisierten kulturellen oder sportlichen Aktivitäten. Politische Gefangene dürfen ihre Zellen nicht verlassen.
Besuche von Verwandten, getrennt durch eine Glasbarriere, finden einmal pro Woche und in einem Salon ohne Trennung einmal pro Monat statt.
Die Verwaltung verzeichnete 2017 50.348 Gefangene, die in Beschäftigung standen. Einige Häftlinge arbeiteten im gemeinnützigen Dienst, unterhielten Gemeinschaftsräume und bereiteten Mahlzeiten zu. Fremdfirmen bieten Arbeit in den Werkstätten des Unternehmens an (z.B. Textil oder landwirtschaftliche Produktion). Die Arbeitsbedingungen im Gefängnis entsprechen nicht dem Arbeitsgesetz. Arbeitstage überschreiten oft die gesetzlichen Stundenlimits und es gibt keine Beiträge zur Pensionsversicherung. Jedoch besteht eine Versicherung zur Deckung der Kosten für Arbeitsunfälle, Gesundheit und Mutterschaft.
Die Achtung vor der freien Ausübung des Gebets variiert je nach Einrichtung. Es ist in einigen Institutionen, wie Kirklareli oder Bursa Gefängnis Nr.1, vollständig erlaubt. Einige Institutionen behindern den Zugang zu religiösen Texten wie dem Koran. Die Wartezeiten für einen solchen Zugang sind lang, wie im Frauengefängnis von Duzce. Gebetsteppiche sind nicht vorhanden. Häftlinge können meist einzeln beten, aber einige Häftlinge berichten von sehr repressiven Maßnahmen gegenüber dieser Aktivität.
The cells and their equipment
The cells are communal, small, and usually have bad ventilation. Originally made for groups of 20 to 30 people, they resembled communal "dormitories" but with time have become smaller. The new model has a maximum capacity of three people in order to limit contact between inmates.
Prison overpopulation deteriorates living conditions. As of October 2017, at least 22,000 prisoners were sleeping on the floor due to lack of available beds. Sometimes prisoners take turns sleeping on the beds; some sleep during the day, others at night.
A gymnasium in the Karabuk prison had become a makeshift cell, housing about a hundred prisoners.
Upon arrival, the prison administration provides each prisoner with a mattress and a blanket. Other effects and small furniture needed on a daily basis are the prisoner's responsibility. Fridges, plastic chairs, small tables, and dressers are for sale at the prison commissary.
Each cell has an outdoor courtyard of about 20m². Prisoners under "general" confinement regime have all-day access. Those with aggravated life sentences have access to one hour per day (up to four hours in some cases).
The overpopulation also limits prisoners access to sanitary facilities. Waiting in line to use the showers and toilets is common, and time of usage is restricted.
The regime for type F high security prisons is isolation. The cells are arranged so that the prisoner never has to leave; they include a bathroom, bed, table, and chair. They are soundproof and are rarely bigger than three metres long. Prisoners don't have contact with their fellow inmates. They have access to neither books nor music.
Food
The prison administration gives out three meals a day. The tap water available in the cells is not drinkable so prisoners must buy bottles of water. Frequent complaints about the quality and quantity of food provided are often met with no response.
The authorities admit that portion sizes are calculated based on prison official capacity, and not in terms of the actual number of prisoners. Prisoners may supplement their meals with commissary products.
At the Silivri prison, meals are served cold and food is insufficient. According to prison administration, the food shortage is due to the high occupancy rate. Prisoners without financial resources suffer from malnutrition.
Breakfast at the Bafra prison consist of a piece of bread, a bit of jam (or spread), and a cup of tea. Sometimes an egg is included.
Specific dietary needs of ill prisoners are often ignored. The only special diet provided to "ill" prisoners consist of serving the same meal, but without oil or salt.
Hygiene
The prison administration does not provide personal hygiene products. Prisoners must rely on the help of their loved ones to obtain these products and can also buy them at the commissary. However, generally the products are expensive and of poor quality.
Loved ones provide clothes. All clothing items are submitted at the prison entrance under strict control and are regularly rejected. Authorities can reject, for example, a black vest.
Temperatures are high in the summer and low in the winter. A heater is available in some institutions.
Hygiene conditions are highly deteriorated in the overpopulated institutions. The 100 prisoners living in the makeshift communal dormitories in the gymnasium at the Karabut prison have three bathrooms and three showers. Difficult access to sanitation facilities seems to be a widespread issue.
Access to water varies depending on the institutions. In some places like the Bandirma prison (north-west), water is restricted. Prisoners have access to the showers once a week for five minutes. The type F high security prison in Endirne has limited access to hot water.
The Kirklareli prison (north of the country) is obsolete and unsanitary. römisch eins t is infested with harmful rats and insects and, despite multiple complaints, the authorities have refused to take extermination and disinfection measures. A private company provides maintenance of the premises. The hygiene is deemed concerning. The walls are humid and the paint is flaking. The non-isolated cells gets cold air currents at night. Prisoners stay warm by filling up plastic bottles with hot water.
Health
The Ministry of Health oversees health care in prisons. The police is in charge of transfers to hospitals. Medical personnel are understaffed particularly considering the high growth rates of the prison population. As of 2016, medical staff included:
471 health care staff (as well as 207 under contract)
675 psychologists
10 doctors
3 dentists
3 nutritionists
According to a special report on torture and mistreatment from the United Nations, at the end of 2016 only one general practitioner and one dentist was available to over 1,000 prisoners in the Diyarbakur prison. The lack of trained staff has led to considerable violations of prisoner human rights. römisch eins t is sometimes impossible to reach the nurse in emergency situations. Quick consultations lead to misdiagnoses. Medication is free however access sometimes faces lengthy delays.
Medical staff is present, on average, one to two half-days per week. Prisoners can have medical consultations once a week. Unless under extreme circumstances, prisoners must wait at least one week between appointments. Consultations with both doctors and dentists are sometimes done in handcuffs.
A doctor examines incoming inmates. No follow-up examination is done. The overpopulation is a contributing factor to disease transmission and their evolution is sometimes hard to follow.
Many health problems are linked to the detention conditions. Low temperatures favour cases of recurring flu. Regardless of their conditions, sick prisoners must be present during roll-call.
Lack of physical exercise is at the source of blood circulation problems. Cancer, heart problems, and tuberculosis are common illnesses. Individuals with HIV/AIDS are rarely identified and properly treated.
Although authorized, hospitalizations are complex in practice. The police is the referring authority on cases of hospitalization. Along with the prosecutor, they also decide on who is permitted access to visits by relatives. Some families are not allowed to visit hospitalized prisoners, even if they are in critical condition. Hospitalized prisoners are placed in designated rooms, generally located in the basement or by the mortuary. Some hospitals don't provide specific rooms to accommodate prisoners.
Platform for Peace & Justice has denounced the struggles prisoners face in order to access health care in the Kirklareli prison. Some prisoners aren't transferred to hospitals even when the doctor is the one making the request. They can, in some instances, be transferred two months later.
Activities
Most cells are connected to an outdoor yard. This 40m2 courtyard is surrounded by high walls and is accessible all day in most establishments.
Sports activities such as basketball or volleyball are organised in some establishments.
Political prisoners (members of the PKK), unlike other prisoners, do not have access to the cultural or sports activities organised in the prison. These restrictions particularly affect those accused of affiliation with the Gülen movement.
Political prisoners
Political prisoners are not permitted to leave their cells. They share a two-storey cell with five inmates. The toilets and showers are on the first floor and beds on the second. Hot water is available once a week. Cell maintenance is the inmates' responsibility and tasks are divided in turn.
Inmates can purchase products once a week by making selections from a prison provided list.
