BVwG
11.12.2017
W266 2150146-1
W266 2150141-1/12E
W266 2150136-1/12E
W266 2150146-1/12E
W266 2150138-1/12E
W266 2150144-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Stephan WAGNER als Einzelrichter über die Beschwerden
1.) des römisch 40 , geboren am römisch 40 ,
2.) der römisch 40 , geboren am römisch 40 ,
3.) der römisch 40 , geboren am römisch 40 ,
4.) des römisch 40 , geboren am römisch 40 und
5.) der römisch 40 , geboren am XXXX
alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, 3.) bis 5.) gesetzlich vertreten durch die Mutter, alle vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Wolfgang AUNER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.02.2017, Zahlen 1.) römisch 40 , 2.) römisch 40 und vom 24.02.2017, Zahlen 3.) römisch 40 4.) römisch 40 und 5.) römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.09.2017 zu Recht:
A)
römisch eins. Der Beschwerde des römisch 40 wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
römisch II. Der Beschwerde der römisch 40 wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraphen 3, Absatz eins, in Verbindung mit 34 Absatz 2, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
römisch III. Der Beschwerde der römisch 40 wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraphen 3, Absatz eins, in Verbindung mit 34 Absatz 2, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
römisch IV. Der Beschwerde des römisch 40 wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
römisch fünf. Der Beschwerde der römisch 40 wird stattgegeben und römisch 40 gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Die Zweitbeschwerdeführerin, welche die Mutter der minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer ist, stellte am 11.06.2015 für sich und die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer, welcher der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin beziehungsweise der Vater der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer ist, stellte ebenfalls am 11.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin gaben bei ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 11.06.2015 an, dass sie Muslime seien, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig seien und aus Kabul stammen. Sie hätten Afghanistan verlassen, weil die Zweitbeschwerdeführerin für eine europäische Firma als Supervisorin gearbeitet habe. Sie habe anonyme Drohanrufe bekommen und habe man ihr gedroht sie umzubringen, falls sie bei der Firma weiter arbeite.
3. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden am 14.11.2016 und 30.01.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (=belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Fluchtgründe seien die Bedrohung durch die Taliban und die schlechte Behandlung von Seiten der Verwandten gewesen. Die Zweitbeschwerdeführerin führte aus, dass sie 12 Jahre die Schule in Kabul besucht habe, 2008 bis 2009 als Köchin bei römisch 40 Afghanistan und von 2012 bis 2015 als Aufseherin in derselben Firma gearbeitet habe. Ihr Schwager sei ihrer Arbeit bei einer ausländischen Organisation argwöhnisch gegenüber gestanden und habe ihr geraten, dass der Fahrer ihrer Arbeitsstätte sie mit dem gepanzerten Fahrzeug nicht direkt von zu Hause abholen solle, da sonst die Taliban davon erfahren und sie bedrohen würden. Ende 2014 habe die Zweitbeschwerdeführerin anonyme Anrufe bekommen. Als sie einmal abgehoben habe, sei ihr mitgeteilt worden, dass sie als Schwester im Islam den anonymen Anrufer unterstützen müsse und ihm Auskunft über den Plan ihrer Arbeitsstätte und der ausländischen Arbeitskollegen geben müsse. Sie habe jedoch aufgelegt. Ein anderes Mal sei sie auf dem Weg zu ihrem Dienstauto von einem bewaffneten Unbekannten angehalten worden und sei ihr gesagt worden, dass sie ihm helfen müsse, da sie und ihre Familie ansonsten umgebracht werden würden. Die Polizei habe diesen Vorfall nicht ernst genommen und habe sie ausgelacht. Nach diesem Vorfall sei sie nicht mehr arbeiten gegangen, sondern habe Urlaub vereinbart. Als die Zweitbeschwerdeführerin in Karenz gewesen sei, habe sie wieder anonyme Anrufe bekommen, aber habe nicht abgehoben. Ihrem Arbeitgeber habe sie nicht von ihren Vorfällen erzählt, da sie Angst gehabt habe, dass sich das Problem vergrößere und sie ihre Familie damit in Gefahr bringen könnte. Das fluchtauslösende Ereignis sei schlussendlich einige Monate später im April 2015 gewesen, als ihrem Sohn ein Drohbrief übergeben worden sei, auf dem geschrieben gewesen wäre, dass die Zweitbeschwerdeführerin mitmachen müsse. Auch ein anderer lokaler Mitarbeiter und eine Kollegin derselben Firma seien bedroht worden. Die Kinder und der Erstbeschwerdeführer hätten keine eigenen Fluchtgründe. Sie hätten vorgehabt auch schon vor den Bedrohungen Afghanistan zu verlassen, weil aufgrund der Arbeit der Zweitbeschwerdeführerin bei der ausländischen Organisation die Verwandten sie schlecht behandelt hätten und über sie geredet hätten. Das Geld, das sie in der Arbeit verdient habe, sei von den Verwandten als unrein betrachtet worden. Ihre Schwester habe ihnen geraten das Land zu verlassen, da sie bei einer neuen Regierung festgenommen werden würden. Weiters sei die afghanische Polizei untätig, wenn es um Frauenrecht gehe.
Im Zuge der Einvernahme wurden Tazkiras, die Heiratsurkunde, eine Versicherungskarte, Dienstausweise und Dienstfotos der Zweitbeschwerdeführerin, der Drohbrief der Taliban und ein Konvolut an Schulkurs- und Deutschkursbestätigungen sowie Empfehlungsschreiben vorgelegt.
4. Die belangte Behörde hat mit den im Spruch angeführten Bescheiden vom 23.02.2017 und vom 24.02.2017 die Anträge auf internationalen Schutz jeweils bezüglich der Zuerkennung des Status des/der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG (Spruchpunkt römisch eins.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des/der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 (Spruchpunkt römisch II.) abgewiesen. Gemäß Paragraph 57, AsylG wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG gegen die beschwerdeführenden Parteien Rückkehrentscheidungen gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien gemäß Paragraph 46, FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt. (Spruchpunkt römisch IV.).
Begründend wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass nicht glaubhaft sei, dass die Zweitbeschwerdeführerin wegen ihrer Beschäftigung bei römisch 40 einer individuellen und konkreten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt sei bzw. dass sie einen Drohbrief von den Taliban bekommen habe. Da es noch Verwandte in Afghanistan gäbe, könnte die Familie dort durch ihr familiäres Netzwerk unterstützt werden.
5. Gegen die verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde innerhalb offener Frist durch die Diakonie-Flüchtlingsdienst Beschwerde erhoben und die Bescheide jeweils wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens und in Folge dessen wegen mangelhafter Beweiswürdigung, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass wenn die belangte Behörde den Umstand mit der Bedrohung durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit der Zweitbeschwerdeführerin nicht glaubt, sie weitere Ermittlungen durchführen hätte müssen, da dieser Konflikt vor Ort mit Sicherheit bekannt und leicht überprüfbar sei. Die in den Bescheiden zugrunde gelegten Länderfeststellungen seien zu allgemein und würden sich nicht auf das Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin bezüglich der Tätigkeit von afghanischen Zivilisten, die für internationale Streitkräfte bzw. Organisationen arbeiten, beziehen. Die belangte Behörde habe unverständlich die von der Zweitbeschwerdeführerin vorgelegten Dokumente als gefälscht abgetan, mit dem Argument, dass in Afghanistan gegen Geld leicht gefälschte Dokumente ausgestellt werden würden.
6. Mit Schreiben vom 24.08.2017 wurde die Vollmacht von Rechtsanwalt Mag. Wolfgang Auner bekanntgegeben. Weiters wurde im Schreiben auf das Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Tätigkeit bei der ausländischen Organisation verwiesen und die Situation der Frauen in Afghanistan allgemein mit Schwerpunkt auf die Situation der beruflich tätigen Frauen beleuchtet. Der Zweitbeschwerdeführerin und ihrer Töchter wäre ein Fortkommen im Sinne einer "europäischen" Frau, welche selbstständig arbeitstätig und sich ohne männlichen Schutz bewegt, nicht möglich. Den Töchtern drohe Zwangsverheiratung und müsste die Zweitbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Tätigkeit Widrigkeiten sowohl von den Taliban als auch von ihrer eigenen Familie hinnehmen.
