Gericht

BVwG

Entscheidungsdatum

30.05.2018

Geschäftszahl

L519 2182238-1

Spruch

L519 2182238-1/6E

L519 2182221-1/6E

L519 2182224-1/6E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 16.03.2018 MÜNDLICH VERKÜNDETEN

ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch XXXXX, Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch RA Mag. Singer, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) vom 28.11.2017, Zl. römisch XXXXX, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 16.03.2018 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß Paragraph 9, Absatz eins und 4, Paragraph 57,, Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5,

AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG sowie Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 4 und Absatz 9,, Paragraph 46 und Paragraph 55, FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.

2.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch XXXXX, geb. römisch XXXX, Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch RA Mag. Singer, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.11.2017, Zl. römisch XXXXX, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 16.03.2018 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß Paragraph 9, Absatz eins und 4, Paragraph 57,, Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5,

AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG sowie Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 4 und Absatz 9,, Paragraph 46 und Paragraph 55, FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.

3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch XXXXX, geb. römisch XXXX, Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch RA Mag. Singer, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.11.2017, Zl. römisch XXXXX, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 16.03.2018 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß Paragraph 9, Absatz eins und 4, Paragraph 57,, Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5,

AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG sowie Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 4 und Absatz 9,, Paragraph 46 und Paragraph 55, FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

römisch eins. Verfahrensgang:

römisch eins.1. Die beschwerdeführenden Parteien (in weiterer Folge gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch kurz als "BF1" bis "BF3" bezeichnet), sind Staatsangehörige der Türkei und brachten nach rechtswidriger Einreise mit dem Flugzeug in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge nach Österreich am 26.05.2011 bei der belangten Behörde Anträge auf internationalen Schutz ein.

Die weibliche BF 1 ist die Mutter der BF 2 und Mutter und gesetzliche Vertreterin des minderjährigen BF3.

römisch eins.2. Erstbefragt gab die BF 1 an, dass ihr Ehegatte Gewalt auf sie ausgeübt habe. Nach dem Tod des Vaters sei die Mutter weggegangen und habe die BF 1 bei einem Bruder gelebt. Der Bruder habe sie an einen Ehemann vermittelt. Sie hätte sich scheiden lassen wollen, dies wäre aber für die traditionsgebundene Familie eine große Schande gewesen. Die Familie hätte sie dann mit dem Umbringen bedroht, weshalb sie geflohen sei.

Vorgelegt wurden türkische Personalausweise der BF 2 und 3, ausgestellt in römisch XXXXX am römisch XXXXX und der BF 1, ausgestellt in Sancaktepe am 01.04.2011.

römisch eins.3. Im Rahmen der Einvernahme vor der belangten Behörde ergänzte die BF 1 ihr Vorbringen dahingehend, dass sie in Bingöl geboren und aufgewachsen sei und nach ihrer Heirat mit ihrem Ehegatten in einem Teil von römisch XXXXX gelebt habe. Sie sei gar nicht in die Schule gegangen und Analphabetin. Im Alter von 11 Jahren sei sie nach Istanbul zu ihrem Bruder gegangen und von diesem mit 13 Jahren mit einem 11 Jahre älteren Mann zwangsverheiratet worden. Da sie ihren Mann nie geliebt habe, hätte sie sich scheiden lassen wollen und sei daraufhin von der Familie des Ehegatten bedroht worden. Die Familie des Ehegatten werfe diesem in der Heimat nun vor, dass er sie nicht umgebracht hat. Sie sei noch nicht geschieden, werde dies aber in Kürze veranlassen. Für die Kinder wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht und führte die BF 1 noch an, dass sie an psychischen Problemen leide.

Bereits vor ihrer Ausreise sei sie in der Türkei von ihren in Österreich lebenden Brüdern finanziell unterstützt worden und würden diese ihr auch in Österreich beistehen.

Mit der BF 1 wurden diverse Länderberichte, insbesondere zur Situation von Frauen in der Türkei erörtert.

römisch eins.4. Das BFA stellte in der Folge eine individuelle Anfrage an die Staatendokumentation betreffend der Situation der BF 1 in der Türkei. Die entsprechende Anfragebeantwortung langte am 08.08.2011 beim BFA ein und ergab, dass gemäß Heiratsurkunde die Hochzeit der BF mit 19 Jahren erfolgte und keine Hinweise auf eine Zwangsverheiratung vorliegen. Der Ehegatte sei auch lediglich 8 1/2 Jahre älter. Die Regierung ginge geschlossen gegen Zwangsehen vor und seien diese nicht mehr in Istanbul, sondern eher im Osten/ Südosten vereinzelt möglich.

römisch eins.5. Am 11.08.2011 gab die BF in einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren an, dass ihr Schwiegervater sie in der Türkei derart geschlagen habe, dass sie auf einem Auge Sehprobleme habe. Zusätzlich sei es ihr bei der ersten Einvernahme nicht gut gegangen, bei einem Arzt sei sie aber noch nie gewesen.

römisch eins.6. Die Anfragebeantwortung vom 08.08.2011 wurde der BF 1 im Rahmen der Einvernahme am 15.09.2011 vorgehalten. Sie blieb - ohne Beweismittel dafür benennen zu können - vorerst dabei, dass sie mit 13 Jahren zwangsverheiratet wurde. Erst später, nachdem sie keinerlei Details zur angeblichen Zwangshochzeit benennen konnte, gestand sie ein, mit 19 geheiratet zu haben, allerdings sie sie zwangsverheiratet worden, und ihr Ehegatte wesentlich älter als in der Anfragebeantwortung angeführt. Die falschen Angaben erklärte sie mit ihrer psychischen Verfassung bzw. darauf zurückzuführende Dolmetscherprobleme. Auch die Kinder hätten inzwischen psychische Probleme, stünden aber in keiner Behandlung. Vorgelegt wurde ein Zeitungsbericht betreffend Zwangsheirat in der Türkei.

römisch eins.7. Im von dem BFA in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachten vom 29.11.2011 scheint der Befund "Anpassungsstörung mit mittelgradiger depressiver Symptomatik" auf. Eine Verschlechterung im lebensbedrohlichen Ausmaß wurde als unwahrscheinlich eingeschätzt und eine medikamentöse Therapie und Psychotherapie für notwendig erachtet.

Das Gutachten wurde in der Einvernahme am 14.12.2011 mit der BF 1 erörtert und wurde von ihr angeführt, dass sie nach wie vor in keiner Behandlung sei. Sie wiederholte ihr Fluchtvorbringen und gab an, dass sie regelmäßig mit ihren Schwestern in der Türkei telefoniere, welche ihr mitteilten, dass sie immer noch von der Familie des Ehegatten gesucht werde. Sie hätte in der Türkei unter dem traditionellen Leben gelitten.

römisch eins.8. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.02.2012 wurden die Anträge auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG wurde den BF der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II) sowie unter Anwendung des Paragraph 8, Absatz 4, AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 16.02.2013 erteilt (Spruchpunkt römisch III). Die befristeten Aufenthaltsberechtigungen wurden in der Folge mehrfach verlängert, zuletzt mit Bescheiden vom 19.02.2014 bis zum 16.02.2016. Die BF stellten zuletzt Anträge auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsgenehmigungen.

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, es könne nicht festgestellt werden, dass die BF begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen haben. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die BF in der Türkei einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wären.

Das gesamte Fluchtvorbringen der BF 1 wurde als unglaubwürdig beurteilt. Dies vor allem wegen der zahlreichen Widersprüche im Vorbringen der BF1 sowie den nicht nachvollziehbaren Aussagen. Die BF 1 gab beispielsweise einerseits an, wegen der Traditionen nicht aus dem Haus gegangen zu sein, andererseits habe sie sich mit einer Freundin in Istanbul getroffen, mit Nachbarn Kontakt gehabt, die ihr sogar zur Ausreise verholfen hätten und Anzeigen bei der Polizei gemacht. Demgegenüber gab die BF 1 noch zu Beginn des Verfahrens an, aus Angst keine Anzeigen bei der Polizei gemacht zu haben. Auch gab sie vorerst an, keine Hilfseinrichtungen für Frauen zu kennen, um dann anzuführen, dass diese nicht geholfen hätten. Zusätzlich wären die Personalausweise der Kinder der BF 1 in ihrem Heimatbezirk einem Zeitpunkt ausgestellt worden, zu dem sich die BF 1 eigentlich schon bei einer Freundin befunden hätte.

Zudem wird auf die Anfragebeantwortung hingewiesen, welche auch diametral dem Vorbringen der BF 1 entgegenstand.

Letztlich wurde aber festgehalten, dass sich die BF 1 "derzeit" noch in einem angespannten psychischen Zustand befand und alles darauf hindeutete, dass sich dies vor dem Hintergrund der allgemeinen Situation in der Herkunftsregion so auswirken würde, dass "außerordentliche Umstände" im Falle einer Außerlandesschaffung vorlägen.

römisch eins.9. Mit Telefax vom 15.11.2016 gab die nunmehrige rechtsfreundliche Vertretung die Erteilung von Vollmacht bekannt und ersuchte um Bekanntgabe des Verfahrensstandes.

römisch eins.10. Aus dem von der belangten Behörde eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 18.11.2016 geht hervor, dass bei der BF 1 keine neurologisch-psychiatrischen Erkrankung diagnostiziert werden konnte. Im Falle der Überstellung wären keine spezifischen Maßnahmen zu treffen und leide die BF 1 an einer nicht krankheitswertigen Befindlichkeitsstörung.

Zu dem Begutachtungstermin erschien die BF 1 gemeinsam mit ihren Kindern und dem Ehegatten, welcher am 22.07.2013 in Österreich einen Asylantrag stellte und seither mit seiner Familie bzw. der BF 1, 2 und 3 in einem gemeinsamen Haushalt lebt.

römisch eins.11. In der Folge wurde eine Vollmacht des Vereins migrare mit dem Vermerk, dass die BF 1 Selbstmord beabsichtige, vorgelegt.

römisch eins.12. Die BF gab in der Einvernahme am 30.03.2017 an, den Dolmetscher für Kurdisch nicht zu verstehen, dies obwohl sie bereits Einvernahmen mit Dolmetscher für Kurdisch durchgeführt wurden. Die Einvernahme wurde verschoben und ein anderer Dolmetscher bestellt. Nachdem die BF 1 in dieser weiteren Einvernahme zwar vorerst bestätigte, den Dolmetscher zu verstehen, wurde nach Rücksprache mit ihrer nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertretung ausgeführt, dass die BF 1 auch diesen Dolmetscher nicht verstehe.

römisch eins.13. Am 09.05.2017 wurden die BF 1 , BF 2 und BF 3 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein ihrer rechtsfreundlichen Vertretung sowie eines Dolmetschers in türkischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter zur beabsichtigten Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einvernommen. Die Einvernahme der BF 2 und BF 3 wurde teilweise ohne Dolmetscher in Deutsch durchgeführt. Vorgelegt wurden zwei Deutschkursteilnahmebestätigungen der BF 1.

Die BF 1 gab wiederum an, in keinerlei Behandlung zu stehen. Zur beabsichtigten Aberkennung des Subsidiären Schutzes gab die BF 1 an, dass in der Türkei ihr Leben nicht sicher sei. Das "Familiengericht von unserer Provinz" habe beschlossen, dass die BF 1 getötet werden solle. Über Vorhalt der bisher getätigten Angaben, die Familie des Mannes werde sie wegen der bevorstehenden Scheidung ermorden führte die BF 1 aus, damals psychisch nicht stabil gewesen zu sein, sie sei wegen der ihr drohenden Todesstrafe geflüchtet. Die Polizei hätte sie auch nicht vor der Familie des Ehegatten schützen können.

Im Anschluss an die Einvernahme wurden länderkundliche Feststellungen zur Lage in der Türkei ausgehändigt und die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt.

römisch eins.14. Mit Mail vom 23.05.2017 wurde über den Verein migrare im Fall der BF urgiert und angeführt, dass die BF 2 an Herzproblemen leide und einen Termin beim Internisten habe.

Mit Mail vom 19.07.2017 wurde abermals die Beschleunigung des Verlängerungsverfahrens betreffend subsidiärer Schutzgewährung urgiert.

Mit Mail vom 21.07.2017 wurde von migrare nochmals die Beschleunigung des Verfahrens urgiert und eine Vollmacht vorgelegt.

römisch eins.15. Am 23.10.2017 wurden der BF 1 Länderinformationen der belangten Behörde zur Stellungnahme übermittelt und wurde sie aufgefordert, etwaig nunmehr eingetretene Veränderungen der Umstände bekannt zu geben.

römisch eins.16. Am 03.11.2017 langte über migrare eine Stellungnahme der BF 1 ein. Mitgeteilt wurde, dass die Familie enorme finanzielle Schwierigkeiten durch die Nichtverlängerung des Subsidiären Schutzes gehabt habe und die BF 1 arbeiten wolle, was ihr nunmehr verwehrt sei. Die BF 2 nehme an einer AMS-Maßnahme teil, der BF 3 besuche die Schule und würde das kleinste Kind bald in den Kindergarten gehen. Vorgelegt wurde eine Bestätigung über den Beginn der Projektteilnahme durch BF 2 ab August 2017.

römisch eins.17. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.11.2017 wurde der den BF mit Bescheiden vom 16.02.2012 zuerkannte Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz eins, AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt römisch eins.) sowie die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte gemäß Paragraph 9, Absatz 4, AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt römisch II.). Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurden gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 5, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurden gegen die BF Rückkehrentscheidungen gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 4, FPG 2005 erlassen und gemäß Paragraph 52, Absatz 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der BF in die Türkei gemäß Paragraph 46, FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt römisch IV und römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen betrage (Spruchpunkt römisch VI.).

Begründend führte die belangte Behörde zusammengefasst aus, der BF 1 sei der Status der subsidiär Schutzberechtigten aufgrund einer Gefahr für die körperliche Integrität bzw. wegen ihres Gesundheitszustandes zuerkannt worden. Die damals minderjährigen BF 2 und 3 hätten von der BF 1 als deren Familienmitglieder denselben Schutz erhalten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten lägen jetzt nicht mehr vor.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, dass gemäß Paragraph 9, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen sei. Der Entzug der befristeten Aufenthaltsberechtigung gehe damit einher. Den BF sei schließlich kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 zu erteilen und überwiege das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen und dem geordneten Zuzug von Fremden das Interesse der BF an einem Verbleib in Österreich.

römisch eins.18. Gegen den ordnungsgemäß zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, die befristete Aufenthaltsberechtigung antragsgemäß zu verlängern, eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht anzuberaumen, hilfsweise die Rückkehrentscheidungen auf Dauer für unzulässig zu erklären und den BF Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen sowie allenfalls festzustellen, dass eine Abschiebung in die Türkei unzulässig sei bzw. die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.

Richtig sei zwar, dass sich die BF 1 wieder mit dem Ehegatten versöhnt habe, sie befürchte jedoch Probleme in der Türkei ausgehend von der Familie des Ehegatten, welche seit jeher gegen die Beziehung gewesen sei. Die belangte Behörde habe überdies die integrativen Aspekte nicht ausreichend berücksichtigt bzw. sei es der BF 1 aufgrund der psychischen Situation sowie dem kleinen Kind schwer gefallen, Deutsch zu erlernen.

12. Am 16.03.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein der BF, deren rechtsfreundlicher Vertretung, eines Dolmetschers sowie einer Behördenvertreterin durchgeführt.

Die BF legten eine Bestätigung der "XXXXX" für die BF 2, eine Schulbesuchsbestätigung der BF 3, eine Unterstützungsliste sowie zwei Teilnahmebescheinigungen für Deutschkurse der BF 1 vor.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um türkische Staatsangehörige, welche zur Volksgruppe der Kurden gehören und sich zum sunnitischen Islam bekennen. Die BF sind damit Drittstaatsangehörige.

Die BF sind junge, gesunde, arbeitsfähige Menschen mit einer in der Türkei - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.

Die BF 1 ist verheiratet und lebt mit ihrem im Jahr 2013 eingereisten Ehegatten XXXXXund den gemeinsamen Kindern, BF 2 und 3 sowie dem mit dritten, in Österreich geborenen Kind römisch XXXXX in einem gemeinsamen Haushalt. Davor lebte sie bei einem Bruder in Österreich. Drei Brüder der BF 1 leben in Österreich, die Brüder gehen einer Beschäftigung nach und unterstützen die Familie der BF finanziell.

Die Anträge auf internationalen Schutz des Ehegatten sowie jüngsten Kindes der BF 1 wurden bereits erstinstanzlich negativ entschieden und werden die dagegen eingebrachten Beschwerden mit Entscheidungen des BVwG vom heutigen Tage abgewiesen.

Der BF wurde in römisch XXXXX geboren und hat vor ihrer Ausreise in römisch XXXXX gelebt und dort zeitweise als Reinigungskraft gearbeitet. Ihr Ehegatte versorgte die Familie und war ebenfalls als Reinigungskraft tätig.

In der Türkei leben nach wie vor die die Mutter, zwei Schwestern und ein Bruder der BF 1.

Die BF sind strafrechtlich bislang unbescholten und leben in Österreich von staatlichen Unterstützungsleistungen. Die BF 1 hat gemäß Versicherungsdatenauszug von 2012 bis Ende 2014 für ca. 2 1/2 Jahre bei ihrem Bruder legal gearbeitet.

Die BF 1 hat zwei Deutschkurse besucht, aber noch keine Prüfung abgelegt und spricht lediglich sehr geringfügig Deutsch. Die BF 2 hat in Österreich die Hauptschule besucht. Sie besucht in Österreich seit August 2017 ein einjähriges Angebot für benachteiligte Jugendliche zum Einstieg in die Berufswelt. Die BF 3 hat im Schuljahr 2017/2018 die dritte Klasse einer Neuen Mittelschule besucht. Die BF 2 und 3 sprechen gut Deutsch. Die BF 2 hat in der Türkei die Volks- und Hauptschule, die BF 3 die Volksschule besucht.

Die BF sind in keinerlei Verein oder sonstigen Organisation tätig.

Die Identität der BF steht fest.

Die BF 1 leidet an Blutarmut, was schon in der Türkei bekannt war sowie einer Gastritis seit wenigen Wochen vor der mündlichen Verhandlung. Die BF reisten unrechtmäßig in die Europäische Union und in weiterer Folge in das österreichische Bundesgebiet ein. Sie halten sich lediglich aufgrund der Bestimmungen des Asylgesetzes vorübergehend legal in Österreich auf und besteht kein Aufenthaltsrecht nach anderen gesetzlichen Bestimmungen.

1.2. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei:

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

KI vom 9.8.2017, Beschwerden an die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen (the Commission on Examination of the State of Emergency Procedures), die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereine und Firmen entgegenzunehmen. Innerhalb von drei Wochen [Stand 7.8.2017] wurden bislang rund 38.500 Beschwerden bei der Kommission eingereicht (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund

70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017).

Quellen:

KI vom 19.7.2017, Verlängerung des Ausnahmezustandes

Am 17.7.2017 wurde der Ausnahmezustand ein viertes Mal verlängert. Eine Mehrheit im Parlament in Ankara stimmte dem Beschluss der Regierung über eine Verlängerung um weitere drei Monate zu. Damit gilt der nach dem Putschversuch im Juli vergangenen Jahres verhängte Ausnahmezustand mindestens bis zum 19.10.2017. Dies ermöglicht Staatspräsident Erdogan weiterhin per Dekret zu regieren. Die beiden größten Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - forderten sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, da dieser ansonsten drohe zum Dauerzustand zu werden (TS 17.7.2017, vergleiche FAZ 17.7.2017).

Quellen:

? FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.7.2017): Türkisches Parlament verlängert abermals Ausnahmezustand, http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei/seit-putschversuch-tuerkisches-parlament-verlaengert-abermals-ausnahmezustand-15110851.html, Zugriff 19.7.2017

? tagesschau.de (17.7.2017): Türkei verlängert Ausnahmezustand, http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-865.html, Zugriff 19.7.2017

KI vom 19.7.2017, Stand der Massenverhaftungen und Entlassungen wegen vermeintlicher Unterstützung der Gülen-Bewegung

Am Vorabend des Jahrestages des gescheiterten Putschversuches vom 15.7.2016 verlautete das türkische Justizministerium, dass bis dato

50.510 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert wurden, darunter 7.267 Militärangehörige, 8.815 Angestellte der Polizei, rund 100 Gouverneure und deren Stellvertreter und über 2.000 MitarbeiterInnen der Justiz. 169.013 Personen hätten laut Ministerium noch rechtliche Verfahren zu erwarten und nach rund

8.100 wird wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung noch gefahndet. Über 43.000 Personen wurden nach vorläufiger Festnahme wieder entlassen (HDN 13.7.2017, bianet 13.7.2017). Mit der Notstandsverordnung vom 14.7.2017 wurden zusätzlich 7.395 öffentlich Bedienstete entlassen (HDN 15.7.2017). Die regierungskritische Internetplattform "Turkey Purge" zählte mit Stand 19.7.2017 rund

145.700 Entlassungen, darunter über 4.400 Richter und Staatsanwälte, sowie 56.100 Inhaftierungen (TP 19.7.2017).

In der Türkei nahm am 17.7.2017 eine von der Regierung eingerichtete Kommission ihre Arbeit auf, die Beschwerden gegen Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst im Zusammenhang mit dem Putschversuch prüfen soll. Betroffene hätten nun zwei Monate Zeit, ihre Beschwerden einzureichen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat sich bislang nicht mit den Entlassungen beschäftigt, sondern Kläger aus der Türkei aufgefordert, sich zunächst an die neue Kommission zu wenden (Zeit 17.7.2017).

Quellen:

? Bianet (13.7.2017): Ministry of Justice: 50,510 People Arrested in Coup Attempt Investigations,

https://bianet.org/english/politics/188268-ministry-of-justice-50-510-people-arrested-in-coup-attempt-investigations, Zugriff 19.7.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (13.7.2017): 50,510 people arrested in Gülen probe since coup attempt: Ministry, http://www.hurriyetdailynews.com/50510-people-arrested-in-gulen-probe-since-coup-attempt-ministry.aspx?pageID=238&nID=115486&NewsCatID=509, Zugriff 19.7.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (15.7.2017): Turkey dismisses over 7,000 police, soldiers, ministry officials with new emergency decree, http://www.hurriyetdailynews.com/turkey-dismisses-over-7000-police-soldiers-ministry-officials-with-new-emergency-decree-.aspx?pageID=238&nID=115540&NewsCatID=341, Zugriff 19.7.2017

? TP - TurkeyPurge (19.7.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 19.7.2017

? Zeit Online (17.7.2017): Türkei verlängert erneut Ausnahmezustand, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/tuerkei-parlament-ausnahmezustand-verlaengerung, Zugriff 19.7.2017

KI vom 27.4.2017, Massenverhaftungen und Entlassungen innerhalb der Polizei

In der Türkei sind am 26.4.2017 9.103 Polizisten wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen worden. Bei Razzien gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger in allen 81 Provinzen des Landes war es im Laufe des Tages bereits zu 1.120 Festnahmen gekommen. Ziel der Suspendierungen und der Verhaftungen sei es gewesen, die geheime Struktur der Gülen-Bewegung innerhalb der Polizei zu zerschlagen.

8.500 Sicherheitskräfte unter Beteiligung des Geheimdienstes MIT seien an den Operationen beteiligt gewesen (HDN 26.4.2017; vergleiche Zeit 27.4.2017). Wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung hat die Türkei gleichzeitig 9.103 Polizisten entlassen (Zeit 26.4.2017; vergleiche HDN 27.4.2017).

Laut "TurkeyPurge" wurden somit (Stand 27.4.2017) seit dem Putschversuch vom 15.7.2016 über 134.000 Personen wegen vermeintlicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen, knapp über 100.000 festgenommen, und von letzteren 50.000 inhaftiert (TP 27.4.2017).

Quellen:

? Die Zeit (26.4.2017): Mehr als 9.000 Polizisten suspendiert, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/tuerkei-razzia-9000-polizisten-guelen-bewegung-suspendierung-2, Zugriff 27.4.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (27.4.2017): Over 9,000 Turkish police officers suspended over suspected links to Gülen, http://www.hurriyetdailynews.com/over-9000-turkish-police-officers-suspended-over-suspected-links-to-gulen.aspx?pageID=238&nID=112475&NewsCatID=509, Zugriff 27.4.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (26.4.2017): Police detain 1,120 in operation on Gülen's 'secret imams', http://www.hurriyetdailynews.com/police-detain-1120-in-operation-on-gulens-secret-imams.aspx?PageID=238&NID=112437&NewsCatID=509, Zugriff 27.4.2017

? TP - TurkeyPurge (27.4.2017): Turkey widens post-coup purge, https://turkeypurge.com/, Zugriff 27.4.2017

KI vom 26.4.2017, Aufnahme des Monitoring-Verfahrens durch den Europarat

Die Türkei steht künftig unter der Beobachtung des Europarates, dessen Mitglied es ist. Der Europarat wird das umstrittene Verfassungsreferendum in der Türkei und das Vorgehen von Präsident Erdogan gegen Oppositionelle genauer untersuchen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen. In der Resolution wird der Schritt vor allem mit Blick auf den anhaltenden Ausnahmezustand, kollektive Entlassungen von Staatsbediensteten wie Lehrer, Wissenschaftler und Richter, sowie Festnahmen von Parlamentariern und Journalisten begründet (Zeit 25.4.2017).

Die PACE verlangt u.a. den Ausnahmezustand aufzuheben, die Erlassung von Notstandsverordnungen, außer wenn absolut nötig, einzustellen, und alle inhaftierten Parlamentarier und Journalisten freizulassen. Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist. Die PACE bedauert auch den Gesetzesbruch beim Verfassungsreferendum vom 16.4.2017, bei dem Stimmzettel ohne Amtssiegel gezählt wurden, was ernsthafte Fragen hinsichtlich der Legitimität des Ausgangs des Referendums aufwirft (PACE 25.4.2017).

Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo- und Xenophobie (DS 25.4.2017). Das türkische Außenministerium kündigte an, die Mitgliedschaft in der Institution überdenken zu wollen (Zeit 25.4.2017).

Quellen:

KI vom 19.4.2017, Verfassungsreferendum

Am 16.4.2017 stimmten nach vorläufigen Ergebnissen bei einer Wahlbeteiligung von 84% 51,3% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechtsnationalistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsieht (HDN 16.4.2017).

Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte in einer Stellungnahme am 17.4.2017 sowohl die Kampagne als auch die Mängel des Referendums. Das Referendum sei unter ungleichen Wettbewerbsbedingungen von statten gegangen. Der Staat habe nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hätten negative Auswirkungen gehabt (OSCE/PACE 17.4.2017). Cezar Florin Preda, der Leiter der PACE-Delegation sagte, dass das Referendum nicht die Standards des Europarates erfüllte und die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht adäquat für die Durchführung eines genuinen demokratischen Prozesses waren (PACE 17.4.2017). Laut OSZE wurden im Vorfeld des Referendums Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützer des Putschversuchens vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Noch während des Referendums entschied die Oberste Wahlbehörde überraschend, auch von ihr nicht gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge gelten zu lassen. Die Beobachtungsmission der OSZE und des Europarates bezeichneten dies als Verstoß gegen das Wahlgesetz, wodurch Schutzvorkehrungen gegen Wahlbetrug beseitigt wurden (Zeit 17.4.2017; vergleiche PACE 17.7.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, wonach 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet wurden. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen. Der Vize-Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan bezeichnete das Referendum als "organisierten Diebstahl" und kündigte an, den Fall vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen, so nötig (AM 18.7.2017). Die EU-Kommission hat die türkische Regierung aufgefordert, die mutmaßlichen Unregelmäßigkeiten zu untersuchen (Zeit 18.4.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen, denn laut Michael Georg Link, Direktor des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte stand fest, dass die Entscheidung der Wahlkommission, falsch oder gar nicht gestempelte Wahlzettel als gültig zu werten, ein Verstoß gegen türkisches Recht darstellte (FAZ 19.4.2017). Daraufhin kündigte die Oberste Wahlkommission eine Prüfung der Vorwürfe an (Spiegel 19.4.2017).