Visits with relatives, separated by a glass barrier, take place once a week, and in a parlour without separation once per month.
The typical day of a political prisoner -sharing a two-storey cell with five inmates- begins with a wake-up call at 7:30 am. Guards conduct an inmate count at 8:15 Breakfast is distributed at 8:30 am. Guards allow access to the outdoor courtyard after breakfast. Beginning at 9:00 am some prisoners organise classes, such as English. A break is scheduled at 10:30 am. Lunch is distributed at 12:00 pm and the afternoon is free until 6.30 pm. Inmates may watch television, listen to the radio, or read books and newspapers. Dinner is served at 6:30 pm. Guards close access to the outdoor courtyard at 8:15 pm. A new inmate count is conducted in the early evening and lights are switched off at midnight.
Not applicable in case of aggravated life sentence and in high security institutions, especially those of type F and D (see section "Cells")
Work
The administration recorded 50,348 prisoners who benefited from employment in 2017.
Some prisoners worked in community service, maintaining communal areas, and preparing meals. Outside companies offer work by using the establishment's workshops (for example textiles or agricultural production).
The conditions of work in prison do not comply with the labour code. Working days often exceed the legal hourly threshold and there are no contributions for retirement. Insurance exists to cover inmate accidents at work, health, and maternity expenses.
Prison wages represent an average of one quarter of the minimum wage. The remuneration varies between seven and ten Turkish lira (1. 5 -2 Euros) per day. Remuneration is paid into a registered account from which the penitentiary administration deducts a portion for management fees.
Forced labour in open prisons
Forced labour in prison is prohibited by law, however all prisoners placed in an open prison are required to work.
The director of an open prison told the CISST that prisoners are not obliged to work. Jobs would only be provided for the purpose of preparing prisoners reintegration. Prisoners from the same institution however reported having been forced to work, including on weekends, in workshops run by private companies. Prisoners are forced to work under the conditions imposed upon them, and staff threaten inmates who resist with transfer to closed prisons.
Schooling and professional training
Training in prison is the responsibility of the Ministry of Education.
In 2016, a total of 652 teachers were part of the General Directorate of Prisons and Detention Houses. There are 268 staff in integration and probation services.
Literacy courses are offered to illiterate inmates however they are not obliged to participate.
Middle school education is provided within prison facilities, and high school education is accessible via correspondence. University courses are offered on a more restricted basis,also by correspondence.
The prison administration's activity report for the year 2016 recorded the following inmate participation in education:
10,762 in literacy classes
35,647 in school and university education
386 in distance education
62,490 in vocational training
The report states that prisoners also have access to sports and cultural activities, religious education, and library activities.
Media
Internet access is prohibited in prison.
Access to books and newspapers is restricted. All documents are verified by a commission for authorisation. Access to documents in a foreign language is more restricted because the commission is often unable to control them.
Relatives are not allowed to bring books to the prison. Prisoners have access only to those available in the institution's library.
Each month, prisoners provide a list of newspapers they wish to obtain. Any materials or media considered to be opposition press, such as the Yeni Asya newspaper, are banned.
Cells are often equipped with a radio and a television,but only at the prisoner's expense. Some institutions prohibit them. Guards may confiscate these items without prior justification. The television channels and the radio stations are selected before being given to inmates and only pro-government programmes are allowed.
Religion
Respect for the free exercise of worship varies according to the establishment.
römisch eins t is fully approved in some institutions, such as Kirklareli or Bursa Prison 1.
Some institutions hinder access to religious texts such as the Quran. The wait times for such access are lengthy, as is the case in the women's prison of Duzce.
Prayer mats are not provided.
Prisoners can most often pray individually however some prisoners report heavily repressive measures on this activity.
Prison Insider (2.2018): TURKEY, Daily life, https://www.prison-insider.com/countryprofile/prisonsinturkey?s=le-quotidien#le-quotidien, Zugriff 15.2.2019
- Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu "Teilnahme an illegaler Demonstration in römisch 40 , Strafausmaß"
Gab es am 07.05.2016 tatsächlich eine Demonstration in römisch 40 aufgrund der Errichtung eines Flüchtlingslagers?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch einige Informationen gefunden. Da es sich um ein lokales Ereignis handelte, wurden mittels technischer Hilfsübersetzung auch türkischsprachige Quellen herangezogen.
Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt. Eine ausführliche Quellenbeschreibung zu einigen der verwendeten Quellen findet sich unter http://www.ecoi.net/5.unsere-quellen.htm. Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden i.d.R. nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt "Einzelquellen" näher beschrieben.
Zusammenfassung:
Laut den vorliegenden Quellen fand zum angeführten Zeitpunkt eine vom Gouverneur der Provinz Kahramanmaras untersagte Demonstration von Oppositionsgruppen in Dulkadiroglu im Distrikt römisch 40 gegen die Errichtung eines temporären Flüchtlingslagers statt. Im Zuge dessen wurden 18 Personen, darunter auch Politiker der pro-kurdischen HDP, festgenommen.
Einzelquellen:
Das türkische Nachrichtenportal Haberler.com berichtete am 7.5.2016, dass es bei einer vom Gouverneur der Provinz Kahramanmaras untersagten Demonstration in Sivricehöyük im Stadtteil Dülkadiroglu gegen die Errichtung einer Zeltstadt für Flüchtlinge, zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften kam. Im Zuge dessen wurden 18 Personen, darunter auch Politiker der pro-kurdischen HDP, festgenommen (Übersetzung mit technischen Hilfen).
Çadir Kent Gerginligi
GÖRÜNTÜ DÖKÜMÜ : Güvenlik güçlerinin göstericilere müdahalesi Göstericiler tarafindan yakilan çadir TOMA'nin yanan çadira müdahalesi Kahramanmaras'taki çadir kent gerginligi Güvenlik güçlerine direnen ve aralarinda HDP Parti Meclisi üyesi Aydinlar'in da bulundugu 18 kisi gözaltina alindi Güvenlik güçleri, Kahramanmaras'taki çadir kent çalismalarina tepki gösteren bir gruba müdahale etti. [...]
Güvenlik güçlerinin göstericilere müdahalesi Göstericiler tarafindan yakilan çadir TOMA'nin yanan çadira müdahalesi Kahramanmaras'taki çadir kent gerginligi Güvenlik güçlerine direnen ve aralarinda HDP Parti Meclisi üyesi Aydinlar'in da bulundugu 18 kisi gözaltina alindi Güvenlik güçleri, Kahramanmaras'taki çadir kent çalismalarina tepki gösteren bir gruba müdahale etti. Alinan bilgiye göre, merkez Dülkadiroglu ilçesindeki Sivricehöyük Mahallesi'nde 25 bin kisilik çadir kent kurulmasi çalismalarini protesto etmek isteyen bir grup, mahalleye eylem çadiri kurdu. Güvenlik güçlerinin müdahalesine tepki gösteren gruptakilerden bazilari, kurduklari eylem çadirini atese verdi. Çikan yangin TOMA araciyla söndürüldü. Kurulan çadiri kaldirmak isteyen güvenlik güçlerine engel olan ve aralarinda HDP Parti Meclisi üyesi ve halk müzigi sanatçisi Pinar Aydinlar'in da bulundugu 18 kisi gözaltina alindi. Kahramanmaras Valiligi, römisch 40 Mahallesi sinirlari içerisinde devam eden geçici barinma merkeziyle ilgili her türlü eylem ve basin açiklamasini güvenlik gerekçesiyle bir ay boyunca yasaklamisti.