7. Am 14.09.2017 langte am Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme der Diakonie zu den Länderberichten ein.
8. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 15.09.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt, an der das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht teilnahm. Dabei wurde im Beisein des Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari Beweis erhoben durch Einvernahme der Erst- bis römisch 40 und durch Einvernahme der Mutter des Erstbeschwerdeführers, römisch 40 , als Zeugin. Ihnen wurde Gelegenheit gegeben, zu den Länderberichten Stellung zu nehmen.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Auf Grundlage der erhobenen Anträge auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahmen der beschwerdeführenden Parteien durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie der belangten Behörde, der Beschwerde gegen die genannten Bescheide der belangten Behörde, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in die Bezug habenden Verwaltungsakten, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zu den Personen der beschwerdeführenden Parteien
Die beschwerdeführenden Parteien sind alle Staatsangehörige von Afghanistan und gehören der Volksgruppe der Tadschiken sowie dem muslimischen Glauben an.
Der Erstbeschwerdeführer, römisch 40 , ist am römisch 40 in Kabul geboren und ist der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin, römisch 40 , welche am römisch 40 ebenfalls in Kabul geboren ist. Die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer, römisch 40 , geboren am römisch 40 , römisch 40 , geboren am römisch 40 sowie römisch 40 , geboren am römisch 40 , sind die minderjährigen Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Die Identität der beschwerdeführenden Parteien steht fest.
Die beschwerdeführenden Parteien haben bis zu ihrer Ausreise im gemeinsamen Haushalt mit römisch 40 , der Mutter des Erstbeschwerdeführers, in Kabul im gemeinsamen Haushalt gelebt. Die beschwerdeführenden Parteien sind gemeinsam mit römisch 40 nach Österreich eingereist, wo sie weiterhin gemeinsam leben.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben in Kabul die Grundschule besucht. Der Erstbeschwerdeführer war als Fahrer tätig und die Zweitbeschwerdeführerin hat einige Jahre für eine europäische Organisation ( römisch 40 ) gearbeitet. Weiters hat die Zweitbeschwerdeführerin vor ihrer Zeit bei der europäischen Organisation Frauen das Lesen und Schreiben beigebracht.
Die beschwerdeführenden Parteien sind nicht straffällig beziehungsweise sind sie strafunmündig. Sie sind gesund und beziehen Leistungen aus der Grundversorgung.
1.2. Zu den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Parteien:
Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie hat bereits in Afghanistan – soweit wie möglich nach dieser Wertehaltung gelebt und setzt dies nunmehr in Österreich fort, hat dieses Werte- und Frauenbild auch bereits verinnerlicht und gibt es auch an ihre Kinder weiter. Sie wird in Bezug auf diese Lebensweise auch von ihrem in Österreich aufhältigen Ehegatten unterstützt. Die Beschwerdeführerin wurde aufgrund ihrer Tätigkeit bei der europäischen Organisation römisch 40 von den Verwandten und von der Mehrheitsgesellschaft verachtet und diskriminiert. Vor diesem Hintergrund würde die Zweitbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden und bedroht werden.
Die minderjährige Drittbeschwerdeführerin unterliegt im Herkunftsstaat der akuten Gefahr, zwangsverheiratet zu werden.
Hinsichtlich der anderen Beschwerdeführenden Parteien kann keine (drohende) Verfolgung aus den Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung festgestellt werden.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der beschwerdeführenden Parteien getroffen:
1.3.1. (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 02.03.2017 – letzte Aktualisierung am 27.06.2017):
Frauen
Jahrzehntelanger Kampf gegen patriarchale und frauenfeindliche Normen, führte zu einer Sensibilisierung in Bezug auf Frauen und ihrer Rechte. Allmählich entwickelt sich die Rolle von Frauen in politischen und wirtschaftlichen Bereichen (AF 7.12.2016). Die Situation der Frauen hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert; die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft bleibt schwierig. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016).
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (Max Planck Institut 27.1.2004). Ein Meilenstein in dieser Hinsicht war die Errichtung des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MoWA) im Jahr 2001 (BFA Staatendokumentation 3.2014).
Bildung
Afghanistan ist eine Erfolgsgeschichte in der Verbesserung des Zugangs zu Bildung – auch für Mädchen (Education for Development 7.7.2015). Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.2014).
Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben. Laut Artikel 4 des afghanischen Bildungsgesetzes ist mittlere (elementare) Bildung in Afghanistan verpflichtend. Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben (SIGAR 4.2016; vergleiche auch: Max Planck Institut 27.1.2004).
Seit dem Jahr 2000 hat sich die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen von 2,5 Jahren auf 9,3 Jahre erhöht (AF 2015). Das afghanische Bildungsministerium errichtete gemeinsam mit USAID und anderen Gebern, mehr als 16.000 Schulen; rekrutierte und bildete mehr als 154.000 Lehrerinnen und Lehrer aus, und erhöhte die Zahl der Schuleinschreibungen um mehr als 60%. Das Bildungsministerium gibt die Zahl der Schüler/innen mit ca. 9 Millionen an, davon sind etwa 40% Mädchen. Frauen und Mädchen gehen öfter zu Schule wenn sie keine langen Distanzen zurücklegen müssen. USAID hat 84.000 afghanische Mädchen dabei unterstützt Schulen innerhalb ihrer Gemeinden besuchen zu können, damit sich nicht durch teilweise gefährliche Gegenden pendeln müssen (USAID 19.12.2016).
Laut dem afghanischen Statistikbüro, gab es landesweit 15.645 Schulen, 9.184.494 Schüler/innen, davon waren 362.906 weiblich. Diese Zahlen beinhalten alle Schultypen, dazu zählen Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren, etc. Die Zahl der Schülerinnen hat sich im Zeitraum 2015-2016 zum Vergleichszeitraum 2014 – 2015 um 2,2% erhöht. Die Gesamtzahl der Lehrer/innen betrug 199.509, davon waren
63.911 Frauen (CSO 2016).
Frauenuniversität in Kabul
Seit dem Jahr 2008 hat sich die Studierendenzahl in Afghanistan um 50% erhöht. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (The Economist 13.8.2016; vergleiche auch:
MORAA 31.5.2016).
Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (Khaama Press 18.10.2015; vergleiche auch:
University Herold 18.10.2015); im ersten Lehrgang waren 28 Student/innen eingeschrieben, wovon 10 Männer waren (University Herold 18.10.2015).
Berufstätigkeit
Für viele Frauen ist es noch immer sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben (AA 9.2016). Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung (AA 9.2016; vergleiche auch: USDOS 13.4.2016).
Bemerkenswert ist die Steigerung jener Afghan/innen, die der Meinung sind, Frauen sollen sich bilden und außerhalb des Heimes arbeiten dürfen. Bei einer Befragung gaben 81% der Befragten an, Männer und Frauen sollten gleiche Bildungschancen haben (The Diplomat 9.12.2016; vergleiche auch: AF 7.12.2016).
Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig verbessert und betrug im Jahr 2016 19%. Rund 64% der Afghan/innen befürworteten Frauen außerhalb ihres Heimes arbeiten zu dürfen. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen: Einschränkungen, Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UN Women 2016). Die Alpahbetisierungsrate bei Frauen in Afghanistan liegt durchschnittlich bei 17%, in manchen Provinzen sogar unter 2% (UN Women 2016; vergleiche auch: UNESCO Institute for statistics o.D.). In der Altersklasse der 15 - 24 jährigen betrug die Alphabetisierungsrate im Jahr 2015 bei Frauen 46,11%, bei den über 65-jährigen 4,33% (UNESCO Institute for statistics o.D.).
