Asylgerichtshof
30.11.2012
D18 410218-2/2010
D18 410218-2/2010/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin MMag. Dr. SCHNEIDER als Vorsitzende und der Richterin Mag. RIEPL als Beisitzerin über die Beschwerde der römisch 40 , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10. September 2010, Zl. 09 07.062-BAT, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Die Beschwerde wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005,, als unbegründet abgewiesen.
Entscheidungsgründe:
römisch eins. Sachverhalt und Verfahrensgang:
römisch eins.1. Die Beschwerdeführerin war am 15.06.2009 illegal ins österreichische Bundesgebiet gelangt, nachdem sie in Polen einen Asylantrag gestellt hatte, und hat am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Anlässlich der Antragstellung brachte sie einen russischen Personalausweis, ausgestellt am 04.03.2003, eine russische Pensionsversicherungskarte (ohne Lichtbild), ausgestellt am 28.11.2006, und eine russische Krankenversicherungspolizze (ohne Lichtbild), ausgestellt am 12.09.2008, in Vorlage.
In ihrer Erstbefragung nach Asylgesetz 2005 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen EAST am 16.06.2009 führte die Beschwerdeführerin zusammengefasst aus, sie sei mit ihrem russischen Reisepass legal aus dem Herkunftsstaat ausgereist und am 01.06.2009 nach Polen gelangt, wo sie an der polnischen Grenze von Beamten kontrolliert und mitgenommen worden wäre. In Polen habe sie sich bei einer Freundin aufgehalten, die ihr aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes geraten habe, sich in Österreich behandeln zu lassen. Am 14.06.2009 sei sie in Polen in einen Bus gestiegen und nach Wien gelangt, ihr Reisepass würde sich noch bei den polnischen Behörden befinden. Nach ihren Fluchtgrund befragt gab die Beschwerdeführerin an, dass sie heute nicht darüber sprechen wolle. In ihre Heimat könne sie nicht zurückkehren, da ihr dort Gefahr drohe.
römisch eins.2. Hinsichtlich der Beschwerdeführerin wurde ein Konsultationsverfahren mit Polen geführt und stimmte Polen der Übernahme der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 23.06.2009 zu.
römisch eins.3. Am 01.07.2009 langte beim Bundesasylamt das Untersuchungsergebnis der gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Untersuchung am 25.06.2009 ein. In dieser wurde insbesondere festgestellt, dass bei der Beschwerdeführerin eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vorliege "(Rel. Milde) Anpassungsstörung, F. 43.21". Laut Stellungnahme liegen jedoch keine sonstigen psychischen Krankheitssymptome vor und besteht kein Hinweis auf Denkstörungen bei der Beschwerdeführerin. Schließlich wurde zusammengefasst festgehalten, dass sich bei der Beschwerdeführerin keine Hinweise auf PTSD, keine Dissoziation, keine Amnesien, keine Intrusionen etc. finden. Die Beschwerdeführerin hatte bei Erstellung der Stellungnahme ua. angegeben, dass eine Schwester von ihr in Sibirien lebe, ihr geschiedener Mann in der Heimat aufhältig sei und drei ihrer Brüder umgebracht worden wären. Ihre Eltern seien verstorben und ihr Onkel habe sie zwingen wollen, einen wesentlich älteren Mann zu heiraten, weshalb sie schließlich nicht mehr hätte bleiben wollen. Ihre Ausreise wurde damit begründet, dass sie vor einem halben Jahr vergewaltigt worden wäre und man ihr gedroht habe, sie zu töten, falls sie diesen Vorfall anzeige. In Polen sei sie rund 14 Tage aufhältig gewesen, habe jedoch aufgrund ihrer Schilddrüsenerkrankung Atembeschwerden bekommen.
römisch eins.4. Am 13.07.2009 wurde die Beschwerdeführerin von einem Organwalter der Erstaufnahmestelle Ost im Rahmen eines Parteiengehörs vom Untersuchungsergebnis in Kenntnis gesetzt. Neben Ausführungen hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes führte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen aus, dass sie nicht nach Polen zurück wolle, weil ihr Reiseziel eigentlich Österreich gewesen sei, sie sei jedoch in Polen angehalten worden. Außerdem habe sie gehört, dass Personen, die aus Österreich nach Polen rücküberstellt würden, in Polen zwei Monate lang in Schubhaft verbringen müssten. Die Beschwerdeführerin gab an, dass eine Cousine mit ihrer Familie (vermutlich als anerkannter Flüchtling) in Österreich lebe. Außerdem habe sie zwei Wochen zuvor in Österreich einen Mann kennengelernt, der anerkannter Flüchtling sei. Er besuche sie jeden zweiten Tag und die Beschwerdeführerin wolle mit ihm zusammenleben. Finanzielle oder sonstige Unterstützung erhalte sie von ihm (noch) nicht. Zum Fluchtgrund befragt, gab die Beschwerdeführerin an, ihre drei Brüder seien ermordet worden, ihre Eltern seien verstorben und sie habe drei Jahre allein gelebt. Sie sei vor einem halben Jahr (somit Anfang 2009) vergewaltigt worden und habe danach drei Monate im Krankenhaus verbracht. Sie sei zusammengeschlagen worden und die Leute hätten sie einfach liegen lassen, weil diese gedacht hätten, sie sei tot. Sie sei zwei Wochen ohne Bewusstsein gewesen. Nachdem sie die Vergewaltigung angezeigt habe, sei sie bedroht worden und habe die Anzeige zurückziehen müssen. Weiters habe ihr Onkel sie mit einem "Greis" zwangsverheiraten wollen.
Hinsichtlich der Beschwerdeführerin wurden diverse ärztliche Befunde in Vorlage gebracht.
römisch eins.5. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.11.2009 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß Paragraph 5,
Absatz eins, AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Artikel 16, Absatz , Litera c, Dublin II-VO Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer eins, AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß Paragraph 10, Absatz 4, AsylG festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen zulässig sei.
römisch eins.6. Gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.11.2009 richtete sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde. Darin wurde zunächst vorgebracht, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Heimat vergewaltigt worden sei. Nach Ausführungen hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes wurde behauptet, dass die medizinische Versorgung in Polen nicht generell gewährleistet sei. Die Beschwerdeführerin sei aufgrund ihrer derzeitigen gesundheitlichen Situation auf die moralische und psychische Unterstützung durch ihre Cousine, die als anerkannter Flüchtling in Österreich lebe, angewiesen. Das Bundesasylamt habe kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt. Insbesondere sei die Intensität des Familienlebens mit der Cousine der Beschwerdeführerin nicht erhoben worden, auf deren Unterstützung die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Erkrankungen angewiesen sei. Die Beschwerdeführerin habe in Polen kein faires Verfahren zu erwarten und sei in Polen von monatelanger Haft bedroht. Darüber hinaus habe die Beschwerdeführerin in Polen keine Existenzgrundlage.
römisch eins.7. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 07.12.2009, GZ S14 410.218-1/2009/2E, wurde der dagegen erhobenen Beschwerde gemäß Paragraph 41, Absatz 3, stattgegeben und der Bescheid vom 10.11.2009 behoben. Der Bescheid wurde mit der gesundheitlichen Situation der Beschwerdeführerin begründet, da diese an einem Schilddrüsenkarzinom leide.
römisch eins.8. Nach Zulassung ihres Verfahrens wurde die Beschwerdeführerin am 10.02.2010 im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache niederschriftlich befragt und bejahte anfangs ausdrücklich, psychisch und physisch in der Lage zu sein, ihre Angaben in ihrem Asylverfahren zu tätigen. Gesundheitlich gehe es ihr "halbwegs", sie sei im September 2009 am "Kropf" operiert worden. Sie müsse ständig Kontrolluntersuchungen wahrnehmen und nehme auch Tabletten ein.
Nachdem die Beschwerdeführerin ausführlich über die Bedeutung ihrer Einvernahme belehrt worden war und sie Angaben hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes tätigte, führte sie zusammengefasst aus, russische Staatsangehörige zu sein und der inguschischen Volksgruppe anzugehören. In Österreich lebe eine Cousine, welcher der Asylstatus zuerkannt worden sei. Diese Cousine habe sie im Herkunftsstaat selten gesehen, sehe sie hier in Österreich nunmehr oft. Im Herkunftsstaat lebe noch ihre Schwester. Die von der Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Befragung am 13.07.2009 angeführte Beziehung mit einem als Konventionsflüchtling anerkannten afghanischen Staatsangehörigen sei noch aufrecht, wobei sie sich nicht mehr so oft wie früher sehen, jedoch dennoch regelmäßig.
Befragt, warum sie ihr Heimatland verlassen habe und nach Belehrung, dass ihre Angaben unter die Amtsverschwiegenheit fallen, nahm dies die Beschwerdeführerin zur Kenntnis, beantwortete die Frage jedoch nicht. Befragt, was sie im Falle einer Rückkehr zu befürchten habe, schilderte die Beschwerdeführerin, dass man sie töten würde.
römisch eins.9. Am 02.08.2010 langte ein am 27.07.2010 erstelltes psychiatrisch/neurologisches Sachverständigengutachten, erstellt aufgrund einer am 07.04.2010 erfolgten Untersuchung der Beschwerdeführerin, beim Bundesasylamt ein. Laut Gutachten leidet die Beschwerdeführerin an einer Anpassungsstörung mit subdepressiver Stimmung, innerer Unruhe, Ängstlichkeit und allgemeiner Verunsicherung. Das Störungsbild sei multifaktoriell bedingt. Sie sei zwar nicht suizidgefährdet, folge man jedoch den Angaben der Beschwerdeführerin über ihre Ängste im Falle einer Rückkehr nach Russland, so würde eine Zurückschiebung in ihre Heimat zweifelsohne eine starke emotionale Belastung und eine Verschlechterung ihres psychischen Zustandes darstellen. Die Beschwerdeführerin führte anlässlich ihrer Befragung im Rahmen ihrer Untersuchung am 07.04.2010 insbesondere aus, dass ihre Brüder bei der Miliz bzw. als Verkehrspolizisten tätig gewesen wären und in Ausübung ihrer Berufe ermordet worden wären. Ihre verheiratete Schwester lebe mit ihrer Familie in Novosibirsk. Befragt gab die Beschwerdeführerin an, dass sie den Herkunftsstaat verlassen habe, weil fast alle Familienangehörigen tot wären, weil sie diverse Krankheiten habe und weil sie rund sechs Monate vor ihrer Ausreise von drei Burschen vergewaltigt und anschließend verprügelt worden wäre. Die Täter hätte sie identifiziert und damit bewirkt, dass diese nunmehr im Gefängnis sitzen würden. Ihr Onkel, der nach dem Tod ihrer Eltern das Familienoberhaupt sei, hätte sie mit einem rund 73 Jahre alten Mann verheiraten wollen, weshalb sie von zu Hause geflohen wäre, weil sie große Angst gehabt hätte, ihrem Onkel zu widersprechen. Im Falle ihrer Rückkehr in die Heimat fürchte sie von ihrer Familie, insbesondere von ihrem Onkel verprügelt zu werden, weil sie diesem nicht von ihrer Ausreise erzählt habe.
römisch eins.10. Im Rahmen des Parteiengehörs wurde der Beschwerdeführerin am 10.09.2010 das Untersuchungsergebnis zur Kenntnis gebracht und von der zur Entscheidung berufenen Organwalterin und einer Dolmetscherin für die russische Sprache einvernommen. Zusammengefasst führte sie, nachdem sie darüber informiert wurde, dass beabsichtigt ist, ihr aufgrund ihrer Erkrankung subsidiären Schutz in Österreich zu gewähren, aus, dass sie keinesfalls mehr in ihre Heimat zurückkehren könne.