Haberler.com (7.5.2016): Çadir Kent Gerginligi, https://www.haberler.com/cadir-kent-gerginligi-8417792-haberi/, Zugriff 26.2.2019 [Übersetzung mittels Google Translate]
Die Provinzzeitung "Kahramanmaras Manset Gazeti" berichtete am 6.5.2016 vom Verbot der angekündigten Demonstration gegen das geplante Flüchtlingslager in Sivricehöyük, mit der Begründung, dass radikale Gruppen Gewalt anwenden könnten (Übersetzung mit technischen Hilfen).
Ülkelerindeki iç savastan kaçarak Kahramanmaras'a gelen Suriye uyruklu misafirler için Dulkadiroglu ilçesi römisch 40 Mahallesi sinirlari içerisine yapilmasi planlanan ve insasina baslanan geçici barinma merkezinin yapilmasina karsit provokasyonlar Valilik tarafindan yasaklandi.
Kahramanmaras'in Dulkadiroglu IlçesiSivricehüyük Mahallesi'ne 25 bin kisi kapasiteli yapilmasi planlanan ve insasina baslanilan geçici barinma merkezinin kurulmasina yönelik karsit gruplarin protesto amaçli herhangi bir eylem yapmasi Kahramanmaras Valiligi, tarafindan yayimlanan bir yazi ile yasaklandigi duyuruldu. Karsit gruplarin protestosuna yönelik yayimlanan yazida su ifadelere yer verildi: "Planlanan ve yapimina karsi çikan bazi siyasi olusumlar, dernek, platform ve marjinal gruplar tarafindan çesitli etkinliklerin yapildigi ve yapilmaya çalisildigi bilinmektedir. Alinan istihbari bilgiler, sosyal aglar üzerinde yapilan paylasimlar, geçmis yillarda ilimizde yasanan müessif olaylar ile terör örgütü yöneticilerinin yapmis olduklari açiklamalar göz önünde bulunduruldugunda, yapilacak her türlü eylem ve etkinliklerin marjinal gruplarca provoke edilebilecegi, yasadisi örgütlerce olaylarin propaganda malzemesi olarak kullanilabilecegi, eylemler sirasinda gösterici gruplarin arasina sizabilecek illegal örgütlere mensup kisilerce güvenlik kuvvetlerine karsi tasli, sopali, molotoflu, el yapimi bombali ve silahli saldirilar gerçeklestirilebilecegi ve vatandaslarimizin hassasiyetlerini istismar etmeye çalisan gruplar tarafindan mezhepsel bir çatisma ortami yaratilmaya çalisilabilecegi degerlendirilmektedir. Cumhuriyetin Temel Nitelikleri, Devletin Ülkesi ve Milletin bölünmez bütünlügü ile baskalarinin hak ve özgürlüklerinin engellenmemesi, milli güvenlik, kamu düzeni, suç islenmesinin önlenmesi ve baskalarinin hak ve özgürlüklerinin korunmasi amaciyla 06.05.2016 tarihinden 05.06.2016 tarihine kadar il genelinde Sivricehüyük mahallesinde yapilan Geçici Barinma Merkezini protesto amaçli her türlü toplanma, basin açiklamasi, toplanti, gösteri yürüyüsü, miting, oturma eylemi, stand açma, çadir kurma vb. etkinlikleri yasaklanmasi Valiligimizce uygun görülmüstür."
Kahramanmaras Manset Gazetesi (6.5.2016): römisch 40 provokasyonlari yasaklandi, http://www.marasmanset.com/guncel/sivricehuyuk-provokasyonlari-yasaklandi-h5149.html, Zugriff 26.2.2019 [Übersetzung mittels Google Translate]
Ende Dezember 2016 berichtete das englischsprachige Webportal der türkischen Zeitung "Hürriyet Daily News", dass der Gouverneur von Kahramanmaras das Demonstrationsverbot gegen die Errichtung eines Container-Dorfes für 25.000 syrische Flüchtlinge aus Sicherheitsgründen zum neunten Male verlängert hat. Der Bau des Lagers hat großen Widerstand bei den Einheimischen hervorgerufen, die Angst vor einer Wiederbelebung ethno-religiöser Spannungen haben. Die Bewohner befürchteten zudem die Ankunft von [sunnitischen] Dschihadisten unter den syrischen Flüchtlingen, und dies in einer historisch sensiblen Region, in der überwiegend Aleviten leben.
The Kahramanmaras Governor's Office announced on Dec. 26 that it had extended a ban on protests over the construction of a container city for around 25,000 Syrian refugees near predominantly Alevi-populated villages for the ninth time, citing security concerns.
The governor's office in the southern province said in a statement that there had been attempts to bring the issue to the agenda illegally since March, leading authorities to extend the ban until Jan. 27, 2017.
"Considering the intelligence, social media posts, regrettable events in our province in the past and the instruction of illegal actions by leaders of the terror organization, it has been evaluated that any kind of action could be provoked by marginal groups, events could be used as a propaganda tool by illegal organizations, illegal organization members could infiltrate demonstrating groups and they could stage attacks on security forces with stones, sticks, Molotov cocktails, hand-made explosives and arms and there could be attempts to create a conflict environment within society," the governor's office said in a statement.
"It has been deemed appropriate to ban activities of any kind of gathering, press statement, demonstrations, sit-ins, stands and tents to protest the temporary accommodation center in the römisch 40 neighborhood between Dec. 29 and Jan. 27, 2017," it said.
The construction of the camp has drawn widespread resistance from locals, who are fearful of a rekindling of ethno-religious tensions with the potential arrival of extremists to a historically sensitive region that is home to 24 predominantly Alevi villages.
In May, three experts charged with assessing plans to build the container city also advised against the construction.
Through 1978 and 1980, in the run up to the Sept. 12, 1980 military coup d'état, Alevis were subjected to mass killings not only in Kahramanmaras, then called Maras, but also in Sivas and Çorum by ultranationalist groups.
An appeal by villagers for an "urgent stay of execution" for the container city plan was already filed at an administrative court, with locals citing fears that "Syrian jihadists" would be settled nearby.
Hürriyet Daily News (26.12.2016): Officials extend protest ban on refugee camp construction in Kahramanmaras over security concerns, http://www.hurriyetdailynews.com/officials-extend-protest-ban-on-refugee-camp-construction-in- römisch 40 -over-security-concerns-107775, Zugriff 26.2.2019
Gibt es unter den beschuldigten Demonstranten bereits Gerichtsurteile?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch keine Informationen gefunden. Eine Suche nach den türkischen Begriffen: "Pinar Aydinlar", "Sivricehöyük", "Dülkadiroglu", sowie "mahkeme davasi" [Gerichtsprozess], brachte ebenfalls keine Ergebnisse.
Kann recherchiert werden, mit welcher Strafe bei der bloßen Anwesenheit einer illegalen Demonstration zu rechnen ist?
Kann recherchiert werden, ob mit einer unbedingten Haftstrafe zu rechnen ist?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Deutsch und Englisch Informationen gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt.
Um die Frage nach den Rechtsfolgen umfassend beantworten zu können, wurde die Anfrage auch an eine externe Stelle übermittelt. Eine Quellenbeschreibung zu den Verbindungsbeamten des BM.I (VB) findet sich auf dem Quellenblatt der Staatendokumentation auf www.staatendokumentation.at sowie in der dort ersichtlichen Methodologie der Staatendokumentation.
Zusammenfassung:
Den nachfolgenden Quellen ist zu entnehmen, dass der Strafrahmen bei der bloßen Anwesenheit bei einer illegalen Kundgebung zwischen einem und fünf Jahren liegt. Über die Höhe und Bedingtheit bzw. Unbedingtheit der Strafe entscheidet der Richter.
Einzelquellen:
Auskunft des VB des BM.I:
[...]
