Die Provisorische Staatsregierung hat beschlossen: I. Abschnitt. Allgemeine Bestimmungen. § 1. (1) Österreich wird wieder als eine demokratische Republik eingerichtet. (2) Alle Rechtsvorschriften sind im Einklang mit den Grundsätzen der Staatsform einer demokratischen Republik zu gestalten und im Sinne dieser maßgebenden Grundsätze auszulegen. § 2. Die überlieferte Ländereinteilung bleibt die räumliche Grundlage für die gesamte staatliche Organisation. § 3. (1) Die Grenzen zwischen den einzelnen Ländern bleiben unverändert. (2) Im Interesse einer ungebrochenen Rechtsentwicklung wird jedoch bis zur endgültigen Erledigung der maßgebenden Fragen durch die künftige frei gewählte Volksvertretung verfügt: 1. die Grenzen zwischen Niederösterreich und Wien bleiben vorläufig nach dem Stande vom 10. April 1945 bestehen; 2. das Gebiet des ehemals selbständigen Landes Burgenland bleibt nach dem. Stande vom 10. April 1945 vorläufig zwischen den Ländern Niederösterreich und Steiermark aufgeteilt. § 4. (1) Die künftige frei gewählte Volksvertretung wird zu bestimmen haben, ob und wie weit die bundesstaatliche Organisationsform nach den Bestimmungen des Blindes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 wieder in volle Geltung treten wird. (2) Bis zu diesem Zeitpunkt muß die Provisorische Staatsregierung im Hinblick auf die durch die gewaltsame Annexion Österreichs und die kriegerischen Ereignisse geschaffene besondere Lage die einheitliche Leitung der staatlichen Gesetzgebung und der obersten staatlichen Vollziehung für alle Teilbereiche des Staates für sich in Anspruch nehmen.

§ 5. (1) Für die Republik Österreich besteht vorläufig eine einheitliche österreichische Staatsbürgerschaft. (2) Die Bedingungen für Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft werden durch ein besonderes Gesetz geregelt. § 6. (i) Der Grundsatz der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz wird im vollen Umfange wieder hergestellt. (2) Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen. II. Abschnitt. Staatsregierung. § 7. Bis zum Zusammentritt der auf Grund des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Verhältniswahlrechtes neu bestellten Volksvertretung ist die Provisorische Staatsregierung das oberste Organ der Republik Österreich. § 8. Die Provisorische Staatsregierung besteht aus dem Staatskanzler und der erforderlichen Zahl von Staatssekretären und Unterstaatssekretären. § 9. (1) Der Staatskanzler führt den Vorsitz in der Provisorischen Staatsregierung. Er leitet die Staatskanzlei. (2) Den Staatssekretären sind die Staatsämter unterstellt. Zur Unterstützung in der Geschäftsführung sind dem Staatskanzler und den Staatssekretären Unterstaatssekretäre beigegeben, die bei Führung ihres Amtes an die Weisungen des Staatskanzlers oder der Staatssekretäre gebunden sind. § 10. Zur ständigen Beratung in allen politischen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung sind dem Staatskanzler Staatssekretäre ohne Portefeuille beigegeben. Sie bilden mit dem Staatskanzler als dem Vorsitzenden den Politischen Kabinettsrat. § 11. (1) Der Staatskanzler wird in seinem gesamten Wirkungsbereich durch die Mitglieder des Politischen Kabinettsrates in der von ihm bestimmten. Reihenfolge vertreten. Sind auch sämtliche Mitglieder des Politischen Kabinettsrates in der Führung ihres Amtes behindert, so führt der an Jahren älteste anwesende Staatssekretär die Geschäfte des Staatskanzlers. (2) Die Staatssekretäre werden in ihrem gesamten Wirkungsbereich durch die ihnen beigegebenen Unterstaatssekretäre in der vom Politischen Kabinettsrat bestimmten Reihenfolge vertreten. § 12. (1) Scheiden sämtliche Mitglieder der Provisorischen Staatsregierung aus dem Amte, so haben die Vorstände der politischen Parteien, die an der Bildung der ersten Provisorischen Staatsregierung beteiligt waren, für die Bildung einer neuen Provisorischen Staatsregierung zu sorgen. (2) Bis zur Bildung der neuen Provisorischen