Befragt, ob die Männer, welche die Beschwerdeführerin beschrieben hatte, Soldaten oder Zivilisten gewesen wären, antwortete die Beschwerdeführerin, dass es Zivilisten gewesen wären. Hinsichtlich des Vorfalls schilderte sie, dass diese Zivilsten gewusst hätten, dass die Beschwerdeführerin dort allein gewesen sei. Es sei nichts gestohlen worden. Vielleicht hätten sie vermutet, dass die Beschwerdeführerin bereits über das Geld vom geplanten Hausverkauf verfüge und hätten danach in ihrem Haus gesucht.
Die Beschwerdeführerin wurde erneut darüber informiert, dass eine Überstellung nach Polen nicht stattfinde. Erneut wurde die Beschwerdeführerin darüber belehrt, dass sie die Wahrheit angeben müsse, nichts verschweigen dürfe und sie alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte selbständig und über Nachfrage wahrheitsgemäß darlegen müsse. Nach ausführlicher Darlegung ihrer Mitwirkungspflicht und des Zwecks der Einvernahme führte sie zu ihren Angaben im Gutachten von April 2010 befragt aus, dass es sehr schwer für sie gewesen sei, dort über ihre Probleme zu sprechen.
Nachdem der Beschwerdeführerin das Ergebnis der gutachterlichen Untersuchung zur Kenntnis gebracht wurde und ein Exemplar desselben ausgehändigt wurde, führte sie zusammengefasst aus, sie habe in Österreich ihren Mann, einen Afghanen, kennen gelernt, der auch Asylwerber sei und zwischenzeitig in ein anderes Land abgeschoben worden wäre. Er sei jedoch wegen der Beschwerdeführerin wieder zurückgekommen. Wegen der Beziehung zu diesem Mann sei sie auch in Wien von Tschetschenen bedroht worden. Ihr Mann wohne in Wien bei einem Freund, er sei jedoch nicht dort angemeldet. Nunmehr plane ihr Mann, sich den Behörden zu stellen und erneut einen Asylantrag zu stellen. Sie selbst wohne in Altenmarkt. Hinsichtlich ihrer in Wien lebenden Cousine führte sie aus, dass der Kontakt zu dieser nicht so eng sei.
Nachdem ihr die Länderinformationen zu ihrem Herkunftsland Inguschetien, insbesondere auch hinsichtlich der Situation von Frauen in der Russischen Föderation, der Innerstaatlichen Fluchtalternative und auch betreffend Behandlungsmöglichkeiten von Krebspatienten in der Russischen Föderation zur Kenntnis gebracht wurden, gab sie an, dazu nichts sagen zu wollen.
Ausdrücklich gab sie auf Nachfrage an, dass sie ihren bisherigen Angaben nichts hinzufügen wolle. Befragt schilderte sie, keinen Rechtsvertreter in ihrem Verfahren zu haben und die Bescheidzustellung direkt an sie selbst wünsche.
Nach Rückübersetzung des Einvernahmeprotokolls bestätigte die Beschwerdeführerin die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift und die Rückübersetzung.
römisch eins.11. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 10. September 2010, Zl. 09 07.062-BAT, wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 15.06.2009 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005, idgF, abgewiesen und gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt sowie die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 bis zum 15.09.2011 erteilt. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des Paragraph 3, AsylG 2005 biete. Die Erteilung des subsidiären Schutzes wurde mit dem Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin begründet, da die Beschwerdeführerin an Krebs erkrankt sei und die Behandlungskosten das Ausmaß jenseits ihrer finanziellen Möglichkeiten weit übersteigen würden.
römisch eins.12. Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins, worin dieser wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten wurde. Die belangte Behörde habe die Grundsätze der amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts und der Wahrung des Parteiengehörs gemäß Paragraph 37, AVG nicht genüge getan. Die Beschwerdeführerin sei in der Heimat vergewaltigt worden und ihr drohe eine Zwangsheirat und eine Vergewaltigung werde in der inguschetischen Gesellschaft als Schande für die gesamte Familie und Familienehre betrachtet und die Opfer gesellschaftlich geächtet und ausgegrenzt. Das Bundesasylamt verkenne, dass die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Verfolgungshandlungen aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfe. Die GFK führe zwar das Geschlecht nicht als eigenes Kriterium an, eine geschlechtssensible Auslegung der Konvention mache jedoch eine Erweiterung der GFK nicht nötig. Die erstinstanzliche Behörde habe es unterlassen nachzuprüfen, ob (laut Richtlinie zum internationalen Schutz hinsichtlich der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe") eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure aus Motiven, die in Beziehung zu einem Konventionsgrund stehen, gleichgültig, ob die Unterlassung von Schutz durch den Staat mit dem Abkommen in Verbindung stehe oder nicht, oder ob das Verfolgungsrisiko durch einen nichtstaatlichen Akteur in keiner Beziehung zu einem Konventionsgrund stehe, der Staat jedoch aus einem Konventionsgrund außerstande oder nicht bereit sei, Schutz zu bieten. Daher liege ein schwerer Verfahrensmangel vor. Bei einer Gesamtbetrachtung hätte das Bundesasylamt im Falle der Beschwerdeführerin somit feststellen müssen, dass ihr bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Verfolgungshandlungen drohen und auch ein kausaler Zusammenhang mit einem Konventionsgrund bestehe.
römisch eins.13. Mit Verfahrensanordnung vom 02.11.2011 wurde der Beschwerdeführerin ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
Am 02.08.2012 wurde der Reisepass der Beschwerdeführerin aus Polen übermittelt.
römisch eins.14. Mit Schreiben vom 23.08.2012 wurden der Beschwerdeführerin umfangreiche aktuelle Länderberichte zur Lage in der Russischen Föderation und der Republik Inguschetien übermittelt und diese binnen 14 Tagen zur Wahrung des Parteiengehörs aufgefordert.
römisch eins.15. Am 14.09.2012 langte beim Asylgerichtshof eine Stellungnahme vom 10.09.2012 der Beschwerdeführerin ein, in der zusammengefasst ausgeführt wurde, dass die Beschwerdeführerin in einer psychisch wie physisch ausnehmend schlechten Verfassung gewesen sei, weshalb - um die Beschwerdeführerin zu schonen - von einer detaillierten Befragung im erstinstanzlichen Verfahren Abstand genommen worden sei. Vielmehr sei aus nachvollziehbaren Gründen und Rücksichtnahme auf das psychiatrisch/neurologische Sachverständigengutachten von April Bezug zu nehmen. Anlässlich der Begutachtung habe die Beschwerdeführerin ausgeführt, dass es für sie sehr schwer gewesen sei, dort über ihre Probleme zu sprechen. Aus dem Akteninhalt sei bekannt, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Erkrankungen intensiver medizinischer Behandlung bedürfe, dass ihre drei Brüder willkürlich verhaftet und umgebracht worden wären und ihre Eltern verstorben wären. Die Beschwerdeführerin sei rund ein halbes Jahr vor ihrer Flucht brutal vergewaltigt worden und drei Monate lang in stationärer Spitalsbehandlung gewesen. Sie habe die Täter angezeigt, diese Anzeige habe sie jedoch aufgrund von Drohungen seitens der Brüder der verhafteten Täter wieder zurückgezogen. Die Täter seien daraufhin entlassen worden. Der Onkel der Beschwerdeführerin (eigentlich der Cousin ihres Vaters), der nunmehr traditionell das Familienoberhaupt sei, wolle sie nach all den traumatischen Erlebnissen an einen wesentlich älteren Mann zwangsverheiraten. Aus angefochtenem Bescheid gehe hervor, dass der Sachverhalt nicht vollständig ermittelt worden sei und daher ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren erfolgt sei. Die Beschwerdeführerin, die mit Hilfe von Mitarbeitern einer Beratungsstelle der Caritas Wien die Stellungnahme verfasst hatte, sei derzeit immer noch in einer psychisch extrem belasteten Verfassung. Der jüngste Bruder römisch 40 sei laut Sterbeurkunde im Gefängnis an TBC verstorben, allerdings habe sein Leichnam, den auch die Beschwerdeführerin gesehen habe, Merkmale aufgewiesen, die darauf hinweisen würden, dass dieser misshandelt und geschlagen worden wäre. römisch 40 habe etwa einen Monat vor seiner Verhaftung ein falsches Schuldeingeständnis hinsichtlich eines Drogendelikts unterschrieben. römisch 40 hätte gegen Bezahlung eines hohen Geldbetrages freikommen können, sei jedoch zwischenzeitig verstorben. Der Sohn ihres Onkels römisch 40 sei sehr gewalttätig und habe auch die Beschwerdeführerin zu Lebzeiten ihres Vaters vielfach geschlagen. Dies habe er damit begründet, dass sich die Beschwerdeführerin "unislamisch" verhalte und mit Männern spreche.
Der Bruder von römisch 40 namens römisch 40 sei ein Mufti in Nasran (Anmerkung: ein offizieller Erteiler von islamischen Rechtsgutachten) und habe seinen gewalttätigen Bruder römisch 40 durch seinen Einfluss bereits mehrfach vor Behördenzugriffen bewahrt. Der Cousin seines Vaters habe die Beschwerdeführerin nach dem Tod ihres Vaters verheiraten wollen, davor sei sie in eine freiwillige - nur drei Monate dauernde - Ehe mit einem Tschetschenen geflohen. Als geschiedene Frau sei sie in das (Eltern-)Haus zurückgekehrt und es habe sich der Überfall ereignet, bei dem sie vergewaltigt und schwer verletzt worden wäre. In der Folge habe sie bei verschiedenen Verwandten gelebt. Nach dem Überfall habe der Onkel die Beschwerdeführerin gegen ihren Willen mit einem wesentlich älteren Mann zwangsverheiraten wollen. Einer der Vergewaltiger sei ein ihr namentlich bekannter Mann gewesen, der zuvor ihren Bruder römisch 40 verhaftet habe und der Miliz in Nasran angehöre. Da die Beschwerdeführerin den Täter angezeigt habe und dadurch auch die beiden anderen Täter, die auch der Miliz angehörten, ausfindig gemacht und verhaftet worden wären, sei die Beschwerdeführerin massiv von den Brüdern der Verhafteten bedroht worden, weshalb sie die Anzeige aus Angst zurückgezogen habe. Aus Angst vor der Rache der angezeigten Täter und vor der drohenden Zwangsverheiratung sei sie aus wohlbegründeter Furcht nach Österreich gelangt. In Österreich habe sie einen afghanischen Flüchtling kennengelernt, mit welchem sie 2010 die (islamische) Ehe geschlossen habe. Über die soziale russische Internetplattform odnoklassniki sei sie mit Freundinnen in Kontakt und habe auf diesem Wege von einer Freundin erfahren, dass der Sohn ihres Onkels sie umbringen wolle, da er darüber informiert worden wäre, dass die Beschwerdeführerin angeblich einen Afrikaner heiraten wolle. Auch als die Beschwerdeführerin richtig gestellt habe, dass ihr Ehemann Afghane sei, sei sie von ihrer Freundin gewarnt worden, dass dies keinen Unterschied mache und sie sich in Acht nehmen müsse. Somit liege bei der Beschwerdeführerin zudem wegen des Bestehens einer gemischt ethnischen Ehe das Verfolgungsrisiko wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor.
