BVwG
24.07.2017
W139 2141276-1
W139 2141276-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Kristina HOFER als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch das Amt für Jugend und Familie der Stadt Graz, dieses vertreten durch die Caritas Diözese Graz-Seckau, Mariengasse 24, 8020 Graz, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vomXXXX, Zl. 15-XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.07.2017 zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben undXXXX gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch 40 damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
römisch eins. Verfahrensgang:
1. Die minderjährige Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara, reiste illegal und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 15.09.2015 gemeinsam mit ihrem Bruder (Zl. W139 2141277-1) einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. In der Erstbefragung am 16.09.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes wurde der Bruder der Beschwerdeführerin befragt. Dieser gab an, sie seien in Isfahan, Iran, geboren und hätten auch dort gelebt. Sie hätten sich nie in Afghanistan aufgehalten. Ihr Vater sei bereits verstorben. Sie seien gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern (Bruder und Schwester) auf der Flucht gewesen, seien aber unterwegs getrennt worden. Zum Fluchtgrund führte er aus, als ihr Vater noch gelebt habe, seien sie legal im Iran gewesen. Nach dem Tod des Vaters hätten sie sich illegal im Iran befunden. Sie hätten Angst gehabt, dass die iranische Polizei sie nach Afghanistan abschieben würde. Das Leben im Iran sei als Afghane sehr schwierig, wenn man dort illegal lebe. Die Beschwerdeführerin bestätigte vollinhaltlich die Angaben ihres Bruders.
3. Bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 20.10.2016 führte die Beschwerdeführerin im Beisein ihrer gesetzlichen Vertretung zusammengefasst im Wesentlichen aus, sie habe mit ihrer Familie im Iran gelebt. Als sie zweieinhalb Jahre alt gewesen sei, sei ihr Vater nach Afghanistan gegangen, um zu sehen, ob dort ein Leben für die Familie möglich wäre. Der Vater sei auf dem Weg von den Taliban getötet worden, da er schiitischer Hazara gewesen sei. Da die Aufenthaltsgenehmigung im Iran vom Vater abhängig gewesen sei, habe die Familie nach dem Tod des Vaters Probleme bekommen. Sie seien von den Iranern schlecht behandelt, beleidigt und beschimpft worden, da sie Hazara seien. Die Beschwerdeführerin habe im Iran keine Schule besuchen können und habe zuhause Unterricht erhalten und Lesen und Schreiben gelernt. Die Beschwerdeführerin habe als Frau im Iran nicht frei leben können. Sie wolle in Österreich ohne Kopftuch leben und sich hier anpassen. Sie sei froh, dass sie es nicht mehr tragen müsse. Das sei genau die Freiheit, die sie im Iran nie gehabt habe. Auf die Frage, was ihr Bruder dazu sage, gab die Beschwerdeführerin an, er überlasse es ihr und habe nichts dagegen. Er sage, sie solle machen, was sie möchte. Die Beschwerdeführerin besuche das Gymnasium in römisch 40 . Drei Mal wöchentlich besuche sie einen Deutschkurs. Sie wolle die Matura machen und Ärztin oder Pädagogin werden. Die Beschwerdeführerin legte eine Deutschkursbestätigung und zahlreiche Empfehlungsschreiben vor. In diesen Schreiben wird im Wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführerin lebe seit Juli 2016 in römisch 40 bei einer Pflegemutter. Sie habe bereits nach kurzer Zeit gute Deutschkenntnisse erwerben können und sie habe unbedingt zur Schule gehen wollen, da ihr dieses Privileg lange Zeit verwehrt worden sei. Ihr größter Wunsch sei es, ein Studium abzuschließen. Sie habe sich gut eingelebt und schon Freunde gefunden. Auch in der Schule sei sie bestens integriert, zielstrebig, gewissenhaft und äußerst fleißig. Sie zeige auch großes Interesse an der westlichen Kultur und österreichischen Gebräuchen. Sie habe an einem ökumenischen Schulgottesdienst teilgenommen und besuche oft freiwillig den katholischen Religionsunterricht. Auch der regionale Dialekt sei ihr schon geläufig.
4. Mit Schreiben vom 25.10.2016 nahm die Beschwerdeführerin durch ihre gesetzliche Vertretung Stellung zu den Länderfeststellungen zu Afghanistan. Die Beschwerdeführerin wolle als junge Frau ein freies und selbstbestimmtes Leben führen und den Weg der schulischen Ausbildung gehen, der ihr im Iran verwehrt gewesen sei. Ihr seien Erzählungen ihrer Großmutter überliefert worden, wonach man in Afghanistan zwangsverheiratet werde. Ihre Lebensweise entspreche nicht dem streng konservativ-afghanischen Frauenbild und sie habe bereits stark "westliche" Werte verinnerlicht und lebe danach (ohne Kopftuch, schulische Ausbildung, berufliche Ziele). Einerseits fürchte sie als Angehörige der sozialen Gruppe der Frauen Verfolgung und andererseits werde ihr eine oppositionelle Gesinnung unterstellt, zumal sie als selbstbestimmte Frau gegen die herrschenden politischen und/oder religiösen Normen verstoße. Aufgrund der Sozialisierung im Iran wäre zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei prekär, auch in Kabul. In Afghanistan fehle der minderjährigen Beschwerdeführerin jegliche Lebensgrundlage und sie habe dort kein soziales bzw familiäres Netzwerk, sodass eine Rückkehr unzumutbar sei.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom römisch 40 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihr gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 09.11.2017 erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
Die belangte Behörde führte begründend im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin habe keine Verfolgung iSd GFK glaubhaft bzw geltend machen können. Da sie zeitlebens nicht in Afghanistan gewesen sei, könne auch keine entsprechende Verfolgungsgefahr im Herkunftsland festgestellt werden. Es fehle jedoch eine Lebensgrundlage in Afghanistan, da die Beschwerdeführerin dort keine Angehörigen habe und ihr Alter und Geschlecht maßgeblich erschwerend hinzukommen würden. Daher sei subsidiärer Schutz zu gewähren.
6. Am 30.11.2016 brachte die Beschwerdeführerin durch ihre gesetzliche Vertretung – fristgerecht – Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des obgenannten Bescheides ein. Sie beantragte die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten, in eventu die Zurückverweisung, sowie eine mündliche Verhandlung. Begründend wurde erneut auf die selbstbestimmte Lebensweise der Beschwerdeführerin verwiesen. Ergänzend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin besuche in Österreich ein Gymnasium, sei sozial integriert und lebe bei einer österreichischen Pflegefamilie. Sie sei in ihrer Freizeitgestaltung nicht eingeschränkt und trage aufgrund ihrer eigenen Entscheidung kein Kopftuch. Sie strebe eine weitergehende Schul- und Berufsausbildung an. In Afghanistan drohe aufgrund ihrer "westlichen Gesinnung" Verfolgungsgefahr und weiters aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara.
7. Am 03.07.2017 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein der gesetzlichen Vertretung der Beschwerdeführerin sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi statt, bei welcher die Beschwerdeführerin sowie ihr Bruder einvernommen wurden. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
Im Rahmen der Befragung bestätigte die Beschwerdeführerin zunächst die bisherigen Angaben zu ihrer Person und bekräftigte, bei den bisherigen Einvernahmen die Wahrheit gesagt zu haben. Sie verwies darauf, dass der Dolmetscher bei der Einvernahme vor der belangten Behörde Fehler gemacht habe.
Vorgelegt wurden ein Konvolut aus Empfehlungsschreiben, Schulbesuchsbestätigungen und Bestätigungen über den Besuch von Deutschkursen und einem Werte- und Orientierungskurs, Berufsschnupperwochen sowie ein Fotoalbum betreffend die Freizeitaktivitäten der Beschwerdeführerin. Zusätzlich wurden zwei Artikel zur humanitären Lage und zum sozialen Alltag in Afghanistan sowie ein Artikel betreffend die Lage und Diskriminierung der Frauen in Afghanistan vorgelegt.
Weiters gab die Beschwerdeführerin (BF) entscheidungswesentlich Folgendes an (RI = erkennende Richterin, D = Dolmetscherin) [evtl. Rechtschreib- oder Tippfehler vom Bundesverwaltungsgericht korrigiert]:
"[ ] RI: Welche Schulbildung hast du?
BF: Ich habe zu Hause sieben Jahre lang Privatunterricht gehabt.
RI: Wer hat dich unterrichtet?
BF: Ich erinnere mich nicht mehr, aber ihr Name war Nasrin und sie war 30 Jahre alt. Wir machten das alles heimlich. Wir nahmen uns nicht einmal größere Taschen mit. Wir versteckten unsere Bücher in größeren Plastikbeuteln. Wenn die iranischen Nachbarn davon erfahren hätten, so hätten sie uns an die Behörden verraten. Auch meine Schwester wurde unterrichtet.
RI: Weshalb wurdest du zu Hause unterrichtet?
BF: Weil wir keine gültigen Papiere hatten. [ ]
Zu den Fluchtgründen:
RI: Du wurdest bereits im Verfahren erster Instanz zu den Gründen, warum du nicht mehr in deinen Herkunftsstaat zurückkehren kannst (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Kannst du dich an diese Angaben noch erinnern und, wenn ja, hältst du diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht?
BF: Ja, dabei bleibe ich.
RI: Hast du das Gefühl, dass du bei der Einvernahme alles sagen konntest?
BF: Ich habe zwar schon alles gesagt, aber manches nicht so genau. Ich war ein bisschen eingeschüchtert und genierte mich auch. Hier fühle ich mich wohler. Es war damals etwas anders.
RI: Du kannst hier bitte noch einmal erzählen, warum du geflüchtet bist (freie Erzählung).
BF: Ich war dort nie frei, ich konnte dort nie in die Schule gehen. Ich konnte nie alleine auf die Straße gehen und ich habe immer Angst gehabt. Das wichtigste ist, dass wir keine gültigen Papiere hatten. Sie haben uns dort wie Dreck behandelt, deshalb wollten wir von dort weg. Nachdem mein Vater nicht wieder gekehrt war, war unser Leben die Hölle. Mein Bruder arbeitete, meine Mutter war dauernd krank. Wir konnten nicht auf die Straße gehen. Sie hatte immer Angst um uns, dass wir entführt werden oder uns etwas angetan wird. Wir haben versucht, es geheim zu halten, dass mein Vater verstorben ist. Wenn die Leute erfahren, dass kein Familienoberhaupt da ist, dann nutzen sie einen aus.
RI: Du sagtest, dass du nicht alleine auf die Straße gehen konntest. Konnte deine Mutter alleine auf die Straße gehen?
BF: Wir hatten Angst alleine auf der Straße.
RI: Was kannst du hier machen, was du dort nicht machen konntest?
BF: Ich kann mich hier frei bewegen, ich kann hier zur Schule gehen und studieren. Ich fühle mich wohl. Ich gehe ohne Angst auf die Straße und fahre mit dem Bus in die Schule. Manchmal gehe ich auch einkaufen. Es war mein Wunsch, dass ich einmal so leben kann wie hier.
RI: Kannst du dich noch erinnern, wie du im Iran gekleidet warst, wenn du auf die Straße gegangen bist?
BF: Ja, ich musste immer ein Kopftuch tragen. Manchmal musste ich wegen der Kultur auch einen Tschador tragen zu besonderen religiösen Anlässen. Ich musste lange Kleider tragen. Ich hatte auch Angst mich zu schminken. Ich habe mich schon geschminkt, aber nicht auf der Straße.
D weist darauf hin, dass Isfahan eine religiös konservative Stadt ist und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich von der Bevölkerung wie etwa in Teheran unterscheiden.
RI: Warum hast du dein Kopftuch in Österreich so schnell abgelegt?
BF: Weil ich in Österreich wohne und außerdem studiere ich hier. Erstens habe ich es gerne ohne Kopftuch und außerdem sollte man, wo man auch lebt, sich an die dortigen gesellschaftlichen Vorgaben halten. Meine Familie hat auch nichts dagegen.
RI: Meinst du deinen Bruder römisch 40 damit?
BF: Ja, ich meine damit auch meinen Bruder. Er selbst kleidet sich auf europäisch. Er hatte auch im Iran Probleme, weil er sich westlich gekleidet hat.
RI: Gehst du hier alleine einkaufen, ins Cafehaus, oder so, um Freunde zu treffen etc? Erzähle mir darüber.
BF: Ja, sicher. Ich gehe zum New Yorker, H&M und auch zum Kik. Ich treffe auch meine Freunde und gehe mit ihnen ins Kino oder wir gehen Fahrrad fahren. Ich gehe auch mit meinem Hund spazieren und meine Freundin geht mit.