Viele Frauen haben sich in bedeutenden Positionen in den verschiedenen Bereichen von nationaler Wichtigkeit entwickelt, dazu zählen Politik, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Der Raum für weibliche Führungskräfte bleibt eingeschränkt, von Gebern abhängig und ist hauptsächlich in den Städten vertreten. Frauen sind im Privatsektor unterrepräsentiert und haben keine aktive Rolle in der Wirtschaftsproduktion. Unsicherheit, Belästigung, Immobilität, religiöser Extremismus und Korruption sind verbreitet. Begriffe wie zum Beispiel Geschlechtergleichstellung werden weiterhin missverstanden. Frauen in Führungspositionen werden als symbolisch betrachtet, werden politisch mangelhaft unterstützt, haben schwach ausgebildete Entscheidungs- und Durchsetzungskompetenzen und mangelnden Zugang zu personellen und finanziellen Mitteln (USIP 9.2015). Frauen sind im Arbeitsleben mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert, etwa Verwandte, die verlangen sie sollen zu Hause bleiben; oder Einstellungsverfahren, die Männer bevorzugten. Jene die arbeiteten, berichteten von sexueller Belästigung, fehlenden Transport- und Kinderbetreuungsmöglichkeiten; Benachteiligungen bei Lohnauszahlungen existieren im Privatsektor. Journalistinnen, Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen berichteten von, Drohungen und Misshandlungen (USDOS 13.4.2016).
Frauen machen 30% der Medienmitarbeiter/innen aus. Teilweise leiten Frauen landesweit Radiostationen - manche Radiostationen setzten sich ausschließlich mit Frauenangelegenheiten auseinander. Nichtsdestotrotz, finden Reporterinnen es schwierig ihren Job auszuüben. Unsicherheit, fehlende Ausbildung und unsichere Arbeitsbedingungen schränken die Teilhabe von Frauen in den Medien weiterhin ein (USDOS 13.4.2016).
Frauen im öffentlichen Dienst
Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vergleiche auch: USDOS 13.4.2016). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Die von Präsident Ghani bewirkten Wahlreformen sehen zudem Frauenquoten von 25% der Sitze für Provinz- und Distriktratswahlen vor; zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Independent Election Commission) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung hat derzeit vier Ministerinnen (von insgesamt 25 Ministern) (AA 9.2016). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UN Women 2016). Frauen in hochrangigen Regierungspositionen waren weiterhin Opfer von Drohungen und Gewalt (USDOS 13.4.2016).
Das Netzwerk von Frauenrechtsaktivistinnen "Afghan Women‘s Network" berichtet von Behinderungen der Arbeit seiner Mitglieder bis hin zu Bedrohungen und Übergriffen, teilweise von sehr konservativen und religiösen Kreisen (AA 9.2016).
Frauen in den afghanischen Sicherheitskräften
Polizei und Militär sind Bereiche, in denen die Arbeit von Frauen besonders die traditionellen Geschlechterrollen Afghanistans herausfordert. Der Fall des Taliban-Regimes brachte, wenn auch geringer als zu Beginn erwartet, wesentliche Änderungen für Frauen mit sich. So begannen Frauen etwa wieder zu arbeiten (BFA Staatendokumentation 26.3.2014). Im Jahr 2016 haben mehr Frauen denn je die Militärschule und die Polizeiakademie absolviert (AF 7.12.2016). Das Innenministerium bemüht sich um die Einstellung von mehr Polizistinnen, allerdings wird gerade im Sicherheitssektor immer wieder über Gewalt gegen Frauen berichtet. Die afghanische Regierung hat sich bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen ehrgeizige Ziele gesetzt und plant u.a. in der ersten Jahreshälfte 2016 ein Anti-Diskriminierungspaket für Frauen im öffentlichen Sektor zu verabschieden. Dieses ist allerdings bisher noch nicht geschehen (AA 9.2016). 2.834 Polizistinnen sind derzeit bei der Polizei, dies beinhaltete auch jene die in Ausbildung sind (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: Sputnik News 14.6.2016). Laut Verteidigungsministerium werden derzeit 400 Frauen in unterschiedlichen Bereichen des Verteidigungsministeriums ausgebildet: 30 sind in der nationalen Militärakademie, 62 in der Offiziersakademie der ANA, 143 in der Malalai Militärschule und 109 Rekrutinnen absolvieren ein Training in der Türkei (Tolonews 28.1.2017).
Im Allgemeinen verbessert sich die Situation der Frauen innerhalb der Sicherheitskräfte, bleibt aber weiterhin fragil. Der Schutz von Frauenrechten hat in größeren städtischen Gegenden, wie Kabul, Mazar-e Sharif und in der Provinz Herat, moderate Fortschritte gemacht; viele ländliche Gegenden sind extrem konservativ und sind aktiv gegen Initiativen, die den Status der Frau innerhalb der Gesellschaft verändern könnte (USDOD 6.2016).
Auch wenn die Regierung Fortschritte machte, indem sie zusätzliche Polizistinnen rekrutierte, erschweren kulturelle Normen und Diskriminierung die Rekrutierung und den Verbleib in der Polizei (USDOS 13.4.2016).
Teilnahmeprogramme für Frauen in den Sicherheitskräften
Initiiert wurde ein umfassendes Programm zur Popularisierung des Polizeidienstes für Frauen (SIGAR 30.7.2016; vergleiche auch: Sputnik News 5.12.2016). Dies Programm fördert in verschiedenster Weise Möglichkeiten zur Steigerung der Frauenrate innerhalb der ANDSF (SIGAR 30.7.2016). Das afghanische Innenministerium gewährte im Vorjahr 5.000 Stellen für Frauen bei der Polizei, diese Stellen sind fast alle noch immer vakant (Sputnik News 5.12.2016; vergleiche auch:
SIGAR 30.7.2016). Eines der größten Probleme ist, dass sowohl junge Mädchen als auch Ehefrauen in ihren Familien nichts selbständig entscheiden dürften (Sputnik News 5.12.2016). Die afghanische Nationalpolizei schuf zusätzlich neue Posten für Frauen – womit sich deren Zahl auf 5.969 erhöhte; 5.024 dieser Posten sind innerhalb der afghanischen Nationalpolizei, 175 in Gefängnissen und Haftanstalten, sowie 770 zivile Positionen (SIGAR 30.7.2016). Im Juni 2016 verlautbarten die Behörden in Kabul, bis März 2017 die Polizei mit 10.000 neuen Stellen für weibliche Polizeikräfte aufzustocken. Die Behörden möchten der steigenden Gewalt gegen Frauen in Afghanistan entgegentreten und effektiver gegen die Terrorbedrohung und den Drogenhandel im Land vorgehen (Sputnik News 14.6.2016).
Seit fast einem Jahrzehnt schaffen afghanische Behörden massiv Arbeitsstellen für Frauen bei der Polizei und versuchen alljährlich den Frauenanteil zu erhöhen. Das dient vor allem dazu, den Afghaninnen Schutz zu gewähren. Wenn Verdächtigte und mutmaßliche Verbrecher Frauen seien, werden Polizistinnen bevorzugt. Allerdings haben Beamtinnen wegen ihres Polizeidienstes öfter Probleme mit ihren konservativen Verwandten (Sputnik News 14.6.2016). Im Arbeitskontext sind Frauen von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen: so sind z. B. Polizistinnen massiven Belästigungen und auch Gewalttaten durch Arbeitskollegen oder im direkten Umfeld ausgesetzt (AA 9.2016; vergleiche auch: Sputnik News 14.6.2016).
Strafverfolgung und Unterstützung
Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 9.2016). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten, und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 9.2016; vergleiche USDOS 13.4.2016). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen und nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016)
Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 9.2016). Gleichzeitig führt aber eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen, hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016; vergleiche auch: USDOS 13.4.2016). In der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans trauen sich Frauen selbst oftmals nicht, an Polizisten zu wenden (Sputnik News 14.6.2016).
Anlässlich des dritten "Symposium on Afghan Women's Empowerment" im Mai 2016 in Kabul bekräftigte die afghanische Regierung auf höchster Ebene den Willen zur weiteren Umsetzung. Inwieweit sich dies in das System an sich und bis in die Provinzen fortsetzt, ist zumindest fraglich (AA 9.2016).