Auszugsweise wurde auf ein Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 25.11.2011, GZ: B13 313056-1/2008, verwiesen, in dem bei der tschetschenischen Beschwerdeführerin wegen des Bestehens einer gemischt ethnischen Ehe mit einem afghanischen Staatsangehörigen das Verfolgungsrisiko wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe festgestellt wurde. Im Erkenntnis wurde hinsichtlich der Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass angesichts es bei betreffendem Sicherheitsrisiko nicht möglich sei, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen, weil den Feststellungen zur Russischen Föderation folgend Gewalt gegen Frauen weiterhin ein schwerwiegendes Problem sei und kaum verfolgt werde. Häusliche Gewalt sei in vielen Fällen als Privatsache angesehen und werde nicht als Straftat verfolgt. Im gegenständlichen Fall sei die Beschwerdeführerin der inguschischen Volksgruppe zugehörig und sei als solche jedenfalls denselben Traditionen unterworfen wie im zitierten Erkenntnis. Auszugsweise wurden Länderfeststellungen zur Russischen Föderation und zu Inguschetien zitiert und darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin keine Möglichkeit habe, sich gegen die Misshandlungen durch römisch 40 , Sohn des Cousin ihres Vaters, zu wehren.
Die Beschwerdeführerin habe somit mehrfach höchst asylrelevante Verfolgung zu gewärtigen, weil sie durch drei von ihr angezeigte Angehörige der Miliz, die sie vergewaltigt hätten, verfolgt werde, weil sie vor einer Zwangsverheiratung durch den Onkel (dem Cousin ihres Vaters) geflohen sei, ihr Onkel und dessen Sohn angedroht hätten, sie aufgrund ihrer Eheschließung mit einem afghanischen Staatsangehörigen zu töten und sie Verfolgung aufgrund des Bestehens einer gemischt ethnischen Ehe wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu gewärtigen habe. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung werde daher beantragt. Die Übermittlung der islamischen Heiratsurkunde über die am 2010 eingegangene (islamische) Ehe der Beschwerdeführerin wurde angekündigt.
römisch II. Der Asylgerichtshof hat über die gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides gerichtete Beschwerde wie folgt festgestellt und erwogen:
römisch II.1. Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsicht in den dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakt der Beschwerdeführerin sowie die im Rahmen des Parteiengehörs der Beschwerdeführerin zur Kenntnis gebrachen Länderdokumente.
römisch II.2. Der Asylgerichtshof geht von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:
Zur Person und den Fluchtgründen:
Die Beschwerdeführerin ist russische Staatsangehörige und Angehörige der inguschetischen Volksgruppe. Sie ist am römisch 40 geboren und trägt den Namen römisch 40 . Ihre Identität steht aufgrund der Vorlage ihres russischen Inlandsreisepasses in Zusammenschau mit ihren diesbezüglich glaubwürdigen Aussagen fest.
Sie gelangte am 15.06.2009 illegal in das österreichische Bundesgebiet und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
Das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin - durch drei von ihr angezeigte Angehörige der Miliz, die sie vergewaltigt hätten, verfolgt zu werden, Flucht vor einer Zwangsverheiratung durch ihren Onkel (dem Cousin ihres Vaters), Todesdrohungen ihres Onkels und dessen Sohn aufgrund ihrer islamischen Eheschließung mit einem afghanischen Staatsangehörigen und Verfolgung aufgrund des Bestehens ihrer gemischt ethnischen Ehe wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - wird mangels Glaubwürdigkeit den Feststellungen nicht zugrunde gelegt. Als Grund für die Ausreise aus dem Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin kann nur der Wunsch nach medizinischer Versorgung in Österreich festgestellt werden.
Es kann weiters weder festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation einer Verfolgung ausgesetzt war, noch droht eine solche aktuell. Ebenso wenig kann unter Zugrundelegung des Vorbringens der Beschwerdeführerin festgestellt werden, dass ihr in der Russischen Föderation Verfolgung aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten drohen würde. Im gegenständlichen Fall sind nach Ansicht des Asylgerichtshofes die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der GFK angeführten Grund, nicht gegeben.
Zur relevanten Situation in der Russischen Föderation und in Inguschetien
Da die im Rahmen des Parteiengehörs der Beschwerdeführerin zur Kenntnis gebrachten aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, das auch dem Kenntnisstand des erkennenden Senates des Asylgerichtshofes entspricht, besteht vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles und auch unter Bedachtnahme auf das Beschwerdevorbringen kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen der belangten Behörde zu zweifeln. Auch die Beschwerdeausführungen und die Stellungnahme vom 14.09.2012 stellen deren Unbedenklichkeit nicht in substantiierter Weise in Frage. Zur Situation im Herkunftsstaat wird unter Heranziehung der der Beschwerdeführerin übermittelten Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat insbesondere Folgendes für den Fall der Beschwerdeführerin als besonders relevant festgehalten:
Russische Föderation, Mai 2012 - Allgemeine Lage
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Innenpolitik
Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der seit Mai 2008 amtierende Präsident Dmitri Anatoljewitsch Medwedew wird am 7. Mai 2012 sein Amt an den am 4. März (mit offiziell 63,6% der Stimmen) zum Präsidenten gewählten derzeitigen Ministerpräsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin für eine nunmehr sechsjährige Amtszeit übergeben. Putin war bereits von 2000 bis 2008 Staatspräsident. Er hat angekündigt, Medwedew nach Amtsantritt zum Ministerpräsidenten zu ernennen.
Für die bevorstehende Präsidentschaft Wladimir Putins wird grundsätzlich politische Kontinuität erwartet. Die von Präsident Medwedew angestoßene Modernisierungsagenda soll weiter verfolgt werden. Gleichzeitig will Putin den Verteidigungssektor stärken und den Sozialstaat weiter ausbauen. Als Reaktion auf die in den letzten Monaten gewachsene Protestbewegung, v.a. der großstädtischen Mittelschicht, gegen Wahlfälschungen und für mehr politischen Partizipation wurden politische Reformen in Aussicht gestellt. So sollen u.a. die Gründung von Parteien und deren Wahlteilnahme erleichtert und direkte Gouverneurswahlen wieder eingeführt werden.
Bei den Dumawahlen im Dezember 2011 hat die von Putin angeführte Partei "Einheitliches Russland" ihre bisherige Zweidrittelmehrheit in der Staatsduma verloren, konnte jedoch eine absolute Mehrheit erreichen. Die drei weiteren in der Duma vertretenen Parteien (Kommunistische Partei, Gerechtes Russland und Liberal-Demokratische Partei Russlands)
konnten ihren Stimmenanteil ausbauen und ihr politisches Gewicht in der Staatsduma erhöhen. Massive Wahlfälschungsvorwürfe bei den Dumawahlen waren ein wesentlicher Auslöser für Massenproteste im Dezember 2011 und Anfang 2012.
Russland ist eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad und Bezeichnungen (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte) besteht. Die Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive. Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente (derzeit durchweg "Einheitliches Russland") vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus. Ein aktuell in der Duma vorliegender Gesetzesentwurf sieht die Wiedereinführung direkter Gouverneurswahlen vor. Ob dabei der Präsident ein Vetorecht behalten soll, ist noch strittig.
Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 166 Mitgliedern. Jedes Föderationssubjekt entsendet zwei Vertreter in den Föderationsrat, je einen aus der Exekutive und der Legislative.
Durch Präsidialdekret vom Juli 2000 wurden die zunächst sieben, seit Februar 2010 acht Föderalbezirke geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der ebenfalls durch Präsidialdekret (September 2000) geschaffene Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen
Fragen und zu Gesetzesprojekten.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Länder, Reise, Sicherheit - Russische Föderation - Innenpolitik, Stand Mai 2012, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html)
Russland ist keine Wahldemokratie. Die Parlamentswahlen im Dezember 2007 wurden von der Verwaltung dirigiert, was den pro-Kremlin Parteien eine große Mehrheit im Unterhaus, das in der Praxis aber machtlos ist, brachte. Die Präsidentschaftswahlen 2008 zeigten die staatliche Dominanz über die Medien, es gab keine Diskussionen, dem Amtsinhaber Putin gelang es, das Amt an seinen von ihm gewählten Nachfolger, Dmitri Medwedew weiterzureichen.
Gemäß der Verfassung von 1993 ist das Amt des Präsidenten sehr stark, dieser entlässt und ernennt, vorbehaltlich der Zustimmung des Parlaments, den Premierminister. Das derzeitige de facto politische System repräsentiert nicht länger die verfassungsmäßige Ordnung, da Premierminister Putin durch seine persönliche Macht und seine Machtbasis in den Sicherheitskräften die dominante Figur in der Exekutive ist. Die Föderalversammlung besteht aus der Staatsduma (450 Sitze) und dem Oberhaus, dem Föderationsrat (166 Sitze). Seit 2007 werden die Sitze in der Duma durch Parteilisten gewählt. Parteien müssen mindestens 7% der Wählerstimmen gewinnen, um in der Duma vertreten zu sein. Wahlbündnisse können nicht geschlossen werden. Um als Partei registriert zu werden, muss eine Partei mindestens 50.000 Mitglieder haben und in der Hälfte der 83 Föderationssubjekte vertreten sein. Diese neuen Bestimmungen machen es - zusammen mit den streng kontrollierten Medien, dem Missbrauch administrativer Ressourcen, darunter auch der Gerichte - für Oppositionsparteien schwer, eine Vertretung zu gewinnen. Die Hälfte der Mitglieder des Oberhauses wird von den Gouverneuren ernannte, die andere Hälfte durch die Regionalparlamente, üblicherweise ist der föderale Einfluss groß. Seit Jänner 2011 sind nur mehr lokal gewählte Politiker berechtigt, im Föderationsrat zu sitzen. Diese Änderung wird vor allem Einheitliches Russland zum Vorteil gereichen, da die meisten lokalen Amtsinhaber Parteimitglieder sind. Nachdem die Gouverneure früher gewählt wurden, werden sie seit 2004 vom Präsidenten ernannt. Nach Verfassungsänderungen 2008 beträgt die Amtszeit des Präsidenten ab nun sechs Jahre (vormals vier), die Einschränkung von maximal zwei Amtsperioden in Folge bleibt bestehen. Die Amtszeit der Duma wurde von vier auf fünf Jahre verlängert.
(Freedom House: Freedom in the World 2011 - Russia, Mai 2011)
An den Wahlen zur Staatsduma am 4.12.2011 nahmen alle sieben beim Justizministerium registrierten politischen Parteien teil, von denen vier auch im bisherigen Parlament vertreten waren: die Regierungspartei "Einiges Russland", die "Kommunistische Partei der Russischen Föderation", die "Liberaldemokratische Partei Russlands" und "Gerechtes Russland". Die anderen drei Parteien waren die Parteien "Jabloko", "Patrioten Russlands" und "(Ge-)Rechte Sache". Dem Gesetz über Politische Parteien zufolge muss eine Partei mindestens 45.000 Mitglieder haben und regionale Zweigstellen mit mindestens 450 Mitgliedern in mehr als der Hälfte der Föderationssubjekte der Russischen Föderation. Nur eine zusätzliche Partei seit den Wahlen 2007 - "(Ge-)Rechte Sache" - konnte für die Wahlen 2011 registriert werden, allen weiteren wurde die Registrierung verweigert. Die Registrierungsvoraussetzungen wurden von allen Parteien vor dem Europarat kritisiert.