Staatsregierung betraut der aus dem Amte scheidende Politische Kabinettsrat Mitglieder der scheidenden Regierung oder höhere Beamte der Staatsämter mit der Fortführung der Verwaltung und einen von ihnen mit dem Vorsitz in der einstweiligen Staatsregierung. § 13. Die Bestimmungen des Paragraph 12, werden sinngemäß angewendet, wenn der Staatskanzler öder einzelne Mitglieder aus der Provisorischen Staatsregierung ausgeschieden sind. § 14. (1) Der Staatskanzler leistet vor Antritt seines Amtes vor der Provisorischen Staatsregierung die Angelobung. (s) Die übrigen Mitglieder der Provisorischen Staatsregierung werden vor Antritt ihres Amtes vom Staatskanzler angelobt. § 15. (1) Die Mitglieder der Provisorischen Staatsregierung sind für ihre Amtsführung der künftigen frei gewählten Volksvertretung verantwortlich. Sie haben der Volksvertretung nach deren Zusammentritt unverzüglich einen Rechenschaftsbericht über ihre Tätigkeit zu erstatten. (2) Die Volksvertretung regelt, in welcher Weise diese Verantwortung der Mitglieder der Provisorischen Staatsregierung geltend zu machen ist. § 16. Die Provisorische Staatsregierung kann einzelne ihrer Mitglieder vom Amte entheben, wenn sie ihre Amtspflichten verletzen. § 17. Die Provisorische Staatsregierung gibt sich ihre Geschäftsordnung durch Beschluß. III. Abschnitt. Gesetzgebung. § 18. Bis zum Zusammentritt einer frei gewählten Volksvertretung übt die Provisorische Staatsregierung die nach dem Bundes- Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 dem Bunde und den Ländern zustehende Gesetzgebung aus. § 19. Gesetzesvorschläge gelangen an die Provisorische Staatsregierung als Anträge der Staatsämter oder als Anträge einzelner Mitglieder der Provisorischen Staatsregierung. § 20. (1) Die Provisorische Staatsregierung zieht die Gesetzesvorschläge nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung in Behandlung. (2) Die Provisorische Staatsregierung kann zur Vorberatung der Gesetzesvorschläge aus ihrer Mitte Unterausschüsse bilden. Den Unter-

ausschüssen können auch der Provisorischen Staatsregierung nicht Angehörende als Sachverständige mit beratender Stimme beigezogen werden. § 21. Die Gesetzesbeschlüsse der Provisorischen Staatsregierung werden vom Staatskanzler und von den übrigen Mitgliedern des Politischen Kabinettsrates beurkundet und von den zuständigen Staatssekretären gegengezeichnet. Verfassungsgesetze sind von sämtlichen Staatssekretären gegenzuzeichnen. § 22. (1) Die Gesetzesbeschlüsse werden vom Staatskanzler im Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich kundgemacht. (2) Die verbindende Kraft der Gesetze beginnt, wenn nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist, nach Ablauf des Tages, an dem das Stück des Staatsgesetzblattes, das die Kundmachung enthält, ausgegeben und versendet wird, und erstreckt sich, wenn nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist, auf das gesamte Staatsgebiet. (3) Über das Staatsgesetzblatt ergeht ein besonderes Gesetz. IV. Abschnitt. Verwaltung. a) Oberste staatliche Verwaltung. § 23. Die folgenden Aufgaben der obersten staatlichen Verwaltung sind dem Politischen Kabinettsrat vorbehalten: a) die Vertretung der Republik nach außen; b) die Ernennung der staatlichen Angestellten und die Verleihung von Amtstiteln und Berufstiteln an solche; c) im Einzelfall: die Begnadigung der von den Gerichten rechtskräftig Verurteilten, die Milderung und Umwandlung der von den Gerichten ausgesprochenen Strafen, die Nachsicht von Rechtsfolgen und die Tilgung von Verurteilungen im Gnadenweg sowie die Niederschlagung des strafgerichtlichen Verfahrens bei den von Amts wegen zu verfolgenden strafbaren Handlungen; d) nach den Bestimmungen besonderer Gesetze: Befugnisse hinsichtlich der Gewährung von außerordentlichen Zuwendungen, Zulagen und Versorgungsgenüssen, Ernennungs- oder Bestätigungsrechten und sonstige Befugnisse in Personalangelegenheiten. § 24. (1) Staatsverträge politischen oder