RI: Aus deinem Fotoalbum sehe ich unter anderem auch, dass du offenbar das Osterfest und Weihnachten mit deiner Pflegefamilie verbracht hast. Wie ist deine Einstellung zu anderen Religionen? Hat dir das auch Freude gemacht?
BF: Ja, wir haben Weihnachten gefeiert. Das war gut und interessant, eine neue Kultur kennenzulernen. Für mich ist nicht die Religion selbst so wichtig, sondern viel mehr, dass ich ein guter Mensch bin und hilfsbereit bin. Ich bin mit meiner "Mama" sehr zufrieden und ich liebe sie. Vielleicht wird sie mich adoptieren, ich weiß es nicht, aber vielleicht. Ich habe auch zwei neue Brüder, die ich liebe und die auch mich lieben. Sie sind sehr nett.
RI: Ist es dir wichtig, dass du über dein Leben selbst entscheidest? Was bedeutet das für dich?
BF: Ja, es ist sehr wichtig für mich. Als ich im Iran war, hatte ich auch Angst, dass ich jemanden heiraten muss, den ich nicht mag. Meine Familie war nicht so, aber die Leute (die afghanische Bevölkerung im Iran) würden sagen, dass ich dann doch heiraten muss und dass sie einen passenden Sohn hätten. Das ist eine ganz andere Kultur im Iran und Afghanistan.
RI: Hast du schon einen konkreten Berufswunsch?
BF: Jetzt gehe ich ins Gymnasium. Nächstes Jahr werde ich als ordentliche Schülerin beurteilt. Wenn ich das Gymnasium nicht schaffe, dann möchte ich eine Lehrstelle mit Maturaabschluss annehmen. Im Iran habe ich mir immer gewünscht, dass ich Ärztin werde. Ich weiß nicht, ob ich es hier schaffe. Ich mag auch Psychologie.
RI: Meinst du, dass du so, wie du hier jetzt lebst auch in Afghanistan leben könntest? Was würde, deiner Meinung nach, passieren?
BF: Sie würden mich steinigen, weil ich so gelebt habe und so leben will wie jetzt. Ich könnte so wie ich hier bin, gar nicht nach Afghanistan zurückgehen. Das könnte ich mir auch gar nicht vorstellen. Ich hätte dort auch niemanden. Sie würden mich steinigen. Meine ganze Familie ist im Iran geboren und ich habe in Afghanistan niemanden, der auf mich aufpassen könnte. Ich würde lieber hier sterben, als nach Afghanistan zu gehen und dort getötet zu werden. [ ]
BF: Was ich vergessen habe zu sagen ist, dass wir unter anderem Angst hatten, im Iran aufgegriffen und abgeschoben zu werden. Die Leute in Afghanistan behandeln Afghanen, die lange Zeit im Iran waren, sehr schlecht. Wir sind dort geboren und aufgewachsen. Mein Dari ist nicht besonders gut und man hätte an meiner Sprache sofort gemerkt, dass ich lange Zeit nicht in Afghanistan war. Die Menschen sehen einen als Verräter, weil man nicht in der Heimat gelebt hat. Ich hätte Angst vor diesen Typen. Ich habe im Fernsehen gesehen, dass die Männer dort lange komische Kleidung tragen und lange Bärte und obwohl sie auch Schiiten sind oder zumindest die selbe Religion haben, ticken sie einfach ganz anders. Mein Bruder ist krank und wenn ich nach Afghanistan müsste, hätte ich dort niemanden. Mein Bruder muss auf sich selbst aufpassen. Das alles könnte nie funktionieren. [ ]
RI: Angemerkt wird, dass die BF2 kein Kopftuch sondern ihr langes Haar offen trägt. Weiters trägt sie westliche Kleidung und ist geschminkt. Aus dem vorgelegten Fotoalbum wird dies ebenso deutlich ersichtlich. Weiters ist daraus erkennbar, dass die BF2 zahlreiche Freizeitaktivitäten mit Freunden, ihrem Bruder sowie ihrer Pflegefamilie, sowie Aktivitäten im Rahmen der Schule unternommen hat. BF2 antwortete beinahe durchgängig auf Deutsch.
BF: Ich wollte noch hinzufügen, dass auch mein Bruder in Afghanistan bedroht wäre. Man würde ihm vorwerfen, zugelassen zu haben, dass ich als seine Schwester so bin wie ich bin. So etwas ist für die Afghanen inakzeptabel. Er müsste also als männliches Familienmitglied dafür sorgen, dass ich mich nach den Regeln verhalte. Man würde ihn töten dafür, dass er sich gegen sämtliche Tradtionen gestellt hat."
8. Das erkennende Gericht brachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin in das Verfahren ein (Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, 27.06.2017; Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Afghanistan, 22. Februar 2017) und verwies auf den Country Report on Human Rights Practices 2016 des US Department of State sowie auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016 sowie auf die Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern Dezember 2016.
9. Im Strafregisterauszug der Republik Österreich vom 24.07.2017 – geführt von der Landespolizeidirektion Wien – scheint keine Verurteilung auf.
römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin und ihren Fluchtgründen:
Aufgrund des Asylantrags vom 15.09.2015, der Einvernahmen der Beschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und durch die belangte Behörde, der Beschwerde vom 30.11.2016 gegen den Bescheid der belangten Behörde vom römisch 40 , der Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsakt, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister, die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Dokumente sowie auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
Die minderjährige Beschwerdeführerin führt den Namen römisch 40 . Sie ist Staatsangehörige von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Ihre Muttersprache ist Farsi. Sie versteht auch Dari und kann in Deutsch und Englisch lesen und schreiben. Weiters beherrscht sie etwas Arabisch.
Die Beschwerdeführerin wurde in Isfahan, Iran, geboren, wo sie auch mit ihrer Familie (Mutter, zwei Brüder und eine Schwester) gelebt hat. Die Beschwerdeführerin war noch nie in Afghanistan. Ihr Vater ist verstorben, als die Beschwerdeführerin im Kleinkindalter war. Die Beschwerdeführerin flüchtete gemeinsam mit ihrer Familie aus dem Iran. Auf der Flucht wurde sie von ihrer Mutter und zwei Geschwistern getrennt. Sie ist gemeinsam mit ihrem Bruder (Zl. W139 2141277-1) nach Österreich gekommen.
Im Iran waren die Beschwerdeführerin und ihre Familie nach dem Tod des Vaters aufgrund des Verlustes des Familienoberhauptes, ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und mangels gültigen Aufenthaltstitels Diskriminierungen und gesellschaftlicher Ausgrenzung ausgesetzt. In dieser stark konservativ-traditionell geprägten Gesellschaft war es der Beschwerdeführerin trotz eines nicht streng religiösen Elternhauses nicht möglich, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten, bevor sie nach Österreich kam. So wäre die Beschwerdeführerin gerne zur Schule gegangen. Sie musste demgegenüber sieben Jahre lang heimlich zu Hause Privatunterricht nehmen. Sie hatte alleine auf der Straße Angst und musste ein Kopftuch und manchmal einen Tschador tragen.
In Österreich lebt die Beschwerdeführerin seit Juli 2016 bei einer Pflegemutter und besucht das Gymnasium. Die Beschwerdeführerin hat sich in Österreich bereits sehr gut eingelebt und genießt hier die Freiheit, die ihr im Iran verwehrt blieb. Sie hat schon mehrere Deutschkurse besucht und möchte ihre Deutschkenntnisse immer weiter verbessern, um auch dem Unterricht besser folgen zu können. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hat sie beinahe durchgängig auf Deutsch geantwortet. Die Beschwerdeführerin möchte die Schule mit der Matura abschließen und danach studieren. Sie hat sich bereits im Iran gewünscht, Ärztin zu werden, kann sich aber auch einen anderen Beruf vorstellen. Sie verfolgt ihre Ausbildung sehr gewissenhaft und zielstrebig. Die Beschwerdeführerin trägt auf ihren eigenen Wunsch kein Kopftuch, kleidet sich modisch und schminkt sich. Sie geht alleine einkaufen, zum Arzt oder zum Deutschkurs, fährt alleine in die Schule oder mit dem Zug nach römisch 40 . Weiters trifft sie sich mit Freunden und besucht das Kino oder Konzerte. Die Beschwerdeführerin ist an der österreichischen Kultur und den Gebräuchen interessiert. Sie hat einen ökumenischen Schulgottesdienst sowie freiwillig regelmäßig den römisch-katholischen Religionsunterricht besucht und sie hat das Weihnachtsfest gefeiert. Der Bruder der Beschwerdeführerin unterstützt und fördert ihre Selbständigkeit.
Die persönliche Haltung der Beschwerdeführerin über die Lebensverhältnisse und die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zu Erwerbstätigkeit mehrheitlich unterworfen sind. Die Lebensweise der Beschwerdeführerin und ihres Bruders in Österreich sind überwiegend als "westlich", sohin an einem auf ein selbstbestimmtes Leben ausgerichteten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert, zu bezeichnen. Die von der konservativ-afghanischen Tradition geprägten Lebensumstände, welchen die Beschwerdeführerin im hypothetischen Fall eines Lebens in Afghanistan unterworfen wäre, stehen mit jenen, welche sie sich aus freiem Willen zu gestalten wünscht bzw bereits gestaltet hat, ganz offensichtlich in unüberwindbarem Gegensatz.
Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Es liegen keine Gründe vor, nach denen ein Ausschluss der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat. Solche Gründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.2.1. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Afghanistan (02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017; Auszüge)
1. Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen
KI vom 22.6.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan – Q2.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)
Den Vereinten Nationen zufolge war die Sicherheitslage in Afghanistan im Berichtszeitraum weiterhin volatil: zwischen 1.3. und 31.5.2017 wurden von den Vereinten Nationen 6.252 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert – eine Erhöhung von 2% gegenüber dem Vorjahreswert. Bewaffnete Zusammenstöße machten mit 64% den Großteil registrierter Vorfälle aus, während IEDs [Anm.:
improvised explosive device] 16% der Vorfälle ausmachten – gezielte Tötungen sind hingegen um 4% zurückgegangen. Die östlichen und südöstlichen Regionen zählten auch weiterhin zu den volatilsten; sicherheitsrelevante Vorfälle haben insbesondere in der östlichen Region um 22% gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Die Taliban haben hauptsächlich folgende Provinzen angegriffen: Badakhshan, Baghlan, Farah, Faryab, Helmand, Kunar, Kunduz, Laghman, Sar-e Pul, Zabul und Uruzgan. Talibanangriffe auf afghanische Sicherheitskräfte konnten durch internationale Unterstützung aus der Luft abgewiesen werden. Die Anzahl dieser Luftangriffe ist mit einem Plus von 112% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Jahres 2016 deutlich gestiegen (UN GASC 20.6.2017).
Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden in Afghanistan 11.647 sicherheitsrelevante Vorfälle von 1.1.-31.5.2017 registriert (Stand: 31.5.2017) (INSO o.D.).
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(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus INSO o.D.)
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(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus UNGASC 3.3.2017; UN GASC 7.3.2016)
ANDSF – afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte
Laut einem Bericht des amerikanischen Verteidigungsministeriums behielten die ANDSF, im Berichtszeitraum 1.12.2016-31.5.2017 trotz aufständischer Gruppierungen, auch weiterhin Kontrolle über große Bevölkerungszentren: Die ANDSF waren im Allgemeinen fähig große Bevölkerungszentren zu schützen, die Taliban davon abzuhalten gewisse Gebiete für einen längeren Zeitraum zu halten und auf Talibanangriffe zu reagieren. Die ANDSF konnten in städtischen Gebieten Siege für sich verbuchen, während die Taliban in gewissen ländlichen Gebieten Erfolge erzielen konnten, in denen die ANDSF keine dauernde Präsenz hatten. Spezialeinheiten der afghanischen Sicherheitskräfte (ASSF – Afghan Special Security Forces) leiteten effektiv offensive Befreiungsoperationen (US DOD 6.2017).
Bis Ende April 2017 lag die Truppenstärke der afghanischen Armee [ANA – Afghan National Army] bei 90,4% und die der afghanischen Nationalpolizei [ANP – Afghan National Police] bei 95,1% ihrer Sollstärke (UN GASC 20.6.2017).