Die Dumawahlen 2012 waren gut verwaltet, aber von einer Konvergenz der Regierungspartei mit dem Staat, eingeschränktem politischem Wettbewerb (durch die Verweigerung von Registrierungen politischer Parteien durch das Justizministerium) und mangelnder Fairness gekennzeichnet. Die Wahlverwaltungsbehörden, lokale Behörden und Dienstanbieter behandelten die wahlwerbenden Parteien ungleich, das Spielfeld war zugunsten der Regierungspartei geneigt. Die Unterscheidung zwischen Staat und Regierungspartei wurde oft dadurch verzerrt, dass einige Personen ihr Amt zu ihrem Vorteil nutzten.
Seit den letzten Wahlen wurde der gesetzliche Rahmen in mehrerlei Hinsicht verbessert, beispielsweise war der Zugang zu Printmedien offener, die Möglichkeiten Treffen und Kundgebungen zu veranstalten waren größer. Dennoch ist das Gesetz zu komplex und lässt zu viel Raum für Interpretation, was zu uneinheitlicher Anwendung führte.
Der Umgang der Zentralen Wahlkommission mit Beschwerden unterminierte das Recht der Wahlteilnehmer auf effektive und zeitgerechte Abhilfe. Die Unabhängigkeit der Kommission von der staatlichen Administration wurde von den meisten politischen Parteien in Frage gestellt. Die Möglichkeiten für internationale Wahlbeobachter waren eingeschränkt.
Am Wahltag war die Stimmabgabe gut organisiert, aber die Qualität des Prozesses verschlechterte sich während der Auszählung, bei der es zu Verletzungen der vorgegebenen Prozedere und zu Manipulationen kam. Die Massenproteste in vielen russischen Städten weisen auf Bedenken in der Öffentlichkeit hin. Eine Untersuchung von mehr als 2.000 diesbezüglichen Anschuldigungen wurde eingeleitet.
(Council of Europe - Parliamentary Assembly: Observation of the parliamentary elections in the Russian Federation (4 December 2011), 23.1.2012)
Wie die Wahlkommission mitteilte, entfallen auf die Partei des Ministerpräsidenten Wladimir Putin 238 der insgesamt 450 Mandate. Im Vergleich zur Duma-Wahl 2007 verlor sie 77 Mandate. Im Parlament sind alle vier bisherigen Parteien weiterhin vertreten. Die Kreml-Partei kommt auf 49,54 Prozent der Stimmen (2007: 64,3 Prozent). Die Kommunisten kamen auf 19,16 Prozent der Stimmen und 92 Sitze, Gerechtes Russland auf 13,22 Prozent (64 Sitze) und die ultranationalistische Liberaldemokratische Partei von Wladimir Schirinowski auf 11,66 Prozent (56 Sitze).
(Zeit.de: Medwedjew nennt Verluste "Demokratie in Aktion", 5.12.2011,
http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-12/russland-wahlen-verluste)
Zwei Wochen nach der umstrittenen Parlamentswahl protestierte die Opposition erneut mit landesweiten Demonstrationen gegen das von Fälschungsvorwürfen überschattete Ergebnis. In Moskau begann gegen Mittag eine Kundgebung, zu der die liberale Oppositionspartei Jabloko aufgerufen hatte. Die Polizei sprach zunächst von schätzungsweise 1500 Teilnehmern. Wie in der Vorwoche, als Zehntausende im Zentrum der Stadt demonstriert hatten, verfolge ein Großaufgebot der Sicherheitskräfte die Veranstaltung, berichtete der Radiosender Echo Moskwy. Jabloko-Chef Sergej Mitrochin forderte in seiner Rede den Rücktritt des umstrittenen Wahlleiters Wladimir Tschurow und die Freilassung aller Oppositionellen, die während der jüngsten Protestwelle eingesperrt worden waren.
(DiePresse.at: Wieder Proteste gegen Wahlausgang in Russland, 17.12.2011,
http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/717503/Wieder-Proteste-gegen-Wahlausgang-in-Russland?from=simarchiv)
Auch im Februar 2012 kam es noch zu Demonstrationen, um - in Aussicht der Präsidentschaftswahlen am 4.3.2012 - ehrliche Wahlen zu fordern. Am 4.2. demonstrierten in Moskau und anderen russischen Großstädten zehntausende Gegner und Anhänger von Präsidentschaftskandidat Wladimir Putin. In Moskau fanden vier Großdemonstrationen statt, drei der Opposition und eine zur Unterstützung von Wladimir Putin. Die oppositionelle Kundgebung "Für faire Wahlen" war mit rund 34.000 Teilnehmern nach amtlichen Angaben bislang die größte Aktion der Regierungsgegner. Die Organisatoren sprachen sogar von 120.000 Demonstranten. Rund 140.000 Menschen kamen zu einer Kundgebung westlich vom Stadtkern, um Putin zu unterstützen. Nach Angaben des russischen Innenministeriums hat es landesweit 91 Aktionen mit insgesamt rund 230.000 Teilnehmern gegeben.
(Ria Novosti: Demo-Wirbel: Zehntausende demonstrieren für und gegen Putin, 4.2.2012, http://de.rian.ru/politics/20120204/262619397.html)
Bei den Wahlkämpfen um die Duma 2007 und um die Präsidentschaft 2008 kam es zum Einsatz administrativer Ressourcen zugunsten der Regierungspartei bzw. des Kandidaten Medwedew sowie zu tendenziösen Entscheidungen der Zentralen Wahlkommission über die Zulassung anderer Parteien und Kandidaten. Ähnliches gilt für die seither abgehaltenen Wahlen auf regionaler Ebene. Auch auf kommunaler Ebene findet durch die Abschaffung der Direktwahl des Bürgermeisters in rund 50 der gut 100 Großstädte und die Einführung eines Systems von ernannten "City-Managern" eine weitere Beschneidung demokratischer Institutionen statt. Die "City-Manager' werden in der Regel von einer Auswahlkommission ernannt, die aus Vertretern der Stadtduma und/oder der Stadtverwaltung besteht. Die Kriterien sind unklar, der Auswahlprozess intransparent; oft kommen Freunde/Geschäftspartner des Gouverneurs zum Zuge. Durch dieses Verfahren wurden die immer häufiger werdenden Machtkämpfe zwischen den Bürgermeistern und den seit 2005 nicht mehr direkt gewählten Gouverneuren zu Gunsten letzterer entschieden.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Wegen der zeitlichen Nähe und der Zahl der Regionen galten die im März 2011 in 12 Föderationssubjekten abgehaltenen regionalen Dumawahlen als wichtiger Stimmungstest für die anstehenden föderalen Wahlen. Die Regierungspartei "Einiges Russland" konnte eine flächendeckende Mehrheit erlangen, verfehlte jedoch in sieben Föderationssubjekten die absolute Mehrheit. Im Vergleich zu den Regionalwahlen vom Herbst 2010 lässt die erkennbare Tendenz einer leicht sinkenden Zustimmung zur "regierenden Partei" eine verstärkte Vertretung der Opposition in der neuen Staatsduma erwarten.
Die Wahlbeteiligung lag in der Russischen Föderation kontinuierlich zwischen 55% und 65%, und betrug bei der Wahl von 2007 59%. Die Dumawahl erfährt geringere Aufmerksamkeit als die Präsidentschaftswahl.
(Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.: Länderbericht - Russische Parlamentswahlen 2011: Wahlablauf und Beteiligte, 12.5.2011)
Allgemeine Sicherheitslage
Den offiziellen Aussagen zufolge hat sich die Anzahl der Angriffe von Aufständischen im Nordkaukasus 2010 im Vergleich zu 2009 verdoppelt. 2011 war der islamistische Aufstand weiterhin im Anwachsen, insbesondere in der Teilrepublik Dagestan. Im Jänner 2011 tötete ein Selbstmordattentäter aus dem Nordkaukasus auf einem Moskauer Flughafen 37 Personen, mehr als 120 wurden verletzt. Der Tod von drei Touristen in Kabardino-Balkarien, vermutlich durch Aufständische, führte zur Schließung der dortigen Schiressorts.
Die Anwendung von Folter, Entführungen gleichkommenden Verhaftungen, erzwungenem "Verschwinden", und außergerichtlichen Tötungen durch Sicherheitskräfte im Rahmen ihrer Aufstandsbekämpfung, und damit einhergehend die Straffreiheit für diese Missbräuche, brachte die Bevölkerung des Nordkaukasus auf.
(Human Rights Watch: World Report 2012 - Russia, 22.01.2012)
2011 wurden in Russland nach Angaben des FSB nur halb so viele terroristische Verbrechen verzeichnet als 2010, nämlich 365 im Gegensatz zu 779. Neben Terroranschläge zählen zu solchen Verbrechen auch Angriffe auf Sicherheitskräfte. 2011 kam es 10 Terroranschlägen, während es 2010 noch 23 gewesen waren. Im Nordkaukasus gibt es gemäß dem Leiter des FSB eigene Zentren, die ehemaligen Verbrechern helfen sollen, ein Leben außerhalb des Terrorismus zu führen. 49 Personen wurden überzeugt, ihre terroristischen Aktivitäten zu beenden, derzeit arbeite diese Antiterrorkommission mit über 90 Personen.
2011 wurden im Nordkaukasus fast 50 Bandenführer, darunter zwei von Al Kaida, eliminiert und weitere fast 300 aktive Bandenführer wurden ebenfalls getötet.
(Ria Novosti: Russian Terror Crimes Down by 50% in 2011 - FSB Chief, 15.2.2012, http://en.rian.ru/russia/20120215/171325101.html)
Nordkaukasus
Nach Schätzung des Bevollmächtigten für den Föderationskreis Nordkaukasus Alexander Chloponin, waren [mit Stand September 2010] rund 1.000 Rebellenkämpfer in diesem Föderationskreis aktiv.
(Ria Novosti: Some 1,000 militants 'still active' in North Caucasus, 30.9.2012, http://en.rian.ru/russia/20110930/167282370.html)
Präsident Medwedew erklärte am 16. April 2009 den "Antiterrorkampf" in Tschetschenien offiziell für beendet. Seit der Regierung und Präsidentschaft Ramsan Kadyrows sind vordergründig zahlreiche Zeichen der Normalisierung festzustellen, jedoch um den Preis ausgeweiteter Repressionen durch Kadyrows Machtapparat. Vereinzelt finden weiterhin kleinere Kämpfe zwischen Rebellen und regionalen sowie föderalen Sicherheitskräften statt. Bei den aktiven Rebellen haben islamistische Kräfte die Oberhand gewonnen, die die Errichtung eines "Kaukasischen Emirates' im gesamten Nordkaukasus (Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Nordossetien, Karatschajewo-Tscherkessien, Teile des Gebietes Stawropol) anstreben und ihre Aktivitäten immer mehr in die Nachbarrepubliken, insbesondere Inguschetien und Dagestan, aber auch vermehrt in den bislang ruhigen westlichen Nordkaukasus, verlagert haben. Auch eine dauerhafte Befriedung der Lage in Tschetschenien ist nicht eingetreten.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
2010 waren 74% der Opfer im Nordkaukasus in Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan zu beklagen, 2011 waren es 82%. Beinahe 60% aller Opfer waren 2011 im Dagestan zu verzeichnen.