Laut Auskunft eines befreundeten Anwalts liegt der Strafrahmen bei der bloßen Anwesenheit bei einer illegalen Kundgebung zwischen 1 und 5 Jahren Freiheitsstrafe. Über das Strafausmaß und Art der verhängten Strafe (bedingt oder unbedingt) wird jeweils im Einzelfall entschieden. [...]
VB des BM.I für die Türkei (12.3.2019), Auskunft, per E-Mail
Das türkische Versammlungsgesetz sieht unterschiedliche Strafausmaße vor, abhängig davon, ob die Person einfacher Teilnehmer an der Demonstration oder verantwortlicher Organisator war, ob es zu Gewalt kam oder eine Verbindung zu anderen Straftatbeständen vorliegt. Im Gesetzestext wird die Kategorie der Personen, die lediglich teilgenommen haben, also keine Organisatoren sind nicht explizit genannt.
[...]
CHAPTER SEVEN
Criminal Provisions
Acting contrary to prohibitions
Article 28- (Amended on 23/1/2008-5728/422)
Persons who organize or manage an unlawful assembly or demonstration and participate in their activities shall be sentenced from one year and six months to three years of imprisonment, providing that the act does not constitute another crime which would necessitate a heavier penalty.
In case that persons shown as members of organizing board in the notification to be submitted in accordance with Article 10, do not hold the qualities in Article 9 and despite that fact the assembly or demonstration is still made, they shall be sentenced to up to one year of imprisonment.
Members of the organizing board who have not fulfilled the tasks written under Articles 11 and 12 shall be sentenced from six months to two years of imprisonment.
Persons who use force and violence or threaten or exert influence over and bodily harm security forces or officers who are tasked with detecting assembly or demonstration through technical tools and means shall be sentenced to imprisonment from two years up to five years, unless their acts necessitate a heavier penalty.
Persons who hinder the assembly or demonstration
Article 29- Persons who hinder the assembly or demonstration or violate the assembly or demonstration through arrangements which will not allow conducting the rest of the gathering shall be sentenced to imprisonment from nine months to one year and six month, unless the act constitutes another crime which would necessitate a heavier penalty.
Persons disturbing the peace and tranquility
Article 30- Persons who make threats, insults, attacks or displays resistant behavior in order to disturb the peace or tranquility during an assembly or demonstration or who disturb the peace and tranquility through other means shall be imprisoned for a term from one year and six months to three years, unless the act constitutes another crime which necessitates a heavier penalty.
Illegal means of propaganda and incitement to commit crimes
Article 31- Persons who prepare, print or use to propagandize the written means of propaganda which are stated under Article 26 and which do not carry the first, last names and signatures of the chairman and at least six members of the organizing board or who do not obey the prohibitions and conditions under Article 26 through other means shall be imprisoned for a term from six months to one year.
In the event that such means of propaganda have writing, pictures or signs encouraging and inciting people to commit crimes or other instruments are utilized to that end, the perpetrators shall be imprisoned for a term from one year and six months to three years, unless the act constitutes another crime which necessitates a heavier penalty.
In the event that a crime is committed due to encouragement and incitement to crime or that a person attempts to commit a crime, those who have encouraged or incited them shall be imprisoned for a term from three years to five years, unless the act constitutes another crime which necessitates a heavier penalty.
Article 32- (Amended on 22/7/2010-6008/1)
In case that persons who participate in unlawful assembly or demonstrations resist despite the warning or use of force, they shall be imprisoned for a term from six months to three years. In case that those who organized the assembly or demonstration commit this crime, the penalty to be imposed under this paragraph shall be increased by half.
In the event that despite the officers' warning or use of force, law enforcement officers face a resistance through violence or threats, perpetrators shall also be sentenced due to the crime defined under Article 265 of the Turkish Penal Code dated 26/9/2004 No. 5237 .
In the event that an assembly or demonstration is dispersed without the existence of circumstances defined under Article 23 and by exceeding the scope of authority and non-compliance of the Article 24, penalties envisaged for those who committed the crimes in the paragraphs above may be reduced by up to one fourth or may be renounced.
Participating in assemblies and demonstrations with arms
Article 33- (Amended on 22/7/2010 - 6008/2)
(Amended first paragraph: 27/3/2015-6638/8) Participants of assemblies or demonstrations;
1. who carry firearms or fireworks, molotov cocktails or similar explosives including those of handmade, any sharp, penetrating instruments or stone, club, iron and rubber bars, strangling wire or chain, injuring and strangling tools such as iron balls and catapult or burning, erosive, wounding drugs or any poison or fume, gas and similar substances or who cover their faces partly or completely with clothes and other objects to conceal their identities shall be imprisoned for a term from two years and six months to four years,
2. who carry signs or symbols of illegal organizations or communities or wear clothes reminiscent of uniforms with such signs and symbols and who carry banners, placards, sign boards, pictures, tools and instruments with content being considered crime by laws or chant slogans of that kind or record the assembly or demonstration by sound equipment shall be imprisoned for a term from six months to three years.
In the event that an assembly or demonstration is against the law and there is resistance to dispersal, penalties shall be imposed in accordance with provisions in Article 32.
Instigators and accomplices
Article 34- In the event that the assembly or demonstration is not made or made but dispersed following the first command and warning, those acting against the prohibition under Article 27 shall be imprisoned for a term from one year and six months to four years, unless the act constitutes another crime which necessitates a heavier penalty; in case the assembly or demonstration is dispersed forcefully they shall be imprisoned from three years to five years.
Provision which will not be enforced for minors
Article 34/A- (Added on 22/7/2010 - 6008/3)
In terms of minors who committed the crime of resistance by participating in unlawful assemblies or demonstrations or the crime of making propaganda during assemblies or demonstrations, the second paragraph of Article 2 of Anti-Terrorism Law No. 3713 shall not be enforced. [...]
Judiciary of Turkey (13.7.2017): Law On Assemblies And Demonstrations [Law No: 2911 vom 6.10.1983], http://www.judiciaryofturkey.gov.tr/Law-on-Assemblies-and-Demonstrations-is-available-on-our-website, Zugriff 12.3.2019
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person der bP:
Die Identität der bP konnte aufgrund der Vorlage eines türkischen Personalausweises im Original festgestellt werden.
Die sonstigen die bP betreffenden Feststellungen ergeben sich aus ihren im Verfahren diesbezüglichen Angaben, den im Verfahrensakt aufliegenden Unterlagen und den Darlegungen in der Beschwerde. Die Feststellungen zur bP wurden im Verfahren nicht bestritten.
2.2. Zu den Gründen für die Erlassung eines Einreiseverbotes:
Das entscheidende Urteil liegt dem Verwaltungsakt auf. Die rechtswidrige Einreise mittels gefälschtem Reisepass ist im Verfahren nicht bestritten.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus den von der belangten Behörde herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen, die auch dem Bundesverwaltungsgericht vorliegen. Zur Sicherstellung der notwendigen Ausgewogenheit in der Darstellung wurden Berichte verschiedenster allgemein anerkannter Institutionen berücksichtigt. In Anbetracht der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild zeichnen, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Die bP ist den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat in ihrer Beschwerde auch nicht entgegengetreten, sodass diese auch dem gegenständlichen Erkenntnis zugrunde gelegt werden konnten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
1. Zu Spruchpunkt römisch IV. des Bescheides - Rückkehrentscheidung:
1.1. Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG sowie gem. Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Daher ist gegenständlich die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zu prüfen.
1.2. Gemäß Paragraph 52, FPG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:
Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG lautet:
(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraph 45, oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.
Artikel 8, EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.
(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."