High-profile Angriffe:
Als sichere Gebiete werden in der Regel die Hauptstadt Kabul und die regionalen Zentren Herat und Mazar-e Sharif genannt. Die Wahrscheinlichkeit, hier Opfer von Kampfhandlungen zu werden, ist relativ geringer als zum Beispiel in den stark umkämpften Provinzen Helmand, Nangarhar und Kunduz (DW 31.5.2017).
Hauptstadt Kabul
Kabul wird immer wieder von Attentaten erschüttert (DW 31.5.2017):
Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben und mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt als ein Selbstmordattentäter einen Sprengstoff beladenen Tanklaster mitten im Diplomatenviertel in die Luft sprengte (FAZ 6.6.2017; vergleiche auch:
al-Jazeera 31.5.2017; The Guardian 31.5.2017; BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Bedeutend ist der Angriffsort auch deswegen, da dieser als der sicherste und belebteste Teil der afghanischen Hauptstadt gilt. Kabul war in den Wochen vor diesem Anschlag relativ ruhig (al-Jazeera 31.5.2017).
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(The Guardian 31.5.2017) [Anm.: man beachte, dass die Opferzahlen in dieser Grafik, publiziert am Tag des Anschlags, noch überhöht angegeben wurden]
Zunächst übernahm keine Gruppe Verantwortung für diesen Angriff; ein Talibansprecher verlautbarte nicht für diesen Vorfall verantwortlich zu sein (al-Jazeera 31.5.2017). Der afghanische Geheimdienst (NDS) macht das Haqqani-Netzwerk für diesen Vorfall verantwortlich (The Guardian 2.6.2017; vergleiche auch: Fars News 7.6.2017); schlussendlich bekannte sich der Islamische Staat dazu (Fars News 7.6.2017).
Nach dem Anschlag im Diplomatenviertel in Kabul haben rund 1.000 Menschen, für mehr Sicherheit im Land und eine Verbesserung der Sicherheit in Kabul demonstriert (FAZ 2.6.2017). Bei dieser Demonstration kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften (The Guardian 2.6.2017); dabei wurden mindestens sieben Menschen getötet und zahlreiche verletzt (FAZ 2.6.2017).
Auf der Trauerfeier für einen getöteten Demonstranten– den Sohn des stellvertretenden Senatspräsidenten – kam es am 3.6.2017 erneut zu einem Angriff, bei dem mindestens 20 Menschen getötet und 119 weitere verletzt worden waren. Polizeiberichten zufolge, waren während des Begräbnisses drei Bomben in schneller Folge explodiert (FAZ 3.6.2017; vergleiche auch: The Guardian 3.6.2017); die Selbstmordattentäter waren als Trauergäste verkleidet (The Guardian 3.6.2017). Hochrangige Regierungsvertreter, unter anderem auch Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, hatten an der Trauerfeier teilgenommen (FAZ 3.6.2017; vergleiche auch: The Guardian 3.6.2017).
Herat
Anfang Juni 2017 explodierte eine Bombe beim Haupteingang der historischen Moschee Jama Masjid; bei diesem Vorfall wurden mindestens 7 Menschen getötet und 15 weitere verletzt (Reuters 6.6.2017; vergleiche auch: TMN 7.6.2017). Zu diesem Vorfall hat sich keine Terrrorgruppe bekannt (TMN 7.6.2017; vergleiche auch: US News 12.6.2017). Sirajuddin Haqqani – stellvertretender Leiter der Taliban und Führer des Haqqani Netzwerkes – verlautbarte, die Taliban wären für diese Angriffe in Kabul und Herat nicht verantwortlich (WP 12.6.2017).
Mazar-e Sharif
Auf der Militärbase Camp Shaheen in der nördlichen Stadt Mazar-e Sharif eröffnete Mitte Juni 2017 ein afghanischer Soldat das Feuer auf seine Kameraden und verletzte mindestens acht Soldaten (sieben US-amerikanische und einen afghanischen) (RFE/RL 17.6.2017).
Die Anzahl solcher "Insider-Angriffe" [Anm.: auch green-on-blue attack genannt] hat sich in den letzten Monaten erhöht. Unklar ist, ob die Angreifer abtrünnige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte sind oder ob sie Eindringlinge sind, die Uniformen der afghanischen Armee tragen (RFE/RL 17.6.2017). Vor dem Vorfall im Camp Shaheen kam es dieses Jahr zu zwei weiteren registrierten Insider-Angriffen: der erste Vorfall dieses Jahres fand Mitte März auf einem Militärstützpunkt in Helmand statt: ein Offizier des afghanischen Militärs eröffnete das Feuer und verletzte drei US-amerikanische Soldaten (LWJ 11.6.2017; vergleiche auch: al-Jazeera 11.6.2017).
Der zweite Vorfall fand am 10.6.2017 im Zuge einer militärischen Operation im Distrikt Achin in der Provinz Nangarhar statt, wo ein afghanischer Soldat drei US-amerikanische Soldaten tötete und einen weiteren verwundete; der Angreifer wurde bei diesem Vorfall ebenso getötet (BBC 10.6.21017; vergleiche auch: LWJ 11.6.2017; DZ 11.6.2017).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Afghanistan ist mit einer anhaltenden Bedrohung durch mehr als 20 aufständische Gruppen bzw terroristische Netzwerke, die in der AfPak-Region operieren, konfrontiert; zu diesen Gruppierungen zählen unter anderem die Taliban, das Haqqani Netzwerk, der Islamische Staat und al-Qaida (US DOD 6.2017).
Taliban
Die Fähigkeiten der Taliban und ihrer Operationen variieren regional signifikant; sie verwerten aber weiterhin ihre begrenzten Erfolge, indem sie diese auf sozialen Medien und durch Propagandakampagnen als strategische Siege bewerben (US DOD 6.2017).
Die Taliban haben ihre diesjährige Frühjahrsoffensive "Operation Mansouri" am 28. April 2017 eröffnet (UN GASC 20.6.2017; vergleiche auch:
BBC 7.5.2017). In einer Stellungnahme verlautbarten sie folgende Ziele: um die Anzahl ziviler Opfer zu minimieren, wollen sie sich auf militärische und politische Ziele konzentrieren, indem ausländische Kräfte in Afghanistan, sowie ihre afghanischen Partner angegriffen werden sollen. Nichtdestotrotz gab es bezüglich der Zahl ziviler Opfer keine signifikante Verbesserung (UN GASC 20.6.2017).
Während des Berichtszeitraumes der Vereinten Nationen gelang es den Taliban den strategischen Distrikt Zaybak/Zebak in der Provinz Badakhshan zu erobern (UN GASC 20.6.2017; vergleiche auch: Pajhwok 11.5.2017); die afghanischen Sicherheitskräfte konnten den Distrikt einige Wochen später zurückerobern (Pajhwok 11.5.2017). Kurzfristig wurden auch der Distrikt Sangin in Helmand, der Distrikt Qal‘ah-e Zal in Kunduz und der Distrikt Baha’ al-Din in Takhar von den Taliban eingenommen (UN GASC 20.6.2017).
Bei einer Friedens- und Sicherheitskonferenz in Kabul wurde unter anderem überlegt, wie die radikal-islamischen Taliban an den Verhandlungstisch geholt werden könnten (Tagesschau 6.6.2017).
Präsident Ghani verlautbarte mit den Taliban reden zu wollen:
sollten die Taliban dem Friedensprozess beiwohnen, so werde die afghanische Regierung ihnen erlauben ein Büro zu eröffnen; dies sei ihre letzte Chance (WP 6.6.2017).
IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh
Der IS-Zweig in Afghanistan – teilweise bekannt als IS Khorasan – ist seit dem Jahr 2015 aktiv; er kämpft gegen die Taliban, sowie gegen die afghanischen und US-amerikanischen Kräfte (Dawn 7.5.2017; vergleiche auch: DZ 14.6.2017). Der IS hat trotz verstärkter Militäroperationen, eine Präsenz in der Provinz Nangarhar (UN GASC 20.6.2017; vergleiche auch: DZ 14.6.2017).
Mehreren Quellen zufolge, eroberte der IS Mitte Juni 2017 die strategisch wichtige Festung der Taliban Tora Bora; bekannt als Zufluchtsort bin-Ladens. Die Taliban negieren den Sieg des IS und verlautbarten die Kämpfe würden anhalten (DZ 14.6.2017; vergleiche auch:
NYT 14.6.2017; IBT 14.6.2017). Lokale Stammesälteste bestätigten hingen den Rückzug der Taliban aus großen Teilen Tora Boras (Dawn 16.6.2017).
Quellen:
2. Sicherheitslage
Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädten und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie z.B. Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.1.2017).
In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie z.B. in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint, Einzelberichten zufolge, auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.2.2017).
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(INSO 2017).
INSO beziffert die Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2016 mit 28.838 (INSO 2017).
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| 1.12.2015 - 15.2.2016 | 16.2.2016 - 19.5.2016 | 20.5.2016 - 15.8.2016 | 16.8.2016 - 17.11.2016 | 1.12.2015 - 17.11.2016 |
sicherheitsrelevante Vorfälle | 4.014 | 6.122 | 5.996 | 6.261 | 22.393 |
Bewaffnete Zusammenstöße | 2.248 | 3.918 | 3.753 | 4.069 | 13.988 |
Vorfälle mit IED¿s | 770 | 1.065 | 1.037 | 1.126 | 3.998 |
gezielte Tötungen | 154 | 163 | 268 | 183 | 768 |
Selbstmordattentate | 20 | 15 | 17 | 19 | 71 |
(UN GASC 13.12.2016; UN GASC
7.9.2016; UNGASC10.6.2016; UN GASC 7.3.2016; Darstellung durch die Staatendokumentation des BFA )
Mit Stand September 2016, schätzen Unterstützungsmission der NATO, dass die Taliban rund 10% der Bevölkerung beeinflussen oder kontrollieren. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren, und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung, und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (USDOD 12.2016). Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht (SIGAR 30.1.2017).
Einem Bericht des U.S. amerikanischen Pentagons zufolge haben die afghanischen Sicherheitskräfte Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften (USDOD 12.2016). Laut Innenministerium wurden im Jahr 2016 im Zuge von militärischen Operationen – ausgeführt durch die Polizei und das Militär – landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen (VOA 5.1.2017).
Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.8. – 17.11.2016) (UN GASC 13.12.2016; vergleiche auch: SCR 30.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln, und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern (USDOD 12.2016).
Kontrolle von Distrikten und Regionen
Den Aufständischen misslangen acht Versuche, die Provinzhauptstadt einzunehmen; den Rebellen war es möglich, Territorium einzunehmen. High-profile Angriffe hielten an. Im vierten Quartal 2016 waren 2,5 Millionen Menschen unter direktem Einfluss der Taliban, während es im 3. Quartal noch 2,9 Millionen waren (SIGAR 30.1.2017).
Laut einem Sicherheitsbericht für das vierte Quartal, sind 57,2% der 407 Distrikte unter Regierungskontrolle bzw -einfluss; dies deutet einen Rückgang von 6,2% gegenüber dem dritten Quartal: zu jenem Zeitpunkt waren 233 Distrikte unter Regierungskontrolle, 51 Distrikte waren unter Kontrolle der Rebellen und 133 Distrikte waren umkämpft. Provinzen, mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Rebelleneinfluss oder -kontrolle waren: Uruzgan mit 5 von 6 Distrikten, und Helmand mit 8 von 14 Distrikten. Regionen, in denen Rebellen den größten Einfluss oder Kontrolle haben, konzentrieren sich auf den Nordosten in Helmand, Nordwesten von Kandahar und die Grenzregion der beiden Provinzen (Kandahar und Helmand), sowie Uruzgan und das nordwestliche Zabul (SIGAR 30.1.2017).
Rebellengruppen
Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin durch Bedrohungen, Entführungen und gezielten Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32% gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015 (UN GASC 13.12.2016). Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des Haqqani Netzwerkes, behielten ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium (USDOD 12.2016).
Afghanistan ist mit einer Bedrohung durch militante Opposition und extremistischen Netzwerken konfrontiert; zu diesen zählen die Taliban, das Haqqani Netzwerk, und in geringerem Maße al-Qaida und andere Rebellengruppen und extremistische Gruppierungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen eine von Afghanen geführte und ausgehandelte Konfliktresolution in Afghanistan - gemeinsam mit internationalen Partnern sollen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen politischen Vergleich zwischen afghanischer Regierung und Rebellengruppen geschaffen werden (USDOD 12.2016).
Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihren Familien kaum an die Öffentlichkeit (AA 9.2016).