Das EVAW-Gesetz wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: AA 9.2016; UN Women 2016); und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen – inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt. Dennoch ist eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern noch ausständig und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden (AA 9.2016). Das Gesetz kriminalisiert Gewalt gegen Frauen, inklusive Vergewaltigung, Körperverletzung, Zwangsverheiratung bzw. Kinderheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug des Erbes, jedoch war die Umsetzung eingeschränkt. Im Falle von Vergewaltigung sieht das Gesetz eine Haftstrafe von 16-20 Jahren vor. Sollte die Vergewaltigung mit dem Tod eines Opfers enden, sieht das Gesetz die Todesstrafe für den Täter vor. Der Straftatbestand der Vergewaltigung beinhaltet nicht Vergewaltigung in der Ehe. Das Gesetz wurde nicht weitgehend verstanden und manche öffentliche und religiöse Gemeinschaften erachteten das Gesetz als unislamisch. Der politische Wille das Gesetz umzusetzen und seine tatsächliche Anwendung ist begrenzt (USDOS 13.4.2016). Außerhalb der Städte wird das EVAW-Gesetz weiterhin nur unzureichend umgesetzt (AA 9.2016). Laut Angaben von Human Rights Watch, verabsäumte die Regierung Verbesserungen des EVAW–Gesetzes durchzusetzen. Die Regierung verabsäumt ebenso die Verurteilung sogenannter Moral-Verbrechen zu stoppen, bei denen Frauen, die häuslicher Gewalt und Zwangsehen entfliehen, zu Haftstrafen verurteilt werden (HRW 27.1.2016). Die Regierung registrierte 5.406 Fälle von Gewalt an Frauen, 3.715 davon wurden unter dem EVAW-Gesetz eingebracht (USDOS 13.4.2016). Einem UNAMA-Bericht zufolge, werden 65% der Fälle, die unter dem EVAW-Gesetz eingebracht werden (tätlicher Angriff und andere schwerwiegende Misshandlungen) durch Mediation gelöst, während 5% strafrechtlich verfolgt werden (HRW 27.1.2016).
Die erste EVAW-Einheit (Law on the Elimination of Violence Against Women) wurde im Jahre 2010 durch die afghanische Generalstaatsanwaltschaft initiiert und hat ihren Sitz in Kabul (USDOS 13.4.2016). Die Generalstaatsanwaltschaft erhöhte weiterhin die Anzahl der EVAW-Einheiten. Mit Stand September 2015 existieren sie mittlerweile in 20 Provinzen. In anderen Provinzen wurde Staatsanwälten durch die Generalstaatsanwaltschaft Fälle zur Behandlung zugeteilt. Im März hielt das Büro der Generalstaatsanwaltschaft das erste nationale Treffen von EVAW-Staatsanwälten ab, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen EVAW-Einheiten in den Provinzen zu fördern und gemeinsame Probleme zu identifizieren (USDOS 13.4.2016). Ein im April veröffentlichter Bericht der UNAMA zu Erfahrungen von 110 rechtssuchenden Frauen im Justizsystem; zeigte, dass sich die Effektivität der Einheiten stark unterschied, diese aber dennoch Frauen, die Gewalt erlebt hatten, ermutigten ihre Fälle zu verfolgen (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: UNAMA 4.2015).
Der UN-Sonderberichterstatter zu Gewalt an Frauen berichtet von Frauen in Afghanistan, die das formelle Justizsystem als unzugänglich und korrupt bezeichnen; speziell dann wenn es um Angelegenheiten geht, die die Rechte von Frauen betreffen - sie bevorzugen daher die Mediation (USDOS 13.4.2016).
Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission – AIHRC), veröffentlichte einen Bericht, der 92 Ehrenmorde auflistete (Berichtszeitraum: März 2014 – März 2015), was eine Reduzierung von 13% gegenüber dem Vorjahr andeutete. Diesem Bericht zufolge wurden auch 67% der Täterbei Vergewaltigung oder Ehrenmord verhaftet; 60% wurden verurteilt und bestraft (USDOS 13.4.2016).
Wenn Justizbehörden das EVAW-Gesetz beachten, war es Frauen in manchen Fällen möglich angemessene Hilfe zu erhalten. Staatsanwält/innen und Richter/innen in abgelegenen Provinzen ist das EVAW-Gesetz oft unbekannt, andere werden durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt um Täter freizulassen. Berichten zufolge, geben Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt werden, oft an, das Opfer hätte dem Geschlechtsverkehr zugestimmt, was zu "Zina"-Anklagen gegen die Opfer führt (USDOS 13.4.2016).
Im Juni 2015 hat die afghanische Regierung den Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der VN-SR-Resolution 1325 auf den Weg gebracht (AA 9.2016; vergleiche auch: HRW 12.1.2017). Dennoch war bis November 2016 kein finales Budget für den Umsetzungsplan aufgestellt worden (HRW 12.1.2017).
Gewalt an Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord (AA 9.2016). In den ersten acht Monaten des Jahres 2016 dokumentierte die AIHRC 2.621 Fälle häuslicher Gewalt – in etwa dieselbe Zahl wie im Jahr 2015; obwohl angenommen wird, die eigentliche Zahl sei viel höher (HRW 12.1.2017). Die AIHRC berichtet von mehr als 4.250 Fällen von Gewalt an Frauen, die in den ersten neun Monaten des afghanischen Jahres (beginnend März 2015) gemeldet wurden (USDOS 13.4.2016). Diese Fälle beinhalten unterschiedliche Formen von Gewalt: physische, psychische, verbale, sexuelle und wirtschaftliche. In den ersten sechs Monaten des Berichtszeitraumes wurden 190 Frauen und Mädchen getötet; in 51 Fällen wurde der Täter verhaftet (Khaama Press 23.3.2016).
Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet) (AA 9.2016).
Ehrenmorde
Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 2.7.2014). Mädchen unter 18 Jahren sind auch weiterhin dem Risiko eines Ehrenmordes ausgesetzt, wenn eine außereheliche sexuelle Beziehung angenommen wird, wenn sie vor Zwangsverheiratung davonlaufen oder Opfer eines sexuellen Übergriffs werden. Die AIHRC gab bekannt, zwischen März 2014 und März 2015 92 Ehrenmorde registriert zu haben (USDOS 13.4.2016).
Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist Misstrauen in das juristische System durch einen Großteil der afghanischen Bevölkerung (Khaama Press 23.3.2016).
Legales Heiratsalter:
Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (Girls not brides 2016). Ein Mädchen, welches jünger als 16 Jahre ist, kann mit der Zustimmung eines Vormunds oder eines zuständigen Gerichtes heiraten. Die Vermählung von Mädchen unter 15 Jahren ist auch weiterhin üblich (USDOS 13.4.2016). Die UN und HRW schätzen die Zahl der Zwangsehen auf 70% (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: AA 9.2016).
In Fällen von Gewalt oder unmenschlicher traditioneller Praktiken laufen Frauen oft von zu Hause weg, oder verbrennen sich sogar selbst (USDOS 13.4.2016). Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (AA 9.2016).
Frauenhäuser
USDOS zählt 28 formelle Frauenhäuser- um einige Frauen vor Gewalt durch die Familien zu schützen, nahmen die Behörden diese in Schutzhaft. Die Behörden wandten die Schutzhaft auch dann an, wenn es keinen Platz in Frauenhäusern gab (USDOS 13.4.2016).
Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden (AA 9.2016).
Die Schwierigkeit für eine nachhaltige Lösung für Frauen, war der soziale Vorbehalt gegen Frauenhäuser, nämlich der Glaube, das "Weglaufen von zu Hause" sei eine ernsthafte Zuwiderhandlung gegen gesellschaftliche Sitten. Frauen, die vergewaltigt wurden, wurden von der Gesellschaft als Ehebrecherinnen angesehen (USDOS 13.4.2016).
Berichten zufolge, würde das MoWA, aber auch NGOs, versuchen Ehen für Frauen zu arrangieren, die nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten (USDOS 13.4.2016).
Medizinische Versorgung – Gynäkologie
Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildetere Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 9.2016).
Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 9.2016)
Quellen:
Mitarbeiter/innen internationaler Organisationen und der US-Streitkräfte
Die Taliban greifen weiterhin Mitarbeiter/innen lokaler Hilfsorganisationen und internationaler Organisationen an – nichtsdestotrotz sind der Ruf der Organisationen innerhalb der Gemeinschaft und deren politischer Einfluss ausschlaggebend, ob ihre Mitarbeiter/innen Problemen ausgesetzt sein werden. Dieser Quelle zufolge, sind Mitarbeiter/innen von NGOs Einschüchterungen der Taliban ausgesetzt. Einer anderen Quelle zufolge kam es im Jahr 2015 nur selten zu Vorfällen, in denen NGOs direkt angegriffen wurden (IRBC 22.2.2016). Angriffe auf Mitarbeiter/innen internationaler Organisationen wurden in den letzten Jahren registriert; unter anderem wurden im Februar 2017 sechs Mitarbeiter/innen des Int. Roten Kreuzes in der Provinz Jawzjan von Aufständischen angegriffen und getötet (BBC News 9.2.2017); im April 2015 wurden 5 Mitarbeiter/innen von "Save the Children" in der Provinz Uruzgan entführt und getötet (The Guardian 11.4.2015).