Für die Beurteilung ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Artikel 8, EMRK vorliegt sind nach der höchstgerichtlichen Judikatur insbesondere nachfolgende Umstände beachtlich:
Privatleben
Nach der Rechtsprechung des EGMR vergleiche aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Rückkehrentscheidungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen vergleiche dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vergleiche dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
Bei der Schutzwürdigkeit des Privatlebens manifestiert sich der Grad der Integration des Fremden insbesondere an intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen vergleiche EGMR 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554; vergleiche auch VwGH 5.7.2005, 2004/21/0124; 11.10.2005, 2002/21/0124).
Familienleben
Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben;
das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00); etwa bei Zutreffen anderer Faktoren aus denen sich ergibt, dass eine Beziehung genügend Konstanz aufweist, um de facto familiäre Bindungen zu erzeugen: zB Natur und Dauer der Beziehung der Eltern und insbesondere, ob sie geplant haben ein gemeinsames Kind zu haben; ob der Vater das Kind als eigenes anerkannt hat; ob Unterhaltszahlungen für die Pflege und Erziehung des Kindes geleistet wurden; und die Intensität und Regelmäßigkeit des Umgangs (EGMR v. 8.1.2009, Zl 10606/07, Fall Grant gg. Vereinigtes Königreich).
Kinder werden erst vom Moment ihrer Geburt an rechtlich Teil der Familie. Zu noch ungeborenen Kindern liegt somit bis dahin (noch) kein schützenswertes Familienleben iSd Artikel 8, EMRK vor vergleiche zB VfGH 24.02.2003, B 1670/01; EGMR 19.02.1996, GÜL vs Switzerland).
Der Begriff des Familienlebens ist jedoch nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere "de facto Beziehungen" ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, römisch zehn ua).
Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nur dann unter den Schutz des Artikel 8, Absatz eins, EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen vergleiche dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22. August 2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29. März 2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479).
Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Artikel 8, EMRK Rz 76).
Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind Beziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die wegen des Fehlens von über die üblichen Bindungen hinausgehenden Merkmalen der Abhängigkeit nicht (mehr) unter den Begriff des Familienlebens fallen, unter den Begriff des ebenfalls von Artikel 8, Absatz eins, EMRK geschützten Privatlebens zu subsumieren (VwGH 21.4.2011, 2011/01/0093-7 [vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 9. Oktober 2003, Slivenko gegen Lettland, Beschwerde Nr. 48321/99, Randnr. 97, vom 15. Juni 2006, Shevanova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 58822/00, Randnr. 67, vom 22. Juni 2006, Kaftailova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 59643/00, Randnr. 63, und vom 12. Jänner 2010, A.W. Khan gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 47486/06, Randnr. 31 ff]).
Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, 97/21/0778; 26.6.2007, 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine "hinreichend starke Nahebeziehung" besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung vergleiche VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Artikel 8, EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.
Ist von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen, greift sie lediglich in das Privatleben der Familienmitglieder und nicht auch in ihr Familienleben ein; auch dann, wenn sich einige Familienmitglieder der Abschiebung durch Untertauchen entziehen (EGMR im Fall Cruz Varas gegen Schweden). In diesen Fällen ist nach der Judikatur des EGMR der Eingriff in das Privatleben gegebenenfalls separat zu prüfen (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK, ÖJZ 2007/74, 856 mwN).
Der Begriff des "Familienlebens" in Artikel 8, EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt vergleiche dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Artikel 8 ;, Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vergleiche auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Artikel 8, EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X- römisch 40 , EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt vergleiche Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Die bP hat gegenständlich keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich, jedoch möchte sie ihre Zukunft offenbar in Österreich verbringen. Sie ist erst eine relativ kurze Zeit in Österreich aufhältig. Aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich ist von privaten Anknüpfungspunkten auszugehen, weshalb es diesbezüglich einer Abwägung gem. Artikel 8, Absatz 2, EMRK bedarf.
3.1. Die bP verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte. Sie verfügt über Familienangehörige sowohl in der römisch 40 , als auch in Kanada und in der Türkei. Ihre Kernfamilie (Eltern und Geschwister) lebt in der römisch 40 . Eine Nichte und eine Schwester leben in Deutschland. Zwei Cousinen leben in Istanbul bzw. Ankara und sind verheiratet. Die Ehegatten ihrer Cousinen sind als Koch und Ingenieur für Maschinenbau beschäftigt und geht es diesen gut. Wie in der Beschwerde dargelegt, leben lediglich die Verwandten des Ehegatten ihrer Nichte in Österreich, zu welchen reger Kontakt besteht. Ein besonderes Naheverhältnis oder ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen in irgendeiner Weise wurde selbst in der Beschwerde nicht dargetan. Die bP hält sich erst einen relativ kurzen Zeitraum in Österreich auf, wobei zudem zu berücksichtigen ist, dass die bP illegal in Österreich einreiste und zu diesem Zweck einen gefälschten Reisepass verwendete. Sie legalisierte ihren Aufenthalt nach ihrer Einreise nur durch Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz. Eine sonstige Aufenthaltsberechtigung im österreichischen Bundesgebiet kam ihr bislang nicht zu. Derzeit ist die bP in Österreich gem. Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer 2, FPG geduldet, weil ihre Abschiebung derzeit unzulässig ist.
Sonstige integrative Schritte der bP wurden im Verfahren nicht dargetan. Vielmehr bezieht die bP Mittel aus der österreichischen Grundversorgung.
Die bP wurde im römisch 40 Bundesgebiet wegen Mordes und schweren Raubes zu 16 Jahren Strafhaft verurteilt und wurde ein schengenweites Einreiseverbot gegen sie ausgeschrieben, gültig bis 31.12.2099, welches sie mittels gefälschten Reisepass übergangen hat, wodurch sie in Österreich einreisen konnte.
Zum Zeitpunkt liegen in Österreich keine rechtskräftigen Verurteilungen vor, jedoch wurde die bP aufgrund der Totalfälschung ihres vorgelegten Reisepasses bereits zur Anzeige gebracht.
In Bezug auf die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen insb. im Bereich des Aufenthaltsrechtes geht der EGMR davon aus, dass die Konvention kein Recht auf Aufenthalt in einem bestimmten Staat garantiert. Der EGMR erkennt in stRsp weiters, dass die Konventionsstaaten nach völkerrechtlichen Bestimmungen berechtigt sind, Einreise, Rückkehrentscheidung und Aufenthalt von Fremden ihrer Kontrolle zu unterwerfen, soweit ihre vertraglichen Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen vergleiche uva. zB. Urteil Vilvarajah/GB, A/215 Paragraph 102, = NL 92/1/07 und NL 92/1/27f.).
Rechtskräftige Verurteilungen stellen eine gewichtige Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen dar (z. B. Erk. d. VwGH vom 27.2.2007, 2006/21/0164, mwN, wo dieser zum wiederholten Male klarstellt, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Verurteilung den öffentlichen Interessen im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK eine besondere Gewichtung zukommen lässt).
Diesbezüglich ist auf das Gesamtverhalten aus fremdenpolizeilicher Sicht ein besonderes Augenmerk zu legen. Es wird dahingehen auf die obigen Ausführungen verwiesen, wonach die bP wegen Mordes und qualifizierten Raubes vom Obergericht des römisch 40 zu 16 Jahren Haftstrafe verurteilt wurde. Nach Österreich reiste die bP ein, da in der Türkei ein Strafverfahren gegen sie anhängig ist. Zu diesem Zweck umging sie das Einreiseverbot nach Österreich unter Verwendung eines gefälschten Reisepasses. In Bezug auf das Gesamtverhalten ist somit festzustellen, dass die bP wiederholt von strafbaren Handlungen nicht zurückschreckte. Dies auch nicht nach ihrer Haftentlassung.
Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist auch für das wirtschaftliche Wohl des Landes vergleiche zB EGMR 31.7.2008, Darren Omoregie u.a. gg. Norwegen) von besonderer Bedeutung, da diese sowohl für den geordneten Arbeitsmarkt als auch für das Sozial- und Gesundheitssystem erhebliche Auswirkung hat. Es kam nicht hervor, dass die bP selbsterhaltungsfähig ist, vielmehr bezieht sie Leistungen aus der Grundversorgung.
Eine starke Integration im privaten Bereich kam nicht hervor, wobei selbst Umstände, dass der Fremde einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat und er der deutschen Sprache mächtig ist, seine persönlichen Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht maßgeblich verstärken könnten vergleiche VwGH 26.11.2009, 2007/18/0311; 29.6.2010, 2010/18/0226).
Insgesamt ist dem BFA nicht entgegen zu treten, wenn es zu dem Schluss kam, dass eine Interessensabwägung im Sinne des Artikel 8, EMRK ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, dem wirtschaftlichen Wohl und somit einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf die bP gegenüber dem Interesse der bP daran, in Österreich zu leben, überwiegt.
Es erfolgte daher zu Recht die Erlassung einer Rückkehrentscheidung.
2. Zu Spruchpunkt römisch fünf. und römisch VIII. des Bescheides - Aberkennung der aufschiebenden Wirkung / Keine Frist für die freiwillige Ausreise:
2.1. Das BFA hat von seinem Ermessen Gebrauch gemacht und gem. Paragraph 18, Absatz eins, Ziffer 2, BFA-VG, weil schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Asylwerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde aberkannt. Das BFA begründete dies damit, da die bP im römisch 40 Bundesgebiet aufgrund ihrer Verurteilung wegen Mordes und schweren Raubes zu einer Haftstrafe von 16 Jahren verurteilt wurde und somit eine negative Zukunftsprognose für die bP festgestellt werde.
Darüber hinaus hat sie die österreichischen Behörden bewusst zu täuschen versucht, indem sie sich bei ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet mit einem total gefälschten Reisepass ausgewiesen hat, da sie jedenfalls gewusst habe, dass man ihr bei der Vorlage ihres Originalreisepasses eine Einreise jedenfalls verwehren würde. Die Tatsache, dass man ihr die Einreise in das Bundesgebiet unter Vorlage ihrer Originaldokumente nicht gewährt hätte, resultiere aus ihrem unbefristeten Aufenthalts- bzw. Einreiseverbot, welches am 08.04.2013 vom römisch 40 ausgesprochen wurde. Somit wurde gegen die bP bereits vor der Stellung ihres Antrags auf internationalen Schutz ein schengenweites Einreise- bzw. Aufenthaltsverbot erlassen und ist sie diesem zu trotz mittels gefälschtem Reisepass in Österreich eingereist. Ihrer Behauptung, gedacht zu haben, dass dieses Einreiseverbot nur für die römisch 40 gelte, wurde kein Glauben geschenkt, da sie im Zuge ihrer Einvernahme vor dem BFA selbst angab, mit einem gefälschten Reisepass in das Bundesgebiet eingereist zu sein, da sie mit ihrem Originalen nicht einreisen hätte können. Wäre sie tatsächlich der Überzeugung gewesen, dass das Einreiseverbot nur für die römisch 40 gelte, hätte sie es keinesfalls für nötig empfunden, sich für die Reise nach Österreich einen gefälschten Reisepass zu beschaffen.
Diesen Ausführungen wird seitens des BVwG zugestimmt. Zudem wird auf die obigen Ausführungen in Bezug auf das Gesamtverhalten der bP verwiesen, was ebenfalls die Entscheidung durch das BFA stütz. Überdies liegt in Bezug auf die bP ein Asylausschlussgrund vor, weshalb insgesamt die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung zu Recht erfolgte.
2.2. Paragraph 55, FPG:
2.1. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, wird zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchführbar wird.
(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.
(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. Paragraph 37, AVG gilt.
(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG aberkannt wurde.
(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Absatz eins, ist mit Mandatsbescheid (Paragraph 57, AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.
2.3. Da die gegenständliche Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchgeführt wurde, war dem zufolge keine Frist für eine freiwillige Ausreise zu gewähren.
Es war daher die Entscheidungen des BFA im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde somit hinsichtlich Spruchpunkt römisch fünf. abzuweisen.
3. Zu Spruchpunkt römisch VII - Einreiseverbot:
3.1. Einreiseverbot Paragraph 53, FPG
(1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Anmerkung, Absatz eins a, aufgehoben durch Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 68 aus 2013,)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist, vorbehaltlich des Absatz 3,, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß Paragraph 20, Absatz 2, der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, in Verbindung mit Paragraph 26, Absatz 3, des Führerscheingesetzes (FSG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 120 aus 1997,, gemäß Paragraph 99, Absatz eins,, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß Paragraph 37, Absatz 3, oder 4 FSG, gemäß Paragraph 366, Absatz eins, Ziffer eins, der Gewerbeordnung 1994 (GewO), Bundesgesetzblatt Nr. 194, in Bezug auf ein bewilligungspflichtiges, gebundenes Gewerbe, gemäß den Paragraphen 81, oder 82 des SPG, gemäß den Paragraphen 9, oder 14 in Verbindung mit Paragraph 19, des Versammlungsgesetzes 1953, Bundesgesetzblatt Nr. 98, oder wegen einer Übertretung des Grenzkontrollgesetzes, des Meldegesetzes, des Gefahrengutbeförderungsgesetzes oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist;
2. wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens 1 000 Euro oder primären Freiheitsstrafe rechtskräftig bestraft wurde;
3. wegen einer Übertretung dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft worden ist, sofern es sich dabei nicht um eine in Absatz 3, genannte Übertretung handelt;
4. wegen vorsätzlich begangener Finanzvergehen oder wegen vorsätzlich begangener Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden ist;
5. wegen eines Verstoßes gegen die Vorschriften, mit denen die Prostitution geregelt ist, rechtskräftig bestraft worden ist;
6. den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag;
7. bei einer Beschäftigung betreten wird, die er nach dem AuslBG nicht ausüben hätte dürfen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige hätte nach den Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes für denselben Dienstgeber eine andere Beschäftigung ausüben dürfen und für die Beschäftigung, bei der der Drittstaatsangehörige betreten wurde, wäre keine Zweckänderung erforderlich oder eine Zweckänderung zulässig gewesen;
8. eine Ehe geschlossen oder eine eingetragene Partnerschaft begründet hat und sich für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, zwecks Zugangs zum heimischen Arbeitsmarkt oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen, aber mit dem Ehegatten oder eingetragenen Partner ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Artikel 8, EMRK nicht geführt hat oder
9. an Kindes statt angenommen wurde und die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, der Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft, der Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt oder die Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausschließlicher oder vorwiegender Grund für die Annahme an Kindes statt war, er jedoch das Gericht über die wahren Verhältnisse zu den Wahleltern getäuscht hat.
(3) Ein Einreiseverbot gemäß Absatz eins, ist für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Ziffer 5 bis 8 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn
1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;
2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;
3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;
4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;
5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;
6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (Paragraph 278 a, StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (Paragraph 278 b, StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (Paragraph 278 c, StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (Paragraph 278 d, StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (Paragraph 278 e, StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (Paragraph 278 f, StGB);
7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet oder
8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt.
(4) Die Frist des Einreiseverbotes beginnt mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen.
(5) Eine gemäß Absatz 3, maßgebliche Verurteilung liegt nicht vor, wenn sie bereits getilgt ist. Paragraph 73, StGB gilt.