Taliban und ihre Offensive
Die afghanischen Sicherheitskräfte behielten die Kontrolle über große Ballungsräume und reagierten rasch auf jegliche Gebietsgewinne der Taliban (USDOD 12.2016). Die Taliban erhöhten das Operationstempo im Herbst 2016, indem sie Druck auf die Provinzhauptstädte von Helmand, Uruzgan, Farah und Kunduz ausübten, sowie die Regierungskontrolle in Schlüsseldistrikten beeinträchtigten und versuchten, Versorgungsrouten zu unterbrechen (UN GASC 13.12.2016). Die Taliban verweigern einen politischen Dialog mit der Regierung (SCR 12.2016).
Die Taliban haben die Ziele ihrer Offensive "Operation Omari" im Jahr 2016 verfehlt (USDOD 12.2016). Ihr Ziel waren großangelegte Offensiven gegen Regierungsstützpunkte, unterstützt durch Selbstmordattentate und Angriffe von Aufständischen, um die vom Westen unterstütze Regierung zu vertreiben (Reuters 12.4.2016). Gebietsgewinne der Taliban waren nicht dauerhaft, nachdem die ANDSF immer wieder die Distriktzentren und Bevölkerungsgegenden innerhalb eines Tages zurückerobern konnte. Die Taliban haben ihre lokalen und temporären Erfolge ausgenutzt, indem sie diese als große strategische Veränderungen in sozialen Medien und in anderen öffentlichen Informationskampagnen verlautbarten (USDOD12.2016). Zusätzlich zum bewaffneten Konflikt zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban kämpften die Taliban gegen den ISIL-KP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan) (UN GASC 13.12.2016).
Der derzeitig Talibanführer Mullah Haibatullah Akhundzada hat im Jänner 2017 16 Schattengouverneure in Afghanistan ersetzt, um seinen Einfluss über den Aufstand zu stärken. Aufgrund interner Unstimmigkeiten und Überläufern zu feindlichen Gruppierungen, wie dem Islamischen Staat, waren die afghanischen Taliban geschwächt. hochrangige Quellen der Taliban waren der Meinung, die neu ernannten Gouverneure würden den Talibanführer stärken, dennoch gab es keine Veränderung in Helmand. Die südliche Provinz – größtenteils unter Talibankontrolle – liefert der Gruppe den Großteil der finanziellen Unterstützung durch Opium. Behauptet wird, Akhundzada hätte nicht den gleichen Einfluss über Helmand, wie einst Mansour (Reuters 27.1.2017).
Im Mai 2016 wurde der Talibanführer Mullah Akhtar Mohammad Mansour durch eine US-Drohne in der Provinz Balochistan in Pakistan getötet (BBC News 22.5.2016; vergleiche auch: The National 13.1.2017). Zum Nachfolger wurde Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt - ein ehemaliger islamischer Rechtsgelehrter - der bis zu diesem Zeitpunkt als einer der Stellvertreter diente (Reuters 25.5.2016; vergleiche auch:
The National 13.1.2017). Dieser ernannte als Stellvertreter Sirajuddin Haqqani, den Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (The National 13.1.2017) und Mullah Yaqoub, Sohn des Talibangründers Mullah Omar (DW 25.5.2016).
Haqqani-Netzwerk
Das Haqqani-Netzwerk ist eine sunnitische Rebellengruppe, die durch Jalaluddin Haqqani gegründet wurde. Sirajuddin Haqqani, Sohn des Jalaluddin, führt das Tagesgeschäft, gemeinsam mit seinen engsten Verwandten (NCTC o.D.). Sirajuddin Haqqani, wurde zum Stellvertreter des Talibanführers Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt (The National 13.1.2017).
Das Netzwerk ist ein Verbündeter der Taliban – dennoch ist es kein Teil der Kernbewegung (CRS 26.5.2016). Das Netzwerk ist mit anderen terroristischen Organisationen in der Region, inklusive al-Qaida und den Taliban, verbündet (Khaama Press 16.10.2014). Die Stärke des Haqqani-Netzwerks wird auf 3.000 Kämpfer geschätzt (CRS 12.1.2017). Das Netzwerk ist hauptsächlich in Nordwaziristan (Pakistan) zu verorten und führt grenzübergreifende Operationen nach Ostafghanistan und Kabul durch (NCTC o.D.).
Das Haqqani-Netzwerk ist fähig - speziell in der Stadt Kabul - Operationen durchzuführen; finanziert sich durch legale und illegale Geschäfte in den Gegenden Afghanistans, in denen es eine Präsenz hat, aber auch in Pakistan und im Persischen Golf. Das Netzwerk führt vermehrt Entführungen aus – wahrscheinlich um sich zu finanzieren und seine Wichtigkeit zu stärken (CRS 12.1.2017).
Kommandanten des Haqqani Netzwerk sagten zu Journalist/innen, das Netzwerk sei bereit eine politische Vereinbarung mit der afghanischen Regierung zu treffen, sofern sich die Taliban dazu entschließen würden, eine solche Vereinbarung einzugehen (CRS 12.1.2017).
Al-Qaida
Laut US-amerikanischen Beamten war die Präsenz von al-Qaida in den Jahren 2001 bis 2015 minimal (weniger als 100 Kämpfer); al-Qaida fungierte als Unterstützer für Rebellengruppen (CRS 12.1.2017). Im Jahr 2015 entdeckten und zerstörten die afghanischen Sicherheitskräfte gemeinsam mit US-Spezialkräften ein Kamp der al-Quaida in der Provinz Kandahar (CRS 12.1.2017; vergleiche auch: FP 2.11.2015); dabei wurden 160 Kämpfer getötet (FP 2.11.2015). Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass al-Qaida die Präsenz in Afghanistan vergrößert hat. US-amerikanische Kommandanten bezifferten die Zahl der Kämpfer in Afghanistan mit 100-300, während die afghanischen Behörden die Zahl der Kämpfer auf 300-500 schätzten (CRS 12.1.2017). Im Dezember 2015 wurde berichtet, dass al-Qaida sich primär auf den Osten und Nordosten konzertierte und nicht wie ursprünglich von US-amerikanischer Seite angenommen, nur auf Nordostafghanistan (LWJ 16.4.2016).
Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG)
Nach zweijährigen Verhandlungen (Die Zeit 22.9.2016), unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das der Hezb-e Islami Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtet sich die Gruppe alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Einen Tag nach Unterzeichnung des Friedensabkommen zwischen der Hezb-e Islami und der Regierung, erklärte erstere in einer Stellungnahme eine Waffenruhe (The Express Tribune 30.9.2016). Das Abkommen beinhaltet unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, int. Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Sobald internationale Sanktionen aufgehoben sind, wird von Hekmatyar erwartet, nach 20 Jahren aus dem Exil nach Afghanistan zurückkehren. Im Jahr 2003 war Hekmatyar von den USA zum "internationalen Terroristen" erklärt worden (NYT 29.9.2016). Schlussendlich wurden im Februar 2017 die Sanktionen gegen Hekmatyar von den Vereinten Nationen aufgehoben (BBC News 4.2.2017).
IS/ISIS/ISIL/ISKP/ISIL-K/Daesh – Islamischer Staat
Seit dem Jahr 2014 hat die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) eine kleine Präsenz in Afghanistan etabliert (RAND 28.11.2016). Die Führer des IS nennen diese Provinz Wilayat Khorasan - in Anlehnung an die historische Region, die Teile des Irans, Zentralasien, Afghanistan und Pakistan beinhaltete (RAND 28.11.2016; vergleiche auch: MEI 5.2016). Anfangs wuchs der IS schnell (MEI 5.2016). Der IS trat im Jahr 2014 in zwei getrennten Regionen in Afghanistan auf: in den östlichsten Regionen Nangarhars, an der AfPak-Grenze und im Distrikt Kajaki in der Provinz Helmand (USIP 3.11.2016).
Trotz Bemühungen, seine Macht und seinen Einfluss in der Region zu vergrößern, kontrolliert der IS nahezu kein Territorium außer kleineren Gegenden wie z.B. die Distrikte Deh Bala, Achin und Naziyan in der östlichen Provinz Nangarhar (RAND 28.11.2016; vergleiche auch: USIP 3.11.2016). Zwar kämpfte der IS hart in Afghanistan, um Fuß zu fassen. Die Gruppe wird von den Ansässigen jedoch Großteils als fremde Kraft gesehen (MEI 5.2016). Nur eine Handvoll Angriffe führte der IS in der Region durch. Es gelang ihm nicht, sich die Unterstützung der Ansässigen zu sichern; auch hatte er mit schwacher Führung zu kämpfen (RAND 28.11.2016). Der IS hatte mit Verlusten zu kämpfen (MEI 5.2016). Unterstützt von internationalen Militärkräften, führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch – dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).
Auch wenn die Gruppierung weiterhin interne Streitigkeiten der Taliban ausnützt, um die Präsenz zu halten, ist sie mit einem harten Kampf konfrontiert, um permanenter Bestandteil komplexer afghanischer Stammes- und Militärstrukturen zu werden. Anhaltender Druck durch US-amerikanische Luftangriffe haben weiterhin die Möglichkeiten des IS in Afghanistan untergraben; auch wird der IS weiterhin davon abgehalten, seinen eigenen Bereich in Afghanistan einzunehmen (MEI 5.2016). Laut US-amerikanischem Außenministerium hat der IS keinen sicherheitsrelevanten Einfluss außerhalb von isolierten Provinzen in Ostafghanistan (SIGAR 30.1.2017).
Unterstützt von internationalen Militärkräften, führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch – dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).
Presseberichten zufolge betrachtet die afghanische Bevölkerung die Talibanpraktiken als moderat im Gegensatz zu den brutalen Praktiken des IS. Kämpfer der Taliban und des IS gerieten, aufgrund politischer oder anderer Differenzen, aber auch aufgrund der Kontrolle von Territorium, aneinander (CRS 12.1.2017).
Drogenanbau und Gegenmaßnahmen
Einkünfte aus dem Drogenschmuggel versorgen auch weiterhin den Aufstand und kriminelle Netzwerke (USDOD 12.2016). Laut einem Bericht des afghanischen Drogenbekämpfungsministeriums, vergrößerte sich die Anbaufläche für Opium um 10% im Jahr 2016 auf etwa 201.000 Hektar. Speziell in Nordafghanistan und in der Provinz Badghis, verstärkte sich der Anbau: Blaumohn wächst in 21 der 34 Provinzen, im Vergleich zum Jahr 2015, wo nur 20 Provinzen betroffen waren. Seit dem Jahr 2008 wurde zum ersten Mal von Opiumanbau in der Provinz Jawzjan berichtet. Helmand bleibt mit 80.273 Hektar (40%) auch weiterhin Hauptanbauprovinz, gefolgt von Badghis, Kandahar und der Provinz Uruzgan. Die potentielle Opiumproduktion im Jahr 2016 macht insgesamt 4.800 Tonnen aus – eine Steigerung von 43% (3.300 Tonnen) im Gegensatz zum Jahr 2015. Die hohe Produktionsrate kann einer Steigerung des Opiumertrags pro Hektar und eingeschränkter Beseitigungsbemühungen, aufgrund von finanziellen und sicherheitsrelevanten Ressourcen, zugeschrieben werden. Hauptsächlich erhöhten sich die Erträge aufgrund von vorteilhaften Bedingungen, wie z.B. des Wetters und nicht vorhandener Pflanzenkrankheiten (UN GASC 17.12.2016).
Zivile Opfer
Die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) dokumentiert weiterhin regierungsfeindliche Elemente, die illegale und willkürliche Angriffe gegen Zivilist/innen ausführen (UNAMA 10.2016). Zwischen 1.1. und 31.12.2016 registrierte UNAMA 11.418 zivile Opfer (3.498 Tote und 7.920 Verletzte) – dies deutet einen Rückgang von 2% bei Getöteten und eine Erhöhung um 6% bei Verletzten im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Jahres 2015 an. Bodenkonfrontation waren weiterhin die Hauptursache für zivile Opfer, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attentaten, sowie unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung (IED), und gezielter und willkürlicher Tötungen (UNAMA 6.2.2017).
UNAMA verzeichnete 3.512 minderjährige Opfer (923 Kinder starben und 2.589 wurden verletzt) – eine Erhöhung von 24% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres; die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn. Hauptursache waren Munitionsrückstände, deren Opfer meist Kinder waren. Im Jahr 2016 wurden 1.218 weibliche Opfer registriert (341 Tote und 877 Verletzte), dies deutet einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vorjahr an (UNAMA 6.2.2017).