Die norwegische COI-Einheit Landinfo berichtet im September 2015, dass zuverlässige Berichte über konfliktbezogene Gewalt gegen Afghanen im aktiven Dienst für internationale Organisationen vorliegen. Andererseits konnte nur eine eingeschränkte Berichtslage bezüglich konfliktbezogener Gewalt gegen ehemalige Übersetzer, Informanten oder andere Gruppen lokaler Angestellter ziviler oder militärischer Organisationen festgestellt werden (Landinfo 9.9.2015). Ferner werden reine Übersetzerdienste, die auch geheime Dokumente umfassen, meist von US-Staatsbürgern mit lokalen Wurzeln durchgeführt, da diese eine Sicherheitszertifizierung benötigen (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).
Grundsätzlich sind Anfeindungen gegen afghanische Angestellte der US-Streitkräfte üblich, da diese im Vergleich zu ihren Mitbürger/innen verhältnismäßig viel verdienen. Im Allgemeinen hält sich das aber in Grenzen, da der wirtschaftliche Nutzen für die gesamte Region zu wichtig ist. Tätliche Übergriffe kommen vor, sind aber nicht nur auf ein Arbeitsverhältnis bei den internationalen Truppen zurückzuführen. Des Weiteren bekommen afghanische Angestellte bei den internationalen Streitkräften Uniformen oder Dienstbekleidung, Verpflegung und Zugang zu medizinischer Versorgung nach westlichem Standard. Es handelt sich somit meist um Missgunst. Das Argument der Gefahr im Beruf für lokale Dolmetscher wurde von den US-Streitkräften im Bereich der SOF (Special Operation Forces), die sehr sensible Aufgaben durchführen, dadurch behoben, dass diesen Mitarbeitern nach einer gewissen Zeit die Mitnahme in die USA angeboten wurde. Dieses Vorgehen wurde von einer militärischen Quelle aus Deutschland bestätigt (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).
Quellen:
1.3.2. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016:
"7. Frauen mit bestimmten Profilen oder unter bestimmten Bedingungen lebende Frauen
Die Regierung hat seit 2001 einige wichtige Schritte zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung, insbesondere durch Verabschiedung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz), den Erlass von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe von Frauen und die Einrichtung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten.
Die Verbesserungen der Situation von Frauen und Mädchen blieben jedoch Berichten zufolge marginal und Afghanistan wird weiterhin als ‚sehr gefährliches‘ Land für Frauen und Mädchen betrachtet. Fortschritte, die in der Vergangenheit in Hinblick auf die Menschenrechte von Frauen erzielt wurden, wurden teilweise durch die Verschlechterung der Sicherheitslage in einigen Teilen des Landes zunichte gemacht. Die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleibt endemisch. Berichten zufolge ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor weit verbreitet und nimmt weiter zu. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte üblicherweise straflos bleiben. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen.
Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz von Frauenrechten weiterhin nur langsam umgesetzt werden, dies betrifft insbesondere die Umsetzung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz). Das im August 2009 verabschiedete Gesetz stellt 22 gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche, einschließlich Kinderheirat, Zwangsheirat sowie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, unter Strafe und legt die Bestrafung der Täter fest. Den Behörden fehlt Berichten zufolge der politische Wille, das Gesetz umzusetzen. Dementsprechend wird es Berichten zufolge nicht vollständig durchgesetzt, insbesondere nicht in ländlichen Gebieten. Die überwiegende Mehrheit der Fälle der gegen Frauen gerichteten Gewaltakte, einschließlich schwerer Straftaten gegen Frauen, wird immer noch nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen statt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. UNAMA berichtet, dass sowohl die afghanische nationale Polizei (ANP) als auch die Staatsanwaltschaften zahlreiche Fälle, einschließlich schwerwiegender Straftaten, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiterleiten und dadurch die Umsetzung des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz) unterminieren und die Praktizierung schädlicher traditioneller Bräuche fördern. Durch Entscheidungen gemäß diesen Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanierung und Ausgrenzung ausgesetzt.
Das schiitische Personenstandsgesetz, das Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbrecht für Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft regelt, enthält mehrere diskriminierende Bestimmungen für Frauen, insbesondere in Bezug auf Vormundschaft, Erbschaft, Ehen von Minderjährigen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses.
Während die in diesem Abschnitt beschriebenen Menschenrechtsprobleme Frauen und Mädchen im gesamten Land betreffen, gibt die Situation in Gebieten, die tatsächlich von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, Anlass zu besonderer Sorge.
Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) haben Berichten zufolge in diesen Gebieten die Rechte von Mädchen und Frauen in schwerwiegender Weise beschnitten, darunter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit und politische Partizipation. Außerdem besteht in von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrollierten Gebieten eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Frauen besonderen Schwierigkeiten beim Zugang zur Justiz ausgesetzt sind und ihnen keine wirksamen Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Verfügung stehen. Die von den regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) in den von ihnen kontrollierten Gebieten betriebene Paralleljustiz verletzt Berichten zufolge tatsächlich regelmäßig die Rechte von Frauen.
[ ]
8. Frauen und Männer, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen
Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer wie etwa Witwen sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Erwerbsmöglichkeiten, sind sie kaum in der Lage zu überleben. Inhaftierungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia betreffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, einschließlich Inhaftierung aufgrund ‚moralischer Vergehen‘ wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, außereheliche sexuelle Beziehungen (die als Ehebruch angesehen werden) und ‚Weglaufen von zu Hause‘ (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Mehr als der Hälfte der in Afghanistan inhaftierten Mädchen und Frauen wurden ‚moralische Vergehen‘ zur Last gelegt. Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen ‚moralischen Vergehen‘ Anlass zu Ehrenmorden geben können, versuchen die Behörden Berichten zufolge in einigen Fällen, die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen.
[...]
In Gebieten, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, besteht für Frauen und Männer, die unmoralischer Verhaltensweisen bezichtigt werden, das Risiko, über die parallelen Justizstrukturen dieser regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) zu harten Strafen, einschließlich zu Auspeitschung und zum Tod, verurteilt zu werden."
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Personen der beschwerdeführenden Parteien:
Die oben genannten Feststellungen zu Person, Volksgruppe, Religion, Herkunft und familiären Beziehungen der beschwerdeführenden Parteien resultieren aus den, dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verfahrensakten, den vorgelegten Tazkiras, sowie den diesbezüglich einheitlichen und glaubhaften Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin. Die Angaben zum Heimatstaat, dem Aufenthaltsort in Afghanistan und ihrem familiären Hintergrund sind chronologisch stringent. Die in diesem Zusammenhang getätigten Angaben waren weitgehend gleichbleibend und widerspruchsfrei.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit der beschwerdeführenden Parteien und dem Bezug der Grundversorgung ergibt sich aus den eingeholten Auszügen des Straf- und Grundversorgungsregisters.
2.2. Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates:
Das Bundesverwaltungsgericht erachtet aufgrund des persönlichen Eindruckes in der mündlichen Verhandlung und unter ganzheitlicher Würdigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens das konkrete Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin hinsichtlich der anonymen Anrufe und der persönlichen Bedrohung durch die Taliban als nicht glaubhaft, wobei hierauf nicht näher einzugehen ist, da das Bundesverwaltungsgericht – wie im Folgenden ausgeführt wird – zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Zweitbeschwerdeführerin aufgrund ihrer "westlichen" Lebensweise Gefahr liefe im Herkunftsstaat verfolgt zu werden. Im Hinblick auf das in den Länderberichten erwähnte frauenspezifische Risiko, bei non-konformen Verhalten Übergriffen ausgesetzt zu sein und in Zusammenschau mit dem ansonsten glaubwürdigen Eindruck der Beschwerdeführerin konnte nämlich der Zweitbeschwerdeführerin insoweit geglaubt werden, als dass sie aufgrund ihrer Tätigkeit bei der europäischen Organisation Diskriminierungen und Belästigungen seitens Verwandten und Dritten erfährt.