Quellen:

? AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey?

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.4.2017

? AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.4.2017

? Die Zeit (17.4.2017): Beobachter bemängeln Unregelmäßigkeiten im Wahlablauf,

http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/osze-tuerkei-referendum-wahlbeobachter-kritik, Zugriff 19.4.2017

? Die Zeit (18.4.2017): EU fordert Untersuchung von Manipulationsvorwürfen,

http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/tuerkei-eu-kommission-untersuchung-referendum-wahlbeobachter, zugriff 19.4.2017

? FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.4.2017

? HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.4.2017

? OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017):

INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions,

https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.4.2017.

? PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): Turkey's constitutional referendum: an unlevel playing field,

http://assembly.coe.int/nw/xml/News/News-View-EN.asp?newsid=6596&lang=2&cat=31, Zugriff 19.4.2017

? Spiegel Online (19.4.2017): Wahlkommission prüft Beschwerden über Manipulationen,

http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-referendum-wahlkommission-prueft-beschwerden-ueber-manipulationen-a-1143822.html, Zugriff 19.4.2017

KI vom 9.3.2017, Parlamentarische Versammlung des Europarates und UN-Hochkommissar für Menschenrechte zur Lage in der Türkei

Das Monitoring-Komitee der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) rief am 8.3.2017 zur Wiederaufnahme des Monitoring-Verfahrens in Bezug auf die Türkei auf. Das Monitoring-Komitee zeigte sich besorgt, dass es im Zuge des Ausnahmezustandes zu einer ernsthaften Verschlechterung der Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen gekommen ist. Die türkische Regierung hätte überdies unverhältnismäßige Maßnahmen ergriffen, die jenseits dessen gehen, was die türkische Verfassung und das Völkerrecht erlauben. Das Komitee zeigte sich wegen des Ausmaßes der durchgeführten Säuberungen in der Verwaltung, der Armee, der Justiz und des Bildungswesens besorgt. Es zeigte sich angesichts der wiederholten Verletzungen der Medienfreiheit und der Anzahl der inhaftierten Journalisten alarmiert, und bezeichnete dies als "inakzeptabel in einer demokratischen Gesellschaft". Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, insbesondere der Abgeordneten der pro-kurdischen HDP, die mit 93% überproportional betroffen waren, führe laut Komitee zu ernsthaften Einschränkungen der demokratischen Debatte am Vorabend des Verfassungsreferendums, das für den 16. April 2017 vorgesehen ist. Das Komitee fordert die Aufhebung des Ausnahmezustandes, den Stopp der Notstandsverordnungen sowie die Freilassung aller Parlamentarier und Journalisten bis zu deren Prozessende (PACE 8.3.2017).

Am 8.3.2017 zeigte sich der Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Zeid Ra'ad Al Hussein, in seiner Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat besorgt, dass die unter dem Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen scheinbar die Kritik und nicht den Terrorismus im Visier haben. Die Tatsache, dass Zehntausende nach dem versuchten Putsch entlassen, verhaftet, inhaftiert oder verfolgt worden sind - darunter auch zahlreiche demokratisch gewählte Volksvertreter, Richter und Journalisten - wecken die ernsthafte Besorgnis, ob ordentliche Gerichtsverfahren garantiert werden können. Die Menschenrechtssituation in der Südosttürkei ist laut Hochkommissar nach wie vor zutiefst beunruhigend. Ohne Zugang zum Gebiet hat das Fernüberwachungsverfahren des Büros des Hochkommissars glaubwürdige Hinweise auf hunderte von Todesfällen erhalten, was auf unverhältnismäßige Sicherheitsmaßnahmen als Reaktion auf gewalttätige Angriffe hindeutet (UN-OHCHR 8.3.2017).

Quellen:

KI vom 22.2.2017, Verurteilung von Parlamentariern der pro-kurdischen HDP

Am 20.2.2017 hat die Demokratische Partei der Völker (HDP) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRK) eine Beschwerde wegen der andauernden Inhaftierung ihrer beiden Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag eingereicht. Die HDP begründete dies u.a. mit dem Umstand, dass das Verfassungsgericht seit 95 Tagen keine Untersuchungen durchgeführt habe, und dadurch die beiden Parlamentarier ihren legislativen Aufgaben nicht nachkommen können (HDN 20.2.2017).

Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir fordert seit Jänner 2017 bis zu 142 Jahre Haft für Demirtas. Ihm werden unter anderem die Leitung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und Terrorpropaganda vorgeworfen (TS 17.1.2017). Ein Gericht im osttürkischen Dogubeyazit befand inzwischen am 21.2.2017 Selahattin Demirtas der "Herabwürdigung der türkischen Nation, des türkischen Staates und seiner Institutionen " schuldig und verurteilte ihn zu fünf Monaten Haft. Zudem wurde am 21.2.2017 Figen Yüksekdag ihr Parlamentsmandat aberkannt. Grund ist das Urteil des obersten Verwaltungsgerichts, das eine vorherige Verurteilung der Politikerin zu einer zehnmonatigen Haftstrafe wegen Terrorpropaganda bestätigt hatte (AM 21.2.2017; vergleiche Zeit 21.2.2017). Idris Baluken, ein weiterer HDP-Abgeordneter, der eng mit den damaligen Friedensgesprächen zwischen der Regierung und dem inhaftierten PKK-Führer, Abdullah Öcalan, engagiert war, wurde nach Beanstandungen eines Appellationsgerichts erneut verhaftet (AM 21.2.2017).

Quellen:

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/02/turkey-unseats-figen-yuksedag-kurdish-bloc-leader.html, Zugriff 22.2.2017

http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/tuerkei-selahattin-demirtas-haftstrafe-figen-yueksekdag-mandat, Zugriff 22.2.2017

http://www.hurriyetdailynews.com/opposition-hdp-applies-to-euro-court-over-arrest-of-co-leaders.aspx?pageID=238&nID=109967&NewsCatID=338, Zugriff 22.2.2017

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine parlamentarische Republik, deren rechtliche Grundlage auf der Verfassung von 1982 basiert. In dieser durch das Militär initiierten und vom Volk angenommenen Verfassung wird das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung verankert. Die Türkei ist laut Verfassung eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik, welche die Menschenrechte achtet und sich dem Nationalismus Atatürks verbunden fühlt (bpb 11.8.2014). Oberhaupt des Staates ist der Staatspräsident (IFES 2016a). Recep Tayyip Erdogan, der zuvor zwölf Jahre lang Premierminister war, gewann am 10.8.2014 die erstmalige direkte Präsidentschaftswahl, bei der auch zum ersten Mal im Ausland lebende türkische Staatsbürger an nationalen Wahlen teilnahmen (bpb 11.8.2014; vergleiche BBC 8.12.2015; vergleiche Presse 10.8.2014).

Nach einer Unterredung mit Staatspräsident Erdogan kündigte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am 5.5.2016 seinen Rücktritt als Partei- und Regierungschef an. Davutoglu galt zuletzt als Erdogans Widersacher auf dem Weg zu einem Umbau der Türkei zur Präsidialrepublik (WZ 5.5.2016; vergleiche SD 5.5.2016). Die Spannungen zwischen Davutoglu und seiner Partei erreichten am 29.4.2016 einen Höhepunkt, als das Zentrale Exekutivkomitee der AKP beschloss, Davutoglu die Befugnis zur Ernennung der lokalen Parteiführer zu entziehen (HDN 5.5.2016). Neuer Ministerpräsident wurde Ende Mai Binali Yildirim, der sich durch eine besondere, selbstbekundete Loyalität zu Staatspräsident Erdogan auszeichnet (NZZ 29.5.2016).

Der Ministerpräsident und die auf seinen Vorschlag hin vom Staatspräsidenten ernannten Minister bzw. Staatsminister bilden den Ministerrat, der die Regierungsgeschäfte führt. Überdies ernennt der Staatspräsident 14 von 17 Mitglieder des Verfassungsgerichtes für zwölf Jahre. In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Das türkische Parlament, die Große Türkische Nationalversammlung, wird für vier Jahre gewählt. Gewählt wird nach dem Verhältniswahlrecht in 85 Wahlkreisen. Im Unterschied zu unabhängigen KandidatInnen gilt für politische Parteien landesweit eine Zehn-Prozent-Hürde (OSCE 18.8.2015).

2015 fanden zweimal Parlamentswahlen statt. Die Wahlen vom 7.6.2015 veränderten die bisherigen Machtverhältnisse in der Legislative. Die seit 2002 alleinregierende AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) verlor zehn Prozent der Wählerstimmen und ihre bisherige absolute Mehrheit. Dies war auch auf den Einzug der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) zurückzuführen, die deutlich die nötige Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schaffte (AM 8.6.2015; vergleiche HDN 9.6.2015). Der Wahlkampf war überschattet von zahlreichen Attacken auf Parteilokale und physischen Übergriffen auch mit Todesopfern. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) kritisierte überdies den Druck auf regierungskritische Medien sowie die unausgewogene Berichterstattung, insbesondere des staatlichen Fernsehens zugunsten der regierenden AKP. Überdies hat Staatspräsident Erdogan im Wahlkampf eine aktive Rolle zugunsten seiner eigenen Partei eingenommen, obwohl die Verfassung den Staatspräsidenten zur Neutralität verpflichtet (OSCE 8.6.2015).

Die Parlamentswahlen vom 1.11.2015, die als Folge der gescheiterten Regierungsbildung abgehalten wurden, endeten mit einem unerwartet deutlichen Wahlsieg der seit 2002 alleinregierenden AKP. Die AKP gewann fast die Hälfte der abgegebenen Stimmen, was einen Zuwachs von rund neun Prozent im Vergleich zu den Juni-Wahlen bedeutete. Da die pro-kurdische HDP, zwar unter Verlusten, die nötige Zehn-Prozenthürde für den Einzug ins Parlament schaffte, verfehlte die AKP die Verfassungsmehrheit, um das von ihrem Vorsitzenden und gegenwärtigen Staatspräsident, Recep Tayyip Erdogan, angestrebte Präsidialsystem zu errichten (Guardian 2.11.2015; vergleiche Standard 2.11.2015).

Im 550-köpfigen Parlament sind vier Parteien vertreten: die islamisch-konservative AKP mit 49,5 Prozent der Wählerstimmen und 317 Mandaten (Juni 2015: 258), die sozialdemokratische CHP (Republikanische Volkspartei) mit 25,3 Prozent und 134 Sitzen (bislang 132), die rechts-nationalistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit 11,9 Prozent und 40 Sitzen (bislang 80) sowie die pro-kurdische HDP mit 10,8 Prozent und 59 (bislang 80) Mandaten (IFES 2016b).

Der polarisierte Wahlkampf war überschattet von einer Gewalteskalation, insbesondere durch das Attentat vom 10.10.2015 in Ankara, bei welchem über 100 Menschen starben. Nebst Attacken vor allem auf Mitglieder und Parteilokale der pro-kurdischen HDP wurden mehrere HDP-Mitglieder festgenommen. Überdies wurden Mitglieder aller drei parlamentarischen Oppositionsparteien wegen Verunglimpfung von Amtsvertretern und Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Insbesondere im Südosten des Landes war infolge der verschlechterten Sicherheitslage und der darauf folgenden Errichtung von speziellen Sicherheitszonen und der Verhängung von Ausgangssperren ein freier Wahlkampf nicht möglich. Die zunehmende Anwendung von Bestimmungen des Anti-Terrorismus- und des Strafgesetzbuches während des Wahlkampfes führte dazu, dass gegen eine große Anzahl von Journalisten, Benutzern Sozialer- und Informationsmedien Untersuchungen wegen Verleumdung oder Terrorismusverdacht eingeleitet wurden. Zudem gab es Fälle von Gewalt gegen Medienhäuser und Journalisten (OSCE/ODHIR 23.10.2015; vergleiche OSCE/ODHIR 2.11.2015).

Laut dem Bericht der Europäischen Kommission vom November 2016 sind Fortschritte in der Anpassung des Gesetzesrahmens an die Europäischen Standards ausgeblieben. Weiterhin bedarf es einer umfassenden Reform des parlamentarischen Regelwerkes, um die Inklusion die Transparenz und die Qualität der Gesetzgebung sowie eine effektive Aufsicht der Exekutive zu verbessern. Die parlamentarische Aufsicht über die Exekutive blieb schwach. Wann immer das Parlament seine Instrumente der Befragung oder der Untersuchungsausschüsse anwandte, blieben weiterführende Maßnahmen der Regierung unzureichend. Die Fähigkeit des Parlaments seine Schlüsselfunktionen, nämlich die Gesetzgebung und Aufsicht der Exekutive, auszuüben, blieb bis zum 15.7.2016 von politischer Konfrontation überschattet. Die Gesetzgebung wurde oft ohne ausreichende Debatte im Parlament und ohne Konsultation der Beteiligten vorbereitet und verabschiedet. Nach der Erklärung des Ausnahmezustandes und seiner Ausweitung war die Rolle des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Es gab weder Fortschritte bei der Reform der parlamentarischen Regeln und Verfahren noch hinsichtlich der Wahl- und Parteiengesetzgebung nach Europäischen Standards. Der im Dezember 2013 zum Stillstand gekommene Verfassungsreformprozess wurde im Februar 2016 wiederbelebt. Allerdings brachen die Diskussionen im Vermittlungsausschuss des Parlaments bald zusammen, da es zur Blockade wegen des von der regierenden AKP vorgeschlagenen Präsidialsystems kam (EC 9.11.2016).

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vergleiche HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vergleiche HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).

Die Erklärung des Ausnahmezustandes vom 20. Juli führte zu erheblichen Gesetzesänderungen, die durch Dekrete ohne vorherige Konsultation des Parlaments angenommen wurden, obwohl eine begrenzte Konsultation der Oppositionsparteien vorgenommen wurde. Im Einklang mit Artikel 120 der Verfassung werden die Erlasse im Rahmen des Ausnahmezustands innerhalb von 30 Tagen dem Parlament zur Genehmigung unterbreitet. Die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission, die Vertreter aller vier Parteien einschließt und Stellungnahmen zu den Dekreten erhält, die während des Ausnahmezustands erlassen werden sollen, wird geprüft (EC 9.11.2016).

Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden. Während des Ausnahmezustands können nach Artikel 15 Grundrechte eingeschränkt oder ausgesetzt werden. Auch dürfen Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden. Unverletzlich bleibt das Recht auf Leben. Niemand darf zudem gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung (DTJ 21.7.2016). Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, machte unter Zitierung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) klar, wonach jegliche Beeinträchtigung von Rechten der Situation angemessen sein muss, und dass unter keinen Umständen von Artikel 2 - das Recht auf Leben, Artikel 3 - das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung und Artikel 7 - keine Bestrafung jenseits des Gesetzes, abgewichen werden darf. Opfer von Verletzungen der Menschenrechtskonvention durch die Türkei, infolge der verabschiedeten Maßnahmen unter dem Ausnahmezustand, hätten laut Jagland weiterhin das Recht, den EGMR anzurufen (CoE 25.7.2016).

Der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand ist Anfang Jänner 2017 bis zum 19. April 2017 verlängert worden. Das Parlament in Ankara stimmte dem Antrag der Regierung auf Verlängerung um weitere drei Monate zu. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus begründete dies unter anderem mit anhaltenden terroristischen Angriffen auf die Türkei (FAZ 3.1.2017).

Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli wurden in der Türkei bereits mehr als 42.000 Menschen festgenommen und etwa 120.000 weitere entlassen oder vom Dienst suspendiert. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten wurden unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Das enteignete Firmenvermögen beläuft sich auf geschätzte zehn Mrd. US-Dollar (FNS 1/2017). Laut "TurkeyPurge.com", einer Internetplattform, die aktuelle Informationen zur staatlichen Verfolgung von vermeintlichen Unterstützern des gescheiterten Putschen oder militanter Organisationen sammelt, waren mit Stand 5.2.2017 rund 124.000 Personen entlassen worden, davon fast 7.000 Akademiker sowie über

3.800 Richter und Staatsanwälte. Fast 91.000 Personen waren festgenommen worden, wovon über 44.500 inhaftiert wurden (TP 17.1.2017).

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vergleiche DF 28.7.2015).

Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vergleiche Standard 14.4.2016).

Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. Die Gesetzesänderung, welche die Aufhebung der Immunität einer großen Zahl von Parlamentariern bewirkte sowie die darauf folgende Festnahme und Inhaftierung mehrerer Abgeordneter der [pro-kurdischen] HDP Anfang November 2016, die beiden Ko-Vorsitzenden eingeschlossen, werden mit großer Sorge gesehen (EC 9.11.2016).

Die von Staatschef Erdogan angestrebte Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Türkei ist vom Parlament am 21.1.2017 verabschiedet worden. In Kraft treten können die Änderungen allerdings erst, wenn das Volk in einem Referendum zustimmt. Für das von der regierenden AKP vorgelegte Reformpaket aus 18 Artikeln stimmten 339 Abgeordneten, 142 waren dagegen. Die notwendige Drei-Fünftel-Mehrheit von mindestens 330 Stimmen wurde auch mit Hilfe von Abgeordneten aus der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP erzielt. Die Umsetzung der Verfassungsreform soll schrittweise erfolgen und bis Ende 2019 vollständig abgeschlossen sein. Das Präsidialsystem würde Staatspräsident Erdogan deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen. Der Präsident würde zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und könnte weitgehend per Dekret regieren. Sein Einfluss auf die Justiz würde weiter zunehmen Die besagten Dekrete treten mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist nicht vorgesehen. Die Dekrete werden nur dann unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren (DTJ 23.1.2017; vergleiche FAZ 21.1.2017). Obwohl Präsidentschaftsdekrete einer Überprüfung durch das Verfassungsgericht unterliegen, dürfte das Gericht nicht mehr unabhängig und unparteiisch genug sein. Nach der Verfassungsänderung hätte das Verfassungsgericht 15 Mitglieder, die meisten direkt oder indirekt vom Präsidenten ernannt. Darüber hinaus wird der Präsident auch eine wichtige Rolle bei der Formierung des Obersten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) spielen (WP 24.1.2017). Laut Ministerpräsident Yildirim sollte das Referendum Anfang April 2017 stattfinden (TM 26.1.2017).

Quellen:

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http://derstandard.at/2000034877696/EU-Parlament-kritisiert-Rueckschritte-der-Tuerkei, Zugriff 25.1.2017

http://derstandard.at/2000041330782/Tuerkei-Die-tadellosen-Maenner-putschen-womoeglich-zu-frueh, Zugriff 25.1.2017

http://derstandard.at/2000024890539/Teilergebnisse-Klarer-Sieg-fuer-Erdogan, Zugriff 24.1.2017

http://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-praesident-erdogan-beendet-friedensprozess-mit-pkk.1818.de.html?dram:article_id=326655, Zugriff 24.1.2017

Ausnahmezustand in Kraft - das sagt die Verfassung, http://dtj-online.de/turkei-ausnahmezustand-in-kraft-das-sagt-die-verfassung-77612, Zugriff 25.1.2017

http://dtj-online.de/die-verfassungsreform-ist-durchs-parlament-nun-muss-das-volk-entscheiden-82391, Zugriff 25.1.2017

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 24.1.2017

20160407IPR21789]
http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/20160407IPR21789/T%C3%BCrkei-Reformen-in-Schl%C3%BCsselbereichen-dringend-ben%C3%B6tigt, Zugriff 25.1.2017

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-verlaengert-ausnahmezustand-bis-april-14603809.html, Zugriff 25.1.2017

Davutoglu-AKP board tensions rose step-by-step, http://www.hurriyetdailynews.com/as-it-happened-davutoglu-akp-board-tensions-rose-step-by-step-.aspx?pageID=238&nID=98797&NewsCatID=338, Zugriff 24.1.2017

http://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-doesnt-rule-out-death-penalty-for-coup-soldiers.aspx?pageID=238&nID=101798&NewsCatID=338, Zugriff 24.1.2017

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Republic of Turkey, Parliamentary Elections 7 June 2015, OSCE/ODIHR Limited Election Observation Mission Final http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/177926?download=true, Zugriff 24.1.2017

Early Parliamentary Elections, 1 November 2015: Interim Report, 28 September - 21 October 2015,
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Statement of Preliminary Findings and Conclusions, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/196351?download=true, Zugriff 24.1.2017

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/3852670/Erdogan_Die-Nation-hat-ihren-Willen-ausgedruckt?from=suche.intern.portal, Zugriff 24.1.2017

http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-und-eu-nach-dem-putsch-todesstrafe-als-rote-linie-a-1103512.html, Zugriff 26.1.2017

http://www.tagesschau.de/ausland/erdogan-ankuendigung-101.html, Zugriff 25.1.2017

http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/europa/europastaaten/817049_Wieder-heisst-der-Gewinner-Erdogan.html, Zugriff 24.1.2017

2. Sicherheitslage

Als Reaktion auf den gescheiterten Putsch vom 15.7.2016 hat der türkische Präsident am 20.7.2016 den Notstand ausgerufen. Dieser berechtigt die Regierung, verschiedene Einschränkungen der Grundrechte wie der Versammlungs- oder der Pressefreiheit zu verfügen (EDA 24.1.2017). Auf der Basis des Ausnahmezustandes können u. a. Ausgangssperren kurzfristig verhängt, Durchsuchungen vorgenommen und allgemeine Personenkontrollen jederzeit durchgeführt werden. Personen, gegen die türkische Behörden strafrechtlich vorgehen (etwa im Nachgang des Putschversuchs oder bei Verdacht auf Verbindungen zur sogenannten Gülen-Bewegung), kann die Ausreise untersagt werden (AA 24.1.2017a).

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Seit dem Sommer 2015 hat die Zahl der Anschläge zugenommen. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben die Attentate zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 24.1.2017).

Die Situation im Südosten, so die Europäische Kommission, blieb eine der schwierigsten Herausforderungen für das Land. Die Türkei sah sich mit einer weiterhin sehr ernsten Verschlechterung der Sicherheitslage konfrontiert, in der es zu schweren Verlusten an Menschenleben nach dem Zusammenbruch der Verhandlungen zur Lösung der Kurdenfrage im Juli 2015 kam. Das Land wurde von mehreren terroristischen Großangriffen seitens der PKK und dem sog. Islamischen Staat (auch Da'esh) betroffen. Die Behörden setzten ihre umfangreiche Anti-Terror-kampagnen gegen die kurdische Arbeiterpartei (PKK) fort.Das Ausmaß der Binnenflucht aus jenen Zonen, in denen eine Ausgangssperre herrschte, sowie der mangelnde Zugang zur Grundversorgung in diesen Gebieten gaben der EK ebenfalls Anlass zu großer Sorge. Die EK sah die dringliche Notwendigkeit des ungehinderten Zuganges von unabhängigen Ermittlern in die Region. Überdies zitierte die EK die Venediger Kommission des Europarates, wonach sich die Verhängung der Ausgangssperren weder im Einklang mit der türkischen Verfassung noch mit den internationalen Verpflichtungen des Landes befände (EC 9.11.2016).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) wies auf die rechtliche Einschätzung der Venediger Kommission vom 13.6.2016 hin, wonach die seit August 2015 verhängten Ausgangssperren im Südosten des Landes gegen die türkische Verfassung und den Rechtsrahmen verstoßen haben. Denn Ausgangssperren können nur in Zusammenhang mit dem materiellen oder dem Notstandsrecht verhängt werden, wofür es aber eines parlamentarischen Beschlusses bedarf, welcher jedoch nie gefasst wurde. Die Versammlung zeigte sich auch besorgt, dass 21 demokratisch gewählte kurdische Bürgermeister verhaftet und 31 weitere wegen Unterstützung oder Begünstigung einer terroristischen Organisation entlassen wurden. Die Versammlung äußerte ihre Besorgnis ob der breiten Interpretation des Anti-Terror-Gesetzes, um gewaltfreie Äußerungen zu bestrafen und jede Botschaft zu kriminalisieren, wenn diese sich bloß vermeintlich mit den Interessen einer Terrororganisation deckten (PACE 22.6.2016).

Mehr als 80 Prozent der Provinzen im Südosten des Landes waren von Gewalt betroffen. Sieben von neun Provinzen Südostanatoliens sowie zwölf von 14 Provinzen Ostanatoliens waren von Attentaten der PKK, der TAK und des sog. IS, Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen. In den Provinzen Diyarbakir, Mardin und Sirnak kam es zu den meisten, in Hakkâri, Kilis, Sanliurfa und Van zu relativ vielen Vorfällen (SFH 25.8.2016).

Für den Menschenrechtskommissar des Europarates bestand kein Zweifel daran, dass weite Bevölkerungsteile von den Ausgangssperren und Antiterrormaßnahmen betroffen waren. Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates waren 1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren von den Sperrstunden betroffen, und mindestens 355.000 Personen wurden vertrieben. Zahlreichen glaubwürdigen Berichten zufolge, die durch dokumentarische Beweise und Videoaufnahmen gesichert wurden, haben die türkischen Sicherheitskräfte in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt, darunter auch Artillerie und Mörser sowie Panzer und schwere Maschinengewehre. Dies deckt sich mit den Zerstörungen, die der Menschenrechtskommissar angetroffen hat. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört. Der Gouverneur von Diyarbakir schätzte, dass 50% der Häuser von sechs Stadtvierteln in der Altstadt von Sur nun völlig unbewohnbar wurden, und dass weitere 25% beschädigt wurden (CoE-CommDH 2.12.2016).

Bereits im März 2016 wurde von schweren Verwüstungen der Stadt Cizre berichtet. Vom Cudi-Viertel auf der linken Seite des Tigris waren nur noch die Ruinen eingestürzter Häuser übrig; ein Hinweis darauf, dass die Panzer mit ihren Granaten systematisch auf die Stützpfeiler der Wohnhäuser zielten. 80 Prozent der Wohngebiete in Cizre sollen zerstört worden sein (LMD 7.7.2016). In Silopi wurden gemäß Regierungsberichten vom März 2016 6.694 Häuser und Wohnungen im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und PKK-nahen Guerillakämpfern beschädigt, wobei 27 komplett zerstört wurden. Lokale Quellen setzten die Zahl der betroffenen Wohnstätten wesentlich höher an. 241 Wohnobjekte, die im Regierungsbericht nicht aufscheinen, seien völlig zerstört worden (Rudaw 15.3.2016).

Laut der Sicherheitsagentur "Verisk Maplecroft" wurden 2016 bei 269 Terroranschlägen 685 Menschen getötet und mehr als 2.000 verwundet (FT 4.1.2017). Das "Bipartisan Policy Center" zählte bis Dezember 2016 eine Verdoppelung der Opferzahlen im Vergleich zu 2015. Beinahe 300 Personen wurden 2016 bei den größeren Terroranschlägen der Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) und des sog. Islamischen Staates getötet. 2015 waren es weniger als 150 (BI 21.12.2016).

Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet.

Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).

Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP (Stratfor 15.4.2016). Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen (HDN 4.4.2016). Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C) [siehe 3.5] (HDN 4.4.2016; vergleiche ANF News 12.3.2016). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u. a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet (ANF News 12.3.2016).

Quellen:

http://derstandard.at/2000043149810/Anschlahgg-auf-Kurdenhohzeit-Ein-Kind-als-Attentaeter, Zugriff 24.1.2017

http://derstandard.at/2000040160430/Istanbul-Anschlag-Spur-nach-Russland-und-Zentralasien, Zugriff 24.1.2017

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 24.1.2017

http://semantic-pace.net/tools/pdf.aspx?doc=aHR0cDovL2Fzc2VtYmx5LmNvZS5pbnQvbncveG1sL1hSZWYvWDJILURXLWV4dHIuYXNwP2ZpbGVpZD0yMjk1NyZsYW5nPUVO&xsl=aHR0cDovL3NlbWFudGljcGFjZS5uZXQvWHNsdC9QZGYvWFJlZi1XRC1BVC1YTUwyUERGLnhzbA==&xsltparams=ZmlsZWlkPTIyOTU3, Zugriff 25.1.2017

http://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/15032016, Zugriff 24.1.2017

Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017

3. Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gerichte sind nach dem Gesetz in drei Instanzen unterteilt: die sechs Höchstgerichte, die Regionalgerichte und die Gerichte erster Instanz. Doch die Gerichte der zweiten Instanz - die regionalen Berufungsgerichte und regionalen Verwaltungsgerichte - errichtet auf der Basis des Gesetzes Nr. 5235 im Jahr 2004, sind noch nicht als Zweitgerichte tätig. Das derzeitige Gerichtssystem arbeitet daher in der Praxis nur mit zwei Instanzen. Ende 2015 waren rund 9.900 Richter an den Gerichten tätig. Das Verfassungsgericht überprüft insbesondere die Verfassungsmäßigkeit - sowohl die Form als auch den Inhalt - von Gesetzen, Verordnungen mit Gesetzeskraft und der Geschäftsordnung des Parlaments. Es entscheidet auch über Individualvorbringen in Bezug auf die angebliche Verletzung von Grundrechten und Freiheiten in Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention durch die staatlichen Behörden. Neben dem Verfassungsgericht bestehen noch folgende Höchstgerichte: das Kompetenzkonfliktgericht, es entscheidet als Letztinstanz bei Konflikten bezüglich Urteilen und der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungsgerichte und der Militärgerichte. Das Kassationsgericht, es entscheidet als letzte Instanz über die Entscheidungen und Urteile der Zivil- und Strafgerichte, die im Gesetz nicht andere Justizbehörden zugeordnet sind. Der Staatsrat [Verwaltungsgerichtshof], der insbesondere als Letztinstanz die Entscheidungen und Urteile der Verwaltungsgerichte überprüft. Und schlussendlich gibt es noch wie für das Militär jeweils ein eigenes Militärverwaltungsgericht und ein Militärkassationsgericht (GRECO 17.3.2016).

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung durch Artikel 7, (Legislative), 8 (Exekutive) und 9 (Judikative) festgelegt. Laut Artikel 9, erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte "im Namen der türkischen Nation". Die in Artikel 138, der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u.a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Hohen Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Allerdings gab es im Februar 2014 im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des Hohen Rates. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenz an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des HSYK ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers wurde der Einfluss der Regierung im Hohen Rat deutlich spürbarer (AA 29.9.2015).

Laut Europäischer Kommission hat das türkische Justizsystem Rückschritte gemacht, insbesondere hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, was eine bedeutende Herausforderung für das Justizsystem insgesamt darstellt. Die umfangreichen Änderungen an den Strukturen und der Zusammensetzung der Höchstgerichte sind ernsthaft besorgniserregend, da sie die Unabhängigkeit der Justiz bedrohen und nicht den europäischen Standards entsprechen. Richter und Staatsanwälte wurden weiterhin von ihren Positionen entfernt und, auf Vorwürfe der Verschwörung mit der Gülen-Bewegung hin, in einigen Fällen verhaftet. Die Situation verschlechterte sich weiter nach dem Putschversuch vom 15.7.2016, nach welchem ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte entlassen und ihr Vermögen eingefroren wurde. Es gab zahlreiche Berichte über selektive Justiz und politische Einmischung in Gerichtsfälle. Es besteht ernsthafte Sorge hinsichtlich der Einmischung der Regierung in Justizfälle, etwa in Form von öffentlichen Kommentaren, die die Glaubwürdigkeit der Justiz als Ganzes untergräbt. Das Gesetz vom Juli 2016, welches die Struktur und die Zusammensetzung des Kassationsgerichts und des Staatsrats änderte, führte ebenfalls zu ernsthafter Besorgnis seitens der EK, dass dies Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz hat. Wiederholte Änderungen der internen Organisation der Justizkörper und des Gerichtssystems, insbesondere des Strafgerichtssystems, bewirken Rechtsunsicherheit (EC 9.11.2016).

Hinsichtlich der von der Regierung angestrebten Gesetzesreformen sieht die Europäische Kommission wesentliche Teile der Gesetzgebung, die die Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte betreffen nicht mit den Europäischen Standards im Einklang stehend. Laut EK muss der Rechtsrahmen, der allgemeine Garantien bezüglich der Respektierung der Menschen- und Grundrechte enthält, weiter verbessert werden. Die Vollstreckung der Rechte auf Basis der Europäischen Konvention für Menschenrechte sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist noch nicht gewährleistet (EC 9.11.2016).

Am 5.6.2016 ordnete der HSYK die Versetzung von 3.750 Richtern und Staatsanwälten an, wobei jene die im Sinne der Regierung Urteile gefällt hatten, befördert, andere hingegen degradiert wurden (Al-Monitor 14.6.2016, vergleiche HDN 7.6.2016). Am 1.7.2016 ratifizierte das türkische Parlament ein Gesetz zur Umstrukturierung des Staatsrates, der vor allem für die Verwaltungskontrolle zuständig ist, und des Kassationsgerichtes, auch Oberstes Appellationsgericht genannt. Vorgesehen waren die Reduzierung der Kammern und der Mitgliederzahl, sowie vorab die Entlassung sämtlicher Richter der beiden obersten Gerichte mit Ausnahme der Gerichtspräsidenten, deren Stellvertreter und der Generalstaatsanwälte. Für die Neubesetzung der Gerichte ist der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) zuständig. Im Falle des Staatsrats wird ein Viertel der Richter vom Staatspräsidenten bestimmt (Anadolu 1.7.2016, vergleiche FNS 30.6.2016, Standard 2.7.2016).

Am 16.7.2016, dem Tag nach dem gescheiterten Putschversuch, wurden gegen 2.745 Richter und Staatsanwälte Haftbefehle erlassen, unmittelbar nachdem ihre Suspendierung durch den HSYK angeordnet worden war. Ihnen wurden Verbindungen zur Gülen-Bewegung, die laut türkischer Regierung hinter dem Putschversuch steht, unterstellt. Unter den Verhafteten befanden sich auch zwei Richter des Verfassungsgerichtes und insgesamt 58 Richter des Staatsrates. Gegen 140 Richter des Obersten Appellationsgerichtes wurden Haftbefehle erlassen und elf von ihnen festgenommen (HDN 16.7.2016). Am 25.7.2016 beschloss der HSYK unter Anwesenheit von 17 seiner 22 Mitglieder unter Vorsitz von Justizminister Bekir Bozdag die Ernennung von 267 neuen Richtern des Obersten Appellationsgerichtes und 75 Mitgliedern des Staatsrates. Zwei Tage zuvor hatte Staatspräsident Erdogan eine entsprechende Gesetzesvorlage gebilligt, welche u.a. das Gesetz über den Staatsrat abänderte. Zwischenzeitlich entschied die Generalversammlung des HSYK fünf ihrer 22 Mitglieder auszuschließen, weil gegen sie seitens der Generalstaatsanwaltschaft Ankara ein Haftbefehl vorlag (HDN 25.7.2016). Am 15.11.2016 entließ der HSYK weitere 2013 Richter und Staatsanwälte, deren Namen im Amtsblatt veröffentlicht wurden (TP 17.11.2016). Am 1.12.2016 erfolgte die Suspendierung von weiteren 191 Richtern und Staatsanwälten wegen möglicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung (HDN 2.12.2016), am 20.12.2016 eine ebensolche von 96 Richtern und Staatsanwälten (TP 20.12.2016). Mit Stand 17.1.2017 sind laut "TurkeyPurge" seit dem 15.7.2016 3.843 Richter und Staatsanwälte entlassen worden (TS 17.1.2017).

Die Umstrukturierung des Kassationshofs und des Staatsrates nach den im Juli verabschiedeten Gesetzen erforderte die Neuernennung aller Richter dieser Gerichte. Neue Richter wurden schnell, durch Verfahren, denen Transparenz fehlte, ernannt. Das Nominierungsverfahren des HSYK stand unter starkem Einfluss der Regierung (ICJ 6.12.2016).

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), die erste Nicht-Regierungs-Organisation der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vergleiche AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV eben mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).

Diese Maßnahmen - die personellen Umstrukturierungen der Höchstgerichte, die Massenentlassungen, und das Verbot von YARSAV - haben laut der Internationalen Juristenkommission (ICJ) zur Erosion der Gewaltenteilung in der Türkei beigetragen und ernsthaft die Unabhängigkeit der Justiz auf allen Ebenen untergraben, sowie die Fähigkeit der Gerichte zu fairen Prozessen kompromittiert. In ähnlicher Weise zeigte sich die ICJ wegen jener Maßnahmen besorgt, die die Unabhängigkeit der Rechtsberufe und der Fähigkeit der Anwälte, die Menschenrechte zu schützen, unterminieren. Denn mehr als 573 Anwälte wurden laut Berichten im Zuge des Putschversuches verhaftet und mehr als 200 von ihnen eingesperrt sowie deren Vermögen eingefroren (ICJ 6.12.2016).

Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates - der Venediger-Kommission - verabschiedetes Gutachten kommt zu dem Schluss, dass die türkischen Behörden zwar "mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung" konfrontiert waren und "gute Gründe" hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands im Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. So wurden zehntausende Beamte auf der Grundlage den Notdekreten beigefügten Listen entlassen. Diese Massenentlassungen beruhten nicht auf einzelfallbezogenen, nachprüfbaren Beweisen. Laut dem Gutachten lässt sich aus der Geschwindigkeit, mit der diese Listen veröffentlicht wurden, schließen, dass die Massenentlassungen nicht mit Mindestverfahrensgarantien einhergingen. Diese Entlassungen unterlagen offensichtlich keiner richterlichen Kontrolle, zumindest blieb der Zugang zur gerichtlichen Überprüfung umstritten. Derartige Methoden, um den Staatsapparat zu säubern, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist laut Kommission zu vage definiert und stellt keine aussagekräftige Verbindung mit solchen Organisationen her. Die Kommission betont, dass selbst unter der Annahme, dass einige Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, dieser Umstand nicht dazu verwendet werden sollte, straf- und disziplinarrechtlich gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen (CoE-VC 9.12.2016).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Insbesondere im Südosten werden Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder dessen zivilem Arm KCK häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht - etwa durch Abwesenheit - nicht gehört werden kann. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (AA 29.9.2015).

Quellen:

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http://aa.com.tr/en/turkey/turkish-parliament-ratifies-restructure-to-high-courts/600914, Zugriff 23.1.2017

http://derstandard.at/2000040280773/Richterbund-Tuerkische-Justizreform-verfassungswidrig?ref=rec, 23.1.2017

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 23.1.2017

römisch IV Rep (2015) 3E],
https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016806c9d29, Zugriff 23.1.2017

http://www.hurriyetdailynews.com/342-new-members-appointed-to-top-judicial-bodies.aspx?pageID=238&nID=102058&NewsCatID=341, Zugriff 23.1.2017

emergency measures have gravely damaged the rule of law, https://www.icj.org/turkey-emergency-measures-have-gravely-damaged-the-rule-of-law/, Zugriff 23.1.2017

http://website-pace.net/documents/18848/2197130/20161215-Apdoc18.pdf/35656836-5385-4f88-86bd-17dd5b8b9d8f, Zugriff 24.1.2017

http://turkeypurge.com/96-more-judges-prosecutors-suspended-over-coup-charges, 23.1.2017

4. Sicherheitsbehörden

Die Polizei untersteht dem Innenministerium und übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Sie hat, wie auch der nationale Geheimdienst MIT (Millî Istihbarat Teskilâti), der sowohl für die Inlands- wie für die Auslandsaufklärung zuständig ist, unter der AKP-Regierung an Einfluss gewonnen. Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig, rekrutiert sich aus Wehrpflichtigen und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz. Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen (AA 29.9.2015).

Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Im Gegenzug kündigte Innenminister Süleyman Soylu bereits im September 2016 an, 20.000 neue Polizeibeamte rekrutieren zu wollen, wobei die Hälfte den Sondereinheiten zugeteilt würde (YS 9.9.2016).

Das türkische Parlament billigte 2014 eine umstrittene Geheimdienstreform, die die Befugnisse des Geheimdienstes MIT erheblich ausweitete. So hat der MIT weitgehend freie Hand für Spionageaktivitäten im In- und Ausland. Dazu gehören das Abhören von Privattelefonaten und das Sammeln von geheimdienstlichen Erkenntnissen mit Bezug auf "Terrorismus und internationale Verbrechen". Bislang war für jeden Fall eine gerichtliche Genehmigung erforderlich. Zudem wurden Gefängnisstrafen für Journalisten eingeführt, die vertrauliche Geheimdienstinformationen veröffentlichen (FAZ 17.4.2014). Auch Personen, die dem MIT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die Entscheidung, ob der MIT-Vorsitzende im Laufe einer Ermittlung angeklagt werden darf, obliegt nun dem Staatspräsidenten. Im Falle von laufenden Untersuchungen kann der MIT-Vorsitzende innerhalb von zehn Tagen beim Präsidenten Einspruch erheben. Die letzte Entscheidung über den weiteren Verlauf des Falles liegt beim Präsidenten (ÖB 7.2014).

Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vergleiche FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Das Gesetz klassifiziert Steinschleudern, Stahlkugeln und Feuerwerkskörper als Waffen und sieht eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren vor, so deren Besitz im Rahmen einer Demonstration nachgewiesen wird oder Demonstranten ihr Gesicht teilweise oder zur Gänze vermummen. Bis zu drei Jahre Haft drohen Demonstrationsteilnehmern für die Zurschaustellung von Emblemen, Abzeichen oder Uniformen illegaler Organisationen (HDN 27.3.2015). Teilweise oder gänzlich vermummte Teilnehmer von Demonstrationen, die in einen "Propagandamarsch" für terroristische Organisationen münden, können mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden (Anadolu 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen. Die Exekutive kann eine Person bis zu 48 Stunden in Haft nehmen, wenn letztere an Veranstaltungen teilnimmt, die zur ernsthaften Störung der Öffentlichen Ordnung oder zu einem Straftatbestand führen können (Anadolu 27.3.2015).

Nach einer Gesetzesänderung vom 26.4.2014 muss der Staatsanwalt im Fall einer Beschwerde gegen das Geheimdienstpersonal den Geheimdienstchef informieren. Wenn der Geheimdienst die Vorwürfe des Fehlverhaltens mit seinen Pflichten oder Tätigkeiten in Verbindung setzt, wird die Untersuchung blockiert und den betroffenen Mitarbeitern des MIT wird Immunität gewährt. Die Staatsanwaltschaft hat somit keine Befugnis, direkt strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten oder die Tätigkeit des Geheimdienstes im Falle von angeblichen Rechtsverstößen einzuleiten (HRW 29.4.2014).

Ende Juni 2016 wurde ein Gesetz verabschiedet, das kämpfenden Soldaten Immunität gewährt. Gemäß dem vom Verteidigungsministerium vorgelegten Entwurf wird eine von den Sicherheitsdiensten begangene Straftat als "militärisches Verbrechen" angesehen und vor einem Militärgericht verhandelt. Die Ermittlungs- und Gerichtsprozesse gegen Kommandeure und den Generalstab benötigen die Erlaubnis des Premierministers. Darüber hinaus sind Armeekommandanten befugt, Durchsuchungen von Häusern, Arbeitsplätzen oder anderen privaten Räumen zu erlassen (MEE 25.6.2016).

Quellen:

http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 19.1.2017

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 19.1.2017

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 19.1.2017

https://www.hrw.org/news/2014/04/29/turkey-spy-agency-law-opens-door-abuse, Zugriff 19.1.2017

http://www.yenisafak.com/en/news/turkey-to-recruit-20000-new-police-in-the-coming-period-2530201, Zugriff 19.1.2017

5. Allgemeine Menschenrechtslage

In der Türkei existieren weitreichende Gesetze zur Bekämpfung von Terrorismus und Machenschaften, die der Staat als Bedrohung einschätzt. Politische Freiheitsrechte wie die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Zugang zur und Effizienz der Justiz sind ungenügend. Gerichtliche Untersuchungen und Verhandlungen sind intransparent. Verdächtige kommen für undefinierte Zeit in Untersuchungshaft. Betroffen sind neben politisch aktiven Kurden auch Menschenrechtsverteidiger, Studenten, Journalisten und Gewerkschafter. Bei Demonstrationen greifen die Einsatzkräfte oft auf exzessive Gewalt zurück. Bei Vorwürfen gegen Beamte wegen Menschenrechtsverletzungen blieb Straffreiheit die Regel. Frauen, LGBT-Personen, Flüchtlinge und Asylbewerber sind von Diskriminierungen und Gewalt betroffen. Fälle von willkürlichen Abschiebungen und exzessiver Gewaltanwendung haben sich an der Grenze zu Syrien gehäuft (HR-CH 29.7.2016, vergleiche USDOS 13.4.2016).

Die türkische Menschenrechtsvereinigung (IHD) verlautbarte am 23.1.2017, dass 2016 ein katastrophales Jahr für Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gewesen sei, da fast 50.000 Menschenrechtsverletzungen gemeldet wurden, vor allem seit der Erklärung des Notstandes nach dem gescheiterten Staatsstreich. Besonders betroffen waren die südöstlichen Provinzen der Türkei (TP 24.1.2017).

Die EK zeigte sich besorgt, dass es unter den kriegsähnlichen Bedingungen in einigen Provinzen des Südostens zu systematischen, schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Es gäbe mehrfach glaubwürdige Berichte zu solchen Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte - Folter, Misshandlung und willkürliche Inhaftierung mit eingeschlossen. Extrem besorgniserregend sei ebenfalls der Umstand, dass es an offiziellen Informationen oder Nachforschungen zu all diesen Anschuldigungen mangelt (EC 9.11.2016).

Die Türkei hat dem Europarat über eine Abweichung (Derogation) seiner Verpflichtung zur Sicherung einer Reihe von durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützten Grundrechten mitgeteilt. Nach dem Putschversuch fanden sehr umfangreiche Suspendierungen, Entlassungen, Festnahmen und Inhaftierungen aufgrund angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und Beteiligung am versuchten Putsch statt. Die Maßnahmen betrafen das gesamte Spektrum der Gesellschaft, insbesondere die Justiz, die Polizei, die Gendarmerie, das Militär, den öffentlichen Dienst, die lokalen Behörden, die Hochschulen, die Lehrer, die Rechtsanwälte, die Medien und die Wirtschaft. Mehrere Institutionen und private Unternehmen wurden stillgelegt, ihre Vermögenswerte wurden beschlagnahmt oder öffentlichen Institutionen übertragen. Zunehmend wurden ernsthafte Vorwürfe hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen und den überproportionalen Einsatz von Gewalt durch die Sicherheitskräfte im Südosten berichtet. Viele gewählte Vertreter und städtische Führungskräfte im Südosten wurden suspendiert, ihrer Pflichten enthoben oder unter Terrorverdacht verhaftet. Zahlreiche Vorwürfe von schweren Verstößen gegen das Verbot von Folter und Misshandlung sowie von Verfahrensrechten wurden unmittelbar nach dem Putschversuch vermeldet. Ein Rechtsvakuum besteht bei Menschenrechtsfällen, da die neue nationale Einrichtung für Menschenrechte und Gleichheit noch nicht eingerichtet ist. Geschlechtsbasierte Gewalt, Diskriminierung, Hassreden gegen Minderheiten, Hassverbrechen und Menschenrechtsverletzungen an lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen und intersexuellen Personen (LGBTI) sind nach wie vor ein ernstes Problem. Im Bereich der Meinungsfreiheit hat es im vergangenen Jahr schwerwiegende Rückschläge gegeben. Die Versammlungsfreiheit ist nach wie vor stark eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger unterlagen Einschüchterungen und Verhaftungen. Im Rahmen der Maßnahmen nach dem Coup wurden viele Organisationen geschlossen. Extrem besorgniserregend sei ebenfalls der Umstand, dass es an offiziellen Informationen oder Nachforschungen zu all diesen Anschuldigungen mangelt. Die EK verlangte die genaue Untersuchung aller vermeintlichen Menschenrechtsverletzungen, die Verfolgung der Täter und die Entschädigung der Opfer (EC 9.11.2016).

Seit September 2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in 75 Fällen eine oder mehrere Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt, die vor allem das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, friedliche Versammlungsfreiheit, Verbot der Diskriminierung und Schutz des Eigentums. Insgesamt wurden 2.075 neue Anträge einem Entscheidungsgremium zugeteilt, wodurch die Zahl der anhängigen Anträge auf 7.982 anstieg. Die EU hat die Türkei aufgefordert, ihre Anstrengungen zur Umsetzung aller Urteile des EGMR zu intensivieren. Die Türkei hat 938 Fälle im Rahmen des verstärkten Überwachungsverfahrens anhängig (EC 9.11.2016).

Das EU-Parlament bekräftigte am 24.11.2016 in einer Resolution, dass die repressiven Maßnahmen der türkischen Regierung im Ausnahmezustand unverhältnismäßig sind und die durch die türkische Verfassung geschützten Grundrechte und Freiheiten sowie die demokratischen Werte verletzen, auf denen die Europäische Union und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) beruhen. Kritisiert wurde, dass Behörden seit dem Putschversuch zehn Mitglieder der türkischen Großen Nationalversammlung der Oppositionspartei HDP und etwa 150 Journalisten verhaftet, 2.386 Richter und Staatsanwälte und 40.000 andere Personen festgenommen haben - von denen mehr als 31.000 in Haft blieben - und gegen die meisten der 66.000 suspendierten und 63.000 entlassenen öffentlich Bediensteten bisher keine Anklageschrift vorliegt (EP 24.11.2016).

Am 7.10.2016 veröffentlichte der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, ein Memorandum zu den Folgewirkungen der in der Türkei im Rahmen des Ausnahmezustandes gesetzten Maßnahmen für die Menschenrechtslage. Muižnieks bedauerte die Verlängerung des Ausnahmezustandes und forderte die türkischen Behörden dazu auf, die Notstandsdekrete zurückzunehmen, beginnend mit jenen Bestimmungen, die den höchsten Grad an Willkür in ihrer Anwendung erlauben und am weitesten von der üblichen Rechtssicherheit abweichen (CoE-CommDH 7.10.2016). Dabei kritisierte Muižnieks den erschwerten Zugang für Festgenommene zu Rechtsbeihilfe oder die durch die Verhängung des Ausnahmezustands mögliche Untersuchungshaft von bis zu 30 Tagen. Mehr Transparenz bei der Prüfung von Mitgliedschaften in Terrororganisationen sei notwendig. Verdächtige sollten zumindest über Beweise gegen sie informiert werden. Weiterhin forderte er den sofortigen Stopp von Schließungen privater Unternehmen, wie etwa Medienhäuser, sowie deren Enteignung aufgrund einer einfachen Verwaltungsentscheidung (FNS 10.2016).

Anlässlich der Sitzung des UN-Menschenrechtsrates am 13.9.2016 stellte der UN Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra'ad Al Hussein, fest, dass die Sorge um die Menschenrechte im Südosten der Türkei weiterhin akut ist. Einlangende Berichte an den Hochkommissar sprachen von andauernden Verletzungen des internationalen Rechts sowie der Menschrechte, u.a. dem Tod von Zivilisten, außergerichtlichen Tötungen, Massenumsiedelungen und der Zerstörung von Städten und Dörfern. Der Hochkommissar kritisierte, dass dem Hochkommissariat trotz der Kooperation mit der Türkei, der Zugang zur Region zwecks einer umfassenden, unabhängigen Beurteilung der Lage, verweigert wurde (OHCHR 13.9.2016). Wenn der Zugang verweigert wird, müsse man laut Hochkommissar vom Schlimmsten ausgehen (NZZ 13.9.2016). Deshalb wurde eine temporäre Monitoring-Einheit in Genf eingerichtet, um dem Menschenrechtsrat auch weiterhin zu berichten (OHCHR 13.9.2016, vergleiche NZZ 13.9.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, warf den Sicherheitskräften im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vor, resultierend aus den Anti-Terror-Operationen und den Ausgangssperren. Darunter seien Verstöße gegen das Recht auf Leben, heißt es in einem Bericht vom 2.12.2016. Muižnieks stufte die teils monatelangen Ausgangssperren, die seit vergangenem Jahr immer wieder über Städte in den Kurdengebieten verhängt werden, als unverhältnismäßig ein (CoE-CommDH 2.12.2016, vergleiche DTJ 2.12.2016). Laut Muižnieks deutet alles darauf hin, dass die Behörden weder mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit den behaupteten Menschenrechtsverletzungen nachgegangen sind, noch ex officio strafrechtliche Untersuchungen in Fällen durchführten, bei denen Menschen während der Sicherheitsoperationen ums Leben kamen. Scheinbar ging es, so Muižnieks, mehr darum, die Sicherheitskräfte vor einer Strafverfolgung zu schützen, während gleichzeitig Menschenrechts-NGOs und Anwälte diffamiert wurden, die solche Verfälle vorbrachten. Die Türkei bliebe bedauerlich hinter ihren internationalen Verpflichtungen zurück (CoE-CommDH 2.12.2016).

Quellen:

https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016806db6f1, Zugriff 18.1.2017

http://dtj-online.de/missachtung-der-menschenrechte-un-und-europarat-erheben-schwere-vorwuerfe-gegen-die-tuerkei-81177, Zugriff 18.1.2017

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 18.1.2017

http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&language=EN&reference=P8-TA-2016-0450, Zugriff 18.1.2017

Menschenrechte in der Türkei,
http://www.humanrights.ch/de/service/laenderinfos/tuerkei/, Zugriff 18.1.2017

http://www.nzz.ch/international/menschenrechte-weltweit-uno-kritisiert-zunehmende-behinderung-von-beobachtern-ld.116444, Zugriff 18.1.2017

http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=20474&LangID=E, Zugriff 18.1.2017

http://www.ecoi.net/local_link/322542/462019_de.html, Zugriff 18.1.2017

6. Religionsfreiheit

In der Türkei sind laut Regierungsangaben 99% der Bevölkerung muslimischen Glaubens, die Mehrheit davon sind Hanefiten (sunnitisch). Es gibt einen beträchtlichen Anteil an Aleviten, je nach Quelle zwischen 15 und 25 Millionen. Weiters leben in der Türkei laut Eigenangabe drei Millionen schiitische Dschafariten, ca. 60.000 armenische Christen (zusätzlich noch 30.000 nicht-registrierte Immigranten aus Armenien), ca. 25.000 Angehörige der römisch-katholischen Kirche, ca. 18.000 Juden, ca. 20.000 syrisch-orthodoxe Christen, ca. 15.000 russisch-orthodoxe Christen (zumeist russische Einwanderer) ca. 10.000 Baha'is, ca. 22.000 Jesiden (davon 17.000, die 2014 als Flüchtlinge kamen), ca. 5.000 Zeugen Jehovas, ca. 7.000 Protestanten verschiedener Denominationen, ca. 3.000 irakisch-chaldäische Christen und bis zu 2.000 griechisch-orthodoxe Christen. Eine Umfrage legt nahe, dass ca. 2% der Bevölkerung Atheisten sind (US DOS 10.8.2016).