(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 18, 26.1.2012)
Teile des Landes, vor allem im Nordkaukasus, sind von hohem Gewaltniveau betroffen. Der Erfolg des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, bedeutende Rebellenaktivität in seinem Herrschaftsbereich einzuschränken, ging einher mit zahlreichen Berichten über außergerichtliche Tötungen und Kollektivbestrafung. Zudem breitete sich die Rebellenbewegung in den umliegenden russischen Republiken, wie Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien aus. Hunderte Beamte, Aufständische und Zivilisten sterben jedes Jahr durch Bombenanschläge, Schießereien und Morde. Im März 2010 griffen Selbstmordattentäter die U-Bahn in Moskau an. Im August 2010 griffen Aufständische Kadyrows Heimatort an, und im Oktober das tschetschenische Parlament. Medwedew ernannte Aleksandr Chloponin, einen erfolgreichen Geschäftsmann und sibirischen Gouverneur, zu seinem Gesandten in dem neuen Föderationskreis Nordkaukasus. Die Politik der föderalen Regierung zieht jedoch bei der Problemlösung in der Region weiterhin die Anwendung von bewaffneter Gewalt wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen vor.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus war weiter instabil. Die Gewalt beschränkte sich auch 2010 nicht auf Tschetschenien, sondern betraf auf die angrenzenden Regionen Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Nordossetien. Die Behörden räumten öffentlich ein, dass ihre Maßnahmen zur Bekämpfung der bewaffneten Gewalt keine Wirkung zeigten. Zahlreiche Angehörige der Strafverfolgungsorgane wurden Opfer von Überfällen bewaffneter Gruppen, die außerdem Selbstmordattentate ausführten, die sich wahllos gegen die Zivilbevölkerung richteten. Im September kamen Berichten zufolge in Wladikawkas in der Republik Nordossetien-Alanien durch eine Autobombe mindestens 17 Menschen zu Tode, mehr als 100 wurden verletzt.
Im gesamten Nordkaukasus sollen Beamte mit Polizeibefugnissen an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein. Es wurden ihnen widerrechtliche Inhaftierungen und Folter vorgeworfen sowie in einigen Fällen auch die außergerichtliche Hinrichtung mutmaßlicher Mitglieder bewaffneter Gruppen. Da es keine wirksamen Untersuchungen dieser Menschenrechtsverletzungen gab, wurden die Täter auch nicht zur Rechenschaft gezogen. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger, die darüber berichteten, wurden häufig eingeschüchtert und schikaniert.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, 13.5.2011)
Menschenrechte
Russland befindet sich seit dem Ende der Sowjetunion in einem umfassenden und schwierigen Transformationsprozess. Die rechtlichen Grundlagen für den Menschenrechtsschutz haben sich seit Beginn der 90er Jahre erheblich verbessert. Die Umsetzung vieler rechtlicher Normen lässt aber weiterhin zu wünschen übrig. Der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation. Wladimir Lukin, übt in seinen Jahresberichten ausgewogene, aber teils auch sehr deutliche Kritik u. a. an Missständen im Gerichtswesen und den Zuständen in russischen Gefängnissen, insbesondere hinsichtlich Gewaltakte gegenüber Häftlingen und deren unzureichender medizinischer Versorgung.
Insgesamt hat sich die Menschenrechtslage in Russland in jüngster Vergangenheit trotz entsprechender Willensbekundungen von Präsident Medwedew nicht verbessert. Am 30. Juli 2010 trat Ella Pamfilowa, langjährige Vorsitzende des "Rates für Zivilgesellschaft und Menschenrechte beim Russischen Präsidenten", von ihrem Amt zurück, u. a. um vor dem Hintergrund ausbleibender Fortschritte bei der zivilgesellschaftlichen und Menschenrechtsentwicklung in Russland ein Zeichen zu setzen. Präsident Medwedew hat am 12. Oktober 2010 den Juristen Michail Fedotow zu ihrem Nachfolger ernannt, welcher als liberal gilt und sich breiter Wertschätzung - auch unter Vertretern der Zivilgesellschaft - erfreut.
Im Europarat bemüht sich Russland um Erfüllung seiner mit dem Beitritt 1996 eingegangenen Verpflichtungen, setzt aber nicht genügend Mittel und Energie zur Umsetzung ein. 1998 ratifizierte die Duma die Europäische Menschenrechtskonvention, die Anti-Folter-Konvention und die Konvention zum Schutz nationaler Minderheiten. Der Europarat äußerte sich mehrmals kritisch zur Menschenrechtslage in der Russischen Föderation. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates verabschiedete am 22. Juni 2010 die Resolution 1738 (Legal Remedies for human rights violations in the North Caucasus region), die die Lage sehr kritisch betrachtet. Dieser Resolution stimmten erstmals russische Delegierte der Parlamentarischen Versammlung zu. Ein großer Teil der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anhängigen Individualbeschwerden betreffen Russland. Die russische Ratifizierung des Zusatzprotokolls Nr. 6 (Abschaffung der Todesstrafe) zur Europäischen Menschenrechtskonvention steht weiterhin aus.
Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 orientiert sich an westeuropäischen Vorbildern. Sie postuliert, dass die Russische Föderation ein "demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform' ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, Rasse, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Artikel 19, Absatz 2,). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Artikel 15, Absatz 4, der russischen Verfassung aufgeführt: Danach "sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems."
Russland ist folgenden VN-Übereinkommen beigetreten:
Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)
Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)
Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)
Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Straf (1987)
Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Im Februar 2010 setzte Medwedew den Präsidentiellen Rat zur Förderung von zivilgesellschaftlichen und Menschenrechtsinstitutionen (Menschenrechtsrat) wieder ein, mit Ella Pamfilova als Vorsitzende. Dieser kooperierte mit NRO. Mitglieder sind weiterhin auch prominente Menschenrechtsaktivisten, die der Menschenrechtsbilanz der Regierung sehr kritisch gegenüberstehen. Treffen zwischen dem Rat und Medwedew fanden im April und November statt.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Formal garantiert Russland in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten. Es mangelt jedoch häufig an der praktischen Umsetzung. Menschenrechtler bewerten die Lage weiterhin kritisch und beklagen staatlichen Druck auf zivilgesellschaftliche Akteure. Repressive Traditionen und ein Mangel an Rechtsstaatskultur verbinden sich mit einem teilweise immer noch fehlendem Respekt für individuelle Rechte und Freiheiten. Hinzu kommen Mängel bei der Unabhängigkeit der Judikative und die verbreitete Korruption. Bei der Terrorismusbekämpfung, insbesondere im Nordkaukasus, sind auch autoritäre Einschränkungen der Grundrechte zu beobachten. Trotz einiger Reformbemühungen, namentlich im Strafvollzugsbereich, und punktueller Verbesserungen bestehen bei der Menschenrechtslage im Land zum Teil erhebliche Defizite fort..
(Deutsches Auswärtiges Amt: Länder, Reise, Sicherheit - Russische Föderation - Innenpolitik, Stand Mai 2012, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html)
Meinungs- und Pressefreiheit
Die Redefreiheit ist verfassungsmäßig gewährleistet, jedoch übt die Regierung Druck auf die ohnehin sinkende Anzahl der kritischen Medien aus. Seit 2003 kontrolliert die Regierung - direkt oder über staatliche Unternehmen - alle nationalen Fernsehnetzwerke. Nur eine Handvoll Radiosender und Publikationen mit eingeschränktem Leserkreis bieten eine große Bandbreite an Sichtweisen. Diskussionen im Internet sind anscheinend frei, die Regierung wendet jedoch große Mittel auf, um die dort erhältlichen Informationen und Analysen zu manipulieren. Seit der Machtübernahme Putins wurden mindestens 19 Journalisten ermordet, drei davon 2009, in keinem der Fälle wurden die Drahtzieher strafrechtlich verfolgt. Ein brutaler Angriff auf den Journalisten und Blogger Oleg Kaschin im November 2010 war nur einer von vielen solchen Vorfällen während des Jahres, und demonstrierte die gefährlichen Umstände für Reporter in Russland. Die Behörden schränkten die Meinungsfreiheit durch den Erlass unklarer Gesetze zu Extremismus ein, die es ermöglichen, gegen Ansprachen, Organisationen oder sonstige Aktivitäten ohne offizielle Unterstützung vorzugehen.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Meinungs- und Pressefreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert, werden durch die Exekutive jedoch in der Praxis häufig eingeschränkt. Die russischen Medien unterliegen weiterhin starker staatlicher Kontrolle oder Einschüchterung. Nach glaubhaften Angaben des "Zentrums für Journalismus in Extremsituationen" (Oleg Panfilow), von "Reporter ohne Grenzen" sowie des "Committee to Protect Journalists" werden gegen Journalisten fortlaufend restriktive Maßnahmen ergriffen (Strafverfahren, Festnahmen, Durchsuchungen, Überfälle, Schließung von Medien, Verbot von Publikationen, Nichtzulassung zu bestimmten Ereignissen). Insbesondere in den Regionen ist der Druck auf die Medien spürbar. Das o. g. Zentrum berichtet glaubhaft, Übergriffe auf Journalisten durch die Justizbehörden würden oftmals ignoriert oder in Abrede gestellt. Daher ist auch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Wiederholt wurden Journalisten Opfer von Gewalt. Im Falle der im Januar 2009 zusammen mit dem Menschenrechtsanwalt Markelow in Moskau auf offener Straße erschossenen freien Mitarbeiterin der Novaja Gazeta, Baburowa, hat die Anklagebehörde zwei russische Nationalisten als Täter verhaftet, von denen einer ein Geständnis abgelegt haben soll. Mit Ausnahme möglicherweise des Falles Markelow/Baburowa ist kein einziger der seit den neunziger Jahren begangenen Morde an Journalisten bisher aufgeklärt worden; insbesondere bleiben die Auftraggeber stets im Dunkeln. [...]
Die nationalen Fernsehkanäle (insbesondere Erster Kanal, Rossija, NTW) werden vom Staat kontrolliert und mitfinanziert, wobei NTW gelegentlich - vielleicht aus seiner Tradition als früher unabhängiger Kanal heraus - etwas größere Freiräume beansprucht. Tabuthemen in diesen Medien sind Kritik an der Person des Präsidenten, des Ministerpräsidenten und an deren Angehörigen, eine objektive Darstellung der Lage im Nordkaukasus sowie Kritik an grundlegenden Prinzipien der bestehenden staatlichen Ordnung. Kritische TV-Beiträge über den früheren Moskauer Bürgermeister Luschkow wurden erst im August und September möglich, als seine Entlassung bereits öffentlich diskutiert wurde und dann schließlich auch erfolgte. Gleichwohl gibt es sachkundige und informative Berichte zu brisanten politischen Entwicklungen. In den jüngsten Wahlkämpfen wurden die Vertreter der Regierungspartei "Einheitliches Russland" eindeutig bevorzugt, während Oppositionsvertreter ignoriert oder geschmäht wurden. Dies hat Präsident Medwedew in seiner Jahresbotschaft an beide Häuser des Parlaments am 12.11.2009 moniert. Besorgnis bei Bürgerrechtlern hat die geplante Zusammenlegung der TV-Sender REN-TV und 5. Kanal ausgelöst, da letzterer Kanal als letzter landesweiter kritischer Sender galt.