Dass die Zweitbeschwerdeführerin westlich orientiert ist, ergibt aus den diesbezüglich glaubhaften Angaben der Zweitbeschwerdeführerin und des Erstbeschwerdeführers sowie dem Erscheinungsbild und dem Auftreten der Zweitbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht. Die Zweitbeschwerdeführerin war in der Verhandlung nicht nur westlich gekleidet (sie trug eine schwarz-weiß gepunktete Bluse mit einem V-Ausschnitt, silberfarbene Ballerina und enganliegende Bluejeans; ihre Fingernägel waren lackiert; ihre Haare waren zu einem Zopf gebunden und frei über den Rücken; sie war geschminkt und trug Modeschmuck), sondern hat auch einen ausgesprochen selbstbewussten Eindruck hinterlassen. Nach der Art ihres Auftretens und ihres Kommunizierens konnte die Zweitbeschwerdeführerin überzeugend darlegen, dass sie eine für afghanische Verhältnisse sehr gebildete Frau ist, die sich der sozio-kulturellen Problematik der Stellung der Frau in Afghanistan bewusst ist. Dies zeigte sich insbesondere darin, dass sie die Einstellung der Verwandten ihres Ehemannes streng ablehnt, und, dass sie trotz der anhaltenden Sticheleien und Beleidigungen seitens der Verwandtschaft des Erstbeschwerdeführers und seitens ihres Bekanntenkreises, weiter zur Arbeit ging. Vor dem Hintergrund der in den Länderberichten erwähnten Schwierigkeiten von Verwandten, die verlangen, dass die Frauen zu Hause bleiben sollen und Drohungen und Misshandlungen, die angestellte Frauen in verschiedenen Berufssektoren erfuhren, unterstreicht die Haltung der Beschwerdeführerin und ihr fortbestehender Arbeitswille die westliche Orientierung. Vor allem wird das diesbezügliche Vorbringen auch dadurch gestützt, dass die Zweitbeschwerdeführerin bereits in ihrem Herkunftsstaat gearbeitet hat und sich auch als Lehrerin betätigte um anderen Frauen das Lesen und Schreiben beizubringen. Insofern ist die nunmehrige Lebensweise der Zweitbeschwerdeführerin eine Fortsetzung des bereits in Afghanistan geführten Lebensstiels.
Dass die Zweitbeschwerdeführerin bei römisch 40 gearbeitet hat ergibt sich aus ihren diesbezüglich glaubhaften und ausführlichen Angaben zu ihrer Tätigkeit. Sie legte ein Konvolut an Dokumenten zu ihrer Beschäftigung bei römisch 40 vor, die unzweifelhaft ihre Tätigkeit bei dieser Organisation belegen. Auch konnte sie die bei römisch 40 ausgeführten Tätigkeiten umfangreich schildern und bestanden daher keine Zweifel an ihrer Tätigkeit im Herkunftsstaat.
Bereits vor ihrer Zeit bei der europäischen Organisation hat sie anderen Frauen das Lesen und Schreiben beigebracht und zeugt dies von einem positiven Bildungsbewusstsein. Die Zweitbeschwerdeführerin möchte ihren bereits im Heimatland ausgeübten Beruf der Köchin in Österreich weiter ausüben bzw. auch auf andere Art in der Gastronomie beschäftigt sein. Die Angaben der Zweitbeschwerdeführerin hierzu stimmten auch mit den Angaben des Erstbeschwerdeführers überein, und kommt auch somit der Zweitbeschwerdeführerin ein glaubhaftes Vorbringen zu Gute. Sie besucht neben der Betreuung ihrer drei Kinder einen Deutschkurs und konnte überzeugend darlegen, in Zukunft die Sprache besser lernen und zu arbeiten zu wollen.
Ihre westliche Einstellung wird weiters auch insbesondere in ihrer Haltung zur Partnerwahl ihrer Kinder manifestiert. Sie hätte nichts dagegen, dass ihre Kinder einen christlichen Partner nehmen würden oder eine außereheliche oder gleichgeschlechtliche Beziehung führen würden. Ihre Haltung wird von ihrem Ehemann bestätigt. Sie begrüßt die in Österreich herrschende Gleichstellung von Frauen und Männer, insbesondere, dass Frauen arbeiten dürfen und über ihr Leben frei entscheiden können. Die finanziellen Angelegenheiten werden zudem von der Zweitbeschwerdeführerin übernommen, der Erstbeschwerdeführer hat diesbezüglich glaubhaft gemacht, dass er dagegen keine Einwände hat. Er äußerte vielmehr, dass dies auch schon in Afghanistan der Fall war.
Bei der Zweitbeschwerdeführerin war zu erkennen, dass sie das streng konservativ-afghanische Frauenbild und die konservativ-afghanische Tradition ablehnt und abgelegt hat und demgegenüber bereits stark "westliche" Werte verinnerlicht hat und auch danach lebt. Zudem konnte der Zweitbeschwerdeführerin geglaubt werden, dass sie sich für ihre Töchter eine bessere und selbstbestimmte Zukunft mit einem Zugang zu Bildung erhoffe und dass sie die vom Onkel angebahnte Zwangsverheiratung ablehnt.
Auch die Drittbeschwerdeführerin war in der Verhandlung westlich gekleidet und machte den Eindruck einer selbstbestimmt denkenden Jugendlichen. Angesichts der Länderberichte und dem diesbezüglich glaubhaften Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin ist es für das Bundesverwaltungsgericht nachvollziehbar, dass der Drittbeschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan Zwangsverheiratung drohen würde.
2.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen gründen auf den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Allgemeines und Zuständigkeit
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 33 aus 2013, idgF, geregelt. Gemäß Paragraph 58, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), Bundesgesetzblatt Nr. 194 aus 1961,, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), Bundesgesetzblatt Nr. 173 aus 1950,, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), Bundesgesetzblatt Nr. 29 aus 1984,, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Paragraph eins, BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012, idgF, bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und im FPG bleiben unberührt.
Zu A) Stattgabe der Beschwerde
3.2. Rechtliche Bestimmungen
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde vergleiche VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr vergleiche VwGH 10.06.1998, 96/20/0287).
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
Die Voraussetzung der "wohlbegründeten Furcht" vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht vergleiche VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265 mwN).
Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, Ziffer eins und Paragraph 11, Absatz eins, AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK vorliegen kann vergleiche zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; 15.03.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist – wie der Verwaltungsgerichtshof zur Genfer Flüchtlingskonvention judiziert – nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "internen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.11.2007, 2006/19/0341, mwN).
Bei dem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK genannten Asylgrund der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" handelt es sich um einen Auffangtatbestand, der sich in weiten Bereichen mit den Gründen "Rasse, Religion und Nationalität" überschneidet, jedoch weiter gefasst ist als diese. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine – nicht sachlich gerechtfertigte – Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten (VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479).
Generell wird eine soziale Gruppe durch Merkmale konstituiert, die der Disposition der betreffenden Personen entzogen sind, beispielsweise das Geschlecht. Frauen stellen beispielsweise eine "besondere soziale Gruppe" im Sinne der GFK dar vergleiche etwa Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Band römisch II [1986] 456). So bestimmen die Absätze 77 bis 79 des UNCHR-Handbuches über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft vom September 1979 (Neuauflage: UNCHR Österreich, Dezember 2003): "[Abs. 77.] In einer ‚bestimmten sozialen Gruppe’ befinden sich normalerweise Personen mit ähnlichem Hintergrund, Gewohnheiten oder sozialer Stellung. Macht jemand Furcht vor Verfolgung aus diesem Grunde geltend, so könnte er häufig ebenso gut Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion oder Nationalität anführen. [Abs. 78.] Die Zugehörigkeit zu einer solchen sozialen Gruppe kann Anlass zur Verfolgung sein, wenn kein Vertrauen in die Loyalität der Gruppe der Regierung gegenüber besteht, oder auch wenn die politische Ausrichtung, das Vorleben oder die wirtschaftliche Tätigkeit der Mitglieder der Gruppe oder auch schon allein die Existenz der Gruppe an sich als Hindernis für die Politik der Regierung angesehen werden. [Abs. 79] Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wird an sich allein noch nicht ausreichen, um die Forderung nach Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Es kann jedoch besondere Umstände geben, unter denen die bloße Zugehörigkeit ein ausreichender Grund für die Furcht vor Verfolgung sein kann."