(6) Einer Verurteilung nach Absatz 3, Ziffer eins,, 2 und 5 ist eine von einem Gericht veranlasste Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gleichzuhalten, wenn die Tat unter Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes begangen wurde, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 15.12.2011, Zahl 2011/21/0237, zur Rechtslage vor dem FPG idgF (in Kraft seit 01.01.2014) erwogen, dass bei der Festsetzung der Dauer des Einreiseverbotes nach dem FrÄG 2011 eine Einzelfallprüfung vorzunehmen vergleiche ErläutRV, 1078 BlgNR 24. Gesetzgebungsperiode 29 ff und Artikel 11, Absatz 2, Rückführungs-RL) sei. Dabei hat die Behörde das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen und zu berücksichtigen, ob (bzw. inwieweit über die im unrechtmäßigen Aufenthalt als solchen zu erblickende Störung der öffentlichen Ordnung hinaus) der (weitere) Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Artikel 8, Absatz 2, MRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Eine derartige Gefährdung ist nach der Gesetzessystematik insbesondere in den Fällen der Ziffer eins bis 9 des Paragraph 53, Absatz 2, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 anzunehmen.
In den Fällen des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer eins bis 8 FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert, was dann die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren und, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinne der Ziffer 5 bis 8 vor, von unbefristeter Dauer ermöglicht. Zudem ist festzuhalten, dass - wie schon nach bisheriger Rechtslage vergleiche VwGH 20.11.2008, 2008/21/0603) - in Bezug auf strafgerichtliche Verurteilungen nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern immer auf das zugrunde liegende Verhalten (arg.: Einzelfallprüfung) abzustellen ist. Maßgeblich sind Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild; darauf kommt es bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots an.
Paragraph 53, Absatz 3, FPG idgF hat im Vergleich zur Rechtslage vor dem 01.01.2014 keine inhaltliche Änderung erfahren. Daraus ist zu schließen, dass auch in Bezug auf die vom VwGH statuierten (obgenannten) Kriterien, die bei der Verhängung des Einreiseverbots und seiner Dauer zur Anwendung gelangen sollen, kein Wandel stattgefunden hat. Aus diesem Grund erachtet das Bundesverwaltungsgericht diese auch nach wie vor als anwendbar. Bei der Stellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in Paragraph 53, Absatz 3, FrPolG 2005 in der Fassung FrÄG 2011 umschriebene Annahme gerechtfertigt ist (VwGH 2012/18/0230, 19.02.2013)
1.2. Das BFA verhängte gem. Paragraph 53, Absatz eins, in Verbindung mit Absatz 3, Ziffer 5, FPG ein unbefristetes Einreiseverbot gegen die bP.
Begründend legte das BFA folgend dar:
"Sie wurden mit Strafurteil vom 30. November 2006, welches am 20. Februar 2008 in Rechtskraft erwuchs, wegen Mordes und schweren Raubes zu einer Haftstrafe von 16 Jahren verurteilt. Darüber hinaus darf diesbezüglich weiters erwähnt werden, dass Sie es, gemeinsam mit Ihren Freunden, über mehrere Tage geplant hatten, den von Ihnen ermordeten, alten Mann in dessen Haus zu bestehlen und Sie keine Skrupel dabei hatten, auf Ihr wehrloses Opfer, nachdem es Ihnen trotz massiver Schläge und lautstarkem Anschreien, sowie der Bedrohung durch Ihre Pistole nicht gelungen war, das Opfer zur Herausgabe des geforderten Geldes zu bewegen, zwei Schüsse abzugeben, wovon der Ermordete aufgrund des Treffers im Bereich des Brustkorbs verblutet war. Aufgrund der Tatsache, dass Sie Ihrem Opfer aus kurzer Distanz in den Brustbereich geschossen hatten, war davon auszugehen, dass Sie vorsätzlich gehandelt hatten, sowie war weiters im Strafurteil zu erkennen, dass Sie alle Tatbestandsmerkmale einer besonders skrupellosen Tötung und des Mordtatbestandes erfüllt hatten. Auch zeigten Sie im Rahmen Ihres Gerichtsverfahrens laut des sich im Akt befindlichen Strafurteils weder Reue noch Einsicht und ist mit erheblicher Rückfallgefahr Ihrer Person zu rechnen.
Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens ist unter Bedachtnahme auf Ihr Gesamtverhalten, d.h. im Hinblick darauf, wie Sie Ihr Leben in Österreich insgesamt gestalten, davon auszugehen, dass die im Gesetz umschriebene Annahme, dass Sie eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen, gerechtfertigt ist.
Bei der Bemessung des Einreiseverbotes, kann sich die Behörde nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen zurückziehen, sondern ist insbesondere auch die Intensität der privaten und familiären Bindungen zu Österreich einzubeziehen (VwgH 7.11.2012, 2012/18/0057).
Wie bereits zur Frage der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ausführlich geprüft und festgestellt, sind Ihre familiären und privaten Anknüpfungspunkte in Österreich nicht dergestalt, dass sie einen Verbleib in Österreich rechtfertigen würden. Die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verletzt in Ihrem Fall Artikel 8, EMRK nicht. Es muss daher, unter Berücksichtigung des in Paragraph 53, Absatz 3, genannten Tatbestandes ebenso davon ausgegangen werden, dass das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit Ihrem persönlichen Interesse an einem Verbleib in Österreich überwiegt.
Die Gesamtbeurteilung Ihres Verhaltens, Ihrer Lebensumstände sowie Ihrer familiären und privaten Anknüpfungspunkte hat daher im Zuge der von der Behörde vorgenommenen Abwägungsentscheidung ergeben, dass die Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer gerechtfertigt und notwendig ist, die von Ihnen ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern. Das ausgesprochene Einreiseverbot ist daher zur Erreichung der in Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten.
Das Einreiseverbot bezieht sich gem. Paragraph 53, Absatz eins, FPG auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, womit lt. VwGH vom 22.5.2013, 2013/18/0021 jene Staaten erfasst sind, für die die Rückführungsrichtlinie, (RL 2008/115/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger) gilt.
Demnach umfasst das Einreiseverbot alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union außer Irland und das Vereinigte Königreich. Umfasst sind allerdings weiters Island, Norwegen, die römisch 40 und Liechtenstein.
Sie sind daher angewiesen, nicht in das Hoheitsgebiet dieser Staaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
Das Einreiseverbot beginnt mit Ablauf des Tages Ihrer Ausreise."
Dem wurde in der Beschwerde entgegen gehalten, dass es nicht nachvollziehbar sei, weshalb das BFA davon ausgehe, dass nur mit einem Einreiseverbot in unbefristeter Höhe das Auslangen gefunden werden könne. Die Abwägung sei nur sehr oberflächlich erfolgt. Es sei nur auf die strafrechtliche Verurteilung verwiesen worden. Es sei jedoch das Gesamtverhalten zur Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose heranzuziehen. Das BFA würdige nicht, dass sich die bP seit der Verurteilung vor über einem Jahrzehnt wohl verhalten habe. Die Einreise mit einem gefälschten Reisepass sei menschlich verständlich und nachvollziehbar. Es sei zwar richtig, dass die bP keine nennenswerten familiären Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet habe, jedoch würden Verwandte des Ehegatten der Nichte in Österreich leben und bestehe reger Kontakt zu diesen. Darüber hinaus befinde sich ein Großteil der erweiterten Kernfamilie im Schengenraum. Bei der Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes wäre es der bP nie wieder möglich, diese Familienmitglieder zu besuchen.
Die durch das BFA dargelegte rechtskräftige Verurteilung liegt unbestrittener Weise vor, weshalb das BFA sohin bereits in Ansehung dessen zu Recht von der Erfüllung des Tatbestandes des Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer 5, FPG durch das Fehlverhalten der bP ausgehen konnte, was das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch den weiteren Aufenthalt der bP im Bundesgebiet indizierte. Dies blieb auch in der Beschwerde unbestritten.