Im Hörfunkbereich werden die staatlichen Sender "Radio Russlands" und "Majak" landesweit empfangen; sie vermitteln die offizielle Linie. "Echo Moskwy" steuert trotz des Mehrheitsaktionärs Gazprom einen kremlkritischen Kurs und erreicht rund 47 Mio. Menschen. Der UKW-Sender "Russischer Nachrichtendienst" RSN strahlt ebenfalls wiederholt regierungskritische Sendungen, u. a. über die Polizei, aus. Ausländische Radiosender stoßen im UKW-Bereich auf Hindernisse bei der Lizenzvergabe, die aber auch geschäftliche Ursachen haben können.
Die Printmedien bieten den Lesern ein breites Meinungsspektrum. Sie sind jedoch ebenfalls Einflussversuchen ausgesetzt, da viele inzwischen wegen des Ankaufs durch staatsnahe Unternehmen oder Persönlichkeiten unter dem Einfluss der Präsidialadministration bzw. Regierung stehen. Die meistgelesene politisch relevante Tageszeitung "Komsomolskaja Prawda" mit einer Gesamtauflage von rund 2 Mio. Exemplaren wird seit Juli 2007 von einem Freund Putins, Oleg Rudnow, kontrolliert. Forbes Russia und Tageszeitungen wie Kommersant u. a. wahren einen weitgehend unabhängigen Kurs, sind aber ebenfalls Repressionen ausgesetzt. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise steigt die Abhängigkeit von den jeweiligen Eigentümern der Medien, die wiederum auf gute Geschäftsbeziehungen zu staatlichen Entscheidungsträgern angewiesen sind und daher - mit Ausnahme der "Nowaja Gazeta" (Miteigentümer Alexander Lebedew, Michail Gorbatschow) und der "New Times" - mehr oder weniger eng auf Regierungslinie liegen. Staatliche "Informationsverträge" gehören zu den Mitteln der Steuerung: Für genehme Berichterstattung erhalten Zeitungen finanzielle Leistungen, die teils mehr als 50% der Einnahmen ausmachen. Immer wieder gibt es Versuche, missliebige Berichterstattung zu verhindern, indem Medien mit Klagen überzogen werden.
Weitgehende Publikationsfreiheit besteht für die Internetmedien. die noch immer beträchtliche Wachstumsraten aufweisen. Es gibt eine beachtliche Zahl von Internetpublikationen, die schnell und zum Teil kritische Informationen verbreiten, auch politischen Inhalts. Hierdurch werden auch staatlich gelenkte Medien unter Druck gesetzt, missliebige Themen aufzugreifen. Einschränkendes Vorgehen der Behörden nimmt jedoch zu: Die Telekommunikationsaufsichtsbehörde Roskomnadsor wurde im Juni 2010 bevollmächtigt, Inhalte von Internet-Kommentaren zu prüfen und Medienbetreiber bei Bedarf aufzufordern, Kommentare zu entfernen. Die Regierung brachte am 23. Juni 2010 in der Staatsduma einen Entwurf zur Ergänzung des Gesetzes über Staatsgeheimnisse ein, das künftig die Liste geheim zu haltender Informationen wesentlich erweitern soll, u. a. über wichtige Infrastrukturobjekte und "Formen und Methoden terroristischer Aktivitäten". Es wird befürchtet, dass das Gesetz vor allem gegen die Medien genutzt werden wird. Eine im Juli auf persönliches Betreiben Medwedews beschlossene Änderung des FSB-Gesetzes gibt dem Inlandsgeheimdienst das Recht, präventiv auch gegen Internetaktivisten, beispielsweise bei Demonstrationsaufrufen, vorzugehen. Das Gesetz verpflichtet Provider, dem FSB nach Aufforderung Daten über ihre Kunden zu übergeben - allerdings eine bereits zuvor weitverbreitete Praxis.
Die Behörden überwachen das Internet durch ein Monitoring mit dem Ziel, gegen extremistische und Gewalt verherrlichende Seiten strafrechtlich vorzugehen. Politisch missliebige Seiten werden hin und wieder gesperrt. [...] Am 1. August 2009 ist ein Gesetz in Kraft getreten, das den Zugang der parlamentarischen Parteien zu den Medien während des Wahlkampfes regelt.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Das russische Fernsehen wird dominiert von Kanälen, die entweder direkt staatlich geführt werden, oder von Firmen mit engen Verbindungen zum Kreml. Zwei der drei großen föderalen Kanäle - Channel One und Russia One - werden von der Regierung kontrolliert, der staatlich kontrollierte Energiegigant Gazprom ist Eigentümer von NTV. Kritikern zufolge leidet die unabhängige Berichterstattung darunter. Es gibt hunderte Radiosender und mehr als 400 Tageszeitungen, die fast jeden Geschmack bedienen. Die beliebtesten unterstützen die Politik des Kremls, und mehrere einflussreiche Tageszeitungen wurden von Firmen mit engen Verbindungen zum Kreml aufgekauft.
Russische Journalisten sind dem Risiko von Angriffen und sogar Mord ausgesetzt, wenn sie bei sensiblen Themen, wie etwa Korruption, organisiertes Verbrechen oder Rechtsverstöße zu genau nachforschen. Russland wird regelmäßig von Überwachern der Medienfreiheit kritisiert und verurteilt.
(BBC News: Country Profiles - Russia, Stand 6.3.2012, http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/europe/country_profiles/1102275.stm)
Die Verfassung sieht die Rede- und Pressefreiheit vor. Jedoch bestand behördlicher Druck auf einige Medien bei der Berichterstattung über bestimmte kontroversielle Themen fort, was zu zahlreichen Einschränkungen dieser Rechte führte.
Während die Regierung die Rechte der Bürger auf Redefreiheit oft respektierte, ignorieren staatlich kontrollierte Medien kritische Stimmen oft, wenn es um das Verhalten föderaler Kräfte im Nordkaukasus, Menschenrechte, Korruption auf hoher Ebene und oppositionelle politische Ansichten geht. Einige regionale und lokale Behörden nutzten verfahrensrechtliche Schwächen des Justizsystems und unklare Gesetze, um Personen mit regierungskritischen Ansichten zu verhaften. Mit einigen Ausnahmen schienen Richter nicht willens, föderale und lokale Beamte, die Journalisten strafrechtlich zu verfolgen suchten, in Frage zu stellen. Solche Verfahren resultierten gelegentlich in hohen Geldstrafen.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurde von der Regierung eingeschränkt. Nicht genehmigte Proteste werden durch das unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei und Routinefestnahmen entmutigt, pro-Kreml Gruppen können hingegen frei demonstrieren. 2010 wendete die Polizei Gewalt an, um Demonstrationen gegen Straßenbau im Chimki-Wald und für das Recht auf Versammlungsfreiheit aufzulösen. Um an den Artikel 31 der Verfassung, der das Recht auf Versammlungsfreiheit garantiert, zu erinnern, wurden jeweils in Monaten mit 31 Tagen am 31. Proteste durchgeführt. Das NRO-Gesetz 2006, das den Organisationen unter anderem mühsame Berichtspflichten auferlegt, gibt Beamten einen großen Ermessensspielraum, welche Organisationen sich registrieren lassen können und behindert die Aktivitäten in Bereichen, die der Staat für unangenehm erachtet. Das Gesetz sieht auch eingehende Kontrollen ausländischer Geldmittel vor, im Juli 2008 hob Putin die Steuerfreiheit für die meisten ausländischen Stiftungen und NRO auf. Der Staat versuchte alternative Geldquellen für lokale NRO zur Verfügung zu stellen, darunter auch einige regierungskritischen, jedoch schränkte diese Unterstützung im Allgemeinen den Spielraum dieser Gruppen ein. 2009 änderte Medwedew das NRO-Gesetz ab, um es weniger hürdenreich zu machen, aber im Allgemeinen bleiben die Bedingungen für zivilgesellschaftliche Gruppen schwierig. Im September 2010 besuchte die Polizei in einer Aktion, die ihren Angaben nach die Gesetzestreue dieser Gruppen sichern sollte, mehr als 40 NRO, um deren Dokumente zu verlangen.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert, werden durch die Exekutive jedoch in der Praxis häufig eingeschränkt. Am restriktiven Verständnis der Behörden von Versammlungsfreiheit hat sich nichts geändert. Demonstrationen der Organisation "Strategie 31", die sich für Versammlungsfreiheit einsetzt, wurden weiterhin überwiegend nicht genehmigt und zum Teil gewaltsam aufgelöst. Bei der letzten Veranstaltung am 31.12.2010 wurden mehrere prominente Mitglieder der Opposition (unter ihnen Boris Nemzow und lija Jaschin) festgenommen und zu mehreren Tagen Haft verurteilt.
Das russische Versammlungsgesetz ist grundsätzlich liberal formuliert. Demonstrationen müssen 10 bis 15 Tage im Voraus angekündigt werden, ein Genehmigungserfordernis besteht nicht. Jedoch werden diese Regelungen nach Informationen des russischen Menschenrechtsbeauftragten Lukin in zahlreichen Föderationssubjekten durch den Erlass von Verordnungen und durch Verwaltungspraktiken unterlaufen, die teilweise de facto ein Genehmigungserfordernis einführen und damit in klarem Widerspruch zur föderalen Gesetzeslage stehen. Ansatzpunkt ist meist die laut Versammlungsgesetz erforderliche Abstimmung zwischen den Organisatoren einer Demonstration und den lokalen Behörden über Ort und Zeitpunkt einer Veranstaltung.
Dies bedeutet nicht, dass Protestveranstaltungen durchgängig verhindert würden. Tatsächlich findet insbesondere in Moskau jedes Jahr eine beträchtliche Anzahl auch regierungskritischer Demonstrationen und Mahnwachen statt. Besonders unliebsame Veranstaltungen können jedoch sabotiert werden. [...]
Betätigungsmöglichkeiten für die politische Opposition sind zwar formal gewährleistet, aber durch Verschärfungen des Wahl- und Parteiengesetzes und durch wachsende Machtkonzentration in der föderalen Exekutive (sog. "Machtvertikale") erschwert worden. [...]
Politische Parteien müssen sich in einer aufwändigen Prozedur registrieren lassen. Ihre Zahl ist aufgrund von Gesetzesänderungen und Zusammenschlüssen auf gegenwärtig sieben zurückgegangen. Die hohen Anforderungen an die Mindestmitgliederzahl machen die Neugründung einer politischen Partei nahezu unmöglich (Voraussetzung derzeit: 45.000 Mitglieder. wobei in zumindest der Hälfte aller Föderationssubjekte Regionalverbände mit wenigstens 450 Mitgliedern bestehen müssen; per Gesetz sinken diese Grenzwerte zum 1. Januar 2012 auf 40.000 bzw. 400). Auch der Prozess der Kandidatenregistrierung ist insgesamt aufwändig, teuer, fehleranfällig und begünstigt etablierte, finanz- und mitgliederstarke Parteien. Überdies wird das Wahlrecht auf regionaler Ebene zugunsten der Mehrheitspartei "Einheitliches Russland', dessen Vorsitzender der amtierende PM Putin ist, weiter angepasst. indem verstärkt ein gemischtes Wahlrecht bevorzugt wird, bei dem "Einheitliches Russland' mittels zusätzlicher Einzelmandate die absolute Mehrheit erreicht. Nachdem in den letzten Jahren verstärkt vorn Mehrheitswahrecht zum Verhältniswahlrecht übergegangen wurde, setzt man nun auf gemischte Systeme, da "Einheitliches Russland in vielen Regionen mit Verhältniswahlrecht oft keine 50% mehr erreicht, aber meist alle Einzelwahlkreisen gewinnt und dadurch auch mit weniger als 50% Stimmenanteil eine Mehrheit im Gebietsparlament erreicht. Trotz dieser Schwierigkeiten unternimmt die demokratische Opposition (v .a. die Bewegung Solidarnost mit ihren Vorsitzenden Boris Nemzow und Garri Kasparow sowie die Demokratische Volksunion des ehemaligen Premierministers Kasjanow) derzeit einen erneuten Versuch der Konsolidierung und Registrierung als politische Partei um an Duma und Präsidentschaftswahlen 2011/2012 teilnehmen zu können.