Gemäß Artikel 10, Absatz eins, Litera d, der Statusrichtlinie 2004/83/EG (in der Neufassung 2011/95/EU diesbezüglich unverändert) gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
* die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
* die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten; geschlechterbezogene Aspekte können berücksichtigt werden, rechtfertigen aber für sich allein genommen noch nicht die Annahme, dass dieser Artikel anwendbar ist.
3.3. Aktuelle Rechtsprechung
3.3.1. Der VwGH hat, im Erk zu Zl Ra 2016/18/0388 zitiert, zB zu Zl Ra 2014/20/0017 ausgeführt wie folgt:
[ ]Das Bundesverwaltungsgericht hat sich des Weiteren auf Grund des Beschwerdevorbringens mit der Frage befasst, ob die Revisionswerberinnen eine "westliche Lebensweise" angenommen haben, und dies (bloß) anhand der von ihnen vor der Verwaltungsbehörde gemachten Aussagen verneint.
Insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass in Bezug auf die Situation von Frauen in Afghanistan (u.a.) afghanische Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzen oder dies tatsächlich tun, bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch aktuell als gefährdet anzusehen sind. Diese Kategorie kann Frauen einschließen, die westliches Verhalten oder westliche Lebensführung angenommen haben, was als Verletzung der sozialen Normen angesehen werde könnte und ein solch wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Frauen geworden ist, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen vergleiche das hg. Erkenntnis vom 6. Juli 2011, Zl. 2008/19/0994 bis 1000).
Daraus ergibt sich, dass den Revisionswerberinnen Asyl zu gewähren ist, wenn der "westliche Lebensstil" in Afghanistan einer zu den herrschenden politischen und/oder religiösen Normen eingenommenen oppositionellen Einstellung gleichgesetzt wird und ihr deshalb Verfolgung im oben dargestellten Sinn droht. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Es kann auch eine private Verfolgung insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang im genannten Erkenntnis vom 6. Juli 2011 auch klargestellt, dass in einem solchen Fall konkrete Feststellungen zur ("westlichen") Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungspunkt zu treffen und ihr diesbezügliches Vorbringen (unter Würdigung ihres aktenkundigen Auftretens) einer Prüfung zu unterziehen ist. Diesbezüglich wurde bereits in der Rechtsprechung das Argument, dass eine relevante Änderung der Lebensweise einer Asylwerberin deshalb nicht anzunehmen sei, weil sie viele Jahre in einem Land, das insoweit demselben Kulturkreis wie das Heimatland zuzuordnen sei, gelebt und dort offensichtlich keinerlei Probleme mit der erwarteten Unterordnung gehabt habe, mit der Begründung verworfen, dass damit nicht ausgeschlossen sei, dass eine Asylwerberin erst im Zuge ihres Aufenthaltes in Österreich einen anderen – eben "westlichen" – Lebensstil angenommen habe.
Auch hier hätte somit, was die Revision ebenfalls zutreffend aufzeigt, das Bundesverwaltungsgericht erst auf der Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der Revisionswerberinnen – unter Heranziehung aktueller Länderberichte – die zu erwartenden Reaktionen in Afghanistan auf die von ihnen angestrebte Lebensweise prüfen müssen.
Im Erk vom 22.03.2017, Ra 2016/18/0388, hat der VwGH nunmehr im Anschluss an seine bisherige Rsp maW zusammenfassend ausgeführt, dass nach seiner Rsp Frauen aus Afghanistan dann einen Asylanspruch haben, wenn sie einen westlich orientierten Lebensstil haben.
Der VwGH hätte insoweit das Erkenntnis des BVwG, das den Asylgewährungsanspruch der dortigen Beschwerdeführerin wegen Tragens eines Kopftuchs und damit wegen Nichtanerkennung eines westlich orientierten Lebensstils verneinte, nicht aufheben können, wenn der westlich orientierte Lebensstil an sich nicht gemäß Paragraph 3, AsylG asylrelevant in Bezug auf Afghanistan (als dem auch dort in Frage stehenden Herkunftsstaat) vermitteln würde.
Ausgehend von diesem letzten Erkenntnis des VwGH ist nunmehr unter dem den Asylgewährungsanspruch begründenden "westlich orientierten Lebensstil" zu verstehen, dass die Beschwerdeführerin eine Lebensweise angenommen haben muss, in der die Anerkennung der Grundrechte der Beschwerdeführerin zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von den Frauen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen.
3.3.2. In der jüngeren Rsp des BVwG wird die stRsp des VwGH iZm westlich orientierten Frauen mit dem Herkunftsstaat Afghanistan zB wie folgt umgesetzt:
BVwG 09.01.2017, W123 2127660-1/5E:
Im konkreten Fall ist die vorgebrachte Verfolgung als eine "gegen die Frauen insgesamt oder gegen bestimmte Gruppen der weiblichen Bevölkerung" gerichtete Maßnahmen unter "dem Gesichtspunkt der drohenden Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu würdigen" vergleiche die Erkenntnisse des VwGH vom 31. Jänner 2002, Zl 99/20/0497, und vom 26. Februar 2002, Zl 98/20/0544).
Bei der Beschwerdeführerin, deren persönliche und nach außen offen dargelegte Wertehaltung als "westlich" orientierte Frau im Gegensatz zu jener in Afghanistan weiterhin vorherrschenden Situation für Mädchen/Frauen steht, liegt im gegenständlichen Fall das dargestellte Verfolgungsrisiko daher im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor vergleiche die Erkenntnisse des VwGH vom 16. April 2002, Zl 99/20/0483, und vom 20. Juni 2002, Zl 99/20/0172).
3.3.3. In seinem Erkenntnis vom 6. Juli 2011, Zl 2008/19/0994, sprach der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf afghanische Frauen, die "westliches" Verhalten oder "westliche" Lebensführung angenommen haben, ua Folgendes aus:
"In Bezug auf die Situation von Frauen in Afghanistan hat der Verwaltungsgerichtshof dazu bereits in seinem Erkenntnis vom 16. Jänner 2008, Zl. 2006/19/0182 auf eine diesbezügliche Stellungnahme des UNHCR vom Juli 2003 und die Indizwirkung entsprechender Empfehlungen verwiesen, wonach unter anderem afghanische Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzen (oder dies tatsächlich tun) bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden sollten. Diese Kategorie könnte Frauen einschließen, die westliches Verhalten oder westliche Lebensführung angenommen haben, was als Verletzung der sozialen Normen angesehen werde und ein solch wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Frauen geworden sei, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen. [...]
Daraus ergibt sich fallbezogen, dass der Zweitbeschwerdeführerin Asyl zu gewähren ist, wenn der von ihr vorgebrachte ‚westliche Lebensstil' in Afghanistan einer zu den herrschenden politischen und/oder religiösen Normen eingenommene oppositionellen Einstellung gleichgesetzt wird und ihr deshalb Verfolgung im oben dargestellten Sinn droht."
3.4. Die Verfolgung aus dem Grund der politischen Gesinnung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der GFK liegt in jenen Fällen vor, in denen der ungerechtfertigte Eingriff an die politische Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung der betroffenen Person anknüpft.
Zur Begründung asylrechtlich relevanter Verfolgung kommt es nicht darauf an, ob der Asylwerber selbst die politische Gesinnung teilt, die ihm von den Behörden des Heimatstaates unterstellt wird, sondern lediglich darauf, ob die Verfolgungsmaßnahmen auf eine dem Asylwerber eigene bestimmte politische Gesinnung zurückgeführt werden (VwGH 30.09.1997, 96/01/0871). Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist (VwGH 12.09.2002, 2001/20/0310; VwGH 25.11.1999, 98/20/0357). Als politisch kann alles qualifiziert werden, was für den Staat, für die Gestaltung bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (VwGH 12.09.2002, 2001/20/0310).