Nicht-muslimische Minderheiten, auch die offiziell anerkannten, sehen sich mit erheblichen Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit konfrontiert. Die wichtigsten Probleme in diesem Zusammenhang bestehen darin, dass aufgrund eines Mangels an theologischen Schulen kein Klerus ausgebildet werden kann, und dass sich die Regierung weigert, eine Genehmigung für die Eröffnung neuer Kirchen (für nicht anerkannte christliche Konfessionen) zu gewähren. Obwohl sich die Gesamtzahl der Menschen der verschiedenen nicht-muslimischen Gemeinschaften in einem Land mit einer Bevölkerung von 75 Millionen auf etwa 100.000 beläuft, herrscht weit verbreitete, teils durch Verschwörungstheorien befeuerte, teils irrationale Angst vor christlicher Missionstätigkeit und Zionismus in der Gesellschaft, geschürt durch die antisemitische, antiwestliche und antichristliche Rhetorik der Politiker, Regierungsbeamten, Meinungsbildner und Medien. Die Behörden vernachlässigen ihre Pflicht vollkommen, Nicht-Muslime, vor allem Juden, gegen vorherrschende Hassreden, manchmal verbunden mit Hassverbrechen, in den Medien, dem politischen Diskurs und dem täglichen Leben zu schützen (EC/DGJC 2016).

Religiöse Fragen werden vom Direktorat für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) koordiniert und bestimmt, dessen Mandat es ist, den sunnitischen Islam zu fördern. Die Regierung bildet weiterhin sunnitische Geistliche aus, während sie andere religiöse Gruppen daran hindert, Geistliche innerhalb des Landes auszubilden. Die Regierung finanzierte weiterhin den Bau von sunnitischen Moscheen, während sie die Grundstücksnutzung anderer religiöser Gruppen einschränkte. Nicht-sunnitische Moslems waren mit physischen Angriffen und Drohungen konfrontiert. Bei zwei getrennten Vorfällen schossen Unbekannte auf drei Aleviten-Vertreter. Glaubensstätten der Griechisch-Orthodoxen, Armenisch-Apostolischen Kirche sowie der jüdischen Gemeinde wurden verwüstet. Über 20 Häuser von Aleviten wurden verheert. Eine offen anti-semitische "Dokumentation" wurde im Fernsehen ausgestrahlt und von regierungsfreundlichen Medien online gestellt (USDOS 10.8.2016).

Glaubens- und Religionsfreiheit werden laut Europäischer Kommission generell respektiert. Allerdings besteht die Notwendigkeit, die Gesetzeslage an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtes für Menschrechte und an die Empfehlungen des Europarates und der EU anzugleichen. Besondere Aufmerksamkeit gelte der Freistellung vom verpflichtenden Religions- und Ethikunterricht, der Anführung der Religionszugehörigkeit auf Identitätskarten, der Rechtspersönlichkeit von religiösen Körperschaften und Institutionen, den Orten der Religionsausübung und der Arbeits- bzw. Aufenthaltserlaubnis von ausländischen Klerikern. Außerdem gehörten die ausständigen Punkte die Aleviten betreffend behandelt. Hierzu zählen die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hinsichtlich der Cem-Häuser, der alevitischen Gebetshäuser, und des verpflichtenden Religionsunterrichtes. Die Regierung hat hierzu im Jänner 2016 dem Ministerkomitee des Eurorates zwei Aktionspläne vorgelegt (EC 9.11.2016).

Quellen:

http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd, Zugriff 22.12.2016

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 22.12.2016

7. Ethnische Minderheiten

Die türkische Verfassung sieht nur eine einzige Nationalität für alle Bürger und Bürgerinnen vor. Sie erkennt keine nationalen oder ethnischen Minderheiten an, mit Ausnahme der drei nicht-moslemischen, nämlich der Armenisch-Orthodoxen Christen, der Juden und der Griechisch-Orthodoxen Christen. Andere nationale oder ethnische Minderheiten wie Assyrer, Dschafari [zumeist schiitische Azeris], Jesiden, Kurden, Araber, Roma, Tscherkessen und Lasen dürfen ihre sprachlichen, religiösen und kulturellen Rechte nicht vollständig ausüben (USDOS 13.4.2016).

Neben den offiziell anerkannten religiösen Minderheiten gibt es folgende ethnische Gruppen: Kurden (ca. 13-15 Mio.), Kaukasier (6 Mio., davon 90% Tscherkessen), Roma (zwischen 500.000 und 5 Mio., je nach Quelle), Lasen (zwischen 750.000 und 1,5 Mio.) und andere Gruppen in kleiner und unbestimmter Anzahl (Araber, Bulgaren, Bosnier, Pomaken, Tataren und Albaner) (AA 29.9.2015). Dazu kommen noch, so sie nicht als religiöse Minderheit gezählt werden, Jesiden, Griechen, Armenier (60.000), Juden (23.000) und Assyrer (15.000) (MRGI o.D.).

Das Gesetz erlaubt den BürgerInnen private Bildungseinrichtungen zu eröffnen, um Sprachen und Dialekte, die traditionell im Alltag verwendet werden, zu unterrichten. Dies unter der Bedingung, dass die Schulen den Bestimmungen des Gesetzes über die privaten Bildungsinstitutionen unterliegen und vom Bildungsministerium inspiziert werden. Zumindest drei Universitäten bieten Kurdisch-Programme an. Das Gesetz erlaubt die Wiederherstellung einstiger nicht-türkischer Ortsnamen von Dörfern und Siedlungen und gestattet es politischen Parteien sowie deren Mitgliedern, in jedweder Sprache ihre Kampagnen zu führen sowie Informationsmaterial zu verbreiten. Allerdings ist die Verwendung einer anderen Sprache als Türkisch in der Regierung oder im Öffentlichen Dienst nicht erlaubt (USDOS13.4.2016).

Im Zuge der beiden Parlamentswahlen im Juni und November 2015 wuchs der Anteil von Abgeordneten mit einem Minderheitenhintergrund deutlich. Die regierende AKP, die sozialdemokratische CHP und insbesondere die pro-kurdische HDP stellten KandidatInnen ethnischer und religiöser Minderheiten an aussichtsreichen Listenplatzen auf. Mandatare mit armenischen, assyrischen, jesidischen, Roma und Mhallami-Wurzeln [arabisch sprechende Minderheit] sind auch nach den Novemberwahlen im türkischen Parlament vertreten (HDN 2.11.2015; vergleiche Economist 8.6.2015, Agos 8.6.2015).

Über die Kurdenthematik wird offen und über die Armenier-Frage immer häufiger und kontroverser berichtet. Dennoch werden weiterhin mit Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" oder "Gefährdung der nationalen Einheit" Publikationsverbote ausgesprochen. Dies trifft - teilweise wiederholt - vor allem kurdische oder linke Zeitungen (AA 29.9.2015).

Der Dialog zwischen der Regierung und Minderheitenvertretern wurde fortgeführt. Ein positives Gerichtsurteil wurde gegen die Organisation der Grauen Wölfe in Kars verkündet, gegen die Anklage wegen Volksverhetzung gegen Armenier erhoben wurde. Trotzdem waren Hassreden und Drohungen gegen Minderheitenvertreter oder deren Eigentum weiterhin ein Problem. Zudem kamen die langen Verzögerungen in Fällen, in denen religiöse Vertreter oder deren Eigentum attackiert wurden, einer Straffreiheit gleich (EC 9.11.2016).

Das gesamte Bildungssystem basiert laut einem Bericht der Minority Rights Group International auf dem Türkentum. Auf nicht-türkische Gruppen wird entweder kein Bezug genommen oder sie werden auf eine negative Weise dargestellt. Eine positive Darstellung anderer Gruppen im Bildungssystem würde laut Nurcan Kaya, Autorin des Berichts, zum gesellschaftlichen Frieden beitragen (MRGI 27.10.2015). Die einzige Erwähnung der Kurden in Schulbüchern findet sich unter dem Titel "gefährliche Gesellschaft". Diskriminierende Passagen über Assyrer wurden entfernt, nachdem assyrische Verbände beim Bildungsministerium darum angesucht hatten. Armenier jedoch, werden weiterhin als Gruppe dargestellt, die einst dem Türkentum und dem nationalen Bestand schadeten bzw. diesen verrieten (MRGI 2015). Laut Europäischer Kommission sollten die Schulbücher überarbeitet und die diskriminierende Rhetorik entfernt werden (EC 9.11.2016).

Die türkische Regierung hat mehrere Male gegenüber dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung wiederholt, dass sie keine quantitative oder qualitative Daten in Bezug auf den ethnischen Hintergrund ihrer BürgerInnen sammelt, speichert oder verwendet, betonend, dass es sich um ein sensibles Thema handelt, im Besonderen für jene Nationen, die seit langer Zeit in diversifizierten, multikulturellen Gemeinschaften leben. Allerdings sammeln die Behörden in der Tat Daten zur ethnischen Herkunft der BürgerInnen, zwar nicht für Rechtsverfahren oder zu Studienzwecken, aber zwecks Profilerstellung und Überwachung, insbesondere von Kurden und Roma. Beispiele hierfür sind unabsichtlich durch Regierungseinrichtungen an die Öffentlichkeit gelangt, wie die Website einer Provinz-Polizeiabteilung, die Informationen zum ethnischen Hintergrund der Einwohner enthielt (EC/DGJC 2016).

Quellen:

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 21.12.2016

http://www.equalitylaw.eu/downloads/3748-2016-tr-country-report-nd, Zugriff 22.12.2016

http://www.hurriyetdailynews.com/minority-mps-preserve-seats-in-nov-1-election.aspx?pageID=238&nID=90641&NewsCatID=339, Zugriff 21.12.2016

http://minorityrights.org/wp-content/uploads/2015/10/EN-turkiye-egitim-sisteminde-ayirimcilik-24-10-2015.pdf, Zugriff 22.12.2016

http://minorityrights.org/2015/10/27/education-system-in-turkey-criticised-for-marginalising-ethnic-religious-and-linguistic-minorities/, Zugriff 21.12.2016

http://www.ecoi.net/local_link/322542/462019_de.html, Zugriff 21.12.2016

7.1. Kurden

Mehr als 15 Millionen türkische BürgerInnen, so wird geschätzt, haben einen kurdischen Hintergrund und sprechen einen der kurdischen Dialekte. Die kurdischen Gemeinden waren überproportional von den Zusammenstößen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften betroffen. In etlichen Gemeinden wurden seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt. Es gab Einschränkungen bei der Versorgung beispielsweise mit Strom und Wasser, und viele konnten keine medizinische Versorgung erhalten. Kurdische und pro-kurdische zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien sind zunehmend vor Probleme gestellt, was die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit anlangt (USDOS 13.4.2016).

Angesichts des Zusammenbruchs des Friedensprozesses im Sommer 2015 widerfuhr laut Europäischer Kommission dem Südosten des Landes eine weitere ernsthafte Verschlechterung der Sicherheitslage. Dies führte zu schweren Verlusten an Menschenleben, Vertreibungen im großen Ausmaß und weitreichenden Zerstörungen. Es wurden systematische schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen berichtet. Die Regierung benutzte die Maßnahmen nach dem gescheiterten Putschversuch auch dazu, viele Gemeinderäte und Bürgermeister sowie Lehrer zu suspendieren und etliche kurdisch-sprachige Medien zu schließen. Die Europäische Kommission bezeichnete die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess als den einzig gangbaren Weg. Versöhnung und Wiederaufbau seien die Schlüsselthemen, denen sich die Regierung widmen sollte (EC 9.11.2016).

Die pro-kurdische HDP hat mehrfach zur Rückkehr zum Friedensprozess aufgerufen. Im Jänner 2016 forderte der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, vor dem EU-Parlament die internationale Gemeinschaft auf, für die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Regierung und PKK einzutreten, was überdies einen positiven Effekt auf die Krise in Syrien hätte (HDN 27.1.2016).

Mit der Notverordnung vom 22.11.2016 wurden unter den 550 Vereinen und 19 privaten medizinischen Zentren auch 46 Vereine in Diyabakir im mehrheitlich kurdischen Südosten infolge ihrer vermeintlichen Nähe zur PKK verboten, darunter auch lokalpolitisch engagierte Nachbarschaftsvereine, eine Solidaritätsvereinigung für muslimische Geistliche, der Forschungsverein für die kurdische Sprache und der Kurdische Schriftstellerverband. Der einst auch von Parlamentariern der Regierungspartie AKP gelobte Wohltätigkeitsverein Sarmasik wurde geschlossen, wovon 32.000 sozial Bedürftiger betroffen waren, die zuvor monatliche Esspakete von Sarmasik erhalten hatten (AM 6.12.2016).

Sowohl die HDP als parlamentarische Partei als auch die islamistisch kurdische HÜDA-PAR streben eine Form der Dezentralisierung des türkischen Einheitsstaates und die Stärkung der Rechte der Kurden durch lokale Selbstverwaltung an (Fend 2015). Gegen zahlreiche Bürgermeister sowie die beiden Co-Vorsitzenden der HDP; Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, wurden wegen ihrer Forderungen nach Autonomie und Selbstverwaltung in den Kurdengebieten Strafverfahren eingeleitet. Staatspräsident Erdogan wies die Forderungen nach Autonomie und Selbstverwaltung als Versuch der Errichtung eines Staates im Staate scharf zurück (HDN 28.1.2016).

In den letzten Monaten des Jahres 2016 wurden zahlreiche kurdische Lokalpolitiker wegen angeblicher Verbindung zur PKK inhaftiert. Mit Stand Dezember 2016 waren 64 pro-kurdische Ko-Bürgermeister und über 3.000 Mitglieder der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der lokalen Schwesterpartei der pro-kurdischen HDP, eingesperrt. 46 der unter DBP geführten Gemeindeverwaltungen wurden Regierungstreuhändern unterstellt (TP 21.12.2016). [siehe auch Kapitel 13.1. Opposition]

Am 8.9.2016 suspendierte das Bildungsministerium mittels Dekret

11.285 kurdische LehrerInnen unter dem Vorwurf UnterstützerInnen der PKK zu sein. Alle waren Mitglieder der linksorientierten Gewerkschaft für Bildung und Bildungswerktätige, Egitim Sen. Idris Baluken, Abgeordneter der pro-kurdischen HDP meinte, dass durch die Säuberung fast keine ortsansässigen Lehrer an den Schulen im Südosten mehr übrig wären. Vertreter der HDP und der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) hegten Zweifel, wie die betroffenen Lehrkräfte als PKK-Unterstützer ohne angemessenes Rechtsverfahren bestimmt werden konnten (AM 12.9.2016).

Ende November wurden nach einer ähnlichen Maßnahme im Juli per Notstandsdekret rund 370 NGOs geschlossen, von denen über 190 eine Verbindung zur PKK vorgeworfen wurde. Alle NGOs, welche die Bezeichnung "Freier Bürger" in ihrer Namensbezeichnung in Städten mit einer kurdischen Bevölkerung trugen, wurden unter der Anklage PKK-Sympathisanten zu legitimieren, verboten. Unter ihnen war auch das seit 1992 bestehende Kurdische Institut in Istanbul, dessen Mitglieder beispielsweise auch von Gerichten als Experten anerkannt wurden (AM 21.11.2016).

Basierend auf der Notstandsverordnung vom 29.10.2016 wurden 15 kurdische Medien eingestellt, davon 11 Zeitungen - die bekannteste war Özgür Gündem, zwei Nachrichtenagenturen - die "Dicle" (DIHA) und "Jin" Nachrichtenagenturen und drei Magazine. Die meisten, mit Ausnahme der Nachrichtenagentur DIHA mit ihrem Hauptquartier in Istanbul, hatten ihren Sitz im Südosten der Türkei. Laut Generalsekretär der Europäischen Föderation der Journalisten, Ricardo Gutiérrez, sind die Kurden am meisten von der Zensur betroffen, weil die betroffenen Medien vor allem Nachrichten aus der Region veröffentlichten (EFJ 30.10.2016).

Dem seit September 2015 eskalierenden bewaffneten Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der PKK trat auch politisch und ethnisch motivierte Gewalt gegen Kurden hinzu. Als zwischen dem 6. und 8.9.2015 30 Soldaten und Polizisten infolge von Bombenanschlägen der PKK getötet wurden, griffen militante türkische Nationalisten in 56 Provinzen und Bezirken Parteibüros der pro-kurdischen Partei HDP an. Am Höhepunkt der Ausschreitungen stürmten 500 Leute das HDP-Hauptquartier in Ankara und verwüsteten bzw. versuchten dieses niederzubrennen. Es kam darüber hinaus zu gewaltsamen Übergriffen auf Personen und Geschäftslokale kurdischer Provenienz. Im anatolischen Kirsehir wurden mehr als 20 Geschäfte angezündet. Linienbusse, die in die kurdischen Provinzen verkehren, wurden wie ihre kurdisch-stämmigen Insassen physisch attackiert (Al Monitor 13.9.2015, vergleiche WSJ 12.9.2015). In Istanbul riefen bei einer Demonstration im September 2015, die vom Jugendverband der rechts-nationalistischen Parlamentspartei MHP organisiert wurde, laut Medienberichten tausende Demonstranten: "Wir wollen keine Militärintervention, wir wollen ein Massaker" (Welt 10.9.2015, vergleiche WSJ 12.9.2015). Am 17.12.2016 kam es nach einem vermeintlichen Bombenanschlag der PKK in der Stadt Kayseri zu Angriffen und Brandanschlägen auf Büros der HDP in Kayseri und anderen Orten, darunter auch in Istanbul, wo tags darauf neun Personen verhaftet wurden (HDN 18.12.2016, vergleiche Rudaw 17.12.2016).

Das am 2.3.2014 vom Parlament verabschiedete "Demokratisierungs-Paket" ermöglichte in einem darüber hinausgehenden Schritt muttersprachlichen Unterricht und damit auch Unterricht in kurdischer Sprache an Privatschulen. Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, dass Dörfer im Südosten ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist. Seit 2009 sendet der staatliche TV-Sender TRT 6 ein 24-Stunden-Programm in den Sprachen Kurmanci (Kurdisch) und Zaza. Zudem wurden alle bisher geltenden zeitlichen Beschränkungen für Privatfernsehen in "Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag gesprochen werden" aufgehoben (AA 29.9.2015).

Obwohl die Verwendung der kurdischen Sprache im privaten Bildungswesen sowie in der Öffentlichkeit erlaubt ist, dehnte die Regierung die Erlaubnis zum Kurdisch-Unterricht nicht auf das öffentliche Schulwesen aus (USDOS 13.4.2016).

Quellen:

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/11/turkey-emergency-rule-cracks-down-on-ngos.html, Zugriff 13.1.2017

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/09/turkey-kurds-become-new-target-of-post-coup-purges.html, Zugriff 9.1.2017

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/12/turkey-emergency-rule-hits-thousands-destitute-kurds.html, Zugriff 9.1.2017

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 9.1.2017

Taucher, Wolfgang et alia (Hg.): The Kurds, History-Religion-Languages-Politics, Vienna, BFA, S. 51-86.

http://www.hurriyetdailynews.com/hdp-calls-for-re-launch-of-kurdish-peace-process.aspx?pageID=238&nID=94399&NewsCatID=338, Zugriff 9.1.2017

http://www.hurriyetdailynews.com/no-room-for-autonomy-seekers-erdogan.aspx?PageID=238&NID=94486&NewsCatID=338, Zugriff 9.1.2017

http://www.ecoi.net/local_link/322542/462019_de.html, Zugriff 9.1.2017

http://www.wsj.com/articles/turkey-faces-threat-of-growing-unrest-1442050203, Zugriff 9.1.2017

8. Frauen

Frauen und Männer sind nach den umfassenden Reformen im Zivil-, Arbeits-, Straf- und Verfassungsrecht der letzten Jahre in der Türkei gesetzlich weitgehend gleichgestellt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit bleibt in weiten Teilen des Landes jedoch hinter den gesetzlichen Fortschritten zurück. Gehobenen Positionen von Frauen an Hochschulen, als Anwältinnen und Ärztinnen oder in der Wirtschaft in den Städten stehen traditionell-konservative Gesellschaftsstrukturen in ländlich-konservativen Gebieten (einschließlich der von Binnenmigranten bewohnten städtischen Räume) gegenüber. Insbesondere im Südosten sind frühe arrangierte Ehen und das Fernbleiben der Mädchen vom Schulunterricht - trotz der 12-jährigen Schulpflicht seit 2012 - durchaus verbreitet (AA 10.2016a).

Obgleich die türkische Verfassung den Frauen Gleichheit vor dem Gesetz garantiert, nahm 2016 die Türkei wie bereits 2015 lediglich den 130. Platz von 144 untersuchten Ländern im Global Gender Gap Index ein (WEF 2016).

2016 waren in der öffentlichen Verwaltung 37,1% der Beschäftigten Frauen, was einen leichten Anstieg zum Vorjahreswert von 36,5% bedeutete. Allerdings betrug trotz eines leichten Zuwachses von 0,7% der Anteil der Frauen in höheren (senior) Positionen des Managements mit Stand Juli 2016 nur 10,4%. Die Beschäftigungsrate der Frauen verblieb auf einem sehr niedrigen Niveau. Während 75,3% der Männer einer Arbeit nachgehen, sind dies nur 32,5% der Frauen, wobei ein Drittel als unbezahlte Arbeitskräfte in landwirtschaftlichen Familienbetrieben gelten (EC 11.2016).

Im Mai 2016 wurde seitens des Türkei-Büros der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein bis 2018 laufender Aktionsplan zur verstärkten Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt lanciert. Die Umsetzung wird gemeinsam von der ILO und dem türkischen Agentur für Beschäftigung (ISKUR) erfolgen (HDN 17.5.2016).

In Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen bestehen weiter große Defizite. Mit einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt haben nun zwar auch unverheiratete Frauen Anspruch auf staatlichen Schutz. Insgesamt bleibt jedoch die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen lückenhaft und die Zufluchtsmöglichkeiten für von Gewalt betroffene Frauen etwa in staatlichen Frauenhäusern ungenügend (AA 29.9.2015).

Das Gesetz sieht die Bestrafung sexueller Übergriffe, inklusive Vergewaltigung in der Ehe, vor. Bei versuchtem sexuellen Missbrauch ist eine Gefängnisstrafe von zwei bis zehn Jahren vorgesehen und bei Vergewaltigung oder tatsächlichem sexuellen Missbrauch nicht weniger als zwölf Jahre Haft. Dennoch hat die Regierung die entsprechenden Gesetze nicht effektiv bzw. nicht zur Gänze zum Schutz der Opfer umgesetzt. Die Opfer hatten oft Tage oder Wochen abgewartet, bis sie die Vorfälle meldeten, entweder wegen der Stigmatisierung oder der Furcht vor Repressalien, was die effektive Verfolgung der Täter behinderte (USDOS 13.4.2016).

Laut der Plattform "We Will Stop Femicide" wurden 2016 insgesamt 328 Frauen ermordet im Vergleich zu 303 im Jahr 2015. Zwei-Drittel der Frauenmorde wurden durch deren Ehemänner begangen, 13% von Verwandten und 15% durch den Freund bzw. Ex-Freund (TM 4.1.2017). 141 Frauen wurden trotz Ansuchen bei den Behörden um Schutz ermordet. (HDN 25.11.2016). Am 23.2.2016 urteilte das Europäische Gericht für Menschenrechte im Fall Civek vs. Türkei, dass die türkischen Behörden, obwohl sie mehrfach von Morddrohungen des Ehemannes gegenüber seiner Frau informiert wurden, keine präventiven Maßnahmen setzten, um den Mord zu verhindern. In Verletzung des Artikel 2, (das Recht auf Leben) der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde die Türkei zu insgesamt 53.000 Euro verurteilt (CoE 24.2.2016).

Das Heiratsalter ist im Jahr 2002 gesetzlich auf 17 Jahre für beide Geschlechter festgelegt worden (mit richterlichem Beschluss und Zustimmung der Eltern 16 Jahre). Diese Vorschrift wird allerdings häufig durch eine von einem Imam vollzogene, amtlich nicht anerkannte, Trauung umgangen. Einer Ende 2014 veröffentlichten Studie der Hacettepe-Universität zufolge wurden 3,3%der heute zwischen 20-49jährigen Frauen in der Türkei im Alter unter 15 Jahren verheiratet, 20,8%vor ihrem 18. Geburtstag. Aktuelle staatliche Zahlen zu rein religiösen Eheschließungen ("Imamehen") gibt es nicht. NGOs kritisieren, dass das Alter von minderjährigen Mädchen zunehmend nach oben "korrigiert" werde, um eine zivile Heirat zu ermöglichen (AA 29.9.2015).

Es kommt immer noch zu so genannten "Ehrenmorden", d.h. insbesondere zu der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies schließt auch vergewaltigte Frauen ein. Auch Männer werden - vor allem im Rahmen von Familienfehden (Blutrache) - Opfer von sog. "Ehrenmorden", z.T. weil sie "schamlose Beziehungen" zu Frauen eingehen bzw. sich weigern, die Ehre der Familie wiederherzustellen. Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht. Nach dem tStGB sind "Jungfräulichkeitstests" gegen den Willen der Betroffenen nur noch auf richterliche Anordnung zulässig. Die Strafandrohung bei illegaler Anwendung beträgt gem. Artikel 287, tStGB drei Monate bis zu einem Jahr Haft. Verurteilungen auf dieser Grundlage sind bisher nicht bekannt. Nach belastbaren Aussagen von NGOs, wie KAMER in Diyarbakir, erzwingen die Familien i.d.R. von den Betroffenen deren Einverständnis. Nach der Verabschiedung des oben erwähnten Gesetzes zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt arbeiten Familienministerium und andere staatliche Einrichtungen deshalb zurzeit verstärkt an der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Regelungen insbesondere mit Hilfe von Fortbildungen für Angehörige der Justiz und Sicherheitskräfte, aber auch in Schulen und Moscheen (AA 29.9.2015).

Laut offiziellen Angaben gab es mit Stand Februar 2016 101 Schutzeinrichtungen mit 2.656 Plätzen in 79 Provinzen unter der Koordination des Ministeriums. Durch einen Gesetzeszusatz sind Gemeinden mit über 100.000 Einwohnern dazu verpflichtet, Schutzeinrichtungen für Frauen und Kinder bereitzustellen. Die türkische Delegation berichtete vor dem UN Fachausschuss zur Frauenrechtskonvention (CEDAW) überdies, dass 36% der Frauen im Laufe ihres Lebens physische Gewalt von ihren Partnern erleiden, und 44% Opfer psychischer oder emotionaler Gewalt waren (HDN 15.7.2016).