Das Wahlgesetz wurde mit Wirkung vom 7. Dezember 2006 dahingehend geändert, dass Kandidaten ihr passives Wahlrecht verlieren, wenn sie wegen "extremistischer Straftaten" verurteilt wurden. Wenn die Partei selbst zu extremistischen Tätigkeiten aufruft, kann einer ganzen Parteiliste per Gerichtsentscheid die Registrierung versagt werden. Das im Jahr 2002 beschlossene und 2006 verschärfte Gesetz zur Bekämpfung extremistischer Tätigkeiten, das den Begriff "Extremismus" sehr weit und unscharf definiert, wird in Einzelfällen zur Behinderung oppositionellen Aktivitäten missbraucht.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Die Russische Föderation hat ein zentralisiertes politisches System, mit großer Machtkonzentration bei Präsident und Premiereminister, einem schwachen Mehrparteiensystem, das von der Regierungspartei Einiges Russland dominiert wird, und einem Zweikammernparlament.
Die Versammlungsfreiheit ist gesetzlich vorgesehen, aber lokale Behörden schränkten das Recht in der Praxis weiterhin ein. Gemäß der NRO AGORA wurden 2010 mehr als 3.160 Aktivisten nach öffentlichen Veranstaltungen festgenommen.
Die Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet, und wurde von der Regierung mit einer Anzahl von bedeutenden Ausnahmen respektiert. Öffentliche Organisationen müssen sich bei Justizministerium registrieren. In der Vergangenheit mussten einige Organisationen während des Registrierungsprozesses ihre Aktivitäten einstellen. Einschränkungen wurden diskriminierend und selektiv auf einige NRO angewendet, vor allem solche, die sich mit ausländischen Geldern finanzieren, oder in Belange der politischen Opposition oder die Beobachtung von Menschenrechten involviert sind.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Justiz
Das Gesetz sieht die Unabhängigkeit der Justiz vor. Dennoch agierte die Justiz nicht immer als notwendiges Gegengewicht zu anderen staatlichen Stellen. Richter wurden von der Exekutive, dem Militär und Sicherheitskräften beeinflusst, vor allem in politisch sensiblen Fällen oder solchen mit großer Öffentlichkeitswirkung. Gesetzlich ist für Haftbefehle, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Festnahmen ein richterlicher Beschluss nötig. Dies wurde meistens eingehalten, wenngleich dieser Vorgang gelegentlich von Bestechung oder politischer Druckausübung unterminiert wurde.
Die Untersuchungsbehörde, ehemals Teil der Staatsanwaltschaft, ist nunmehr eine unabhängige Behörde, die die Untersuchungen in vielen ernsthaften Fällen leitet. Ihr Leiter wird direkt vom Präsidenten ernannt.
Trotz der in jüngster Zeit vorgenommenen Anhebungen der Richtergehälter gab es weiterhin Berichte, dass Richter Bestechungsgelder annehmen würden. Im ersten Halbjahr 2010 wurde vom "Hohen Qualifizierungskollegium der Richter" (Supreme Qualifying Collegium of Judges) ein Richter wegen Disziplinarvergehen des Amtes enthoben, ein anderer verwarnt. Dieses Kollegium bescheinigt Ernennungen in der Justiz und Beförderungen von Richtern. Regionale Befähigungskollegien disziplinierten zusätzlich 163 Richter.
Das Höchstgericht stellte im April 2010 fest, dass 40% der ihm 2009 vorgelegten Strafrechtsfälle richterliche Fehler aufwiesen. Hauptquelle dieser Fehler seien die schlechte Qualifikation der Richter in den Gerichten der niederen Instanzen und die falsche Klassifizierung von Vergehen als Straffälle statt Verwaltungsübertretungen.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Russische Gerichte sind in politisch wichtigen Fällen von den Forderungen der Exekutive abhängig. Informeller Druck sichert Loyalität und drängt Richter dazu, die gewünschten Entscheidungen zu treffen. 2010 wurde dies bei dem Prozess gegen Michail Chodorowsky demonstriert, dessen Haft 2010 auslaufen sollte, aber nach einem mangelhaften Gerichtsverfahren bis 2017 verlängert wurde.
Die Ratifizierung des Protokolls des Europarats, das es dem EGMR ermöglichen wird seine Arbeit zu rationalisieren, stellt eine positive Entwicklung dar.
(Freedom House: Nations in Transit, 27.6.2011)
Die russische Regierung betrachtete eine Reform des Justizwesens weiterhin als vorrangig. Die eingeleiteten Reformen blieben jedoch bisher Stückwerk und konnten nur sehr begrenzt zur Beseitigung der grundlegenden strukturellen Mängel beitragen, die vor allem auf die verbreitete Korruption und die politische Einflussnahme auf die Justiz zurückzuführen waren.
Nachdem es von allen Seiten, selbst von Seiten der Strafverfolgungsbehörden, Kritik an Polizeiübergriffen gegeben hatte, legte die Regierung einen Entwurf für ein neues Polizeigesetz vor. Menschenrechtsorganisationen bemängelten, der Vorschlag enthalte keine wirksamen Mechanismen, um Polizeibeamte für Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen.
Um die Unabhängigkeit der Strafermittlungen zu verbessern, kündigte die russische Regierung im September 2010 an, das Ermittlungskomitee bei der Staatsanwaltschaft werde ab 2011 als unabhängiges Ermittlungsorgan agieren und der Kontrolle der Generalstaatsanwaltschaft entzogen. Es sei künftig direkt dem Präsidenten verantwortlich. Das Komitee war 2007 geschaffen worden, um eine Trennung zwischen Ermittlungs- und Anklagefunktion sicherzustellen.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, 13.5.2011)
Präsident Medwedew verfolgt einen vorsichtigen innenpolitischen Modernisierungskurs mit den erklärten Prioritäten effektive Bekämpfung der Korruption, Rechtsstaatlichkeit, politische Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement, betont dabei jedoch auch die grundsätzliche Kontinuität mit der Politik seines Amtsvorgängers. Die Umsetzung wird aber vielfach als unzureichend kritisiert.
Es ist davon auszugehen. dass die Bemühungen, Missstände im Justizsystem durch eine umfassende Justiz- und Rechtsreform zu beheben (bisher u. a. neue Straf- und Zivilprozessordnungen, Reform des Strafgesetzbuches) fortgesetzt werden. Auch wenn die Strafprozessreformen aus den Jahren 2002 und 2004 die Stellung der Richter deutlich gestärkt hat, bleibt die Macht der Staatsanwaltschaft beträchtlich. Im September 2007 ist eine weitere Reform der Strafprozessordnung in Kraft getreten, die Aufgaben der Staatsanwaltschaft im Vorfeld der Hauptverhandlung (Ermittlungen, Verfahrenseinstellungen, Anklageerhebung) einem neu geschaffenen Untersuchungskomitee überträgt. Mit Erlass vom 27. September 2010 hat Präsident Medwedew die Schaffung einer eigenständigen Ermittlungsbehörde für (schwere) Strafsachen angeordnet, die unmittelbar dem Staatspräsidenten unterstehen soll. Ziel dieser Umstrukturierung ist eine klarere Abgrenzung zwischen Aufsichts- und Kontrollzuständigkeiten der Staatsanwaltschaft und Ermittlungstätigkeiten in Strafsachen. Kritiker befürchten eine noch größere Machtkonzentration an der Spitze des Staates.
Vor allem in der Provinz wird die Mehrzahl der Strafprozesse durch Politik, Interessengruppen und Prozessparteien unzulässig beeinflusst. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Richter und Justizbehörden ist gering.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Der Justiz mangelt es an Unabhängigkeit von der Exekutive, teilweise, weil Richter bei Beförderungen und Prämien oft von Gerichtsvorsitzenden abhängig sind, und den Präferenzen des Kremls folgen müssen um voranzukommen. Der Ruf des Justizsystems ist außerdem durch politisch brisante Fälle, wie jenen des ehemaligen Ölmagnaten Michail Chodorowsky oder der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, angeschlagen.
Nach Justizreformen 2002 machte die Regierung Fortschritte, faire und fristgerechte Gerichtsverfahren umzusetzen, obwohl sich Medwedew beschwerte, dass diese Fortschritte nicht ausreichend seien. Seit 2003 sind im Großteil des Landes Geschworenengerichte zugelassen, seit 2008 aber nicht mehr für Terrorismusfälle. Russische Staatsbürger wenden sich zunehmend an den EGMR.
Kritiker werfen vor, dass Russland bestehende Probleme im Strafjustizwesen nicht angehen, wie etwa die schlechten Haftbedingungen und die weit verbreitete Anwendung illegaler Festnahmen und Folter um Geständnisse zu erlangen. In einigen Fällen wurde auch auf die aus Sowjetzeiten stammende Praxis der Bestrafung durch psychiatrische Behandlung zurückgegriffen.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Sicherheitsbehörden
Das Innenministerium, der Föderale Sicherheitsdienst FSB und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen zuständig für den Gesetzesvollzug. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und des Antiterrorismus betraut, hat aber auch weitere Funktionen wie Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Aufsicht über den FSB, und das Untersuchungskomitee, eine unabhängige Behörde, kann Verbrechen von Mitgliedern des FSB untersuchen. Die nationale Polizei (Miliz) untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt.
Ein neues Gesetz ermöglicht es dem FSB, Personen zu verwarnen, von denen er glaubt, dass diese Bedingungen für eine Straftat gegen die Sicherheit des Landes schaffen. Dem Gesetz zufolge kann über Personen, denen vorgeworfen wird die Arbeit eines FSB-Beamten behindert zu haben, eine Geldstrafe und bis zu 15 Tage Haft verhängt werden.
Gemäß der Website des Innenministeriums begingen Angestellte des Ministeriums 2010 125.000 Vergehen (21% mehr als 2009). Davon bezogen sich rund 63.000 auf Fehlverhalten oder Disziplinarvergehen.
4.171 Strafverfahren gegen Polizisten wurden eröffnet.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Das Gesetz "Über die Polizei", das am 1. März 2011 in Kraft getreten ist, sieht unter anderem den Abbau des Personalbestandes der Innenbehörden um 20 Prozent vor. Die am selben Tag eingeleitete Überprüfung des Qualifikationsstandes der Polizeioffiziere soll bis 1. August dauern. Im Rahmen der laufenden Reform im russischen Innenministerium sind am 1. März 2011 fast die Hälfte der Polizeigeneräle entlassen worden. Wie der Stabschef des russischen Präsidenten und Vorsteher der Eignungskommission Sergej Naryschkin mitteilte, wurden 21 Generäle des Innenministeriums für dienstuntauglich befunden. Naryschkin teilte ferner mit, dass 73 ranghohe Offiziere nach dem Prinzip der Personalrotation "vertikal oder horizontal" an andere Stellen versetzt worden seien.