Gemäß Artikel 10, Absatz eins, Litera e, der sogenannten Statusrichtlinie 2004/83/EG (in der aktuell geltenden Neufassung der Statusrichtlinie 2011/95/EU, ABl. 2011 L 337/9, diesbezüglich inhaltlich unverändert) ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Artikel 6, genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
Gemäß Artikel 10, Absatz 2, Statusrichtlinie ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
3.5. Daraus folgt für die Zweitbeschwerdeführerin:
Wie im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt ist es der Zweitbeschwerdeführerin gelungen glaubhaft zu machen, dass sie eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau ist. Sie hat damit eine maßgebliche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus einem der in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe aufgezeigt:
Aus den vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Afghanistan ergeben sich zwar keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass alle afghanischen Frauen bzw. Mädchen gleichermaßen allein auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter sowie individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Intensität von den in den Länderberichten aufgezeigten Einschränkungen und Diskriminierungen kann jedoch bei Hinzutreten weiterer maßgeblicher individueller Umstände, insbesondere einer diesen – traditionellen und durch eine konservativ-religiöse Einstellung geprägten – gesellschaftlichen Zwängen nach außen hin offen widerstrebenden Wertehaltung einer Frau, ein asylrelevantes Ausmaß erreichen.
Den oben angeführten UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 ist zu entnehmen, dass sich die afghanische Regierung zwar bemüht, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, jedoch Frauen auf Grund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sind und gerade Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, gesellschaftlich stigmatisiert werden und hinsichtlich ihre Sicherheit gefährdet sind (zur Indizwirkung solcher Länderberichte siehe VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182). Frauen sind daher besonders gefährdet, in Afghanistan Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten – wie z.B. die freie Fortbewegung oder eine ausgeübte Erwerbstätigkeit – als nicht mit den von der Gesellschaft, von der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird.
Für die Zweitbeschwerdeführerin wirkt sich die derzeitige Situation in Afghanistan so aus, dass sie im Falle einer Rückkehr einem Klima ständig latenter Bedrohung, struktureller Gewalt sowie unmittelbaren Einschränkungen und durch das Bestehen dieser Situation der Gefahr einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre. Die Zweitbeschwerdeführerin unterliegt einer diesbezüglich erhöhten Gefährdung, weil sie auf Grund ihrer Wertehaltung und Lebensweise bei einer Rückkehr gegenwärtig in Afghanistan als eine Frau wahrgenommen würde, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, die Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benimmt; sie ist insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt vergleiche hiezu auch EGMR 20.07.2010, 23.505/09, N./Schweden, ebenfalls unter Hinweis auf
UNHCR).
Vor diesem Hintergrund kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Zweitbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen würden. Die Zweitbeschwerdeführerin war auch bereits Diskriminierungen aufgrund ihrer Arbeit bei der europäischen Organisation ausgesetzt.
Diese Verfolgungsgefahr findet auch ihre Deckung in einem der in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe, zumal die Zweitbeschwerdeführerin einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich jener der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen, zugehörig ist vergleiche dazu VwGH 20.06.2002, 99/20/0172, mwN).
Auch für Drittbeschwerdeführerin besteht im Herkunftsstaat eine objektiv nachvollziehbare Verfolgungsgefahr. Ihr droht im Falle der Rückkehr akut die Zwangsverheiratung.
Aufgrund des Vorbringens der Zweitbeschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht war davon auszugehen, dass insbesondere die persönliche Haltung der Zweitbeschwerdeführerin hinsichtlich der Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft sowie ihre Stellung als gebildete Frau überwiegend im Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiöse Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind, steht. Die Zweitbeschwerdeführerin wäre in Afghanistan einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt, weil sie als Frau nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt, sondern sich eine "westliche" Lebensführung angeeignet hat, gegensätzlich zu dem in der afghanischen Gesellschaft weiterhin vorherrschenden traditionell-konservativen Rollenbild der Frau. Der Einschätzung des UNHCR, der Indizwirkung zukommt vergleiche das Erkenntnis des VwGH vom 16. Jänner 2008, Zl 2006/19/0182), zufolge sind Frauen/Mädchen besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind, werden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen. Die Zweitbeschwerdeführerin würde dadurch gegenwärtig in Afghanistan als eine Frau wahrgenommen werden, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benimmt; sie ist insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt vergleiche dazu EGMR, Case N. vs. Schweden, 20. Juli 2010, Application Nr. 23505/09, ebenfalls unter Hinweis auf UNHCR).
Die der Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation ist daher in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität vergleiche zur Definition des Verfolgungsbegriffes und der erforderlichen Intensität Putzer, Leitfaden Asylrecht² [2011] Rz 53-57).
Es ist nach Lage des gegenständlichen Falles davon auszugehen, dass die Zweitbeschwerdeführerin vor diesen Bedrohungen in Afghanistan nicht ausreichend geschützt werden kann. Zwar stellen die angeführten Bedrohungen keine Eingriffe von staatlicher Seite dar, es ist der Zentralregierung jedoch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen; gegenwärtig besteht in Afghanistan dahingehend kein funktionierender Polizei- und Justizapparat. Darüber hinaus ist vor dem Hintergrund der oben getroffenen Länderfeststellungen nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden; ganz im Gegenteil liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber. Für die Zweitbeschwerdeführerin ist damit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie angesichts des sie als westlich orientierte Frau betreffenden Risikos, Opfer von Misshandlungen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.
Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall der Zweitbeschwerdeführerin daher davon auszugehen, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Falle ihrer nunmehrigen Rückkehr nach Afghanistan als Frau dort mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer "westlichen" Lebenshaltung Eingriffe asylrelevanter Intensität mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat, sich sohin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung iSd GFK außerhalb Afghanistans befindet und in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative ist im Fall der Zweitbeschwerdeführerin nicht gegeben. Es ist im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen, in der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frauen einem erhöhten Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Zweitbeschwerdeführerin aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen ihrer politischen Gesinnung (Orientierung an dem als "westlich" zu bezeichnenden Frauen- und Gesellschaftsbild) und ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von dieser Gesinnung überzeugten afghanischen Frauen, die selbstbestimmt leben möchten, außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren.
Da weder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, noch ein in Artikel eins, Abschnitt C oder F der GFK genannter Endigungs- und Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, war der Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin stattzugeben und ihr gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass der Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Zu den Erst-, Dritt- bis Fünftbeschwerdeführenden Parteien:
Gemäß Paragraph 34, Absatz 2, AsylG 2005 ist aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn
1. dieser nicht straffällig geworden ist;
2. Anmerkung, Ziffer 2, aufgehoben durch Artikel 3, Ziffer 13,, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 84 aus 2017,)
3. gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist.
Gemäß Paragraph 34, Absatz 4, AsylG 2005 hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Absatz 2 und 3 erhalten alle Familienangehörige den gleichen Schutzumfang.
Gemäß Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005 ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits im Herkunftsland bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten bestanden hat
Die Zweitbeschwerdeführerin ist als Mutter der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer und als Ehegattin des unbescholtenen Erstbeschwerdeführers deren Familienangehörige im Sinne des Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 22, AsylG 2005.
Da der Zweitbeschwerdeführerin – wie oben dargelegt – der Status einer Asylberechtigten zu gewähren war, war dieser Status gemäß Paragraph 34, AsylG 2005 auch dem Erstbeschwerdeführer und den Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern, bei denen keine der in Artikel eins, Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegen, zuzuerkennen.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 war festzustellen, dass den beschwerdeführenden Parteien von Gesetzes wegen die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz am 11.06.2015, somit vor dem 15.11.2015 gestellt wurden, wodurch insbesondere die Paragraphen 2, Absatz eins, Ziffer 15 und 3 Absatz 4, AsylG 2005 in der Fassung des Bundesgesetzes Bundesgesetzblatt Teil eins, 24 aus 2016, ("Asyl auf Zeit") gemäß Paragraph 75, Absatz 24, leg. cit. im konkreten Fall keine Anwendung finden.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung rechtlich auf der dz stRsp des VwGH zur Frage der Asylgewährung von Frauen mit präferiertem westlichen Lebensstil und dem Herkunftsstaat Afghanistan liegt, wie vom VwGH zuletzt am 22.03.2017 zu Zl Ra 2016/1870388 konkretisiert. Tatsachenfragen, wie zB ob die Zweitbeschwerdeführerin einen westlichen Lebensstil, der gemäß VwGH iZm Afghanistan aktuell asylgewährungsrelevant ist, internalisiert hat und als Persönlichkeitsbestandteil pflegt, sind nicht revisibel.
ECLI:AT:BVWG:2017:W266.2150146.1.00