Quellen:

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 20.12.2016

http://www.hurriyetdailynews.com/-.aspx?pageID=238&nID=106547&NewsCatID=339, Zugriff 21.12.2016

https://www.turkishminute.com/2017/01/04/femicide-report-326-women-murdered-turkey-2016/, Zugriff 9.1.2017

http://www.ecoi.net/local_link/322542/462019_de.html, Zugriff 20.12.2016

9. Bewegungsfreiheit

Bewegungsfreiheit im Land, Reisen ins Ausland, Auswanderung und Repatriierung werden gesetzlich garantiert, in der Praxis hat die Regierung diese Rechte allerdings zeitweise eingeschränkt. Die Verfassung besagt, dass die Reisefreiheit innerhalb des Landes nur durch einen Richter in Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Untersuchung oder Verfolgung eingeschränkt werden kann. Die Bewegungsfreiheit war ein Problem im Osten und Südosten angesichts des Konfliktes zwischen Sicherheitskräften und der PKK sowie deren Unterstützer. Beide Konfliktparteien errichteten Kontrollpunkte und Straßensperren. Die Regierung errichtete spezielle Sicherheitszonen und rief Ausgangssperren in mehreren Provinzen als Reaktion auf die PKK-Angriffe aus. Flüchtlinge, die den Status des bedingten Asyls hatten sowie Syrer, denen sog. temporärer Schutz gewährt wurde, erfuhren ebenfalls Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit. Bedingte Flüchtlinge bedurften einer Erlaubnis der örtlichen Behörden, um in andere als die ihnen zugewiesenen Städte reisen zu können. Syrern wurde anlässlich einer Neuregistrierung seitens der Behörden verboten, die auf ihrer Registrierungskarte vermerkte Provinz zu verlassen. Syrer konnten beim Generaldirektorat für Migrationsmanagement (DGMM) eine Reiseerlaubnis beantragen (USDOS 13.4.2016).

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Bei der Einreise in die Türkei wird keine Kontrolle dahingehend durchgeführt, ob eine Verwandtschaft zu Personen besteht, die im Zusammenhang mit Aktivitäten für die PKK verurteilt worden sind. Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Wenn festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen. Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Ein Anwalt wird hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den Amnestiebestimmungen des 1991 in Kraft getretenen Antiterrorgesetzes Nr. 3713 oder des im Dezember 2000 in Kraft getretenen Gesetzes Nr. 4616 (Gesetz über die bedingte Entlassung, Verfahrenseinstellung und Strafaussetzung zur Bewährung bei Straftaten, die vor dem 23. April 1999 begangen worden sind) profitieren kann oder ob gemäß Artikel 102, StGB a. F. (jetzt Artikel 66, StGB n. F.) Verjährung eingetreten ist. Sollte das Verfahren aufgrund der vorgenannten Bestimmungen ausgesetzt oder eingestellt sein, wird der Festgenommene freigelassen. Andernfalls fordert der Staatsanwalt von dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, einen Haftbefehl an. Der Verhaftete wird verhört und mit einem Haftbefehl - der durch den örtlich zuständigen Richter erlassen wird - dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, überstellt. Während der Verhöre - sowohl im Ermittlungs- als auch im Strafverfahren - sind grundsätzlich Kameras eingeschaltet (AA 29.9.2015).

Um die Flucht von Verdächtigen ins Ausland zu verhindern, wurden nach Angaben des Innenministers, Efkan Ala, zwei Wochen nach dem Putschversuch etwa 49.000 türkische Reisepässe für ungültig erklärt (Die Zeit 29.7.2016). Personen, gegen die türkische Behörden strafrechtlich vorgehen, etwa im Nachgang des Putschversuchs oder bei Verdacht auf Verbindungen zur sogenannten Gülen-Bewegung, kann die Ausreise untersagt werden (AA 16.12.2016a). Beispielsweise wurde bereits in den Tagen nach dem gescheiterten Putschversuch ein Ausreiseverbot für Wissenschaftler verhängt. Der türkische Hochschulrat hatte allen Universitätslehrkräften und Wissenschaftlern Dienstreisen ins Ausland verboten. Uni-Mitarbeiter, die sich bereits zu Dienst- oder Forschungsaufenthalten im Ausland aufhielten, sollten überprüft werden und "so schnell wie möglich" in die Heimat zurückkehren (FAZ 20.7.2016). Im Juli 2016 wurden rund 11.000 Reisepässe vor allem von Staatsbediensteten für ungültig erklärt. An den Flughäfen müssen Staatsbedienstete nun eine Bescheinigung ihrer Behörde vorlegen, in der steht, dass ihrer Ausreise nichts im Wege steht. Das gilt auch für Ehepartner und Kinder (WZ 24.7.2016; vergleiche Spiegel online 23.7.2016).

Die türkische Regierung hat Anfang Jänner 2017 ein Dekret erlassen, dank dem sie im Ausland lebende Türken unter bestimmten Bedingungen die Staatsbürgerschaft entziehen kann. Die Notstandsdekrete von Anfang Jänner gelten für Personen, die schwerer Straftaten beschuldigt werden und trotz Aufforderung nicht innerhalb von drei Monaten in ihre Heimat zurückkehren. Gründe können unter anderem Putschversuche, wie der vom Juli 2015, oder die Gründung bewaffneter Organisationen sein (Zeit 7.1.2016).

Im Zuge der bewaffneten Auseinandersetzungen im Südosten der Türkei ab Sommer 2015 hatten die verbliebenen, nicht geflohenen Einwohner unter strikten Ausgangsperren zu leben. Während diese dazu gedacht waren die Zivilbevölkerung zu schützen, schränkten sie massiv die Bewegungsfreiheit und somit den Zugang zu Ressourcen und dringender medizinischer Hilfe ein. Die Ausgangssperren erlaubten den Sicherheitskräften auf jeden zu schießen, der sein Heim verließ (DW 15.1.2016). Laut der "Menschrechtsstiftung der Türkei" gab es zwischen Mitte August 2015 und Mitte August 2016 111 offiziell bestätigte unbegrenzte oder 24-Stunden-Ausgangssperren in 35 Distrikten und neun Städten. Hiervon waren laut Schätzungen rund 1,67 Millionen Einwohner betroffen (TIHV 21.8.2016).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) wies im Juni 2016 auf die rechtliche Einschätzung der Venediger Kommission vom 13.6.2016 hin, wonach die seit August 2015 verhängten Ausgangssperren im Südosten des Landes gegen die türkische Verfassung und den Rechtsrahmen verstoßen haben. Denn Ausgangssperren können nur in Zusammenhang mit dem materiellen oder dem Notstandsrecht verhängt werden, wofür es aber eines parlamentarischen Beschlusses bedarf, welcher jedoch nie gefasst wurde (CoE-PACE 22.6.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, stufte die teils monatelangen Ausgangssperren, die seit 2015 immer wieder über Städte in den Kurdengebieten verhängt werden, als unverhältnismäßig ein (CoE-CommDH 2.12.2016).

Quellen:

http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/TuerkeiSicherheit.html?version=439, Zugriff 6.2.2017

The functioning of democratic institutions in Turkey [Resolution 2121 (2016), Provisional version], http://semantic-pace.net/tools/pdf.aspx?doc=aHR0cDovL2Fzc2VtYmx5LmNvZS5pbnQvbncveG1sL1hSZWYvWDJILURXLWV4dHIuYXNwP2ZpbGVpZD0yMjk1NyZsYW5nPUVO&xsl=aHR0cDovL3NlbWFudGljcGFjZS5uZXQvWHNsdC9QZGYvWFJlZi1XRC1BVC1YTUwyUERGLnhzbA==&xsltparams=ZmlsZWlkPTIyOTU3, Zugriff 16.12.2016

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-07/putschversuch-repressionen-tuerkei-guelen-bewegung-festnahmen, Zugriff 16.12.2016

http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-01/recep-tayyip-erdogan-tuerkei-staatsbuergerschaft-entzug-ausland, Zugriff 9.1.2017

http://www.dw.com/en/turkeys-southeast-heats-up-as-erdogan-clamps-down/a-18980318, Zugriff 16.12.2016

http://en.tihv.org.tr/curfews-between-august-16-2015-august-16-2016-and-civilians-who-lost-their-lives/, Zugriff 16.12.2016

http://www.ecoi.net/local_link/322542/462019_de.html, Zugriff 16.12.2016

http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/europa/europastaaten/833532_Erdogan-verschaerft-Kurs-gegen-Kritiker.html, Zugriff 25.1.2017

10. Grundversorgung/Wirtschaft

Schätzungen besagten, dass sich das Wachstum des Bruttosozialprodukts 2016 auf unter 3% gemindert hat. Allerdings wird seitens der OECD ein Wiederanstieg auf 3,75% bis 2018 erwartet. Die türkische Wirtschaft ist weiterhin mit dem geopolitischen Gegenwind und ungelösten politischen Problemen konfrontiert. Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2015 verschlechterte sich die Marktstimmung nur vorrübergehend. Allerdings kam es im Zuge der geopolitischen Unsicherheiten und der Verlängerung des Ausnahmezustandes zu einer Herabstufung der Ratings, was zu einer zusätzlichen Schwächung der Landeswährung und der Aktienmärkte führte. Das Vertrauen der privaten Haushalte und Unternehmen sank. Die Unsicherheiten sind zwar hoch, doch die Fiskal-, Aufsichts- und Geldpolitik wirken unterstützend und sollten den Privatkonsum wieder anregen (OECD 11.2016).

Die türkische Wirtschaft hat mit enormen Problemen zu kämpfen. Im dritten Quartal des Jahres 2016 fiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 1,8% niedriger aus als im Vorjahresquartal, teilte die nationale Statistikbehörde mit. Es war das erste Mal seit 27 Quartalen, dass ein Minus verzeichnet wurde. Die BIP-Entwicklung im dritten Quartal ist bislang das deutlichste Zeichen, dass die schwierige politische Lage im Land sich auf die Wirtschaft auswirkt. Laut der Statistikbehörde gingen die privaten Konsumausgaben um 3,2% zurück. Die Exporte sanken demnach sogar um 7% (Zeit 12.12.2016).

Ein düsteres Bild ergibt ein Blick auf die Detailzahlen für 2016. Die Fertigungsindustrie als Rückgrat der türkischen Wirtschaft sank im dritten Quartal 2016 um fast 5%. Der wichtige Agrarsektor und der Dienstleistungsbereich schrumpften um 1% respektive 2% seit Anfang 2016. Turbulenzen im Privatsektor, Erschütterungen im Bankenbereich, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie schrumpfende Einkommen drohen für 2017. Der Hauptgrund liegt darin, dass sich die türkische Wirtschaft auf externe Fonds verlässt und sich eben diese angesichts eines gestiegenen Dollars aus dem Land zurückziehen (AM 4.1.2017).

Die Arbeitslosigkeit bleibt ein gravierendes Problem. Aus der jungen Bevölkerung drängen jährlich mehr als eine halbe Million Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, können dort aber nicht vollständig absorbiert werden. Hinzu kommt das starke wirtschaftliche Gefälle zwischen strukturschwachen ländlichen Gebieten (etwa im Osten und Südosten) und den wirtschaftlich prosperierenden Metropolen. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote lag im Jahr 2015 bei knapp über 10%. Herausforderungen für den Arbeitsmarkt bleiben der weiterhin hohe Anteil der Schwarzarbeit und die niedrige Erwerbsquote von Frauen. Dabei bezieht der überwiegende Teil der in Industrie, Landwirtschaft und Handwerk erwerbstätigen ArbeiterInnen weiterhin den offiziellen Mindestlohn. Er wurde für das Jahr 2016 auf 1.647 Türkische Lira brutto festgesetzt. Die Entwicklung der Realeinkommen hat mit der Wirtschaftsentwicklung nicht Schritt halten können, sodass insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten am Rande des Existenzminimums leben (AA 10.2016c, BS 2016).

Quellen:

http://fares.al-monitor.com/pulse/originals/2017/01/turkey-economy-black-winter-alarm.html, Zugriff 11.1.2017

http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2016/pdf/BTI_2016_Turkey.pdf, Zugriff 11.1.2017

http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-12/tuerkei-wirtschaft-politische-situation-unruhe-auswirkungen, Zugriff 11.1.2017

http://www.oecd.org/eco/outlook/economic-forecast-summary-turkey-oecd-economic-outlook-november-2016.pdf, Zugriff 11.1.2017

10.1. Sozialbeihilfen/-versicherung

Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanisma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt nach Artikel 2, des Gesetzes Nr. 3294 sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder die Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (AA 29.9.2015). Das Amt für Soziales und Kindeswohl (Institution of Social Services and Protection of Children) beachtet die Bedürfnisse von gefährdeten Gruppen (Familien, Kinder, Behinderte), ebenso wie die Bedürfnisse von wirtschaftlich und sozial Benachteiligten (IOM 12.2015). Die Institution für Soziale Dienstleistungen und dem Schutz von Kindern ist zuständig für Personen und Familien, die nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Bei der Verteilung von Sachleistungen werden u.a. die sozio-ökonomischen Gegebenheiten des jeweiligen Wohngebietes berücksichtigt. Die Sachleistungen werden bedürftigen Personen in der Regel für ein halbes oder ein ganzes Jahr gewährt (IOM 8.2014).

Das Sozialversicherungssystem besteht aus zwei Hauptzweigen, nämlich der langfristigen Versicherung (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) und der kurzfristigen Versicherung (Berufsunfälle, berufsbedingte und andere Krankheiten, Mutterschaftsurlaub). Eine eigene Säule bildet die Krankenversicherung (SGK 2016a). Das türkische Sozialversicherungssystem finanziert sich nach der Allokationsmethode durch Prämien und Beiträge, die von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und dem Staat geleistet werden. Die Summe der einzelnen Sparten der Krankenversicherung und der Pensionsversicherung beträgt 34,5%, wobei der Arbeitgeberanteil 20,5% und der Arbeitnehmeranteil 14% beträgt. Der Staat schießt noch ein Viertel der Prämiensumme (mit Ausnahme der 2% Karenz-, Kranken- und Arbeitsunfallprämie) zu. Hinzukommen noch die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung von 1% Arbeitnehmer-, 2% Arbeitgeber- und 1% staatlicher Beitrag (SGK 2016b).

Zum 1.1.2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Grundlage für das neue Krankenversicherungssystem ist das Gesetz Nr. 5510 über Sozialversicherungen und die Allgemeine Krankenversicherung vom 1.10.2008. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterfallen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei, Ausnahmen gelten lediglich für das Parlament, das Verfassungsgericht, Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Für nicht über eine Erwerbstätigkeit in der Türkei sozialversicherte Ausländer ist die Krankenversicherung freiwillig. Ein Krankenversicherungsnachweis ist jedoch für die Aufenthaltserlaubnis notwendig. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u.a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich (AA 29.9.2015).

Die SGK refundiert auch die Kosten in privaten Hospitälern, sofern mit diesen ein Vertrag besteht. Die Kosten in privaten Krankenhäusern unterliegen, je nach Qualitätsstandards, gewissen, von der SGK vorgegebenen Grenzen. Die Kosten dürfen maximal 90%über denen, von der SGK verrechneten liegen (IBZ 21.3.2014).

Das Gesundheitssystem funktioniert im Allgemeinen gut und bietet einen weitreichenden Zugang sowie fast eine universelle Abdeckung. Unterschiede bestehen jedoch je nach Region. Außerdem besteht ein Mangel an einem System der Langzeitbehandlung für Kinder und Personen mit Behinderung (BS 2016).

Quellen:

http://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2016/pdf/BTI_2016_Turkey.pdf, Zugriff 9.12.2016

Länderinformatiosblatt - Türkei 2015, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698704/698620/17619910/17927201/T%C3%BCrkei_-_Country_Fact_Sheet_2015%2C_deutsch.pdf?nodeid=17927534&vernum=-, Zugriff 9.12.2016

Länderinformationsblatt - Türkei 2014

10.2. Arbeitslosenunterstützung

Alle Arbeitnehmer, einschließlich derer, die in der Landwirtschaft, im Forstwesen und im Bereich Dienstleistung tätig sind, sind unterstützungsberechtigt, wenn sie zuvor ein geregeltes Einkommen im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung erhalten haben. Selbständige sind nicht anspruchsberechtigt. Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe ist auf den Betrag des Mindestlohnes begrenzt. Benötigte Dokumente sind: ein entsprechender Antrag an das Direktorat des Türkischen Beschäftigungsbüros (ISKUR) innerhalb von 30 Tagen nach Verlust des Arbeitsplatzes, einschließlich schriftlicher Bestätigung vom Arbeitnehmer und der Personalausweis (IOM 12.2015).

Unterstützungsleistungen: 600 Tage Beitragszahlung ergeben 180 Tage

Arbeitslosenhilfe; 900 Tage Beitragszahlung ergeben 240 Tage

Arbeitslosenhilfe; 1080 Tage Beitragszahlung ergeben 300 Tage Arbeitslosenhilfe (IOM 12.2015).

Quellen:

- IOM - International Organisation for Migration (12.2015):

Länderinformationsblatt - Türkei 2015

10.3. Rente

Berechtigung:

Voraussetzungen:

Personen älter als 65 Jahre, Behinderte über 18 und Personen, mit Vormundschaft über Behinderte unter 18, erhalten eine monatliche Zahlung. Unmittelbare Familienangehörige des Versicherten, der verstorben ist oder mindestens zehn Jahre gedient hat, haben Zugang zu Witwen- bzw. Waisenhilfe. Hat der Verstorbene mindestens fünf Jahre gedient, erhalten seine Kinder unter 18, sowie Kinder in der Sekundarschule unter 20 und Kinder in höherer Bildung unter 25, Waisenhilfe (IOM 12.2015).

Quellen:

11. Medizinische Versorgung

Das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert - vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es 2013 1.517 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 202.031 Betten, davon ca. 60 Prozent in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der "Praxisgebühr" unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Das neu eingeführte, seit 2011 flächendeckend etablierte Hausarztsystem ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach soll das Hausarztsystem die bisherigen Gesundheitsstationen (Saglik Ocagi) ablösen und zu einer dezentralen medizinischen Grundversorgung führen. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig. War 2013 nach Angaben des Gesundheitsministeriums ein Hausarzt für durchschnittlich 3.621 Personen zuständig, soll dieses Verhältnis bis 2017 auf knapp unter 3.000 pro Arzt gesenkt werden (AA 29.9.2015).

Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Die landesweite Anzahl von Psychiatern liegt dennoch 2014 bei unter 5 pro 100.000 Einwohner. Insgesamt standen 2011 zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen von einigen Regionalkrankenhäusern. Dem im Oktober 2011 vorgestellten "Aktionsplan für Mentale Gesundheit" zufolge sollen die bestehenden Fachkliniken jedoch zugunsten von regionalen, verstärkt ambulant arbeitenden Einrichtungen bis 2023 geschlossen werden (AA 29.9.2015).

Insgesamt 32 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige (AMATEM) befinden sich in Adana, Ankara (4), Antalya, Bursa (2), Denizli, Diyabakir, Edirne, Elazig, Eskisehir, Gaziantep, Istanbul (5), Izmir (3), Kayseri, Konya, Manisa, Mersin, Sakarya, Samsun, Tokat und Van (2) (AA 29.9.2015).

Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite, allerdings versorgt das Gesundheitsministerium derzeit alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphinen, auch können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten künftig in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. 2011 bestanden landesweit 29 staatliche Krebszentren (Onkologiestationen in Krankenhäusern), die gegenwärtig mit Palliativstationen versorgt werden. 134 Untersuchungszentren (KETEM) bieten u.a. eine Früherkennung von Krebs an (AA 29.9.2015).

Im Rahmen der häuslichen Krankenbetreuung sind in allen Landesteilen staatliche mobile Teams im Einsatz (bestehend meist aus Arzt, Krankenpfleger, Fahrer, ggf. Physiotherapeut etc.), die Kranke zu Hause betreuen. Etwa 13%der Bevölkerung profitiert von diesen Angeboten (AA 29.9.2015).

Apotheken (Eczane) sind landesweit zu finden, vor allem in der Nähe von Krankenhäusern. Gewisse Medikamente werden mit rotem bzw. grünem Rezept erteilt, sodass eine Kontrolle des Verkaufs möglich ist. Die Zuzahlungen liegen bei etwa 20% (Rentner 10%). Viele Medikamente können auch ohne Vorlage eines Rezeptes gekauft werden (IOM 8.2014, vergleiche IBZ 21.3.2014).

Schutzbedürftige Gruppen sind: alte Menschen, Frauen, Kinder, psychisch Kranke, Traumatisierte, Sozialhilfeempfänger, an kritischen Krankheiten Erkrankte, Patienten mit Organtransplantationen, etc. Die Institution für Soziale Dienstleistungen und den Schutz von Kindern ist zuständig für die Belange von Gruppen mit besonderen Bedürfnissen (Familien, Kinder, alleinstehende und kranke Senioren, Personen mit Behinderungen etc.) sowie für Gruppen mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Die Einrichtung versucht, bei der Problemlösung behilflich zu sein und die Lebenssituation zu verbessern (IOM 8.2014).

Quellen:

12. Behandlung nach Rückkehr

Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr, dass sich die Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können (AA 29.9.2015).

Personen die für die von der EU als Terrororganisation eingestuften PKK oder einer Vorfeldorganisation der PKK tätig waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Ähnliches gilt für andere Terrororganisationen (z.B. DHKP-C, türk. Hisbollah, al Kaida). Generell werden abgeschobene türkische Staatsangehörige von der Türkei rückübernommen (ÖB Ankara 7.2014).

Das türkische Außenministerium sieht auch die syrisch-kurdische PYD bzw. die YPG als von der als terroristisch eingestuften PKK geschaffene Organisationen, welche mit der PKK hinsichtlich der Führungskader, der Organisationsstrukturen sowie der Strategie und Taktik verbunden sind (MFA o.D.). Anders sieht dies die EU. Die EU-Außenbeauftragte und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Federica Mogherini, bestätigte am 23.6.2016, dass weder die PYD noch die YPG auf die Liste von Personen, Gruppen oder Entitäten hinzugefügt wurden, gegen welche Sanktionen zur Anwendung kämen. Die YPG wäre laut Mogherini entscheidend für das Aufhalten des Vormarsches und das Zurückdrängen von Da'esh [i.e. IS] in Syrien gewesen. Es gäbe keinen aktuellen Vorschlag des Rates die PYD und/oder die YPG auf die Liste zu setzen. Überdies habe die türkische Regierung von diesem Umstand Kenntnis.

Quellen:

1.3. Das BFA hat bereits mit Bescheiden von Februar 2012 entschieden, dass die BF Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keiner aktuellen sowie unmittelbaren persönlichen und konkreten Gefährdung oder Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären. Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidungen wurde nicht erhoben und auch kein weiterer Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Weiters konnte unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände aktuell nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Insbesondere liegen aktuell auch keinerlei Erkrankungen der BF1 vor, welche im Jahr 2012 zur Zuerkennung des Subsidiären Schutzes führten, weshalb dieser Abzuerkennen war.

Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" nicht vor und ist die Erlassung von Rückkehrentscheidungen geboten. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Abschiebung der BF in die Türkei zulässig und möglich ist.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Das erkennende Gericht hat durch den vorliegenden Verwaltungsakt Beweis erhoben und ein ergänzendes Ermittlungsverfahren sowie eine Beschwerdeverhandlung durchgeführt. Der festgestellte Sachverhalt in Bezug auf den bisherigen Verfahrenshergang steht aufgrund der außer Zweifel stehenden Aktenlage fest und ist das ho. Gericht in der Lage, sich vom entscheidungsrelevanten Sachverhalt ein ausreichendes und abgerundetes Bild zu machen.

2.2. Die Feststellungen zur Person der BF ergeben sich aus den in diesem Punkt nicht widerlegten Angaben sowie den Sprach- und Ortskenntnissen.

2.3 Zur Auswahl der Quellen, welche zur Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat herangezogen wurden, ist anzuführen, dass es sich hierbei aus der Sicht des erkennenden Gerichts um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen -sowohl staatlichen, als auch nichtstaatlichen Ursprunges- handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen. Zur Aussagekraft der einzelnen Quellen wird angeführt, dass zwar in nationalen Quellen rechtsstaatlich-demokratisch strukturierter Staaten - von denen der Staat der Veröffentlichung davon ausgehen muss, dass sie den Behörden jenes Staates, über den berichtet wird, zur Kenntnis gelangen - diplomatische Zurückhaltung geübt wird, wenn es um Sachverhalte geht, für die ausländische Regierungen verantwortlich zeichnen, doch andererseits sind gerade diese Quellen aufgrund der nationalen Vorschriften vielfach zu besonderer Objektivität verpflichtet, weshalb diesen Quellen keine einseitige Parteiennahme weder für den potentiellen Verfolgerstaat, noch für die behauptetermaßen Verfolgten unterstellt werden kann. Hingegen findet sich hinsichtlich der Überlegungen zur diplomatischen Zurückhaltung bei Menschenrechtsorganisationen im Allgemeinen das gegenteilige Verhalten wie bei den oa. Quellen nationalen Ursprunges. Der Organisationszweck dieser Erkenntnisquellen liegt gerade darin, vermeintliche Defizite in der Lage der Menschenrechtslage aufzudecken und falls laut dem Dafürhalten -immer vor dem Hintergrund der hier vorzunehmenden inneren Quellenanalyse- der Organisation ein solches Defizit vorliegt, dies unter der Heranziehung einer dem Organisationszweck entsprechenden Wortwahl ohne diplomatische Rücksichtnahme, sowie uU mit darin befindlichen Schlussfolgerungen und Wertungen -allenfalls unter teilweiser Außerachtlassung einer systematisch-analytischen wissenschaftlich fundierten Auswertung der Vorfälle, aus welchen gewisse Schlussfolgerungen und Wertungen abgeleitet werden- aufzuzeigen vergleiche Erk. des AsylGH vom 1.8.2012, Gz. E10 414843-1/2010).

Die getroffenen Feststellungen ergeben sich daher im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtschau unter Berücksichtigung der Aktualität und der Autoren der einzelnen Quellen. Auch kommt den Quellen im Rahmen einer Gesamtschau Aktualität zu (zur den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle im Asylverfahren vergleiche etwa Erk. d. VwGH v. 4.4.2001, Gz. 2000/01/0348). Eine maßgebliche Änderung der asyl- und abschieberelevanten Situation ist seit Erlassung der erstinstanzlichen Entscheidung nicht eingetreten.

Der BF trat den Quellen und deren Kernaussagen, welche in den Länderfeststellungen getroffen wurden, nicht konkret und substantiiert entgegen.

2.4.1. In Bezug auf den weiteren festgestellten Sachverhalt ist anzuführen, dass die von der belangten Behörde vorgenommene Beweiswürdigung (VwGH 28.09.1978, Zahl 1013, 1015/76; Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, 5. Auflage, Paragraph 45, AVG, E 50, Seite 305) im hier dargestellten Rahmen im Sinne der allgemeinen Denklogik und der Denkgesetze in sich schlüssig und stimmig ist.

Im Rahmen der oa. Ausführungen ist durch das erkennende Gericht anhand der Darstellung der persönlichen Bedrohungssituation eines Beschwerdeführers und den dabei allenfalls auftretenden Ungereimtheiten --z. B. gehäufte und eklatante Widersprüche ( z. B. VwGH 25.1.2001, 2000/20/0544) oder fehlendes Allgemein- und Detailwissen (z. B. VwGH 22.2.2001, 2000/20/0461)- zu beurteilen, ob Schilderungen eines Asylwerbers mit der Tatsachenwelt im Einklang stehen oder nicht.