gesetzändernden Inhaltes dürfen vom Politischen Kabinettsrat nur nach Genehmigung durch die Provisorische Staatsregierung abgeschlossen werden. (2) Zum Abschluß von Staatsverträgen, die nicht unter die Bestimmungen des Abs. (1) fallen, kann der Politische Kabinettsrat auch die zuständigen Staatsämter ermächtigen. § 25. Namens des Politischen Kabinettsrates empfängt und beglaubigt der Staatskanzler die Gesandten, genehmigt die Bestellung der fremden Konsuln und bestellt die konsularischen Vertreter der Republik im Auslande. § 26. Das Recht der Ernennung von Staatsangestellten bestimmter Kategorien kann der Politische Kabinettsrat den zuständigen Staatsämtern übertragen. § 27. Soweit die Aufgaben der obersten staatlichen Verwaltung nicht dem Politischen Kabinettsrat vorbehalten sind, obliegt ihre Führung der Provisorischen Staatsregierung. § 28. (1) Zur Besorgung der Geschäfte der obersten staatlichen Verwaltung sind die Staatsämter berufen. (2) Die Zahl der Staatsämter und ihren Wirkungsbereich regelt ein. Gesetz. § 29. Den Staatsämtern sind die übrigen staatlichen Verwaltungsbehörden unterstellt. b) Verwaltung in den Ländern. § 30. (1) Die staatliche Verwaltung in den Ländern wird, soweit nicht staatliche Sonderbehörden eingerichtet sind, in Unterordnung unter die zuständigen Staatsämter in jedem Land durch den Landeshauptmann und seine Stellvertreter und die dem Landeshauptmann unterstellte Landeshauptmannschaft geführt. (2) Der Landeshauptmann wird von der Provisorischen Staatsregierung auf Grund eines von den Vorständen der politischen Parteien des Landes erstatteten Vorschlages ernannt. (3) Der Landeshauptmann ist der Provisorischen Staatsregierung für seine Amtsführung verantwortlich. Er kann von der Provisorischen Staatsregierung vom Amt enthoben werden, wenn er seine Amtspflichten verletzt. (4) Die Bestimmungen der Abs. (2) und (3) gelten sinngemäß auch für die Stellvertreter des Landeshauptmanns, (5) Zur Unterstützung des Landeshauptmanns bei Führung der Landeshauptmannschaft bestellt die Provisorische Staatsregierung auf Vorschlag des Landeshauptmanns einen rechtskundigen Verwaltungsbeamten des Amtes als Landesamtsdirektor. Der Landesamtsdirektor wird von der Provisorischen Staatsregierung vom Amt enthoben. § 31. (1) Die Verwaltung der den Ländern als Selbstverwaltungskörpern nach der Überlieferung zustehenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten obliegt in jedem Land einem Provisorischen Landesausschuß.

  1. Absatz 2Dem Provisorischen Landesausschuß gehören der Landeshauptmann und seine Stellvertreter und vier bis neun weitere Mitglieder an, die der Landeshauptmann mit Zustimmung der Provisorischen Staatsregierung auf Grund der Vorschläge der Vorstände der politischen Parteien des Landes zu ihrem Amt beruft. Den Vorsitz im Provisorischen Landesausschuß führt der Landeshauptmann. (3) Der Landeshauptmann kann Mitglieder des Provisorischen Landesausschusses von ihrem Amte entheben, wenn sie ihre Amtspflichten verletzen. Er muß die Enthebung verfügen, wenn dies die Provisorische Staatsregierung aus den gleichen Gründen verlangt. § 32. (1) In Unterordnung unter die zuständige Landeshauptmannschaft wird die unterste staatliche Verwaltung in den Verwaltungsbezirken durch die Bezirkshauptmannschaften, in den Städten mit eigenem Statut durch die Bürgermeister geführt. (2) Zur Leitung der Bezirkshauptmannschaften sind rechtskundige Verwaltungsbeamte zu berufen. Der Bezirkshauptmann wird vom Landeshauptmann mit Zustimmung der Provisorischen Staatsregierung ernannt und vom Landeshauptmann vom Amte enthoben. Der Landeshauptmann muß die Enthebung verfügen, wenn dies die Provisorische Staatsregierung verlangt. (3) Die Bürgermeister der Städte mit eigenem Statut werden vorläufig vom Landeshauptmann mit Zustimmung der Provisorischen Staatsregierung ernannt und vom Landeshauptmann von ihrem Amte enthoben. Der Landeshauptmann muß die Enthebung vom Amte verfügen, wenn es die Provisorische