Hauptsächlich waren die südlichen Regionen von dem bewaffneten Konflikt betroffen: 2.989 zivilen Opfern (1.056 Tote und 1.933 Verletzte) - eine Erhöhung von 17% gegenüber dem Jahr 2015. In den zentralen Regionen wurde die zweithöchste Rate an zivilen Opfern registriert: 2.348 zivile Opfer (534 Tote und 1.814 Verletzte) - eine Erhöhung von 34% gegenüber dem Vorjahreswert, aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Angriffe auf die Stadt Kabul. Die östlichen und nordöstlichen Regionen verzeichneten einen Rückgang bei zivilen Opfern: 1.595 zivile Opfer (433 Tote und 1.162 Verletzte) im Osten und 1.270 zivile Opfer (382 Tote und 888 Verletzte) in den nordöstlichen Regionen. Im Norden des Landes wurden 1.362 zivile Opfer registriert (384 Tote und 978 Verletzte), sowie in den südöstlichen Regionen 903 zivile Opfer (340 Tote und 563 Verletzte). Im Westen wurden 836 zivile Opfer (344 Tote und 492 Verletzte) und 115 zivile Opfer (25 Tote und 90 Verletzte) im zentralen Hochgebirge registriert (UNAMA 6.2.2017).
Laut UNAMA waren 61% aller zivilen Opfer regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreiben (hauptsächlich Taliban), 24% regierungsfreundlichen Kräften (20% den afghanischen Sicherheitskräften, 2% bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppen und 2% internationalen militärischen Kräften); Bodenkämpfen zwischen regierungsfreundlichen Kräften und regierungsfeindlichen Kräften waren Ursache für 10% ziviler Opfer, während 5% der zivilen Opfer vorwiegend durch Unfälle mit Munitionsrückständen bedingt waren (UNAMA 6.2.2017).
Mitarbeiter/innen internationaler Organisationen und der US-Streitkräfte
Die Taliban greifen weiterhin Mitarbeiter/innen lokaler Hilfsorganisationen und internationaler Organisationen an – nichtsdestotrotz sind der Ruf der Organisationen innerhalb der Gemeinschaft und deren politischer Einfluss ausschlaggebend, ob ihre Mitarbeiter/innen Problemen ausgesetzt sein werden. Dieser Quelle zufolge, sind Mitarbeiter/innen von NGOs Einschüchterungen der Taliban ausgesetzt. Einer anderen Quelle zufolge kam es im Jahr 2015 nur selten zu Vorfällen, in denen NGOs direkt angegriffen wurden (IRBC 22.2.2016). Angriffe auf Mitarbeiter/innen internationaler Organisationen wurden in den letzten Jahren registriert; unter anderem wurden im Februar 2017 sechs Mitarbeiter/innen des Int. Roten Kreuzes in der Provinz Jawzjan von Aufständischen angegriffen und getötet (BBC News 9.2.2017); im April 2015 wurden 5 Mitarbeiter/innen von "Save the Children" in der Provinz Uruzgan entführt und getötet (The Guardian 11.4.2015).
Die norwegische COI-Einheit Landinfo berichtet im September 2015, dass zuverlässige Berichte über konfliktbezogene Gewalt gegen Afghanen im aktiven Dienst für internationale Organisationen vorliegen. Andererseits konnte nur eine eingeschränkte Berichtslage bezüglich konfliktbezogener Gewalt gegen ehemalige Übersetzer, Informanten oder andere Gruppen lokaler Angestellter ziviler oder militärischer Organisationen festgestellt werden (Landinfo 9.9.2015). Ferner werden reine Übersetzerdienste, die auch geheime Dokumente umfassen, meist von US-Staatsbürgern mit lokalen Wurzeln durchgeführt, da diese eine Sicherheitszertifizierung benötigen (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).
Grundsätzlich sind Anfeindungen gegen afghanische Angestellte der US-Streitkräfte üblich, da diese im Vergleich zu ihren Mitbürger/innen verhältnismäßig viel verdienen. Im Allgemeinen hält sich das aber in Grenzen, da der wirtschaftliche Nutzen für die gesamte Region zu wichtig ist. Tätliche Übergriffe kommen vor, sind aber nicht nur auf ein Arbeitsverhältnis bei den internationalen Truppen zurückzuführen. Des Weiteren bekommen afghanische Angestellte bei den internationalen Streitkräften Uniformen oder Dienstbekleidung, Verpflegung und Zugang zu medizinischer Versorgung nach westlichem Standard. Es handelt sich somit meist um Missgunst. Das Argument der Gefahr im Beruf für lokale Dolmetscher wurde von den US-Streitkräften im Bereich der SOF (Special Operation Forces), die sehr sensible Aufgaben durchführen, dadurch behoben, dass diesen Mitarbeitern nach einer gewissen Zeit die Mitnahme in die USA angeboten wurde. Dieses Vorgehen wurde von einer militärischen Quelle aus Deutschland bestätigt (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).
Quellen:
2.1. Sicherheitslage in Baghlan
Baghlan liegt in Nordostafghanistan und wird als eine der industriellen Provinzen Afghanistans gesehen. Sie ist von strategischer Bedeutung, da sie an sieben weitere Provinzen, inklusive Kabul, grenzt. Baghlan hat folgende administrative Bezirke, inklusive der Provinzhauptstadt Puli Khumri: Kinjan, Dushi, Banu, Dih Salah, Puli Hisar, Jilgah, Khost, Talawa Barfak, Farang, Guzargah-a-Noor, Nahrin, Burkah und Dahana-i-Ghori. Im Nordosten grenzt sie an die Provinzen Panjsher, Takhar und Kunduz, im Westen an Samangan und Bamyan, im Süden grenzt sie an die Provinz Parwan (Pajhwok o.D.h). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 926.969 geschätzt (CSO 2016).
Gewalt gegen Einzelpersonen | 31 |
Bewaffnete Konfrontationen und Luftangriffe | 174 |
Selbstmordattentate, IED-Explosionen und andere Explosionen | 65 |
Wirksame Einsätze von Sicherheitskräften | 71 |
Vorfälle ohne Bezug auf den Konflikt | 12 |
Andere Vorfälle | 1 |
Insgesamt | 354 |
Im Zeitraum 1.1. –
31.8.2015 wurden in der Provinz Baghlan 354 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 21.1.2016).
Baghlan zählt zu den relativ volatilen Provinzen Nordafghanistans; die Taliban sind in einer Anzahl von abgelegenen Bezirken aktiv (Khaama Press 5.9.2016). In den letzten Monaten war die einst relativ friedliche Region - die Provinzen Baghlan, Kunduz und Takhar - von heftigen Zusammenstößen zwischen Taliban und Regierungskräften betroffen (Khaama Press 24.1.2017; Khaama Press 15.5.2016; Global Times China 15.1.2017; vergleiche auch: News Ghana 30.1.2017).
In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien (Khaama Press 18.1.2017; Khaama Press 10.1.2017; Pajhwok 9.1.2017; Khaama Press 8.1.2017; Khaama Press 5.1.2016; Bakhtar News 22.8.2016). Bei diesen Militäroperationen hatten Aufständische Verluste zu verzeichnen (Pajhwok 9.1.2017; Bakhtar News 22.8.2016). In manchen Fällen wurden Talibankommandanten getötet (Tolonews 23.12.2016; Pajhwok 23.12.2016; Khaama Press 5.1.2016; Independent 27.2.2016).
Quellen:
2.2. Sicherheitslage in Helmand
Die Provinz Helmand hat eine Fläche von 36.402 km2 und ist damit die größte Provinz Afghanistans (The Diplomat 31.5.2016). Helmand hat, inklusive der Hauptstadt Lashkargah City, folgende administrative Einheiten: Nadali, Marja, Garmsir, Khanshin, Disho, Nava, Greshk, Sangin, Kajaki, Musa Qala, Baghran, Noorzad und Washir. Im Osten grenzt sie an die Provinz Kandahar, im Norden an Uruzgan, Daikundi und Ghor; im Westen grenzt sie an die Provinzen Farah und Nimroz, während sie im Osten 162 km an die Durandlinie grenzt (Pajhwok o. D.ab). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 940.237 geschätzt (CSO 2016).
Helmand ist eine der landwirtschaftlich fruchtbarsten Provinzen Afghanistans. Der Fluss Helmand fließt in einem relativ gut organisierten Kanalsystem durch die Provinz und bewässert somit Agrarflächen. Das Klima eignet sich zum Anbau eines großen Spektrums an Kulturen, so auch Opium, welches in hohem Maße die Finanzen der Taliban stützt (The Diplomat 31.5.2016).
Gewalt gegen Einzelpersonen | 28 |
Bewaffnete Konfrontationen und Luftangriffe | 1.598 |
Selbstmordattentate, IED-Explosionen und andere Explosionen | 108 |
Wirksame Einsätze von Sicherheitskräften | 89 |
Vorfälle ohne Bezug auf den Konflikt | 1 |
Andere Vorfälle | 4 |
Insgesamt | 1.828 |
Im Zeitraum 1.9.2015 – 31.5.2016 wurden in der Provinz Helmand 1.828 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (EASO 11.2016).
Im Jahr 2016 versuchten die Taliban einige Provinzhauptstädte einzunehmen, unter anderem auch in Helmand (Hindustan Times 8.1.2017). Die Taliban erhöhten das Operationstempo im Herbst, indem sie Druck auf die Provinzhauptstädte von Helmand, Uruzgan, Farah und Kunduz ausübten, sowie die Regierungskontrolle in Schlüsseldistrikten herausforderten und versuchten, Versorgungsrouten zu unterbrechen (UN GASC 13.12.2016; vergleiche auch:
Stars and Stripes 14.1.2017). Helmand zählt zu den volatilen Provinzen in Südafghanistan, in welcher Talibanaufständische in verschieden Distrikten operieren und öfters Angriffe durchführen (Khaama Press 4.2.2017; Ariana News 16.2.2017; Pajhwok 14.1.2016; Pajhwok 14.12.2016). Um der jährlichen Frühlingsoffensive der Taliban standzuhalten (Al-Jazeera 7.1.2017), sollen im Frühjahr 300 US-amerikanische Soldaten nach Helmand entsendet werden (Stars and Stripes 14.1.2017).
Im Jänner 2017 wurden weiterhin militärische Aktivitäten gegen die Taliban durchgeführt mit einem speziellen Fokus auf die Provinz Helmand – dort bekamen die afghanischen Sicherheitskräfte Luftunterstützung von den US-Amerikanern (ICT 7.2.2017). In der Provinz werden regelmäßig militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien (Sputnik News 4.2.2017; Xinhua 21.11.2016; Khaama Press 10.1.2016; Xinhua 3.1.2016; Xinhua 21.12.2015; Xinhua 18.11.2015; Pajhwok 21.10.2016; Tolonews 19.5.2015, Tolonews 25.5.2015; Tolonews 31.7.2015; Pajhwok 19.6.2015; Afghanistan Times 25.8.2016); unter anderem in Form von Luftangriffen (Pajhwok 11.2.2017; Khaama Press 7.2.2017); Taliban wurden getötet (Sputnik News 4.2.2017; RFE/RL 24.12.2016; Xinhua 17.11.2017); unter anderem auch Taliban-Kommandanten (Khaama Press 7.2.2017; Khaama Press 15.1.2017). In der Provinz kommt es zu Zusammenstößen zwischen Taliban und Sicherheitskräften (Khaama Press 31.1.2017; Xinhua 20.5.2016).
Quellen:
3. Frauen
Jahrzehntelanger Kampf gegen patriarchale und frauenfeindliche Normen, führte zu einer Sensibilisierung in Bezug auf Frauen und ihrer Rechte. Allmählich entwickelt sich die Rolle von Frauen in politischen und wirtschaftlichen Bereichen (AF 7.12.2016). Die Situation der Frauen hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert; die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft bleibt schwierig. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016).
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (Max Planck Institut 27.1.2004). Ein Meilenstein in dieser Hinsicht war die Errichtung des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MoWA) im Jahr 2001 (BFA Staatendokumentation 3.2014).
Bildung
Afghanistan ist eine Erfolgsgeschichte in der Verbesserung des Zugangs zu Bildung – auch für Mädchen (Education for Development 7.7.2015). Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.2014).
Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben. Laut Artikel 4 des afghanischen Bildungsgesetzes ist mittlere (elementare) Bildung in Afghanistan verpflichtend. Artikel 43 der afghanischen Verfassung besagt, dass alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung haben (SIGAR 4.2016; vergleiche auch: Max Planck Institut 27.1.2004).