Auch wurde vom Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es der Verwaltungsbehörde [nunmehr dem erkennenden Gericht] nicht verwehrt ist, auch die Plausibilität eines Vorbringens als ein Kriterium der Glaubwürdigkeit im Rahmen der ihr zustehenden freien Beweiswürdigung anzuwenden. (VwGH v. 29.6.2000, 2000/01/0093).

Weiter ist eine abweisende Entscheidung im Verfahren nach Paragraph 7, AsylG [numehr: Paragraph 3, AsylG] bereits dann möglich, wenn es als wahrscheinlich angesehen wird, dass eine Verfolgungsgefahr nicht vorliegt, das heißt, mehr Gründe für als gegen diese Annahme sprechen vergleiche zum Bericht der Glaubhaftmachung: Ackermann, Hausmann, Handbuch des Asylrechts [1991] 137 f; s.a. VwGH 11.11.1987, 87/01/0191; Rohrböck AsylG 1997, Rz 314, 524).

2.4.2. Der belangten Behörde ist zuzustimmen, als sie zum Schluss kommt, dass die BF 1 keinerlei relevantes Vorbringen im gegenständlichen Verfahren auf Aberkennung des Subsidiären Schutzes erstattet hat.

Die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten an die BF 1 im Jahr 2012 erfolgte im Zusammenhang mit ihrem damals beeinträchtigten Gesundheitszustand, da sie an einer Anpassungsstörung mit mittelgradig depressiver Symptomatik litt. Eine dauerhafte Behandlungsbedürftigkeit wurde ausgeschlossen. Es wurde ausgeführt, dass Anpassungsstörungen eine begrenzte Verlaufsdauer besitzen und die Grenze von sechs Monaten eventuell bei Vorliegen von mehreren Stressoren überschritten werden können. 79% der Patienten seien nach etwa fünf Jahren symptomfrei und bei 20% könne ein chronischer Verlaufstyp festgestellt werden. Es wurde im Bescheid der belangten Behörde ausdrücklich festgehalten, dass sich die BF 1 zur damaligen Zeit in einem angespannten psychischen Zustand befunden hat und alles darauf hindeutete, dass sich dies vor dem Hintergrund der allgemeinen Situation in ihrer Herkunftsregion dermaßen auswirken wird, dass außerordentliche Umstände, die zu einer Verletzung des Artikel 3, EMRK im Falle einer Rückführung führen, vorlagen.

Die BF 1 gab in der Verhandlung an, dass sie keinerlei Medikamente einnimmt. Sie legte auch keinerlei medizinische Befunde über etwaige Behandlungen in Österreich vor.

Seit der Gewährung des Subsidiären Schutzes an die BF 1 ist es damit zu einer wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes gekommen bzw. ist die BF 1 letztlich vollständig genesen.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten liegen aktuell insbesondere aufgrund des von der belangten Behörde eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Prim. römisch XXXXX vom 18.11.2016, welches lediglich eine Befindlichkeitsstörung ohne Krankheitswert bei der BF 1 diagnostiziert, nicht mehr vor.

Das Gutachten ist schlüssig und nachvollziehbar und wurde von den BF auch nicht in Zweifel gezogen. Am Rande sei erwähnt, dass die BF 1 ihren aktuell beeinträchtigten psychischen Zustand letztlich auf finanzielle Probleme zurückführte.

2.4.3. Das BVwG hat auch erhebliche Zweifel an den Angaben der BF bzw. deren Glaubwürdigkeit.

Insbesondere in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG konnten die BF kein stimmiges, detailliertes Vorbringen erstatten und erweckten vielmehr den Eindruck, dass sie sich im gesamten Verfahren eines eingelernten Vorbringens bedienten. Die BF erfüllten die Kriterien für die Erstattung eines glaubwürdigen Vorbringens nicht. Dies weder im Rahmen des Verfahrens vor der belangten Behörde noch im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Insbesondere hinterließen sie keinen persönlich glaubwürdigen Eindruck, vielmehr zeichnete sich das Vorbringen dadurch aus, dass es in den relevanten Teilen vage und ausweichend gestaltet wurde und Widersprüche aufwies. So zeichnet sich doch die Wiedergabe von tatsächlich selbst erlebten Umständen bzw. Ereignissen gerade dadurch aus, dass man nicht lediglich -wie im gegenständlichen Fall - objektive Rahmenbedingungen darlegt, sondern entspricht es vielmehr der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Menschen über persönlich Erlebtes detailreich, oft weitschweifend unter Angabe der eigenen Gefühle bzw. unter spontaner Rückerinnerung, Zeit-Ort-Verknüpfungen und über auch oft unwesentliche Details oder Nebenumstände berichten.

Schon zu ihren privaten Verhältnissen waren die Angaben der BF 1, 2 und 3 nicht konsistent.

So gab die BF 1 erstinstanzlich teilweise an, gar nicht die Schule oder lediglich ein Jahr die Schule besucht zu haben, während sie in der mündlichen Verhandlung angab, dass sie zwei Jahre die Schule besucht habe. Obwohl die BF 1 behauptet, Analphabetin zu sein, konnte sie in jeder Einvernahme bzw. in der Verhandlung jedes Protokoll in flüssiger Schreibschrift unterschreiben, was diese Angaben geradezu konterkariert. Auch zum Schulbesuch ihrer Kinder in der Türkei machte die BF 1 divergierende Angaben im Verfahren, wobei die BF 2 selbst in der Verhandlung angegeben hat, die Volks-und Hauptschule in der Türkei abgeschlossen zu haben und auch die BF 3 vor der belangten Behörde eindeutig angab, die Volksschule in der Türkei besucht zu haben.

Während die BF 1 auch in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass die schulischen Leistungen ihrer Kinder, demnach BF 1 und 2 in Österreich schlecht wären und sie lediglich im Rahmen des Elternsprechtages an "schulischen Aktivitäten" teilnehme, behaupteten die Kinder in der Befragung vor Gericht vorerst, dass sie ganz gut in der Schule wären. Der BF 2 wurde zwar bereits vom BFA aufgetragen, Schulzeugnisse vorzulegen, in der mündlichen Verhandlung meinte sie jedoch lapidar, ihr hätte niemand gesagt, dass sie etwas zur Verhandlung mitnehmen sollte. Die BF 2 gab in der Folge zum Vorhalt in der Verhandlung, dass die Mutter eben entgegen ihrer Angabe vorgebracht hat, dass die BF 2 und 3 nicht gut in der Schule gewesen wären, an, dass sie in manchen Fächern gut und in manchen Fächern schlecht gewesen wären. In ihren Zeugnissen gäbe es keine Noten. Wenn die BF 2 nach 7 jährigen Aufenthalt in Österreich und der damit in Zusammenhang stehenden Schulpflicht noch immer keine ordentliche Schülerin - mangels Kenntnissen - ist, geht schon allein daraus hervor, dass sie keine gute Schülerin war Der BF 3, welcher sich in der Verhandlung ebenso als guten Schuler bezeichnete und keine Zeugnisse sondern nur eine Schulbesuchsbestätigung vorlegte, meinte nach langem Überlegen zu den Fragen, welche Noten er in Deutsch und Mathematik habe, dass er dies nicht wisse bzw. die Noten vergessen habe. Gerade bei Schülern kann normalerweise davon ausgegangen werden, dass sie derartige Umstände wie ihre Schulnoten, um welche sich der Schulalltag drehen sollte, angeben können. Auch der Umstand, dass sie bis jetzt noch keinerlei Zeugnisse vorgelegt haben belegt, dass sie ihre Schulbeurteilungen verschleiern möchten.

Bis dato wurden auch keinerlei Belege dafür vorgelegt, dass sich die BF 2 - wie erstinstanzlich behauptet - in medizinische Behandlung begeben hätte müssen. Es kann damit davon ausgegangen werden, dass keine schweren Erkrankungen vorliegen und wären dies an sich schon nicht behauptete Herzrhythmusstörungen und eine in Österreich bevorstehende Nasenoperation wegen Schnarchens. Die BF 2 selbst gab in der Verhandlung befragt zu Erkrankungen an, dass "nichts Schlimmes" herausgekommen sei. Die rechtsfreundliche Vertretung der BF gab in der Einvernahme am 09.05.2017 an, dass ein psychisch-lingustisches Gutachten zur Person des BF 3 vorgelegt werde, was bisher ebenfalls unterblieb und fügte sich dieses Verhalten in das Bild der Familie ein, welche offenbar lediglich versuchte, in Österreich in irgendeiner Art und Weise mit diversen Behauptungen einen Aufenthaltstitel zu erlangen.

Auch hinsichtlich ihrer Arbeitswünsche in Österreich blieb die BF 2 vage und gab an, sich noch nicht erkundigt zu haben, sie wolle in einem Geschäft arbeiten. Damit sind letztlich keinerlei Bemühungen ihrerseits zu sehen, sich beruflich zu integrieren, da sie aktuell lediglich einen Platz in einem Projekt zur Arbeitsvermittlung hat. In der Verhandlung konnte sie auch nur drei Freunde namentlich benennen, wobei es sich bei einer Person um den auch von der BF 1 als Freund genannten Trafikanten handelte. Ansonsten treibt sie in ihrer Freizeit gemäß ihren Angaben Sport und erfolgte diese Angabe wohl, da im erstinstanzlichen Bescheid festgehalten wurde, dass ihre dort genannten Hobbys wie Kochen und Lesen gerade keine sozialen Kontakte bedingen. Jedenfalls konnte sie in der mündlichen Verhandlung keinerlei besonderes berufliches, soziales oder gesellschaftliches Engagement in Österreich geltend machen, wie man dies aufgrund der doch schon längeren Aufenthaltsdauer annehmen könnte. Selbst die erste auf Deutsch gestellte Frage in der Verhandlung, welche Freunde sie in Österreich habe und wie der Kontakt mit ihnen aussehe, wurde von ihr nicht beantwortet, sondern wurde bei der Dolmetscherin rückgefragt, was sie jetzt antworten solle, was belegt, dass zwar an sich gute Deutschkenntnisse vorhanden sind, jedoch keine besonderen. Ähnliches gilt für den BF 3 welcher auch kein besonderes Engagement in Österreich - außer seinen aufgrund des Schulbesuches guten Deutschkenntnissen - belegen konnte.

Wie schon in der Einvernahme vor der belangten Behörde am 09.05.2017 versuchte die BF 1 vor dem BVwG zu behaupten, dass sie innerhalb der Familie vorwiegend Deutsch sprechen würden. Dies relativierte sie im Anschluss selbst und gab die BF 2 demgegenüber in der Verhandlung an, dass sie mit ihrem Bruder Deutsch und mit den Eltern Türkisch spreche. Die BF 1 vermeinte zwar noch, dass sie in der Familie oft versuchen würden, Deutsch zu sprechen um die Sprache zu lernen, der BF 3 gab jedoch in der Verhandlung an, dass er nur mit der Schwester Deutsch spreche, da die Eltern diese Sprache nicht beherrschen.

Die BF 1 ging und geht auch keinerlei ehrenamtlichen Tätigkeit nach, vielmehr versuchte sie in der Einvernahme vor der belangten Behörde vorerst ihre Tätigkeit in einer Pizzaria als "ehrenamtlich" zu betiteln, wobei sie letztlich eingestand, dass es nicht freiwillig gewesen wäre. Insgesamt habe sie vier Jahre gearbeitet, was sich jedoch nicht mit dem Versicherungsdatenauszug verifizieren lässt. In der Verhandlung gab sie dann an, zwei Jahre beim Bruder gearbeitet zu haben, um über Vorhalt ihrer Angabe, vier Jahre gearbeitet zu haben, anzugeben, dass vier Jahre stimmen könnten. Offensichtlich hat die BF 1 damit zwar ca. vier Jahre für ihren Bruder gearbeitet, war jedoch nur ca. 2 1/2 Jahre sozialversicherungsrechtlich gemeldet. Damit lag eine illegale Beschäftigung beim Bruder vor.

Schließlich gab die BF 1 zwar an, dass sie regelmäßig mit ihren Verwandten in der Türkei Kontakt habe, die BF 2 verneinte demgegenüber Kontakte der Familie mit Verwandten in der Türkei, was ebenso belegt, dass die gesamte Familie versuchte, ein in jeweils ihren Augen zu einem Aufenthaltsrecht führendes Vorbringen zu erstatten.

Es wird nicht verkannt, dass bei den BF 2 und BF 3 durch ihre altersadäquate Freizeitgestaltung (Sport) und den Schulbesuch eine gewisse Integration vorhanden ist. Die BF haben auch im Ort einige Bekanntschaften, insbesondere mit Nachbarn, allerdings ist der Kontakt nach ihren eigenen Angaben bei der Verhandlung eher als lose anzusehen, da die BF letztlich nur wenige Namen von Personen nennen konnten und von Besuchen sprachen und keine konkreten Aktivitäten benannten.

Beim Unterstützungsschreiben handelt es sich letztlich um ein Formblatt, welches von diversen Personen unterschrieben wurde, welche die BF nicht oder kaum kannten. Die BF 1 hat selbst angegeben, mit dieser Liste bei den Nachbarn und in einem Wettbüro Unterschriften von dort anwesenden Personen gesammelt zu haben. Sie konnte die Personen weder genau zuordnen noch ihre "freundschaftlichen" Verbindungen konkretisieren. Auch die BF 2 und 3 konnten letztlich über ihre in der Schule erworbenen Deutschkenntnisse hinausgehend keine besondere Integration nachweisen.

Die BF 1 selbst hat in der mündlichen Verhandlung befragt dazu, wie sie sich angepasst hat, lediglich ausgeführt, dass wenn ihr das Recht zu Arbeiten nicht gewährt wird, sie nicht arbeiten könne und ließ sich die BF 1 letztlich auch auf den Vorhalt, dass sie als Subsidiär Schutzberechtigte arbeiten hätte können, nicht ein. Zuletzt gestand sie zu, dass die Arbeitszeiten, die das AMS angeboten hätte, ihr nicht gepasst hätten. Wie schon vor der belangten Behörde behauptete die BF 1 auch wieder in der mündlichen Verhandlung, zur Deutschprüfung angetreten zu sein, konnte dann jedoch auch in der Verhandlung wieder nur 2 Teilnahmebestätigungen aus dem Jahr 2015 vorlegen und behauptete, da sie nicht Lesen und Schreiben könne, hätte sie nicht antreten können.

Eine besondere Integration der BF 1, 2 und 3erhellt sich aus dem Vorgesagten nicht und ist die Angabe des BF 3, dass er einmal mit seinem Vater einen kurdischen Verein besuchte, auch nicht geeignet, einen Integrationsversuch zu belegen, vielmehr bewegten sie sich da offensichtlich wieder in ihrer eigenen, türkischen Gesellschaft.

Zusammenfassend sind zum Entscheidungszeitpunkt aus Sicht der erkennenden Richterin jedenfalls keine Aspekte einer außergewöhnlichen, schützenswerten und dauernden Integration hervorgekommen.

2.4.4. Nicht festgestellt werden kann außerdem, dass die BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei im Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würden oder von der Todesstrafe bedroht wären.

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle Ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden und ihnen die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.

Drei der Brüder der BF 1 wohnen in Österreich, wobei zwei davon auch einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Die BF werden von ihren Brüdern in Österreich finanziell unterstützt. Es ist auch möglich, dass diese die BF in der Türkei weiterhin finanziell unterstützen. Die BF verfügen auch die in den Feststellungen erwähnten Verwandten in der Türkei. Zu den verheirateten Schwestern, deren Ehegatten einer Beschäftigung nachgehen, besteht Kontakt und leben diese in Eigentumswohnungen, weshalb auch diese die BF unterstützen können. Darüber hinaus lebt die BF in Österreich mit ihren Ehegatten zusammen und kann sie auch dieser - da die Rückführung nur gemeinsam durchgeführt werden kann - unterstützen. Der Ehegatte sowie die BF 1 gingen in der Türkei vor ihren Ausreisen Beschäftigungen nach und ist es ihnen zuzumuten, dies auch nach der Rückkehr wieder zu tun.

Die Sicherheitslage in der Türkei kann teilweise als angespannt bezeichnet werden und ist die Türkei einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder die PKK konfrontiert. Die allgemeine Lage in der Türkei stellt sich aber trotz der durch den jüngst vorangegangen Putschversuch geänderten Lage, nicht dergestalt dar, dass jeder Rückkehrer alleine aufgrund seiner Anwesenheit im Land einer substantiellen Gefahr ausgesetzt wäre. Darüber hinaus konnten die BF keinen individuellen Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen in der Türkei herstellen. Eine individuelle Gefährdung Ihrer Person, der zufolge gerade Sie von dieser Sicherheitslage betroffen wären, konnte alles in allem nicht festgestellt werden. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die BF im Rückkehrfall auf eine entsprechende Unterstützung im Familienverband zurückgreifen können und ihnen der Zugang zum dortigen Sozialsystem offensteht, sodass insgesamt eine gesicherte Existenzgrundlage in der Türkei als erwiesen anzusehen ist.

2.4.5. In der Einvernahme vom 09.05.2017 gaben die BF 1 an, dass sie getötet werden würde, wenn sie in die Türkei zurückkommen würden. Es gäbe einen Urteil, wonach sie getötet werden sollte. Im rechtskräftigen Bescheid vom 16.02.2012 wurde festgestellt, dass die BF 1 eben keiner asylrelevanten Verfolgung durch unbekannte Dritte, nämlich die Angehörigen Ihres Ehegatten, aufgrund einer bevorstehenden Scheidung ausgesetzt wäre. In diesem Zusammenhang wird auf die im Verfahrensgang hierzu getroffenen Ausführungen verwiesen. Zusätzlich zum absolut unglaubwürdigen Vorbringen in diesem Zusammenhang wird festgehalten, dass sich die BF 1 mittlerweile mit dem Ehegatten versöhnt hat und seit beinahe vier Jahren mit ihm in einer gemeinsamen Wohnung lebt. Darüber hinaus haben die Ehegatten ein weiteres gemeinsames Kind bekommen, weshalb sich auch keinerlei Probleme zwischen den Ehegatten erhellen. Dies macht eine Gefährdung durch die Familienangehörigen des Ehegatten zusätzlich nicht nachvollziehbar und wird nochmals darauf verwiesen, dass dieses Vorbringen letztlich bereits im Bescheid aus dem Jahr 2012 unglaubwürdig beurteilt wurde und lediglich der Gesundheitszustand der BF 1 zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz führte.

2.4.6. Selbst für den Fall der hypothetischen Wahrunterstellung der Angaben der BF liegt kein relevanter Sachverhalt vor:

Die BF 1 hat eine Verfolgung durch nichtstaatliche Organe, nämlich durch die Verwandten des Ehegatten geltend gemacht. Eine Verfolgung von Seiten Dritter (nichtstaatliche Verfolgung) ist jedoch nur dann als asylrelevant anzusehen, wenn es F aufgrund mangelnder bzw. nicht vorhandener Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates weder möglich noch zumutbar ist, sich zur Abwehr der Verfolgung unter den Schutz des Heimatstaates zu stellen.

Vorliegend sind den Länderfeststellungen und auch dem Vorbringen der BF keine konkreten Hinweise zu entnehmen, dass keine ausreichenden Schutzmechanismen der zuständigen staatlichen Behörden vorhanden wären, um den Eintritt eines von ihr für möglich gehaltenen Erfolges mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nicht eintreten zu lassen. Selbst wenn die BF versucht hätte - die Angaben diesbezüglich sind widersprüchlich - sich an die Polizei zu wenden, kann aufgrund einer einzelnen Nichtvornahme von Maßnahmen bzw. dem Fehlverhalten eines einzelnen Polizisten nicht darauf geschlossen werden, dass der gesamte Polizeiapparat oder übergeordnete Behörden nicht schutzwillig und schutzfähig wären.

Aus Behauptungen, Polizeikräfte würden nicht ordnungsgemäß arbeiten, kann keineswegs abgeleitet werden, dass es von vornherein klar war, dass die staatlichen Stellen des Herkunftsstaates vor Verfolgung nicht schützen können oder wollen und kann somit nicht von mangelnder Schutzfähigkeit oder Schutzwilligkeit ausgegangen werden. Vielmehr wäre es im Verhalten der BF gelegen, sich entsprechend zu informieren und sich an staatliche Hilfe bzw. einen Ombudsmann oder eine der zahlreichen NGO¿s zu wenden, was jedoch nicht einmal ansatzweise versucht wurde.

Die geschilderten Drohungen / Übergriffe stellen amtswegig zu verfolgende strafbare Handlungen dar. Aus den Länderberichten geht insbesondere auch hervor, dass von einer grundsätzlich ausreichenden Schutzfähigkeit und -willigkeit des türkischen Staates ausgegangen werden, wenngleich gewisse Defizite durchaus zugestanden werden.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Aberkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter:

3.1.1. Gemäß Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 145 aus 2017,, ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005) nicht oder nicht mehr vorliegen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat demnach zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Maßgabe des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 in Ansehung des Beschwerdeführers gegenwärtig nicht oder nicht mehr vorliegen.

Die erste Variante für den Aberkennungstatbestand der Ziffer 1 leg cit, das "Nichtvorliegen" der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stellt darauf ab, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nie vorgelegen haben. Diese Konstellation entspricht jener, die der "Zurücknahme" der Anerkennung als Asylberechtigter zu Grunde liegt - mit dem (wesentlichen) Unterschied, dass die Fälle der vom AsylG 2005 vorgesehenen Zurücknahme Umstände betreffen, in denen die Anerkennung als Asylberechtigte deshalb zu Unrecht erfolgt ist, weil bereits zum Entscheidungszeitpunkt Asylausschlussgründe vorgelegen sind. Bei der Aberkennung des subsidiären Schutzes stellt das AsylG 2005 hingegen lediglich darauf ab, dass die Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. Eine Differenzierung, ob die Voraussetzungen mangels Schutzwürdigkeit oder mangels Schutzbedürftigkeit nicht vorgelegen haben, nimmt das Gesetz nicht vor.

Diese Abänderung sieht die Abänderung einer rechtskräftigen Entscheidung vor. Diese Abänderung entspricht (zumindest) sinngemäß den in Paragraph 69, Absatz eins, Ziffer eins, AVG normierten Voraussetzungen. Jedenfalls hat die Behörde den Beweis zu führen, dass die betreffende Person den Anspruch auf subsidiären Schutz (gar) nicht hat (Artikel 19, Absatz 4, StatusRL).

Die zweite Variante für den Aberkennungstatbestand der Ziffer 1 leg cit, das "nicht mehr vorliegen", stellt auf eine Änderung der Umstände (in Bezug auf den Zeitpunkt der ersten Entscheidung) ab. Dieser Tatbestand entspricht sinngemäß der "Geänderte-Umstände-Klausel iSd Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK. Dafür spricht auch, dass Artikel 16, Absatz 2, StatusRL, der eine wesentliche, dauerhafte und für die betroffene Person relevante Änderung der Umstände verlangt (und - mangels Umsetzung in das österreichische Recht - jedenfalls zur Auslegung des Paragraph 9, heranzuziehen ist): "Bei Anwendung des Absatzes 1 berücksichtigen die Mitgliedstaaten, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden".

In diesem Zusammenhang ist die Frage der "Zumutbarkeit" (letztlich: einer Rückkehr in den Herkunftsstaat) nicht explizit normiert. Dennoch sind Fragen der Zumutbarkeit Teil der Überprüfung.

Zum einen stellt Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, in Verbindung mit Artikel 16, Absatz 2, StautsRL (in dessen Sinn die gesetzliche Bestimmung interpretiert werden muss) darauf ab, dass die ins Treffen geführten Änderungen der Umstände sich auf die konkrete Person so auswirken, dass sie tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Damit verweist die StatusRL jedenfalls auf die Relevanz subjektiver (in der Person gelegener) Umstände im Zusammenhang mit der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten bzw. auf den Nachweis der konkreten (günstigen) Auswirkungen der allgemeinen Änderungen auf die Situation der betroffenen Person.

Parallel dazu ist auch davon auszugehen, dass jeweils bei der Überprüfung ob die Gründe für subsidiären Schutz noch vorliegen, auch - vor dem Hintergrund der Auslegung des Artikel 3, EMRK - subjektive Faktoren zu berücksichtigen sind. Daher sind auch mittlerweile gewonnene soziale und persönliche Beziehungen im Aufenthaltsstaat im Verhältnis zur nunmehrigen Beziehung zum Herkunftsstaat im Verfahren über die Aberkennung des subsidiären Schutzes nicht - von vornherein - ohne Bedeutung.

Schließlich ist Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, auch vor dem Hintergrund einer parallelen Konstruktion zu Artikel eins, Abschnitt C Ziffer 5, GFK zu sehen. Die Beendigungsklausel der GFK (geänderte Umstände) beinhalten ein Element der Zumutbarkeit (bzw. ein Abstellen auf die persönliche Situation der betroffenen Person). Angesichts der Ähnlichkeit der Gegenstände ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Erwägungen zur Zumutbarkeit auch im Verfahren über die Aberkennung des subsidiären Schutzes wegen geänderter Umstände zum Tragen kommen. Im Ergebnis sind also die persönlichen Umstände der betroffenen Person der Entscheidung über die Aberkennung ebenso zu Grund zu legen wie Erwägungen zur allgemeinen Situation im Herkunftsland (Putzer, Asylrecht-Leitfaden zum AsylG 2005², Rz 240 ff).

3.1.2. Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird (Ziffer eins,) oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist (Ziffer 2,), der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Artikel 2, EMRK, Artikel 3, EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Demgemäß hat das Bundesverwaltungsgericht zu prüfen, ob im Falle der Rückführung der BF in die Türkei Artikel 2, EMRK (Recht auf Leben), Artikel 3, EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde.

Bei der Prüfung und Zuerkennung von subsidiärem Schutz im Rahmen einer gebotenen Einzelfallprüfung sind zunächst konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einem Fremden im Falle der Abschiebung in seinen Herkunftsstaat ein "real risk" einer gegen Artikel 3, MRK verstoßenden Behandlung droht (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0174). Die dabei anzustellende Gefahrenprognose erfordert eine ganzheitliche Bewertung der Gefahren und hat sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen (VwGH 19.11.2015, Ra 2015/20/0236; VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob solche exzeptionellen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass der Betroffene im Zielstaat keine Lebensgrundlage vorfindet (VwGH 23.09.2014, Ra 2014/01/0060 mwH).

Nach der ständige Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Verwaltungsgerichtshofs obliegt es dabei grundsätzlich dem Beschwerdeführer, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos glaubhaft zu machen, dass ihm im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Artikel 3, EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (EGMR U 05.09.2013, römisch eins. gegen Schweden, Nr. 61204/09; VwGH 18.03.2015, Ra 2015/01/0255; VwGH 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Die Mitwirkungspflicht des Beschwerdeführers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich das erkennende Gericht nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Wenn es sich um einen der persönlichen Sphäre der Partei zugehörigen Umstand handelt (etwa die familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Situation), besteht eine erhöhte Mitwirkungspflicht (VwGH 18.12.2002, Zl. 2002/18/0279). Der Antragsteller muss die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr mit konkreten, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerten Angaben schlüssig darstellen (VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus, wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (EGMR U 17.10.1986, Kilic gegen Schweiz, Nr. 12364/86). So führt der EGMR aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller, Beweise zu beschaffen, dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht (EGMR U 05.07.2005, Said gegen Niederlande, 5.7.2005).

Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen im Übrigen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141).

3.1.3. Unter "real risk" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat zu verstehen (grundlegend VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; RV 952 BlgNR römisch XXII. GP 37). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die Feststellung einer Gefahrenlage im Sinn des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 erfordert das Vorliegen einer konkreten, den Beschwerdeführer betreffenden, aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder (infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt) von diesen nicht abwendbaren Gefährdung bzw. Bedrohung. Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher ohne Hinzutreten besonderer Umstände, welche ihnen noch einen aktuellen Stellenwert geben, nicht geeignet, die begehrte Feststellung zu tragen vergleiche VwGH 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; 14.10.1998, Zl. 98/01/0122).

3.1.4. Der EGMR geht in seiner ständigen Rechtsprechung davon aus, dass die EMRK kein Recht auf politisches Asyl garantiert. Die Ausweisung eines Fremden kann jedoch eine Verantwortlichkeit des ausweisenden Staates nach Artikel 3, EMRK begründen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der betroffene Person im Falle seiner Ausweisung einem realen Risiko ausgesetzt würde, im Empfangsstaat einer Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden vergleiche EGMR U 08.04.2008, Nnyanzi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 21878/06).

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verletzt Artikel 3, EMRK auch dann, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Fremde im Zielland gefoltert oder unmenschlich behandelt wird (VfSlg 13.314/1992; EGMR GK 07.07.1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88). Die Asylbehörde hat daher auch Umstände im Herkunftsstaat des Antragstellers zu berücksichtigen, wenn diese nicht in die unmittelbare Verantwortlichkeit Österreichs fallen. Als Ausgleich für diesen weiten Prüfungsansatz und der absoluten Geltung dieses Grundrechts reduziert der EGMR jedoch die Verantwortlichkeit des Staates (hier: Österreich) dahingehend, dass er für ein ausreichend reales Risiko für eine Verletzung des Artikel 3, EMRK eingedenk des hohen Eingriffschwellenwertes dieser Fundamentalnorm strenge Kriterien heranzieht, wenn dem Beschwerdefall nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für einen möglichen Schaden des Betroffenen zu Grunde liegt (EGMR U 04.07.2006, Karim gegen Schweden, Nr. 24171/05, U 03.05.2007, Goncharova/Alekseytev gegen Schweden, Nr. 31246/06).

Der EGMR geht weiter allgemein davon aus, dass aus Artikel 3, EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische oder sonstige unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann diesbezüglich die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Artikel 3, EMRK führen (EGMR U 15.02.2000, S.C.C. gegen Sweden, Nr. 46553/99).

3.1.5. Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Artikel 3, EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände vorliegen (EGMR U 02.05.1997, D. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 30240/96; U 06.02.2001, Bensaid gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 44599/98; VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443).

Unter außergewöhnlichen Umständen können auch lebensbedrohende Ereignisse (etwa das Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Artikel 3, EMRK iVm.

Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0142). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Artikel 3, EMRK für die Beantwortung dieser Frage unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr - die bloße Möglichkeit genügt nicht - damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137). Außergewöhnlicher Umstände liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (VwGH 11.11.2015, Ra 2015/20/0196, mwN).

3.1.6. Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn des Artikel 15, Litera c, der Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zu finden sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken (VG München 13.05.2016, M 4 K 16.30558).

Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Beschwerdeführer so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Bedrohung darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein vergleiche EuGH U 17.02.2009, C-465/07). Ob eine Situation genereller Gewalt eine ausreichende Intensität erreicht, um eine reale Gefahr einer für das Leben oder die Person zu bewirken, ist insbesondere anhand folgender Kriterien zu beurteilen:

ob die Konfliktparteien Methoden und Taktiken anwenden, die die Gefahr ziviler Opfer erhöhen oder direkt auf Zivilisten gerichtet sind; ob diese Taktiken und Methoden weit verbreitet sind; ob die Kampfhandlungen lokal oder verbreitet stattfinden; schließlich die Zahl der getöteten, verwundeten und vertriebenen Zivilisten (EGRM U 28.06.2011, Sufi/Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Artikel 3, EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen (VwGH 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Die bloße Möglichkeit einer dem Artikel 3, EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt jedoch nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (VwGH 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; EGMR U 20.07.2010, N. gegen Schweden, Nr. 23505/09; U 13.10.2011, Husseini gegen Schweden, Nr. 10611/09). Herrscht im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, so liegen stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vor, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können aber besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände (Gefährdungsmomente) dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein - im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaates im Allgemeinen - höheres Risiko besteht, einer dem Artikel 2, oder 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137, zur Lage in Bagdad). Die bloße Möglichkeit einer den betreffenden Bestimmungen der EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht (VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427).

Im Hinblick der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der Beschwerdeführer typischerweise zurückkehren wird. Zur Feststellung der Gefahrendichte kann auf eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung zurückgegriffen werden. Zu dieser wertenden Betrachtung gehört jedenfalls auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann (dt BVerwG 17.11.2011, 10 C 13/10).

3.1.7. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich zunächst, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 nicht gegeben sind:

Dass die BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnten, konnte im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt werden. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würden die BF somit nicht in Rechten nach Artikel 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen verletzt werden. Weder droht im Herkunftsstaat durch direkte Einwirkung noch durch Folgen einer substanziell schlechten oder nicht vorhandenen Infrastruktur ein reales Risiko einer Verletzung der oben genannten von der EMRK gewährleisteten Rechte.

Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Sicherheitslage in der Türkei teilweise angespannt ist, jedoch sind keine Umstände hervorgekommen, dass die BF in besonderer Weise davon betroffen wären vergleiche auch Beweiswürdigung oben).

Es kann auch nicht erkannt werden, dass den BF im Falle einer Rückkehr in die Türkei die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Artikel 3, EMRK überschritten wäre vergleiche hiezu grundlegen VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059), haben doch die BF selbst nicht ausreichend konkret vorgebracht, dass im Falle einer Rückführung jegliche Existenzgrundlage fehlen würde und sie in Ansehung existenzieller Grundbedürfnisse (wie etwa Versorgung mit Lebensmitteln oder einer Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wären.

Die BF sind arbeitsfähige und gesunde Menschen mit hinreichender Bildung und Berufserfahrung. Die grundsätzliche Möglichkeit einer Teilnahme am Erwerbsleben kann in Ansehung der BF vorausgesetzt werden, insbesondere war die BF 1 bereits in der Türkei beruflich tätig und verfügen die BF 2 und 3 über eine zusätzliche Fremdsprachenkenntnis und Ausbildung im Ausland. Das Bundesverwaltungsgericht geht demnach davon aus, dass die BF grundsätzlich in der Lage sein werden, sich in der Türkei ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts zu erwirtschaften und kann dazu auch der Ehegatte der BF 1 beitragen. Ferner ist davon auszugehen, dass die BF erneut bei Familienangehörigen Unterstützung in Form der Gewährung von Unterkunft bzw. finanzieller Unterstützung finden werden.

3.1.8. Durch eine Rückführung in den Herkunftsstaat würde die BF somit nicht in ihren Rechten nach Artikel 2 und 3 EMRK oder ihren relevanten Zusatzprotokollen Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe und Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden.

Weder droht ihnen im Herkunftsstaat das reale Risiko einer Verletzung der oben genannten gewährleisteten Rechte, noch bestünde die Gefahr, der Todesstrafe unterzogen zu werden. Auch Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Rückführung in den Herkunftsstaat für die BF als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, sind nicht hervorgekommen. Es liegen auch keine lebensbedrohenden oder schweren Erkrankungen der BF vor.

Die gesetzlichen Voraussetzungen der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten liegen demgemäß nicht vor.

3.1.9. Der belangten Behörde ist in der rechtlichen Beurteilung dahingehend beizutreten, dass sich der Gesundheitszustand der BF 1 aus den vorstehend erörterten Erwägungen seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.02.2012 maßgeblich verbessert hat und nunmehr die Aufrechterhaltung des den BF zuerkannten subsidiären Schutzes nicht mehr rechtfertigt. Das BFA war demnach berechtigt, von Amts wegen ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einzuleiten (Paragraph 9, Absatz eins, erster Satz AsylG 2005), im Ergebnis erfolgten die mit Spruchpunkt römisch eins der angefochtenen Bescheide erfolgten Aberkennungen des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 9, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG 2005 zu Recht, da die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Ansehung der BF 1 - wie vorstehend erörtert - nicht (mehr) vorliegen.

3.1.10. Paragraph 34, (1) Stellt ein Familienangehöriger (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22,) von

1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;

2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (Paragraph 8,) zuerkannt worden ist oder

3. einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) ...

(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn

1. dieser nicht straffällig geworden ist;

3. gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Paragraph 9,) und

4. dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Absatz 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß Paragraph 12 a, Absatz 4, zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) Die Bestimmungen der Absatz eins bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.

(6) ...

Im gegenständlichen Fall liegt ein Familienverfahren gemäß Paragraph 34, AsylG vor und wurde den BF 2 und 3 nur aufgrund der Zuerkennung des Subsidiären Schutzes an die BF 1 auch Subsidiärer Schutz zuerkannt. Da dieser nunmehr Abzuerkennen war und die BF 2 und 3 weder eigenen Fluchtgründe oder ein relevantes Vorbringen iSd Artikel 8, EMRK erstattet haben, waren gegenständliche Entscheidungen hinsichtlich der BF 2 und 3 zu treffen.

Auch dem Ehegatten und jüngstem Kind der BF 1 wurde mit Entscheidungen des BVwG vom heutigen Tag kein besonderer Schutzstatus zugesprochen, weshalb auch eine Ableitung eines Schutzes im Rahmen des Familienverfahrens nicht in Frage kam.

3.2. Paragraph 9, Absatz 4, AsylG 2005 zufolge ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit dem Entzug der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte zu verbinden. Der Fremde hat nach Rechtskraft der Aberkennung Karten, die den Status des subsidiär Schutzberechtigten bestätigen, der Behörde zurückzustellen.

3.3. Da den BF durch die gegenständliche Entscheidung der Status der subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird, ist ihnen die der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte zu entziehen.

3.4. Frage der Erteilung von Aufenthaltstiteln und Erlassung von Rückkehrentscheidungen

3.4.1. Gesetzliche Grundlagen:

§ 10 AsylG 2005, Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme:

§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer

Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß Paragraphen 4, oder 4a zurückgewiesen wird,

2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß Paragraph 5, zurückgewiesen wird,

3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und in den Fällen der Ziffer eins und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt wird.

(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des Paragraph 58, Absatz 9, Ziffer eins bis 3 vorliegt."

§ 57 AsylG 2005, Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz:

§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von

Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß Paragraph 46 a, Absatz eins, Ziffer eins, oder Absatz eins a, FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (Paragraph 17, StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des Paragraph 73, StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Absatz eins, Ziffer 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Absatz 3 und Paragraph 73, AVG gehemmt.

(3) Ein Antrag gemäß Absatz eins, Ziffer 2, ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

(4) Ein Antrag gemäß Absatz eins, Ziffer 3, ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach Paragraphen 382 b, oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können."

Paragraph 9, BFA-VG, Schutz des Privat- und Familienlebens:

"§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß Paragraph 61, FPG, eine Ausweisung gemäß Paragraph 66, FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß Paragraph 67, FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Artikel 8, Absatz 2, EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Artikel 8, EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Absatz eins, auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (Paragraphen 45 und 48 oder Paragraphen 51, ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,) verfügen, unzulässig wäre.

(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraphen 52, Absatz 4, in Verbindung mit 53 Absatz eins a, FPG nicht erlassen werden, wenn

1. ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß Paragraph 10, Absatz eins, des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG), Bundesgesetzblatt Nr. 311, verliehen hätte werden können, oder

2. er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist.

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraphen 52, Absatz 4, in Verbindung mit 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 4, FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, FPG vorliegen. Paragraph 73, Strafgesetzbuch (StGB), Bundesgesetzblatt Nr. 60 aus 1974, gilt."

§ 58 AsylG 2005, Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln:

§ 58. (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels

gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß Paragraphen 4, oder 4a zurückgewiesen wird,

2. der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

3. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt,

4. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird oder

5. ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.

(2) Das Bundesamt hat einen Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 55, von Amts wegen zu erteilen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des Paragraph 9, Absatz eins bis 3 BFA-VG rechtskräftig auf Dauer für unzulässig erklärt wurde. Paragraph 73, AVG gilt.

(3) Das Bundesamt hat über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55 und 57 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

(4) Das Bundesamt hat den von Amts wegen erteilten Aufenthaltstitel gemäß Paragraphen 55, oder 57 auszufolgen, wenn der Spruchpunkt (Absatz 3,) im verfahrensabschließenden Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist. Absatz 11, gilt.

(5) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55 bis 57 sowie auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, sind persönlich beim Bundesamt zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig ist, hat den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen.

(6) Im Antrag ist der angestrebte Aufenthaltstitel gemäß Paragraphen 55 bis 57 genau zu bezeichnen. Ergibt sich auf Grund des Antrages oder im Ermittlungsverfahren, dass der Drittstaatsangehörige für seinen beabsichtigten Aufenthaltszweck einen anderen Aufenthaltstitel benötigt, so ist er über diesen Umstand zu belehren; Paragraph 13, Absatz 3, AVG gilt.

(7) Wird einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 stattgegeben, so ist dem Fremden der Aufenthaltstitel auszufolgen. Absatz 11, gilt.

(8) Wird ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 zurück- oder abgewiesen, so hat das Bundesamt darüber im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.

(9) Ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach diesem Hauptstück ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Drittstaatsangehörige

1. sich in einem Verfahren nach dem NAG befindet,

2. bereits über ein Aufenthaltsrecht nach diesem Bundesgesetz oder dem NAG verfügt oder

3. gemäß Paragraph 95, FPG über einen Lichtbildausweis für Träger von Privilegien und Immunitäten verfügt oder gemäß Paragraph 24, FPG zur Ausübung einer bloß vorübergehenden Erwerbstätigkeit berechtigt ist

soweit dieses Bundesgesetz nicht anderes bestimmt. Dies gilt auch im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrerer Anträge.

(10) Anträge gemäß Paragraph 55, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß Paragraph 9, Absatz 2, BFA-VG ein geänderter Sachverhalt, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Artikel 8, EMRK erforderlich macht, nicht hervorgeht. Anträge gemäß Paragraphen 56 und 57, die einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag (Folgeantrag) oder einer rechtskräftigen Entscheidung nachfolgen, sind als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.

(11) Kommt der Drittstaatsangehörige seiner allgemeinen Mitwirkungspflicht im erforderlichen Ausmaß, insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten, nicht nach, ist

1. das Verfahren zur Ausfolgung des von Amts wegen zu erteilenden Aufenthaltstitels (Absatz 4,) ohne weiteres einzustellen oder

2. der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zurückzuweisen.

Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren.

(12) Aufenthaltstitel dürfen Drittstaatsangehörigen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nur persönlich ausgefolgt werden. Aufenthaltstitel für unmündige Minderjährige dürfen nur an deren gesetzlichen Vertreter ausgefolgt werden. Anlässlich der Ausfolgung ist der Drittstaatsangehörige nachweislich über die befristete Gültigkeitsdauer, die Unzulässigkeit eines Zweckwechsels, die Nichtverlängerbarkeit der Aufenthaltstitel gemäß Paragraphen 55 und 56 und die anschließende Möglichkeit einen Aufenthaltstitel nach dem NAG zu erlangen, zu belehren.

(13) Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55 bis 57 begründen kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten. Bei Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 56, hat das Bundesamt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diesen Antrag jedoch mit der Durchführung der einer Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung zuzuwarten, wenn

1. ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung erst nach einer Antragstellung gemäß Paragraph 56, eingeleitet wurde und

2. die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 56, wahrscheinlich ist, wofür die Voraussetzungen des Paragraph 56, Absatz eins, Ziffer eins,, 2 und 3 jedenfalls vorzuliegen haben."

(14) Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, durch Verordnung festzulegen, welche Urkunden und Nachweise allgemein und für den jeweiligen Aufenthaltstitel dem Antrag jedenfalls anzuschließen sind. Diese Verordnung kann auch Form und Art einer Antragstellung, einschließlich bestimmter, auschließlich zu verwendender Antragsformulare, enthalten.

Paragraph 52, FPG, Rückkehrentscheidung:

"§ 52. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich

1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder

2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (Paragraph 10, AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,

2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder

4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraphen 55,, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.

(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß Paragraph 60, AsylG 2005 oder Paragraph 11, Absatz eins und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels, Einreisetitels oder der erlaubten visumfreien Einreise entgegengestanden wäre,

2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins,, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,

3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 8, Absatz eins, Ziffer eins,, 2 oder 4 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,

4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (Paragraph 11, Absatz eins und 2 NAG) entgegensteht oder

5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß Paragraph 9, Integrationsgesetz (IntG), Bundesgesetzblatt römisch eins. Nr. 68 aus 2017, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.

Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß Paragraph 24, NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß Paragraph 53, Absatz 3, die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.

(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Absatz eins, zu erlassen.

(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Absatz eins, ist abzusehen, wenn ein Fall des Paragraph 45, Absatz eins, vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.

(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des Paragraph 16, Absatz 4, BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist Paragraph 28, Absatz 2, Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 33 aus 2013, auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.

(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß Paragraph 46, kann auch über andere als in Absatz 9, festgestellte Staaten erfolgen.

(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß Paragraph 9, Absatz 3, BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß Paragraph 9, Absatz eins, BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde."

§ 55 FPG, Frist für die freiwillige Ausreise

§ 55. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 wird zugleich

eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

(1a) Eine Frist für die freiwillige Ausreise besteht nicht für die Fälle einer zurückweisenden Entscheidung gemäß Paragraph 68, AVG sowie wenn eine Entscheidung auf Grund eines Verfahrens gemäß Paragraph 18, BFA-VG durchführbar wird.

(2) Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

(3) Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist für die freiwillige Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden. Die besonderen Umstände sind vom Drittstaatsangehörigen nachzuweisen und hat er zugleich einen Termin für seine Ausreise bekanntzugeben. Paragraph 37, AVG gilt.

(4) Das Bundesamt hat von der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, wenn die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gemäß Paragraph 18, Absatz 2, BFA-VG aberkannt wurde.

(5) Die Einräumung einer Frist gemäß Absatz eins, ist mit Mandatsbescheid (Paragraph 57, AVG) zu widerrufen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder Fluchtgefahr besteht.

Artikel 8, EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

3.4.2. Der den BF seit 2012 zukommende Subsidiäre Schutz war abzuerkennen. Es liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt (ein sonstiger Aufenthaltstitel des drittstaatsangehörigen Fremden ist nicht ersichtlich und wurde auch nicht behauptet) im Bundesgebiet mehr vor und fallen die BF nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG.

Wird einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt, ist gemäß Paragraph 58, Absatz eins, Ziffer 4, AsylG 2005 die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen. Über das Ergebnis der von Amts wegen erfolgten Prüfung ist gemäß Paragraph 58, Absatz 3, AsylG 2005 im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen. Paragraph 10, Absatz eins, AsylG 2005 sieht ferner vor, dass eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz dann mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden ist, wenn etwa dem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt (Ziffer 5, leg. cit.) und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel nach Paragraph 57, AsylG 2005 erteilt wird. Die Rückkehrentscheidung setzt daher eine vorangehende Klärung der Frage voraus, ob ein Aufenthaltstitel nach Paragraph 57, AsylG 2005 erteilt wird.

Es liegen keine Umstände vor, dass den BF allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich in der Beschwerde auch nichts dargelegt.

3.4.3. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Artikel 8, Absatz eins, EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.

3.4.4. Die BF möchten offensichtlich das künftige Leben in Österreich gestalten und halten sich seit Mai 2011 im Bundesgebiet auf. Sie reisten rechtswidrig und mit Hilfe einer Schlepperorganisation in das Bundesgebiet ein. Sie sind bislang strafrechtlich unbescholten und leben von staatlichen Leistungen. Besondere private, berufliche, soziale und gesellschaftliche Anknüpfungspunkte kamen nicht hervor vergleiche Feststellungen).

Als Kriterien für die Beurteilung, ob Beziehungen zu Verwandten im Aufnahmestaat im Einzelfall einem Familienleben iSd. Artikel 8, EMRK entsprechen, müssen neben der bloßen Verwandtschaft noch weitere Umstände hinzutreten, etwa besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgehen (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff).

Hinsichtlich der in Österreich lebenden Verwandten der BF war in Anbetracht des diesbezüglichen Vorbringens von einer besonderen Beziehungsintensität zu diesen nicht auszugehen, zumal nicht einmal besondere Kontakte behauptet wurden. Eine finanzielle Abhängigkeit reicht alleine nicht, um besondere Beziehungen zu belegen und lief das Vorbringen der BF darauf hinaus, dass sie zwar eine zeitlang bei einem Onkel gelebt haben, nunmehr aber lediglich die BF 1 wöchentlich telefonisch Kontakt hat. Besondere Beziehungen wurden damit nicht dargelegt.

Die Rückkehrentscheidung stellt somit keinen Eingriff in das Recht auf Familienleben dar, sondern allenfalls einen solchen in das Privatleben.

3.4.5. Gem. Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechts auf das Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, welche in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Zweifellos handelt es sich sowohl beim BFA als auch beim ho. Gericht um öffentliche Behörden im Sinne des Artikel 8, Absatz 2, EMRK und ist der Eingriff in Paragraph 10, AsylG gesetzlich vorgesehen.

Es ist in weiterer Folge zu prüfen, ob ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens der BF im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Artikel 8, EMRK gedeckt ist und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSv. Artikel 8, (2) EMRK, in verhältnismäßiger Weise verfolgt.

3.4.6. Im Einzelnen ergibt sich aus einer Zusammenschau der oben genannten Determinanten im Lichte der geltenden Judikatur Folgendes:

Die BF sind seit sieben Jahren in Österreich aufhältig. Sie reisten rechtswidrig in das Bundesgebiet ein.

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes anders als bei Asylberechtigten der Aufenthaltsstatus bei der Personengruppe subsidiär Schutzberechtigter von vornherein eher von provisorischer Natur ist (VfGH 28.06.2017, E 3297/2016). Die BF mussten sich folglich bewusst sein, dass mit der Zuerkennung von subsidiären Schutz (zunächst) lediglich ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht einhergeht, was auch in der in Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 vorgesehenen Befristung der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zum Ausdruck gebracht wird. In Anbetracht dieser Befristung sowie der Tatsache, dass die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter als antragsbedürftiger Verwaltungsakt ausgestaltet ist, mussten sich die BF nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts darüber im Klaren sein, dass die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung und damit des rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet sich keineswegs als Automatismus darstellt und an Voraussetzungen geknüpft ist. Da die BF außerdem durch einen Rechtsanwalt vertreten waren und auch gegenwärtig sind, ist ferner von einer Kenntnis des Paragraph 9, AsylG 2005 auszugehen, welcher die Überprüfung und Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ungeachtet der Rechtskraft der diesbezüglichen Zuerkennung im Fall geänderter Verhältnisse vorsieht. Die erfolgte Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung bis zum 05.10.2016 konnte demnach kein berechtigtes Vertrauen der BF auf einen dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet begründen.

Das ho. Gericht verkennt zwar nicht, dass sich die Kinder das Verhalten der Eltern im Rahmen der Interessensabwägung gemäß Artikel 8, EMRK nicht im vollen Umfang subjektiv verwerfen lassen müssen, doch ist dieses Verhalten dennoch nicht unbeachtlich.

Der Verfassungsgerichtshof hielt in seiner Entscheidung vom 10.03.2011, Zl. B1565/10 (betreffend einem im Alter von 8 Jahren mit seinen Eltern eingereisten, im Entscheidungszeitpunkt 17jährigen, welcher beinahe die gesamte Schullaufbahn in Österreich absolvierte und herausragende sportliche Leistungen für einen österreichischen Sportklub erbrachte) fest, dass es in der Verantwortung des Staates gelegen ist, Voraussetzungen zu schaffen, um Verfahren so effizient führen zu können, dass nicht bis zur ersten rechtskräftigen Entscheidung - ohne Vorliegen außergewöhnlich komplexer Rechtsfragen und ohne, dass dem 17jährigen die lange Dauer des Asylverfahrens anzulasten wäre, - neun Jahre verstreichen. Es sei die Aufenthaltsverfestigung des 17jährigen zwar überwiegend auf vorläufiger Basis erfolgt, keine über den Status eines Asylwerbers hinausgehende Aufenthaltsberechtigung sei vorgelegen; jedoch sei ihm als Minderjährigem, der seine Eltern nach Österreich begleitete, dies nicht in jenem Maße zuzurechnen wie seinen Obsorgeberechtigten. In diesem Fall wurde festgehalten, dass keine Anpassungsfähigkeit des 17jährigen mehr vorliege, der wesentliche Teile seiner Kindheit und Jugend in Österreich verbrachte (im Gegensatz zu Kindern, die sich im Zeitpunkt ihrer Ausweisung noch in anpassungsfähigem Alter befinden; vergleiche EMRK 26.01.99, Fall Sarumi, Appl 43279/98) und wurden grundsätzliche Ausführungen zur herabgesetzten Verantwortlichkeit von Minderjährigen getroffen.

Auch in der Entscheidung des VfGH vom 07.10.2010, Zl. B 950-954/10-08 wurde unter Bezugnahme auf das mangelnde Verschulden der Beschwerdeführer an der 7jährigen Verfahrensdauer festgehalten, dass die belangte Behörde bei ihrer Interessenabwägung zusätzlich stärker gewichten hätte müssen, dass die minderjährigen Beschwerdeführer den Großteil ihres Lebens ins Österreich verbracht haben, sich mitten in ihrer Schulausbildung befanden und sich hier sowohl schulisch als auch gesellschaftlich sehr gut integriert haben.

Insbesondere hätte die belangte Behörde nicht berücksichtigt, dass - anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte vergleiche zB VfGH 12.6.2010, U614/10) - in diesem Fall die Integration der Beschwerdeführer während ihrer einzigen Asylverfahren, welche für die Bf. 1, 2, 3 und 4 sieben Jahre (in denen keine einzige rechtskräftige Entscheidung ergangen ist) dauerten, erfolgte. Dass dies auf eine schuldhafte Verzögerung durch die Beschwerdeführer zurückzuführen wäre, wurde von der belangten Behörde weder dargestellt, noch war es aus den dem Verfassungsgerichtshof vorliegenden Akten ersichtlich.

Obwohl der Verfassungsgerichtshof in diesen beiden Entscheidungen die den Beschwerdeführern nicht zurechenbarer Dauer der Asylverfahren als wesentliches Argument für eine Interessensabwägung zu Gunsten der Beschwerdeführer herangezogen hat, ist dennoch aus dem Beschluss des VfGH vom 12.6.2010, U614/10 ableitbar, dass in gewissen Fällen trotz fehlender subjektiver Vorwerfbarkeit des Verhaltens der Minderjährigen im Hinblick auf die Verfahrensdauer dennoch das Verhalten der Eltern im Rahmen der Interessensabwägung in Bezug auf die minderjährigen Kinder eine Rolle spielt.