Staatsregierung verfangt. § 33. (1) Die Verwaltungsbezirke werden zur Besorgung der ihnen eigenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten als Selbstverwaltungskörper ausgestaltet. (2) Zur Besorgung der den Verwaltungsbezirken in Selbstverwaltung überlassenen Angelegenheiten wird in jedem Verwaltungsbezirk eine Provisorische Bezirksvertretung errichtet. Die Provisorische Bezirksvertretung wählt aus ihrer Mitte einen Bezirksausschuß. (3) Die näheren Bestimmungen über die Einrichtung der Provisorischen Bezirksvertretungen und Bezirksausschüsse werden durch besonderes Gesetz getroffen. § 34. Die nähere Einrichtung der Verwaltung in den Gemeinden und in den Städten mit eigenem Statut wird durch besondere Gesetze (Landgemeindeordnungen, Städteordnungen) geregelt. c) Verwaltung in der Stadt Wien. § 35. Die Stadt Wien ist eine Gebietskörperschaft besonderen Rechtes. Sie vereinigt in sich die Wirkungskreise, die nach diesem Verfassungsgesetz einer Stadt mit eigenem Statut und einem Lande zukommen. § 36. (1) Die Aufgaben, die in den Ländern dem Landeshauptmann und seinen Stellvertretern, dem Provisorischen Landesausschuß, dem Landesamtsdirektor und der Landeshauptmannschaft zukommen, führen in Wien der Bürgermeister und seine Stellvertreter, der Stadtsenat, der Magistratsdirektor und der Wiener Magistrat. (2) Für die Bestellung und Abberufung des Bürgermeisters und seiner Stellvertreter, der Mitglieder des Stadtsenates und des Magistratsdirektors gelten die Paragraphen 30 und 31 entsprechend. d) Grundsätze für die Führung der staatlichen Verwaltung. § 37. Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden. § 38. Jede Verwaltungsbehörde kann innerhalb ihres Wirkungsbereiches zur näheren Durchführung der Gesetze und überdies, soweit sie durch ein Gesetz hierzu ausdrücklich ermächtigt wird, Verordnungen erlassen. V. Abschnitt. Gerichtsbarkeit. § 39. Die Urteile und Erkenntnisse der Gerichte werden im Namen der Republik Österreich verkündet und ausgefertigt. § 40. Die Richter sind in Ausübung ihres richterlichen Amtes unabhängig. § 41. (1) In der Gerichtsverfassung wird eine Altersgrenze bestimmt, nach deren Erreichung die Richter in den dauernden Ruhestand zu versetzen sind. (2) Im übrigen dürfen Richter nur in den vom Gesetz vorgeschriebenen Fällen und auf Grund eines gerichtlichen Erkenntnisses ihres Amtes entsetzt oder wider ihren Willen an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. (3) Ausnahmen von den Bestimmungen der Abs. (1) und (2) können bis 31. Dezember 1946 durch Gesetz festgelegt werden. § 42. Die Prüfung der Gültigkeit gehörig kundgemachter Gesetze steht den Gerichten nicht zu. § 43. Die Mitwirkung des Volkes an der Rechtsprechung wird wieder hergestellt.

§ 44. Als oberste Instanz in Zivil- und Strafrechtssachen wird wieder ein Oberster Gerichtshof in Wien errichtet. Die nähere Einrichtung und den Aufgabenkreis des Obersten Gerichtshofes regelt ein besonderes Gesetz. VI. Abschnitt, Rechnungskontrolle. § 45. Zur Prüfung der Gebarung des Staates, der Länder, der Gemeinden mit über 20.000 Einwohnern und ihrer Betriebe und Anstalten sowie anderer Rechtsträger wird der Staatsrechnungshof in Wien errichtet. § 46. Die näheren Bestimmungen über die Einrichtung und die Tätigkeit des Staatsrechnungshofes werden durch Gesetz getroffen. VII. Abschnitt. Verwaltungsgerichtshof. § 47. Zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit von Bescheiden (Entscheidungen oder Verfügungen) der Verwaltungsbehörden wird der Verwaltungsgerichtshof in Wien errichtet. § 48. Die nähere Einrichtung, den Aufgabenkreis und das Verfahren des Verwaltungsgerichtshofes regelt ein besonderes Gesetz. VIII. Abschnitt. Schlußbestimmungen. § 49. Dieses Verfassungsgesetz tritt am 1. Mai 1945 in Kraft. § 50. Mit der Vollziehung dieses Verfassungsgesetzes ist die Provisorische Staatsregierung betraut.

Renner Schärf Figl Koplenig Honner Fischer Gerö Zimmermann Buchinger Heinl Korp Böhm Raab