Seit dem Jahr 2000 hat sich die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen von 2,5 Jahren auf 9,3 Jahre erhöht (AF 2015). Das afghanische Bildungsministerium errichtete gemeinsam mit USAID und anderen Gebern, mehr als 16.000 Schulen; rekrutierte und bildete mehr als 154.000 Lehrerinnen und Lehrer aus, und erhöhte die Zahl der Schuleinschreibungen um mehr als 60%. Das Bildungsministerium gibt die Zahl der Schüler/innen mit ca. 9 Millionen an, davon sind etwa 40% Mädchen. Frauen und Mädchen gehen öfter zu Schule wenn sie keine langen Distanzen zurücklegen müssen. USAID hat 84.000 afghanische Mädchen dabei unterstützt Schulen innerhalb ihrer Gemeinden besuchen zu können, damit sich nicht durch teilweise gefährliche Gegenden pendeln müssen (USAID 19.12.2016).
Laut dem afghanischen Statistikbüro, gab es landesweit 15.645 Schulen, 9.184.494 Schüler/innen, davon waren 362.906 weiblich. Diese Zahlen beinhalten alle Schultypen, dazu zählen Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren, etc. Die Zahl der Schülerinnen hat sich im Zeitraum 2015-2016 zum Vergleichszeitraum 2014 – 2015 um 2,2% erhöht. Die Gesamtzahl der Lehrer/innen betrug 199.509, davon waren
63.911 Frauen (CSO 2016).
Frauenuniversität in Kabul
Seit dem Jahr 2008 hat sich die Studierendenzahl in Afghanistan um 50% erhöht. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (The Economist 13.8.2016; vergleiche auch:
MORAA 31.5.2016).
Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (Khaama Press 18.10.2015; vergleiche auch:
University Herold 18.10.2015); im ersten Lehrgang waren 28 Student/innen eingeschrieben, wovon 10 Männer waren (University Herold 18.10.2015).
Berufstätigkeit
Für viele Frauen ist es noch immer sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben (AA 9.2016). Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung (AA 9.2016; vergleiche auch: USDOS 13.4.2016).
Bemerkenswert ist die Steigerung jener Afghan/innen, die der Meinung sind, Frauen sollen sich bilden und außerhalb des Heimes arbeiten dürfen. Bei einer Befragung gaben 81% der Befragten an, Männer und Frauen sollten gleiche Bildungschancen haben (The Diplomat 9.12.2016; vergleiche auch: AF 7.12.2016).
Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig verbessert und betrug im Jahr 2016 19%. Rund 64% der Afghan/innen befürworteten Frauen außerhalb ihres Heimes arbeiten zu dürfen. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen: Einschränkungen, Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UN Women 2016). Die Alphabetisierungsrate bei Frauen in Afghanistan liegt durchschnittlich bei 17%, in manchen Provinzen sogar unter 2% (UN Women 2016; vergleiche auch: UNESCO Institute for statistics o.D.). In der Altersklasse der 15 - 24 jährigen betrug die Alphabetisierungsrate im Jahr 2015 bei Frauen 46,11%, bei den über 65-jährigen 4,33% (UNESCO Institute for statistics o.D.).
Viele Frauen haben sich in bedeutenden Positionen in den verschiedenen Bereichen von nationaler Wichtigkeit entwickelt, dazu zählen Politik, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Der Raum für weibliche Führungskräfte bleibt eingeschränkt, von Gebern abhängig und ist hauptsächlich in den Städten vertreten. Frauen sind im Privatsektor unterrepräsentiert und haben keine aktive Rolle in der Wirtschaftsproduktion. Unsicherheit, Belästigung, Immobilität, religiöser Extremismus und Korruption sind verbreitet. Begriffe wie zum Beispiel Geschlechtergleichstellung werden weiterhin missverstanden. Frauen in Führungspositionen werden als symbolisch betrachtet, werden politisch mangelhaft unterstützt, haben schwach ausgebildete Entscheidungs- und Durchsetzungskompetenzen und mangelnden Zugang zu personellen und finanziellen Mitteln (USIP 9.2015). Frauen sind im Arbeitsleben mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert, etwa Verwandte, die verlangen sie sollen zu Hause bleiben; oder Einstellungsverfahren, die Männer bevorzugten. Jene die arbeiteten, berichteten von sexueller Belästigung, fehlenden Transport- und Kinderbetreuungsmöglichkeiten; Benachteiligungen bei Lohnauszahlungen existieren im Privatsektor. Journalistinnen, Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen berichteten von, Drohungen und Misshandlungen (USDOS 13.4.2016).
Frauen machen 30% der Medienmitarbeiter/innen aus. Teilweise leiten Frauen landesweit Radiostationen – manche Radiostationen setzten sich ausschließlich mit Frauenangelegenheiten auseinander. Nichtsdestotrotz, finden Reporterinnen es schwierig ihren Job auszuüben. Unsicherheit, fehlende Ausbildung und unsichere Arbeitsbedingungen schränken die Teilhabe von Frauen in den Medien weiterhin ein (USDOS 13.4.2016).
Frauen im öffentlichen Dienst
Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vergleiche auch: USDOS 13.4.2016). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Die von Präsident Ghani bewirkten Wahlreformen sehen zudem Frauenquoten von 25% der Sitze für Provinz- und Distriktratswahlen vor; zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Independent Election Commission) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung hat derzeit vier Ministerinnen (von insgesamt 25 Ministern) (AA 9.2016). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UN Women 2016). Frauen in hochrangigen Regierungspositionen waren weiterhin Opfer von Drohungen und Gewalt (USDOS 13.4.2016).
Das Netzwerk von Frauenrechtsaktivistinnen "Afghan Women‘s Network" berichtet von Behinderungen der Arbeit seiner Mitglieder bis hin zu Bedrohungen und Übergriffen, teilweise von sehr konservativen und religiösen Kreisen (AA 9.2016).
Frauen in den afghanischen Sicherheitskräften
Polizei und Militär sind Bereiche, in denen die Arbeit von Frauen besonders die traditionellen Geschlechterrollen Afghanistans herausfordert. Der Fall des Taliban-Regimes brachte, wenn auch geringer als zu Beginn erwartet, wesentliche Änderungen für Frauen mit sich. So begannen Frauen etwa wieder zu arbeiten (BFA Staatendokumentation 26.3.2014). Im Jahr 2016 haben mehr Frauen denn je die Militärschule und die Polizeiakademie absolviert (AF 7.12.2016). Das Innenministerium bemüht sich um die Einstellung von mehr Polizistinnen, allerdings wird gerade im Sicherheitssektor immer wieder über Gewalt gegen Frauen berichtet. Die afghanische Regierung hat sich bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen ehrgeizige Ziele gesetzt und plant u.a. in der ersten Jahreshälfte 2016 ein Anti-Diskriminierungspaket für Frauen im öffentlichen Sektor zu verabschieden. Dieses ist allerdings bisher noch nicht geschehen (AA 9.2016). 2.834 Polizistinnen sind derzeit bei der Polizei, dies beinhaltete auch jene die in Ausbildung sind (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: Sputnik News 14.6.2016). Laut Verteidigungsministerium werden derzeit 400 Frauen in unterschiedlichen Bereichen des Verteidigungsministeriums ausgebildet: 30 sind in der nationalen Militärakademie, 62 in der Offiziersakademie der ANA, 143 in der Malalai Militärschule und 109 Rekrutinnen absolvieren ein Training in der Türkei (Tolonews 28.1.2017).
Im Allgemeinen verbessert sich die Situation der Frauen innerhalb der Sicherheitskräfte, bleibt aber weiterhin fragil. Der Schutz von Frauenrechten hat in größeren städtischen Gegenden, wie Kabul, Mazar-e Sharif und in der Provinz Herat, moderate Fortschritte gemacht; viele ländliche Gegenden sind extrem konservativ und sind aktiv gegen Initiativen, die den Status der Frau innerhalb der Gesellschaft verändern könnte (USDOD 6.2016).
Auch wenn die Regierung Fortschritte machte, indem sie zusätzliche Polizistinnen rekrutierte, erschweren kulturelle Normen und Diskriminierung die Rekrutierung und den Verbleib in der Polizei (USDOS 13.4.2016).
Teilnahmeprogramme für Frauen in den Sicherheitskräften
Initiiert wurde ein umfassendes Programm zur Popularisierung des Polizeidienstes für Frauen (SIGAR 30.7.2016; vergleiche auch: Sputnik News 5.12.2016). Dies Programm fördert in verschiedenster Weise Möglichkeiten zur Steigerung der Frauenrate innerhalb der ANDSF (SIGAR 30.7.2016). Das afghanische Innenministerium gewährte im Vorjahr 5.000 Stellen für Frauen bei der Polizei, diese Stellen sind fast alle noch immer vakant (Sputnik News 5.12.2016; vergleiche auch: SIGAR 30.7.2016). Eines der größten Probleme ist, dass sowohl junge Mädchen als auch Ehefrauen in ihren Familien nichts selbständig entscheiden dürften (Sputnik News 5.12.2016). Die afghanische Nationalpolizei schuf zusätzlich neue Posten für Frauen – womit sich deren Zahl auf 5.969 erhöhte; 5.024 dieser Posten sind innerhalb der afghanischen Nationalpolizei, 175 in Gefängnissen und Haftanstalten, sowie 770 zivile Positionen (SIGAR 30.7.2016). Im Juni 2016 verlautbarten die Behörden in Kabul, bis März 2017 die Polizei mit 10.000 neuen Stellen für weibliche Polizeikräfte aufzustocken. Die Behörden möchten der steigenden Gewalt gegen Frauen in Afghanistan entgegentreten und effektiver gegen die Terrorbedrohung und den Drogenhandel im Land vorgehen (Sputnik News 14.6.2016).
Seit fast einem Jahrzehnt schaffen afghanische Behörden massiv Arbeitsstellen für Frauen bei der Polizei und versuchen alljährlich den Frauenanteil zu erhöhen. Das dient vor allem dazu, den Afghaninnen Schutz zu gewähren. Wenn Verdächtigte und mutmaßliche Verbrecher Frauen seien, werden Polizistinnen bevorzugt. Allerdings haben Beamtinnen wegen ihres Polizeidienstes öfter Probleme mit ihren konservativen Verwandten (Sputnik News 14.6.2016). Im Arbeitskontext sind Frauen von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen: so sind z. B. Polizistinnen massiven Belästigungen und auch Gewalttaten durch Arbeitskollegen oder im direkten Umfeld ausgesetzt (AA 9.2016; vergleiche auch: Sputnik News 14.6.2016).
Strafverfolgung und Unterstützung
Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 9.2016). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten, und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 9.2016; vergleiche USDOS 13.4.2016). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen und nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016)
Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 9.2016). Gleichzeitig führt aber eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen, hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016; vergleiche auch: USDOS 13.4.2016). In der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans trauen sich Frauen selbst oftmals nicht, an Polizisten zu wenden (Sputnik News 14.6.2016).
Anlässlich des dritten "Symposium on Afghan Women's Empowerment" im Mai 2016 in Kabul bekräftigte die afghanische Regierung auf höchster Ebene den Willen zur weiteren Umsetzung. Inwieweit sich dies in das System an sich und bis in die Provinzen fortsetzt, ist zumindest fraglich (AA 9.2016).
Das EVAW-Gesetz wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: AA 9.2016; UN Women 2016); und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen – inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt. Dennoch ist eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern noch ausständig und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden (AA 9.2016). Das Gesetz kriminalisiert Gewalt gegen Frauen, inklusive Vergewaltigung, Körperverletzung, Zwangsverheiratung bzw Kinderheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug des Erbes, jedoch war die Umsetzung eingeschränkt. Im Falle von Vergewaltigung sieht das Gesetz eine Haftstrafe von 16-20 Jahren vor. Sollte die Vergewaltigung mit dem Tod eines Opfers enden, sieht das Gesetz die Todesstrafe für den Täter vor. Der Straftatbestand der Vergewaltigung beinhaltet nicht Vergewaltigung in der Ehe. Das Gesetz wurde nicht weitgehend verstanden und manche öffentliche und religiöse Gemeinschaften erachteten das Gesetz als unislamisch. Der politische Wille das Gesetz umzusetzen und seine tatsächliche Anwendung ist begrenzt (USDOS 13.4.2016). Außerhalb der Städte wird das EVAW-Gesetz weiterhin nur unzureichend umgesetzt (AA 9.2016). Laut Angaben von Human Rights Watch, verabsäumte die Regierung Verbesserungen des EVAW–Gesetzes durchzusetzen. Die Regierung verabsäumt ebenso die Verurteilung sogenannter Moral-Verbrechen zu stoppen, bei denen Frauen, die häuslicher Gewalt und Zwangsehen entfliehen, zu Haftstrafen verurteilt werden (HRW 27.1.2016). Die Regierung registrierte 5.406 Fälle von Gewalt an Frauen, 3.715 davon wurden unter dem EVAW-Gesetz eingebracht (USDOS 13.4.2016). Einem UNAMA-Bericht zufolge, werden 65% der Fälle, die unter dem EVAW-Gesetz eingebracht werden (tätlicher Angriff und andere schwerwiegende Misshandlungen) durch Mediation gelöst, während 5% strafrechtlich verfolgt werden (HRW 27.1.2016).