Es wird in diesem Zusammenhang auf die Erkenntnisse des VfGH vom 12.6.2010, erstens Zl. U 614/10 (Beschwerdeführerin wurde 1992 geboren, war zum Zeitpunkt der Einreise nach Österreich minderjährig, hatte zumindest am Anfang ihres Aufenthaltes in Österreich keinen Einfluss auf das bzw. die Asylverfahren, entzog sich aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Alter der mündigen Minderjährigkeit und prolongierte ihren Aufenthalt durch die Stellung verschiedener Anträge), zweitens Zl. U613/10 (Beschwerdeführerin wurde 1962 geboren, war während des gesamten Verfahrens handlungsfähig und prolongierte ihren Aufenthalt durch die Stellung verschiedener Anträge) und den Beschluss des selben Tages Zl. U615/10 ua (minderjährige Asylwerber während des gesamten Asylverfahrens, welche auf den Verlauf des Verfahrens bzw. der Verfahren keinen Einfluss hatten) hingewiesen. In diesen Verfahren stellte der VfGH in Bezug auf die 1962 geborene Beschwerdeführerin im vollen Umfang und in Bezug auf die 1992 geborene Beschwerdeführerin (Tochter der 1962 geborenen Beschwerdeführerin) in einem gewissen eingeschränkten Umfang fest, dass sich diese das Verhalten, welches zum langen Aufenthalt in Österreich führte, zurechnen lassen müssen und es daher nicht zu ihren Gunsten im Rahmen der Interessensabwägung im Sinne des Artikel 8, EMRK geltend machen können. Obwohl die minderjährigen Beschwerdeführer auf das Verhalten ihrer 1962 geborenen Mutter und 1992 geborenen Schwester keinerlei Einfluss hatten und ihnen deren Verhalten, insbesondere jenes der Mutter, nicht subjektiv vorgeworfen werden konnte, wurde die Behandlung derer Beschwerden dennoch mit Beschluss U615/10 ua. abgewiesen.

Die BF verfügen über keine relevanten privaten Anknüpfungspunkte.

Der Aufenthalt der BF war zum Zeitpunkt der Begründung der Anknüpfungspunkte im Rahmen des Privatlebens ungewiss und nicht dauerhaft.

Letztlich ist auch festzuhalten, dass die BF nicht gezwungen sind, nach einer Ausreise allenfalls bestehende Bindungen zur Gänze abzubrechen. So stünde es ihnen frei, diese durch briefliche, telefonische, elektronische Kontakte oder durch gegenseitige Besuche aufrecht zu erhalten vergleiche Peter Chvosta: "Die Ausweisung von Asylwerbern und Artikel 8, MRK", ÖJZ 2007/74 mwN).

Die BF sind -in Bezug auf das Lebensalter- erst einen relativ kurzen Zeitraum in Österreich aufhältig und haben hier keine qualifizierten Anknüpfungspunkte vergleiche Beweiswürdigung oben).

Sie sind auch nicht Mitglied bei einem Verein oder einer Organisation. Ebenso geht aus dem Akteninhalt nicht hervor, dass die BF selbsterhaltungsfähig wären bzw. ernsthafte Bemühungen zur Herstellung der Selbsterhaltungsfähigkeit unternommen hätten. Zur Unterschriftenliste ist anzuführen, dass die Gefertigten mehrheitlich keine sichtlich unmittelbare persönliche Bindung zu den BF unterhalten, sondern es sich allenfalls um Personen handelt, welche lediglich teilweise im nahen Lebensumfeld der BF leben und sie einen Vordruck unterfertigten, ohne eine persönliche Bemerkung zum Aufenthalt der BF abzugeben.

Zum Schulbesuch der BF 3 ist festzuhalten, dass dies die Erfüllung einer durchsetzbaren gesetzlichen Verpflichtung darstellt, welcher im Rahmen der Interessensabwägung nur sehr untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH v. 26.9.2007 2006/21/0288 mwN). Die AMS Integrationsmaßnahme kann auch nicht zugunsten der BF 2 ausschlagen.

Zur behaupteten, nicht einmal vorgelegten Einstellungszusage der BF 1 ist festzuhalten, dass diese selbst bei tatsächlichem Vorliegen lediglich eine einseitige, nicht einklagbare Willenserklärung darstellt. Selbst wenn man davon ausginge, dass eine rechtsverbindliche Zusage bestünde, die BF im Falle es Erhalt eines Bleiberechts auf Dauer einzustellen, ist festzuhalten, dass entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes einer bloßen Arbeitsplatzzusage für den hypothetischen Fall eines legalen Aufenthalts in der Zukunft keine entscheidende Bedeutung zukommen kann vergleiche VwGH 21.1.2010, 2009/18/0523; 29.6.2010, 2010/18/0195; 17.12.2010, 2010/18/0385; 22.02.2011, 2010/18/0323).

In diesem Zusammenhang sei auch auf die höchstgerichtliche Judikatur verwiesen, wonach selbst die -hier bei weitem nicht vorhandenen-Umstände, dass selbst ein Fremder, der perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfügt und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukommt (Erk. d. VwGH vom 6.11.2009, 2008/18/0720; 25.02.2010, 2010/18/0029).

Im Besonderen ist in diesem Zusammenhang auf die folgenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs zu verweisen, in denen selbst nach langjährigem Aufenthalt und erfolgten Integrationsschritten seitens des Höchstgerichts die Zulässigkeit einer aufenthaltsbeenden Maßnahme bejaht wurde: VwGH 25.03.2010, 2009/21/0216 ua. (Familie; siebenjähriger Aufenthalt; selbständige Berufstätigkeit bzw. Schulbesuch; Aufbau eines Freundes- und Bekanntenkreises; Deutschkenntnisse; Unbescholtenheit; keine staatliche Unterstützung), VwGH 18.03.2010, 2010/22/0023 (sechsjähriger Aufenthalt; enge Beziehung zu Geschwistern in Österreich; gute Deutschkenntnisse; Unbescholtenheit;

Einstellungszusage; großer Freundes- und Bekanntenkreis), VwGH 25.02.2010, 2008/18/0411 (siebeneinhalbjähriger Aufenthalt;

Berufstätigkeit; ein Jahr lang Ehe mit österreichischer Staatsbürgerin; Unbescholtenheit; enge Freundschaften zu Arbeitskollegen und ehemaligen Wohnungskollegen; andere in Österreich lebende Familienangehörige), VwGH 25.02.2010, 2009/21/0070 (rund achtjähriger Aufenthalt; 3 Jahre Berufstätigkeit; gute Deutschkenntnisse; engen Kontakt zu Freundes- und Bekanntenkreis sowie Bruder in Österreich; Unbescholtenheit; kaum Kontakt zu seinen im Libanon verbliebenen Angehörigen), VwGH 23.03.2010, 2010/18/0038 (siebenjähriger Aufenthalt; gute Deutschkenntnisse; Unbescholtenheit; beruflich integriert als Zeitungsausträger, Sportverein), VwGH 25.02.2010, 2010/18/0031 (achtjähriger Aufenthalt; familiäre Bindung zu Onkel, der BF unterstützt; Deutschkenntnisse; Unbescholtenheit; Grundversorgung), VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029 (knapp achtjähriger Aufenthalt; beabsichtigte Eheschließung mit öst. Staatsbürgerin; Sohn in Ö geboren; gute Deutschkenntnisse; Unbescholtenheit; nahezu durchgehende Beschäftigung; sozial vielfältig vernetzt und integriert), VwGH 25.02.2010, 2010/18/0026 (siebenjähriger Aufenthalt; Mangel an familiären Bindungen; Unbescholtenheit;

Deutschkenntnisse; fehlende Bindungen zum Heimatstaat;

arbeitsrechtlicher Vorvertrag), VwGH 25.02.2010, 2009/21/0187 (mehr als siebenjähriger Aufenthalt; Sohn besitzt österreichische Staatsbürgerschaft; Deutschkenntnisse; Unbescholtenheit; keine berufliche Integration), VwGH 13.04.2010, 2010/18/0078 (siebenjähriger Aufenthalt; jahrelange Erwerbstätigkeit;

unbescholten; Freundes- und Bekanntenkreis; gute Deutschkenntnisse;

Vereinsmitglied).

Die BF verbrachten den überwiegenden Teil ihres Lebens in der Türkei, wurden dort sozialisiert, bekennen sich zum dortigen Mehrheitsglauben des Islam und sprechen die dortige Mehrheitssprache auf muttersprachlichem Niveau. Ebenso ist davon auszugehen, dass in der Türkei Bezugspersonen etwa im Sinne eines gewissen Freundesund/oder Bekanntenkreises des Beschwerdeführers existieren, da nichts darauf hindeutet, dass sie vor der Ausreise im Herkunftsstaat in völliger sozialer Isolation gelebt hätten. Es deutet daher nichts darauf hin, dass es den BF im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht möglich wäre, sich in die dortige Gesellschaft erneut zu integrieren.

Zu der minderjährigen BF 3 und der gerade volljährigen BF 2 ist festzustellen, dass schon aufgrund ihres geringeren Alters und der Aufenthaltsdauer in Österreich die Abwägung zwischen den Bindungen zum Herkunftsstaat und den nunmehrigen Bindungen zu Österreich anders zu bewerten sein wird, als im Hinblick auf die Eltern. Hier wird von geringeren Bindungen zum Herkunftsstaat und stärkeren Bindungen zu Österreich auszugehen sein. In die Überlegungen hat jedoch einzufließen, dass die BF 2 und 3 dennoch im Herkunftsstaat geboren wurden, sich dort eine Zeitlang aufhielten und über ihr Umfeld bzw. ihre Eltern die Kultur und Sprache ihres Herkunftsstaates auch über den Zeitpunkt der Ausreise hinaus vermittelt bekamen. Auch kann aufgrund der Sprachkenntnisse der Eltern davon ausgegangen werden, dass im Familienverband zumindest mit den Eltern in der Sprache des Herkunftsstaates kommuniziert wird und somit dieser "Vermittlungseffekt" bis in die Gegenwart nachwirkt.

Gemäß der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist gerade Kindern, welche noch im jungen Alter sind und die mit ihren Eltern gemeinsam ausreisen, die (Re-)Integration im Herkunftsstaat der Eltern zumutbar. So nahm der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 30.08.2011, Zl. 2009/21/0015 an, dass bei einem 6 Jahre und 3 Monate dauernden Aufenthalt in Österreich erwartet werden kann, die Kinder werden sich im Rahmen des gewohnten familiären Umfeldes an die neuen Begebenheiten im Herkunftsstaat der Eltern anpassen können vergleiche auch VwGH vom 19. Mai 2011, Zlen. 2009/21/0115, 116, mwN). Selbst Schwierigkeiten bei der (Re )Integration sind in derartigen Fällen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen in Kauf zu nehmen vergleiche VwGH vom 5. Juli 2011, Zl. 2008/21/0282).

Die BF sind strafrechtlich unbescholten.

Diese Feststellung stellt laut Judikatur weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der öffentlichen Interessen dar (VwGH 21.1.1999, Zahl 98/18/0420). Der VwGH geht wohl davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält.

Die BF reisten schlepperunterstützt in das Gebiet der Europäischen Union und in weiterer Folge rechtswidrig in das Bundesgebiet ein.

Den BF musste bei der Antragstellung klar sein, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung der Anträge nur ein vorübergehender ist. Ebenso indiziert die rechtswidrige und schlepperunterstützte Einreise den Umstand, dass den BF die Unmöglichkeit der legalen Einreise und dauerhaften Niederlassung bewusst war, da davon auszugehen ist, dass sie in diesem Fall diese weitaus weniger beschwerliche und kostenintensive Art der legalen Einreise und Niederlassung gewählt hätten.

Ein derartiges Verschulden kann der Aktenlage nicht entnommen werden.

Der EGMR wiederholt in stRsp, dass es den Vertragsstaaten zukommt, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, insb. in Ausübung ihres Rechts nach anerkanntem internationalem Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen, die Einreise und den Aufenthalt von Fremden zu regeln. Die Entscheidungen in diesem Bereich müssen insoweit, als sie in ein durch Artikel 8, (1) EMRK geschütztes Recht eingreifen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, dh. durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und va. dem verfolgten legitimen Ziel gegenüber verhältnismäßig sein.

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kommt den Normen, die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regeln, aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Artikel 8 Absatz 2, EMRK) ein hoher Stellenwert zu (VwGH 16.01.2001, Zl. 2000/18/0251, uva).

Der VwGH hat festgestellt, dass beharrliches illegales Verbleiben eines Fremden nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens bzw. ein länger dauernder illegaler Aufenthalt eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Hinblick auf ein geordnetes Fremdenwesen darstellen würde, was eine (damals) Ausweisung als dringend geboten erscheinen lässt (VwGH 31.10.2002, Zl. 2002/18/0190).

Ebenso wird durch die wirtschaftlichen Interessen an einer geordneten Zuwanderung und das nur für die Dauer des Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsrecht, das fremdenpolizeiliche Maßnahmen nach (negativer) Beendigung des Asylverfahrens vorhersehbar erscheinen lässt, die Interessensabwägung anders als in jenen Fällen, in welchen der Fremde aufgrund eines nach den Bestimmungen des NAG erteilten Aufenthaltstitels aufenthaltsberechtigt war, zu Lasten des (abgelehnten) Asylsuchenden beeinflusst vergleiche Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, Seite 348).

Es ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Notwendigkeit einer [damals] Ausweisung von Relevanz, ob der Fremde seinen Aufenthalt vom Inland her legalisieren kann. Ist das nicht der Fall, könnte sich der Fremde bei der Abstandnahme von der [damals] Ausweisung unter Umgehung der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen den tatsächlichen (illegalen) Aufenthalt im Bundesgebiet auf Dauer verschaffen, was dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenrechts zuwiderlaufen würde.

Gem. Artikel 8, Absatz 2, EMRK ist ein Eingriff in das Grundrecht auf Privat- und/oder Familienleben zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Absatz 2, leg. cit. genannten Ziele notwendig ist. Die zitierte Vorschrift nennt als solches Ziel u.a. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, worunter nach der Judikatur des VwGH auch die geschriebene Rechtsordnung zu subsumieren ist. Die für den Aufenthalt von Fremden maßgeblichen Vorschriften finden sich -abgesehen von den spezifischen Regelungen des AsylG- seit 1.1.2006 nunmehr im NAG bzw. FPG.

Die geordnete Zuwanderung von Fremden ist für die Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung und diese Wertung des Gesetzgebers geht auch aus dem Fremdenrechtspaket 2005 klar hervor. Demnach ist es gemäß den nun geltenden fremdenrechtlichen Bestimmungen für eine bP grundsätzlich nicht mehr möglich, ihren Aufenthalt vom Inland her auf Antrag zu legalisieren, da eine Erstantragsstellung für solche Fremde nur vom Ausland aus möglich ist. Wie aus dem 2. Hauptstück des NAG ersichtlich ist, sind auch Fremde, die Familienangehörige von in Österreich dauernd wohnhaften österreichischen Staatsbürgern sind, davon nicht ausgenommen. Im gegenständlichen Fall ist bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Sachverhalt ersichtlich, welcher die Annahme rechtfertigen würde, dass den BF gem. Paragraph 21, (2) und (3) NAG die Legalisierung ihres Aufenthaltes vom Inland aus offen steht, sodass sie mit rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens eine unbedingte Ausreiseverpflichtung trifft, zu deren Durchsetzung es einer Rückkehrentscheidung bedarf.

Bei rechtskräftigem Abschluss des Aberkennungsverfahrens sind die BF somit nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig.

Zur Gewichtung der öffentlichen Interessen sei ergänzend das Erkenntnis des VfGH 17. 3. 2005, G 78/04 ua erwähnt, in dem dieser erkennt, dass auch das Gewicht der öffentlichen Interessen im Verhältnis zu den Interessen des Fremden bei der (damals) Ausweisung von Fremden, die sich etwa jahrelang legal in Österreich aufgehalten haben, und Asylwerbern, die an sich über keinen Aufenthaltstitel verfügen und denen bloß während des Verfahrens Abschiebeschutz zukommt, unterschiedlich zu beurteilen sind.

Der EGMR wiederholt in stRsp, dass es den Vertragsstaaten zukommt, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, insb. in Ausübung ihres Rechts nach anerkanntem internationalem Recht und vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen, die Einreise und den Aufenthalt von Fremden zu regeln. Die Entscheidungen in diesem Bereich müssen insoweit, als sie in ein durch Artikel 8, (1) EMRK geschütztes Recht eingreifen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, dh. durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und va. dem verfolgten legitimen Ziel gegenüber verhältnismäßig sein.

Der Rechtsprechung des EGMR folgend vergleiche aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Ausländern kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem bestimmten Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z. B. eine Ausweisung- bzw. Rückkehrentscheidung) aber auch in das nach Artikel 8 EMRK geschützte Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in einem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen vergleiche dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vergleiche dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).

Im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zur Praxis hinsichtlich Rückkehrentscheidungen der Vertragsstaaten dürfte es für den Schutzbereich des Anspruches auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 EMRK hingegen nicht ausschlaggebend sein, ob der Aufenthalt des Ausländers - im Sinne einer Art "Handreichung des Staates" - zumindest vorübergehend rechtmäßig war vergleiche Ghiban gg. Deutschland, 16.09.2004, 11103/03; Dragan gg. Deutschland, 07.10.2004, Bsw. Nr. 33743/03; SISOJEVA (aaO.)) bzw. inwieweit die Behörden durch ihr Verhalten dazu beigetragen haben, dass der Aufenthalt des Betreffenden bislang nicht beendet wurde. Der EGMR hat diese Frage zwar noch nicht abschließend entschieden, jedoch in Fallkonstellationen das Recht auf Privatleben erörtert, in denen ein legaler Aufenthalt der Beschwerdeführer nicht vorlag. Hat er in der Rechtssache GHIBAN (aaO.) zu einem rumänischen Staatsangehörigen, der wegen Staatenlosigkeit nicht abgeschoben werden konnte, die Frage letztlich noch offen gelassen ("Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Aufenthalt des Bf. unter diesen Umständen eine ausreichende Grundlage für die Annahme eines Privatlebens war..."), so nahm er in der bereits mehrfach zitierten Rechtssache Sisojeva (aaO.) einen Eingriff in das Privatleben an, obwohl die Beschwerdeführer in Lettland keinen rechtmäßigen Aufenthalt hatten.

Wenn man - wie die Judikaturentwicklung des EGMR auch erkennen lässt - dem Aufenthaltsstatus des Fremden für die Beurteilung des Vorliegens eines Eingriffes in das durch Artikel 8 EMRK geschützte Privatleben keine Relevanz beimisst, so wird die Frage der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts jedenfalls im Rahmen der Schrankenprüfung nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK Berücksichtigung zu finden haben.

In seinem Erkenntnis Rodrigues da Silva and Hookkamer v. the Netherlands vom 31. Jänner 2006, Zahl 50435/99 führte der EGMR unter Verweis auf seine Vorjudikatur aus, dass es ua. eine wichtige Überlegung darstellt, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstand, an dem sich die betreffenden Personen bewusst waren, dass der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes derart war, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland vom vornherein unsicher war. Er stellte auch fest, dass die Ausweisung eines ausländischen Familienmitgliedes in solchen Fällen nur unter ganz speziellen Umständen eine Verletzung von Artikel 8, EMRK bewirkt.

Der GH führte weiter -wiederum auf seine Vorjudikatur verweisendaus, dass Personen, welche die Behörden eines Vertragsstaates ohne die geltenden Rechtsvorschriften zu erfüllen, als "fait accompli" mit ihrem Aufenthalt konfrontieren, grundsätzlich keinerlei Berechtigung haben, mit der Ausstellung eines Aufenthaltstitels zu rechnen. Im geschilderten Fall wurde letztlich dennoch eine Entscheidung zu Gunsten der Beschwerdeführer getroffen, weil es der Erstbeschwerdeführerin grundsätzlich möglich gewesen wäre, ihren Aufenthalt vom Inland aus zu legalisieren, weil sie mit dem Vater des Zweitbeschwerdeführers, einem Staatsbürger der Niederlande vom Juni 1994 bis Jänner 1997 eine dauerhafte Beziehung führte. Es war daher der Fall Erstbeschwerdeführerin trotz ihres vorwerfbaren sorglosen Umganges mit den niederländischen Einreisebestimmungen von jenen Fällen zu unterscheiden, in denen der EGMR befand, dass die betroffenen Personen zu keinem Zeitpunkt vernünftiger Weise erwarten konnten, ihr Familienleben im Gastland weiterzuführen. Ebenso wurde in diesem Fall der Umstand des besonderen Verhältnisses zwischen dem Kleinkind und der Mutter besonders gewürdigt.

Weiter wird hier auf das Urteil des EGMR Urteil vom 8. April 2008, NNYANZI gegen das Vereinigte Königreich, Nr. 21878/06 verwiesen, wo dieser folgende Kernaussagen traf:

Im gegenständlichen Fall erachtete es der EGMR nicht erforderlich, sich mit der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Frage auseinanderzusetzen, ob durch das Studium der Beschwerdeführerin im UK, ihr Engagement in der Kirche sowie ihre Beziehung unbekannter Dauer zu einem Mann während ihres fast 10-jährigen Aufenthalts ein Privatleben iS von Artikel 8, EMRK entstanden ist.

Dies wird damit begründet, dass im vorliegenden Fall auch das Bestehen eines Privatlebens ohne Bedeutung für die Zulässigkeit der Abschiebung wäre, da einerseits die beabsichtigte Abschiebung im Einklang mit dem Gesetz steht und das legitime Ziel der Aufrechterhaltung und Durchsetzung einer kontrollierten Zuwanderung verfolgt; und andererseits jegliches zwischenzeitlich etabliertes Privatleben im Rahmen einer Interessenabwägung gegen das legitime öffentliche Interesse an einer effektiven Einwanderungskontrolle nicht dazu führen könnte, dass ihre Abschiebung als unverhältnismäßiger Eingriff zu werten wäre.

Die zuständige Kammer merkt dazu an, dass es sich hier im Gegensatz zum Fall ÜNER gg. Niederlande (EGMR Urteil vom 05.07.2005, Nr. 46410/99) bei der Beschwerdeführerin um keinen niedergelassenen Zuwanderer handelt, sondern ihr niemals ein Aufenthaltsrecht erteilt wurde und ihr Aufenthalt im UK daher während der gesamten Dauer ihres Asylverfahrens und ihrer humanitären Anträge unsicher war.

Ihre Abschiebung in Folge der Abweisung dieser Anträge wird auch durch eine behauptete Verzögerung der Behörden bei der Entscheidung über diese Anträge nicht unverhältnismäßig.

3.4.7. Letztlich ist festzustellen, dass eine Gegenüberstellung der von den BF in ihrem Herkunftsstaat vorzufindenden Verhältnisse mit jenen in Österreich im Rahmen einer Interessensabwägung zu keinem Überwiegen der privaten Interessen der BF am Verbleib in Österreich gegenüber den öffentlichen Interessen an einem Verlassen des Bundesgebietes führen würde.

Würde sich ein Fremder nunmehr generell in einer solchen Situation wie die BF erfolgreich auf das Privat- und Familienleben berufen können, so würde dies dem Ziel eines geordneten Fremdenwesens und dem geordneten Zuzug von Fremden zuwiderlaufen.

Könnte sich ein Fremder nunmehr in einer solchen Situation erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen, würde dies darüber hinaus dazu führen, dass Fremde, welche die unbegründete bzw. rechtsmissbräuchliche Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz allenfalls in Verbindung mit einer illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet in Kenntnis der Unbegründetheit bzw. Rechtsmissbräuchlichkeit des Antrag unterlassen, letztlich schlechter gestellt wären, als Fremde, welche genau zu diesen Mitteln greifen um sich ohne jeden sonstigen Rechtsgrund den Aufenthalt in Österreich legalisieren, was in letzter Konsequenz zu einer verfassungswidrigen unsachlichen Differenzierung der Fremden untereinander führen würde vergleiche hierzu auch das Estoppel-Prinzip ["no one can profit from his own wrongdoing"], auch den allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, wonach aus einer unter Missachtung der Rechtsordnung geschaffenen Situation keine Vorteile gezogen werden dürfen [VwGH 11.12.2003, 2003/07/0007]).

Hinweise auf eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende berücksichtigungswürdige Integration der BF in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Sicht sind nicht erkennbar. Die BF hielten sich den überwiegenden Teil ihres Lebens in der Türkei auf, die BF 1 arbeitete illegal, hat kaum Deutschkenntnisse und eine gesellschaftliche Integration der BF 1, 2 und 3 im beachtlichen Ausmaß ist nicht erkennbar. Es ist daher davon auszugehen, dass auf Grund dieser engen Beziehungen zum Herkunftsstaat im Vergleich mit dem bisherigen Leben in Österreich die Beziehungen zur Türkei eine - wenn überhaupt vorhandene - Integration in Österreich bei weitem überwiegen.

Insbesondere aufgrund der relativ kurzen Aufenthaltsdauer des BF in Österreich sind zum Entscheidungszeitpunkt keine Aspekte einer außergewöhnlichen schützenswerten, dauernden Integration hervorgekommen, dass allein aus diesem Grunde die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig zu erklären wäre.

Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des Paragraph 9, BFA-VG ist davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts der BF im Bundesgebiet das persönliche Interesse der BF am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordneten Rückkehrentscheidungen eine Verletzung des Artikel 8, EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen (und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden), dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.

3.4.8. Schließlich sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß Paragraph 52, Absatz 9, in Verbindung mit Paragraph 50, FPG getroffenen Feststellungen keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in die Türkei unzulässig wäre. Derartiges wurde auch in der gegenständlichen Beschwerde nicht schlüssig dargelegt.

Im Rahmen der Abschiebung wird zu beachten sein, dass die BF gemeinsam mit dem Ehegatten und dem jüngsten Kind der BF 1 abgeschoben werden.

3.4.9. Die festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung entspricht Paragraph 55, Absatz 2, erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Es wird auf die bereits getroffenen Ausführungen zu den privaten und familiären Bindungen des BF und der Vorhersehbarkeit der Verpflichtung zum Verlassen des Bundesgebietes verwiesen. Die eingeräumte Frist erscheint angemessen und wurden diesbezüglich auch keinerlei Ausführungen in der Beschwerdeschrift getroffen.

Die Verhältnismäßigkeit der seitens der belangten Behörde getroffenen fremdenpolizeilichen Maßnahme ergibt sich aus dem Umstand, dass es sich hierbei um das gelindeste fremdenpolizeiliche Mittel handelt, welches zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet erschien.

3.4.10. Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Rückkehrentscheidungen und die gesetzte Frist für die freiwillige Ausreise vorliegen, sind die Beschwerden gegen die Spruchpunkte römisch III. bis römisch VI. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abzuweisen.

B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiter ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht hervor, dass das ho. Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zum Erfordernis der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Gründe, zum Flüchtlingsbegriff, der hier vertretenen Zurechnungstheorie und den Anforderungen an einen Staat und dessen Behörden, um von dessen Willen und Fähigkeit, den auf seinem Territorium aufhältigen Menschen Schutz vor Übergriffen zu gewähren ausgehen zu können, dem Refoulementschutz bzw. zum durch Artikel 8, EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben abgeht. Entsprechende einschlägige Judikatur wurde bereits zitiert.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:BVWG:2018:L519.2182238.1.00