Zutreffend verwies das BFA in ihrer Entscheidungsbegründung darauf, dass es bei einer Abwägung der im gegenständlichen Fall betroffenen Interessen einer Gesamtbeurteilung des bisherigen Verhaltens der bP und ihrer privaten und familiären Anknüpfungspunkte in Österreich bedurfte.
Darüber hinaus ist auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung, in deren Rahmen neben der rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung auch das bisherige Verhalten der bP während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet sowie ihr Privat- und Familienleben zu analysieren und berücksichtigen sind, eine Gefährlichkeitsprognose zu treffen vergleiche VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109, mwN aus der Judikatur).
Dahingehend war auch aus Sicht des BVwG auf die besondere Schwere der Straftat abzustellen, insbesondere auch auf die Skrupellosigkeit bei der Begehung des Verbrechens und die Tatsache, dass die bP im Rahmen Ihres Gerichtsverfahrens laut des sich im Akt befindlichen Strafurteils weder Reue noch Einsicht zeigte. Zudem ist auch in der Türkei ein Gerichtsverfahren gegen die bP anhängig und reiste diese unter Missachtung ihres schengenweiten Einreiseverbotes in Österreich ein, wobei sie einen gefälschten Reisepass verwendete. Die bP schreckt somit aus Opportunitätsgründen nicht davor zurück, fremdenpolizeiliche Bestimmungen zu umgehen und dafür amtliche Dokumente zu fälschen, was ebenso in eine ungünstige Prognose für das weitere Verhalten der bP einfloss. Ein Familienleben in Österreich wird seitens der bP nicht geführt und hat sie keine maßgeblichen privaten Anknüpfungspunkte in Österreich, wie bereits oben ausführlich dargelegt. Vor dem Hintergrund dieser Gesamtbeurteilung hat die belangte Behörde zu Recht eine ungünstige Zukunftsprognose für die bP abgeleitet.
Wenn in der Beschwerde dargelegt wird, dass sich die bP seit der Verurteilung vor über einem Jahrzehnt wohl verhalten habe, so stellt sich heraus, dass diese Darlegung aus oben angeführten Gründen nicht richtig ist. Auch kann das BVwG den Beschwerdeangaben dahingehend nicht folgen, wenn dargelegt wird, dass die Einreise mit einem gefälschten Reisepass verständlich und nachvollziehbar sei, da dabei wesentliche fremdenpolizeiliche und strafrechtliche Vorschriften verletzt wurden.
Wenn in der Beschwerde dargelegt wird, dass bei der Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes es der bP nie wieder möglich wäre, ihre im Schengenraum aufhältigen Familienmitglieder zu besuchen, so wird übersehen, dass seitens der römisch 40 über die bP bereits ein schengenweites Einreiseverbot bis 2099 verhängt wurde.
In Gegenüberstellung des persönlichen Interesses der bP an einem Verbleib im Bundesgebiet, kam der aus dem eben dargestellten Sachverhalt abzuleitenden Gefährdungsprognose zu Lasten der bP ein höheres Gewicht zu, weshalb sich das vom BFA verhängte Einreiseverbot schon dem Grunde nach als rechtskonform erwies.
Wie die seitens des BFA erstellte Prognose zeigt, stellt der weitere Aufenthalt der bP auf Grund ihres dargestellten persönlichen Verhaltens im Bundesgebiet eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar.
Die zeitliche Dauer des gegen die bP erlassenen Einreiseverbots gemäß Paragraph 53, Absatz 3, Ziffer 5, FPG im unbefristeten Ausmaß war darüber hinaus mit Blick auf die besondere Schwere der Tat und der besonderen Verwerflichkeit der Tatbegehung, der mangelnden Reue, sowie dem nicht gesetzeskonformen Verhalten der bP was die verbotene Einreise nach Österreich, noch dazu mit einem gefälschten Dokument betrifft, als angemessen anzusehen. Insbesondere der durch die bP verübte Mord läuft unbestritten den Grundinteressen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit massiv zuwider und spiegelt ein Persönlichkeitsbild der bP wider, welches zu obiger Abwägung führt.
Die Beschwerde war somit auch hinsichtlich Spruchpunkt römisch VIII. als unbegründet abzuweisen.
Entfall einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt Paragraph 24, VwGVG.
Gemäß Paragraph 24, VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Nach Absatz 4, leg. Cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetze nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteienantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtslage nicht erwarten lässt, und einem Entfall der mündlichen Verhandlung weder Artikel 6, Absatz eins, der EMRK noch Artikel 47, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010, S 389, (2010, C 83/02) entgegensteht.
Gemäß Artikel 47, Absatz eins, GRC hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Zufolge des Absatz 2, leg. cit. hat jede Person das Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.
Nach Artikel 25, Absatz eins, GRC muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
Zur Frage der Verhandlungspflicht brachte der Verfassungsgerichtshof etwa in seinem Erkenntnis vom 14.03.2012, U 466/11, u.a. zum Ausdruck, er hege vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Zulässigkeit des Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung weder Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des Paragraph 41, Absatz 7, AsylG, noch könne er finden, dass der Asylgerichtshof der Bestimmung durch das Absehen von der Verhandlung einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt habe. Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergebe, dass das Vorbringen tatsachenwidrig sei, steht im Einklang mit Artikel 47, Absatz 2, GRC, wenn zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden habe, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt worden sei.
Übertragen auf den vorliegenden Beschwerdefall erfordert ein Unterbleiben einer Verhandlung vor dem BVwG somit, dass aus dem Akteninhalt der belangten Behörde die Grundlage des bekämpften Bescheides unzweifelhaft nachvollziehbar ist.
Der VwGH hat zur Frage der Verhandlungspflicht mit Erkenntnis vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 ausgesprochen, dass sich die bisher zu Paragraph 67 d, AVG ergangene Rechtsprechung auf das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten weitgehend übertragen lässt. Für den Anwendungsbereich der vom BFA-VG 2014 erfassten Verfahren ist primär Paragraph 21, Absatz eins und subsidiär Paragraph 24, Absatz 4, VwGVG als maßgeblich heranzuziehen. Für die Auslegung der Wendung in Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG 2014 "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde erklärt scheint", sind nunmehr folgende Kriterien beachtlich: Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die, die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende, Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf keine dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, dass gegen das in Paragraph 20, BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.
Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch die belangte Behörde vorausgegangen. Der Sachverhalt wurde nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung der belangten Behörde festgestellt. Insbesondere ist die belangte Behörde ihrer Ermittlungspflicht durch die detaillierte Befragung des Beschwerdeführers nachgekommen. Es wurde in der Beschwerde auch kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt in konkreter und substantiierter Weise behauptet. Vielmehr finden sich dort im Wesentlichen Wiederholungen des bisherigen Vorbringens sowie Kritik an der Beweiswürdigung der belangten Behörde und eine rechtliche Schlussfolgerung, der nicht gefolgt werden konnte.
Auch wurde den Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid nichts Substantiiertes entgegengehalten und hat auch ein Abgleich mit den aktuellsten Länderinformationen zum Herkunftsstaat nicht ergeben, dass sich die dortige Situation entscheidungswesentlich verändert hätte.
Mit der Beschwerde wurde daher auf Sachverhaltsebene nichts Entscheidungsrelevantes mehr vorgebracht und wurden auch keine weiteren Dokumente oder Unterlagen vorgelegt.
Dem BVwG liegt sohin kein Beschwerdevorbringen vor, das mit dem Beschwerdeführer mündlich zu erörtern gewesen wäre.
Da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint, konnte gemäß Paragraph 21, Absatz 7, BFA-VG eine mündliche Verhandlung unterbleiben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
ECLI:AT:BVWG:2019:L510.2196103.2.00