Die erste EVAW-Einheit (Law on the Elimination of Violence Against Women) wurde im Jahre 2010 durch die afghanische Generalstaatsanwaltschaft initiiert und hat ihren Sitz in Kabul (USDOS 13.4.2016). Die Generalstaatsanwaltschaft erhöhte weiterhin die Anzahl der EVAW-Einheiten. Mit Stand September 2015 existieren sie mittlerweile in 20 Provinzen. In anderen Provinzen wurden Staatsanwälten durch die Generalstaatsanwaltschaft Fälle zur Behandlung zugeteilt. Im März hielt das Büro der Generalstaatsanwaltschaft das erste nationale Treffen von EVAW-Staatsanwälten ab, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen EVAW-Einheiten in den Provinzen zu fördern und gemeinsame Probleme zu identifizieren (USDOS 13.4.2016). Ein im April veröffentlichter Bericht der UNAMA zu Erfahrungen von 110 rechtssuchenden Frauen im Justizsystem; zeigte, dass sich die Effektivität der Einheiten stark unterschied, diese aber dennoch Frauen, die Gewalt erlebt hatten, ermutigten ihre Fälle zu verfolgen (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: UNAMA 4.2015).
Der UN-Sonderberichterstatter zu Gewalt an Frauen berichtet von Frauen in Afghanistan, die das formelle Justizsystem als unzugänglich und korrupt bezeichnen; speziell dann wenn es um Angelegenheiten geht, die die Rechte von Frauen betreffen - sie bevorzugen daher die Mediation (USDOS 13.4.2016).
Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission – AIHRC), veröffentlichte einen Bericht, der 92 Ehrenmorde auflistete (Berichtszeitraum: März 2014 – März 2015), was eine Reduzierung von 13% gegenüber dem Vorjahr andeutete. Diesem Bericht zufolge wurden auch 67% der Täter bei Vergewaltigung oder Ehrenmord verhaftet; 60% wurden verurteilt und bestraft (USDOS 13.4.2016).
Wenn Justizbehörden das EVAW-Gesetz beachten, war es Frauen in manchen Fällen möglich angemessene Hilfe zu erhalten. Staatsanwält/innen und Richter/innen in abgelegenen Provinzen ist das EVAW-Gesetz oft unbekannt, andere werden durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt um Täter freizulassen. Berichten zufolge, geben Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt werden, oft an, das Opfer hätte dem Geschlechtsverkehr zugestimmt, was zu "Zina"-Anklagen gegen die Opfer führt (USDOS 13.4.2016).
Im Juni 2015 hat die afghanische Regierung den Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der VN-SR-Resolution 1325 auf den Weg gebracht (AA 9.2016; vergleiche auch: HRW 12.1.2017). Dennoch war bis November 2016 kein finales Budget für den Umsetzungsplan aufgestellt worden (HRW 12.1.2017).
Gewalt an Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord (AA 9.2016). In den ersten acht Monaten des Jahres 2016 dokumentierte die AIHRC 2.621 Fälle häuslicher Gewalt – in etwa dieselbe Zahl wie im Jahr 2015; obwohl angenommen wird, die eigentliche Zahl sei viel höher (HRW 12.1.2017). Die AIHRC berichtet von mehr als 4.250 Fällen von Gewalt an Frauen, die in den ersten neun Monaten des afghanischen Jahres (beginnend März 2015) gemeldet wurden (USDOS 13.4.2016). Diese Fälle beinhalten unterschiedliche Formen von Gewalt: physische, psychische, verbale, sexuelle und wirtschaftliche. In den ersten sechs Monaten des Berichtszeitraumes wurden 190 Frauen und Mädchen getötet; in 51 Fällen wurde der Täter verhaftet (Khaama Press 23.3.2016).
Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der zina gewertet) (AA 9.2016).
Ehrenmorde
Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 2.7.2014). Mädchen unter 18 Jahren sind auch weiterhin dem Risiko eines Ehrenmordes ausgesetzt, wenn eine außereheliche sexuelle Beziehung angenommen wird, wenn sie vor Zwangsverheiratung davonlaufen oder Opfer eines sexuellen Übergriffs werden. Die AIHRC gab bekannt, zwischen März 2014 und März 2015 92 Ehrenmorde registriert zu haben (USDOS 13.4.2016).
Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist Misstrauen in das juristische System durch einen Großteil der afghanischen Bevölkerung (Khaama Press 23.3.2016).
Legales Heiratsalter:
Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (Girls not brides 2016). Ein Mädchen, welches jünger als 16 Jahre ist, kann mit der Zustimmung eines Vormunds oder eines zuständigen Gerichtes heiraten. Die Vermählung von Mädchen unter 15 Jahren ist auch weiterhin üblich (USDOS 13.4.2016). Die UN und HRW schätzen die Zahl der Zwangsehen auf 70% (USDOS 13.4.2016; vergleiche auch: AA 9.2016).
In Fällen von Gewalt oder unmenschlicher traditioneller Praktiken laufen Frauen oft von zu Hause weg, oder verbrennen sich sogar selbst (USDOS 13.4.2016). Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (AA 9.2016).
Frauenhäuser
USDOS zählt 28 formelle Frauenhäuser- um einige Frauen vor Gewalt durch die Familien zu schützen, nahmen die Behörden diese in Schutzhaft. Die Behörden wandten die Schutzhaft auch dann an, wenn es keinen Platz in Frauenhäusern gab (USDOS 13.4.2016).
Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre. Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden (AA 9.2016).
Die Schwierigkeit für eine nachhaltige Lösung für Frauen, war der soziale Vorbehalt gegen Frauenhäuser, nämlich der Glaube, das "Weglaufen von zu Hause" sei eine ernsthafte Zuwiderhandlung gegen gesellschaftliche Sitten. Frauen, die vergewaltigt wurden, wurden von der Gesellschaft als Ehebrecherinnen angesehen (USDOS 13.4.2016).
Berichten zufolge, würde das MoWA, aber auch NGOs, versuchen Ehen für Frauen zu arrangieren, die nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten (USDOS 13.4.2016).
Medizinische Versorgung – Gynäkologie
Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22 % (überwiegend in den Städten und gebildetere Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten. Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 9.2016).
Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 9.2016)
Quellen:
1.2.2. Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Afghanistan, 22. Februar 2017
Die Verschärfung des bewaffneten Konflikts führte 2016 zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und -verstößen. Tausende von Zivilpersonen wurden im Zuge der Auseinandersetzungen getötet, verletzt oder vertrieben. Der Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge und anderen grundsätzlichen Versorgungsleistungen war wegen der anhaltenden Unsicherheit im Land eingeschränkt. Bewaffnete Gruppen trugen zwar die Verantwortung für die Mehrzahl der getöteten und verletzten Zivilpersonen, aber regierungstreue Kräfte waren ebenfalls für Tote und Verletzte verantwortlich. Beide Konfliktparteien rekrutierten weiterhin Minderjährige. 1,2 Mio. Menschen waren Binnenvertriebene; ihre Zahl hatte sich damit seit 2013 mehr als verdoppelt.
Etwa 2,6 Mio. Afghanen lebten als Flüchtlinge im Ausland, oft unter erbärmlichen Bedingungen. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nahm nicht ab. Es gab immer mehr Berichte darüber, dass bewaffnete Gruppen Frauen öffentlich hinrichteten, auspeitschten oder in anderer Form bestraften. Menschenrechtsverteidiger wurden weiterhin von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren bedroht und in ihrer Arbeit behindert: Journalisten waren Gewalt und Zensurmaßnahmen ausgesetzt. Die Regierung ließ weiterhin Todesurteile vollstrecken, die oft nach unfairen Gerichtsverfahren ergangen waren. [ ]
GEWALT GEGEN FRAUEN UND MÄDCHEN
Im Rahmen der 16-tägigen internationalen Kampagne gegen geschlechtsspezifische Gewalt gab die afghanische Justiz bekannt, in den ersten acht Monaten des Jahres 2016 über 3700 Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen registriert zu haben. Die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans (Afghanistan Independent Human Rights Commission) meldete im ersten Halbjahr 2016 ebenfalls Tausende Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, u. a. Prügelattacken, Tötungen und Säureanschläge.
Im Januar 2016 schnitt in der Provinz Faryab ein Mann seiner Frau die Nase ab. Der Vorfall rief im ganzen Land Entsetzen hervor und wurde auch von einem Taliban-Sprecher verurteilt.
Im Juli 2016 wurde eine schwangere 14-Jährige von ihrem Mann und ihren Schwiegereltern angezündet, um ihren Vater zu bestrafen, der mit einer Cousine des Mannes weggelaufen war, um sie zu heiraten. Die 14-Jährige starb wenige Tage später in einem Krankenhaus in Kabul.
Bewaffnete Gruppen griffen gezielt Frauen an, die beruflich in der Öffentlichkeit auftraten, wie z. B. Polizistinnen. In Gebieten, die von bewaffneten Gruppen kontrolliert wurden, waren die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen und ihr Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung stark eingeschränkt.
Nach Angaben von UNAMA gab es immer mehr Fälle von Frauen, die von den Taliban oder anderen bewaffneten Gruppen nach Scharia-Recht öffentlich bestraft wurden. Im ersten Halbjahr 2016 dokumentierte UNAMA sechs Fälle islamischer Paralleljustiz, in denen bewaffnete Gruppen Frauen wegen sogenannter moralischer Verbrechen bestraften; zwei Frauen wurden hingerichtet, vier andere ausgepeitscht.
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerin in der Erstbefragung und vor der belangten Behörde, in den bekämpften Bescheid und in den Beschwerdeschriftsatz, in die vorgelegten Urkunden sowie in die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderberichte.
Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.1. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen basieren auf den angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, welche ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten und denen seitens der Verfahrensparteien nicht entgegen getreten wurde, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zu Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.
2.2. Zu den Feststellungen zur Person und den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Die Feststellungen zu Identität, Nationalität, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Herkunft, zu den persönlichen Verhältnissen, den Lebensumständen im Iran und zur familiären Situation der Beschwerdeführerin ergeben sich aus deren diesbezüglich glaubhaften schriftlichen und mündlichen Angaben. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser stets gleichbleibenden Angaben aufkommen lässt.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
Betreffend die Feststellungen zu den Lebensumständen der Beschwerdeführerin in Österreich und ihren Wertvorstellungen war zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin während des gesamten Verfahrens überzeugend zum Ausdruck brachte, dass sie ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führt und ein solches auch in Zukunft führen möchte. Sie hat auf sämtliche Fragen spontan (beinahe durchwegs auf Deutsch) und erstaunlich bestimmt geantwortet und war in ihrem gesamten Auftreten absolut authentisch. Ihre Aussagen waren glaubwürdig, nachvollziehbar und mit Details ausgeschmückt. Die Angaben der Beschwerdeführerin decken sich auch mit den Ausführungen ihres Bruders und finden sich in den zahlreich vorgelegten Bestätigungen und Empfehlungsschreiben wieder.
Die Beschwerdeführerin ist eine durch Frauen und Mädchen diskriminierende Lebensumstände geprägte selbstbewusste junge Frau, die bereits sehr früh und während ihres Aufenthaltes im Iran den Wunsch nach Bildung und Selbständigkeit hatte und die auch sehr klare Vorstellungen von ihrer Zukunft hat ("Ich konnte im Iran keine Schule besuchen. Ich konnte auch als Frau im Iran nicht frei leben. Ich möchte die Matura machen und Ärztin oder Pädagogin werden." Sitzung 3 und 5 der Niederschrift der Einvernahme vom 20.10.2016; "Es war mein Wunsch, dass ich einmal so leben kann wie hier. Im Iran habe ich mir immer gewünscht, dass ich Ärztin werde." Sitzung 7 und 8 der Verhandlungsniederschrift vom 03.07.2017).
Die Beschwerdeführerin weiß durch die Erzählungen ihrer Familie und durch das Fernsehen über die Verhältnisse in Afghanistan Bescheid, obwohl sie sich nie dort aufgehalten hat. Die Beschwerdeführerin ist sich der großen Unterschiede zwischen dem Leben einer Frau in Afghanistan oder im Iran im Gegensatz zu jenem in Österreich bewusst. Sie hat klar zu erkennen gegeben, dass sie ein Leben nach den konservativen afghanischen Wertvorstellungen und Traditionen ablehnt und dass sie vielmehr so leben möchte, wie es jungen Menschen in Österreich bzw Europa möglich ist ("Möchtest du in Österreich ohne Kopftuch leben? – Ja, ich will mich hier anpassen. Ich lebe nicht im Iran oder in Afghanistan. Ich bin froh, dass ich es nicht mehr tragen muss. Das ist genau die Freiheit, die ich im Iran nie hatte." Sitzung 5 der Niederschrift der Einvernahme; "Das ist eine ganz andere Kultur im Iran und Afghanistan. Sie würden mich steinigen, weil ich so gelebt habe und so leben will wie jetzt. Ich könnte so wie ich hier bin, gar nicht nach Afghanistan zurückgehen. Das könnte ich mir auch gar nicht vorstellen." Sitzung 7 und 8 der Verhandlungsniederschrift). Die Lebenseinstellung der Beschwerdeführerin ist kongruent mit jener ihres Bruders, dessen Frauenbild ebenfalls Eigenständigkeit und Unabhängigkeit beinhaltet. Diese insgesamt von Toleranz gegenüber fremden Kulturen und Religionen geprägte innere Einstellung trägt die Beschwerdeführerin sehr offen und uneingeschränkt nach außen. Sie geht unvoreingenommen auf andere Religionen und Kulturen zu und befasst sich aus freien Stücken mit österreichischen Traditionen und Gebräuchen ("Ja, wir haben Weihnachten gefeiert. Das war gut und interessant, eine neue Kultur kennenzulernen. Für mich ist nicht die Religion selbst so wichtig, sondern viel mehr, dass ich ein guter Mensch bin und hilfsbereit bin." Sitzung 8 der Verhandlungsniederschrift).
Daraus ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin als selbständige und weltoffene Frau anzusehen ist, die in einer Weise lebt und weiterhin zu leben wünscht, die nicht mit den traditionell-konservativen Ansichten betreffend die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft übereinstimmt. In ihren Aussagen ist insgesamt unmissverständlich ihre auf ein selbstbestimmtes Leben gerichtete innere Einstellung ("westliche Gesinnung") erkennbar. Diese Einstellung hat die Beschwerdeführerin im Übrigen bereits im Verfahren vor der belangten Behörde zweifelsfrei dargelegt, doch würdigte die belangte Behörde dies in keinster Weise.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß Paragraph 6, BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG 2005) nicht getroffen und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes) ist durch das VwGVG geregelt (Paragraph eins, leg.cit.). Gemäß Paragraph 58, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, Bundesgesetzblatt 194 aus 1961,, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, Bundesgesetzblatt 173 aus 1950,, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, Bundesgesetzblatt 29 aus 1984,, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (siehe insbesondere Paragraph eins, BFA-VG).
Gemäß Paragraph 7, Absatz eins, Ziffer eins, BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.
Gemäß Paragraph 28, Absatz eins, VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
3.1. Zu A):
3.1.1. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge Bundesgesetzblatt 55 aus 1955, (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge GFK) droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, Statusrichtlinie [RL 2011/95/EU] verweist.).
Die Verfolgung kann gemäß Paragraph 3, Absatz 2, AsylG 2005 auch auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).
Gemäß Paragraph 3, Absatz 3, AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11, AsylG 2005) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6, AsylG 2005) gesetzt hat.
Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 ist die Entscheidung, mit der Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrages auf internationalen Schutz der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wird, mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK (in der Fassung des Artikel eins, Absatz 2, des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge Bundesgesetzblatt 78 aus 1974,) – deren Bestimmungen gemäß Paragraph 74, AsylG 2005 unberührt bleiben – ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen, oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt des Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370).
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; 16.02.2000, 99/01/0097), sondern erfordert eine Prognose. Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können jedoch im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).
Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233). Die Verfolgungsgefahr muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (VwGH 27.01.2000, 99/20/0519). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 23.07.1999, 99/20/0208; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177; 28.10.2009, 2006/01/0793) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
Von mangelnder Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) –, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK ge-nannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen – asylrelevante Intensität er-reichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law² [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203).
Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; 13.11.2008, 2006/01/0191; 28.10.2009, 2006/01/0793; 19.11.2010, 2007/19/0203).
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (zB VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; 15.03.2001, 99/20/0036). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwSlg. 16.482 A/2004). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "internen Flucht- oder Schutzalternative" (VwSlg. 16.482 A/2004) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/20/0539; 17.03.2009, 2007/19/0459).
Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgeführt hat, können neue – während des Aufenthaltes in Österreich eingetretene – Umstände, mit denen ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (nunmehr) begründet (sogenannte "Nachfluchtgründe"), grundsätzlich zur Asylgewährung führen. Diese sind daher zu überprüfen, wenn sie geeignet sind, die Annahme einer "wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung" zu rechtfertigen (VwGH 18.09.1997, 96/20/0923).
3.1.2. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt vor dem Hintergrund der oben festgestellten Berichtslage zur allgemeinen politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan entgegen der Ansicht der belangten Behörde, dass die Beschwerdeführerin Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ist:
In Bezug auf die Situation von Frauen in Afghanistan hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 16.01.2008, 2006/19/0182 auf eine diesbezügliche Stellungnahme des UNHCR vom Juli 2003 und die Indizwirkung entsprechender Empfehlungen verwiesen, wonach unter anderem afghanische Frauen, von denen angenommen wird, dass sie soziale Normen verletzen (oder dies tatsächlich tun) bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gefährdet angesehen werden sollten. Nach der Rechtsprechung des VwGH können Frauen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden, demnach Asyl beanspruchen (siehe etwa VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017-0018, mwN). Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen . Maßgeblich ist, wie es der jeweiligen Frau erginge, wenn sie in der relevanten Herkunftsregion den im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil führen würde (VwGH 22.03.2017, Ra 2016/18/0388; VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118-0119).
Die Beschwerdeführerin hat ihre auch nach außen hin erkennbare persönliche Wertehaltung zum Rollen- und Gesellschaftsbild der Frau im Sinne eines selbstbestimmten Lebens und ihre ablehnende Haltung gegenüber der in Afghanistan aufgrund der gesellschaftlichen und politisch-religiösen Zwänge weiterhin vorherrschenden Lebensweise der Frauen glaubhaft dargelegt. Ihre weltoffene, pro-westliche Lebenseinstellung kommt in ihrer Lebensweise deutlich zum Ausdruck.
Insofern wäre die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zunächst mit einer für sie prekären Sicherheitslage konfrontiert. Das bedeutet, dass für sie in fast allen Teilen Afghanistans ein erhöhtes Risiko besteht, Eingriffen in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Den Feststellungen zufolge ist dieses Risiko sowohl als generelle, die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw Verbrechens zu werden), als auch als spezifische Gefährdung der Beschwerdeführerin, bei nonkonformem Verhalten (d.h. bei Verstößen gegen gesellschaftliche, "moralische" oder religiöse Normen, wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften oder eine Berufsausübung außerhalb des Hauses) einer "Bestrafung" bis hin zur Tötung ausgesetzt zu sein. Aus beiden Aspekten resultierend ist die Beschwerdeführerin im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit einer Situation konfrontiert, in der sie in der Ausübung grundlegender Menschenrechte beeinträchtigt ist.
Für die Beschwerdeführerin würde sich die derzeitige Situation in Afghanistan so auswirken, dass sie als Frau im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbaren Einschränkungen und – durch das Bestehen dieser Situation – einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist. Hinzu tritt, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Frau mit einer persönlichen Wertehaltung handelt, die im Gegensatz zu dem in Afghanistan vorherrschenden und das traditionell-religiöse Rollenbild der Frau prägende Werteverständnis steht, sodass sie insofern einem erhöhten Gefährdungsrisiko unterliegt.
Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von "offizieller" Seite dar, d. h. sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung an sich nicht angeordnet, andererseits ist es der Zentralregierung auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Bevölkerungsgruppe der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt – wie bereits erwähnt (siehe oben 3.1.1.) – auch von privaten Personen oder Gruppierungen ausgehender Verfolgung asylrechtliche Relevanz zu, wenn der Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt ist, Schutz zu gewähren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen in Afghanistan weder ein funktionierender Polizei- noch ein funktionierender Justizapparat. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden; ganz im Gegenteil liegt den Länderfeststellungen zufolge ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber. Für die Beschwerdeführerin ist damit nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie angesichts des sie als Frau liberal-egalitärer (bzw im Verhältnis zu den afghanischen Wertvorstellungen alternativer) Orientierung betreffenden Risikos, Opfer von Übergriffen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann. Die sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bedrohende Situation ist in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität.
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Für die Qualifikation der Verfolgung hinsichtlich der in der GFK genannten Verfolgungsmotive kommt im Fall der Beschwerdeführerin einerseits ihrer Ablehnung der in Afghanistan vorherrschenden sozio-kulturellen und religiös geprägten Wertvorstellungen entscheidungswesentliche Bedeutung zu, da nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Verfolgung aus religiösen Gründen auch dann vorliegen kann, wenn die Eingriffe deshalb erfolgen, weil die verfolgte Person sich weigert, sich den mit der Religion verbundenen Riten und Gebräuchen ganz oder teilweise zu unterwerfen (z.B. VwGH 25.01.2011, 98/20/0555; siehe ferner Putzer, Asylrecht² 45 mwN). Andererseits kommt im Fall der Beschwerdeführerin ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als Ursache des drohenden Eingriffs eine herausragende Bedeutung zu. Generell wird eine soziale Gruppe durch Merkmale konstituiert, die der Disposition der betreffenden Personen entzogen sind, beispielsweise das Geschlecht. Frauen stellen eine derartige "besondere soziale Gruppe" im Sinne der GFK dar vergleiche etwa Köfner/Nicolaus, Grundlagen das Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, römisch II, 456). Bei einer Beschwerdeführerin, deren persönliche Wertehaltung als aufgeschlossene Frau im Gegensatz zu der in Afghanistan weiterhin vorherrschenden Situation für Frauen steht, liegt das dargestellte Verfolgungsrisiko im Zusammenhang mit ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor (dazu VwGH 16.04.2002, 99/20/0483; 20.06.2002, 99/20/0172).
Aufgrund der Ermittlungsergebnisse ist daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin angesichts ihrer auf ein selbstbestimmtes Leben gerichteten Einstellung ("westliche Gesinnung") als Frau in ihrem Herkunftsstaat Eingriffe asylrelevanter Intensität mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat, weswegen sie sich aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung iSd GFK außerhalb Afghanistans befindet und im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative kommt vorliegend nicht in Betracht, da die Beschwerdeführerin im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan im Wesentlichen der gleichen – oben beschriebenen – Situation ausgesetzt wäre. Abgesehen davon kann eine abschließende Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative insbesondere auch vor dem Hintergrund entfallen, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Widerspruch zum gewährten subsidiären Schutz stehen würde, weil Paragraph 11, AsylG 2005 die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind (VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016; VwGH 25.03.2015, Ra 2014/18/0168; 15.10.2015, Ra 2015/20/0181).
Das Vorliegen eines der in Artikel eins, Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- und Ausschlussgründe ist nicht hervorgekommen.
Der Beschwerde ist daher stattzugeben und der Beschwerdeführerin gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen; dies ist gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 mit der Feststellung zu verbinden, dass der Beschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Angesichts dieser Umstände ist auf die von der Beschwerdeführerin im bisherigen Verfahren zusätzlich erstatteten Fluchtgründe nicht mehr weiter einzugehen.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz am 15.09.2015, somit vor dem 15.11.2015 gestellt wurde, wodurch insbesondere Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 15 und Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 in der Fassung des Bundesgesetzes Bundesgesetzblatt Teil eins, 24 aus 2016, ("Asyl auf Zeit") gemäß Paragraph 75, Absatz 24, leg. cit. im konkreten Fall keine Anwendung finden.
3.2. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß Paragraph 25 a, Absatz eins, VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Nach Artikel 133, Absatz 4, B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab vergleiche die unter Punkt 3.1. angeführten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
ECLI:AT:BVWG:2017:W139.2141276.1.00