(Ria Novosti: Reform im russischen Innenministerium: Viele Generäle als dienstunfähig befunden, 29.7.2011, http://de.rian.ru/politics/20110729/259920211.html)
Im Zuge der Polizeireform wurde im Juni 2011 ein Gesetz erlassen, demzufolge die Gehälter von Polizisten verdreifacht werden. Ein Leutnant wird nun zwischen 33.000 und 45.000 Rubel monatlich verdienen, im Vergleich zu den derzeit rund 10.000 Rubel. Die Gehälter für höherrangige Polizisten sollen in ähnlicher Weise angehoben werden. Zudem ist eine Ausweitung "sozialer Garantien" vorgesehen, um die Korruption einzudämmen. Die Pensionen und andere Begünstigungen für Veteranen wurden angehoben, und Unterstützungen zum Kauf von Wohnraum eingeführt.
(The Moscow Times: Police Pay römisch eins s Tripled in Anti-Graft Fight, 20.7.2011,
http://www.themoscowtimes.com/news/article/police-pay-is-tripled-in-anti-graft-fight/440794.html#axzz1SdG4sjuh)
Polizeigewalt
Folter ist gesetzlich verboten. Der Menschenrechtsbeauftragte Lukin kritisiert, dass es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft dennoch immer wieder zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung durch die Polizei und Ermittlungsbehörden kommt. Besonders kritisch sieht der Menschenrechtsbeauftragte die Situation vor Beginn von Strafverfahren im Rahmen der sog. "operativen Ermittlungstätigkeit". Dies wird auch von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisiert.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Folter und unmenschliche Behandlung sind gesetzlich verboten. Es gab jedoch zahlreiche glaubwürdige Berichte, dass Exekutivbeamte in Fälle von Folter, Misshandlung, und Gewaltanwendun,g um Geständnisse zu erzwingen, verwickelt waren, und dass die Regierung Beschuldigte nicht konsequent zur Verantwortung zog. Vor allem im Zusammenhang mit dem Nordkaukasuskonflikt gab es diesbezüglich zahlreiche Berichte.. Obwohl Folter auch in der Verfassung verboten ist, ist sie weder im Gesetz noch im Strafrecht definiert. Daher können verdächtigte Polizisten von der Staatsanwaltschaft nur aufgrund von Machtmissbrauch oder leichter Körperverletzung angeklagt werden.
Der Nichtregierungsorganisation "Nationales Antikorruptionskomitee" zufolge machte die Regierung positive Schritte zur Korruptions- und Gewaltbekämpfung durch Exekutivbeamte, etwa durch die Ausstattung der Streifenwagen mit Videokameras und dem Anbringen von Namensschildern an Polizeiuniformen.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Es gab eine anhaltend hohe Zahl von Berichten über Folter und andere Misshandlungen durch Angehörige der Strafverfolgungsbehörden, die offenbar häufig dazu dienten, "Geständnisse" oder Geld zu erpressen. Häftlinge berichteten häufig von Disziplinarstrafen, die ohne rechtliche Grundlage verhängt würden, und dass ihnen dringend benötigte medizinische Versorgung verweigert werde.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, 13.5.2011)
Korruption
Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet. Aufgrund der zunehmend mangelhaften Übernahme von Verantwortung in der Regierung können Bürokraten mit Straffreiheit rechnen. Obwohl Medwedew Ende 2008 ein Paket von Antikorruptionsmaßnahmen erließ, gibt es bislang nur wenig Fortschritt in diesem Bereich. Russland liegt auf Platz 154 von 178 Ländern auf dem Corruption Perceptions Index 2010 von Transpareny International. Meinungsumfrageergebnisse des Levada Zentrums weisen darauf hin, dass fast 80% der Russen Korruption als ein großes Problem betrachten und glauben, dass diese schlimmer als noch vor 10 Jahren ist. Generalstaatsanwalt Juri Tschaika gab 2010 an, dass das durchschnittliche Bestechungsgeld im letzten Jahr um ein Drittel, von rund 770$ auf 1.000$ angestiegen ist. Im Oktober 2010 rief Medwedew dazu auf, den staatlichen Vergabeprozess zu sanieren, durch den der Staat jährlich bis zu 33 Milliarden $, oder ein Zehntel der Bundesausgaben, verliert.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Das Gesetz sieht Strafen für behördliche Korruption vor. Dennoch erkannte die Regierung an, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wurde, und viele Beamte weiterhin in korrupte Praktiken involviert waren. Korruption ist sowohl bei der Exekutive, als auch bei der Legislative und Judikative und auf allen Ebenen der Hierarchie weit verbreitet. Formen der Korruption beinhalteten die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung, und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Die NRO "Information Science for Democracy" (INDEM) bestätigte, dass Korruption auch in anderen staatlichen Institutionen, wie im Bildungswesen, der medizinischen Versorgung, der Einberufung beim Militär und bei der Verteilung von Gemeindewohnungen weit verbreitet war. INDEM schätzte 2009 und bestätigte dies für 2010, dass Bestechungsgelder und Korruption das Land ein Äquivalent von 33% des BIP kosten würde.
In Korruption verwickelte Beamte gingen oft straffrei aus.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Auf dem Global Corruption Perceptions Index 2011 von Transpareny International lag Russland auf Platz 143 von 183 Ländern, was eine Verbesserung gegenüber 2010 darstellt.
(The Moscow Times: Putin Aide: Corruption Was 'Civilized', 13.2.2012,
http://www.themoscowtimes.com/news/article/putin-aide-corruption-was-civilized/452889.html)
Korruption sowie Absprachen zwischen Polizei, Ermittlungsbeamten und der Staatsanwaltschaft führten nach allgemeiner Einschätzung dazu, dass Ermittlungen nicht zum Ziel führten und Strafverfolgungsmaßnahmen behindert wurden.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, 13.5.2011)
In einem Anfang Februar 2012 veröffentlichten Zeitungsartikel sprach sich Putin dafür aus, dass der Antikorruptionskampf "zu einer echten gesamtnationalen Angelegenheit und nicht zu einem Gegenstand von
politischen Spekulationen, von Populismus... und primitiven
Lösungen" werden müsse. "Um die systemimmanente Korruption zu bekämpfen, muss man nicht nur Macht und Eigentum voneinander trennen, sondern auch die Exekutive und die Kontrolle darüber. Die politische Verantwortung für den Antikorruptionskampf müssen Macht und Opposition zusammen tragen", so Putin.
(Ria Novosti: Putin: Kampf gegen Korruption muss gesamtnationale Angelegenheit werden, 6.2.2012, http://de.rian.ru/russia/20120206/262630435.html)
Nichtregierungsorganisationen
Das NRO-Gesetz 2006, das den Organisationen unter anderem mühsame Berichtspflichten auferlegt, gibt Beamten einen großen Ermessensspielraum, welche Organisationen sich registrieren lassen können und behindert die Aktivitäten in Bereichen, die der Staat für unangenehm erachtet. Das Gesetz sieht auch eingehende Kontrollen ausländischer Geldmittel vor. Im Juli 2008 hob Putin die Steuerfreiheit für die meisten ausländischen Stiftungen und NRO auf. Der Staat versuchte, lokalen NRO alternative Finanzierungsquellen zur Verfügung zu stellen, darunter auch einer Handvoll von regierungskritischen Organisationen, jedoch schränkte diese Unterstützung den Umfang der Aktivitäten dieser Gruppen ein. 2009 änderte Medwedew das NRO-Gesetz ab, um es weniger hürdenreich zu machen, aber im Allgemeinen bleiben die Bedingungen für zivilgesellschaftliche Gruppen schwierig. Im September 2010 besuchte die Polizei in einer Aktion, die ihren Angaben nach die Gesetzestreue dieser Gruppen sichern sollte, mehr als 40 NRO um deren Dokumente zu verlangen.
(Freedom House: Freedom in the World 2011 - Russia, Mai 2011)
Die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen (NRO) wird durch das im April 2006 verschärfte Gesetz über nichtkommerzielle Organisationen geregelt. Die Gesetzesänderung erlegt NRO erweiterte Berichtspflichten auf. Vertretungen ausländischer NRO mussten sich überdies in einem neuen Register registrieren lassen. Eine Gesetzesnovelle im Frühjahr 2009 hat die Registrierungsprozeduren vereinfacht und die Berichtspflichten für kleine inländische NRO wieder deutlich verringert. NRO, die Zuwendungen aus dem Ausland erhalten, bleiben jedoch von dieser Erleichterung ausgenommen. Im September 2010 wurden diese NRO ohne offizielle Begründung einer sehr kurzfristig angekündigten Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft unterworfen.
In Einzelfällen wird auf NRO über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren Druck ausgeübt. So musste sich das "Komitee ihr Menschenrechte" aus Noworossijsk im September 2009 vor Gericht gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft verteidigen, das Komitee wegen bei Demonstrationen verwendeter Losungen für "extremistisch" zu erklären und aufzulösen. Die Staatsanwaltschaft zog ihren Antrag im Laufe des Verfahrens zurück.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Die Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet, und wurde von der Regierung mit einer Anzahl von bedeutenden Ausnahmen respektiert. Öffentliche Organisationen müssen sich bei Justizministerium registrieren. In der Vergangenheit mussten einige Organisationen während des Registrierungsprozesses ihre Aktivitäten einstellen. Einschränkungen wurden diskriminierend und selektiv auf einige NRO angewendet, vor allem solche, die sich mit ausländischen Geldern finanzieren, oder in Belange der politischen Opposition oder die Beobachtung von Menschenrechten involviert sind.
Inländische und internationale Menschenrechtsorganisationen waren im Land aktiv, und untersuchten und kommentierten öffentlich Menschenrechtsprobleme, wurden jedoch von Behörden weiterhin schikaniert und das Arbeitsumfeld für diese Gruppen ist weiterhin eingeschränkt. Behörden schikanierten zunehmend NRO, die sich auf politisch sensible Bereiche konzentrierten. Andere behördliche Aktivitäten und Aussagen wiesen auf einen Mangel an Toleranz für uneingeschränkte NRO-Arbeit hin, vor allem für jene NRO, die ausländische Gelder erhielten oder über Menschenrechtsverletzungen berichteten. Im Nordkaukasus tätige NRO wurden stark eingeschränkt. Jedoch anerkannten und konsultieren Regierung und in der Gesetzgebung tätige Beamte gelegentlich NRO, vor allem solche, die sich mit sozialen Problemen beschäftigten. Einige NRO nahmen - mit unterschiedlichem Erfolg - am Entwurf von Gesetzen und Erlässen teil. Einige Beamte, wie der Menschenrechtsombudsmann Wladimir Lukin, und die ehemalige und der derzeitige Vorsitzende des "Präsidialrats für die Förderung der Entwicklung von zivilgesellschaftlichen und Menschenrechtsinstitutionen" (Menschenrechtsrat), Ella Pamfilowa und Michail Fedetow, traten regelmäßig mit NRO in Kontakt und kooperierten mit diesen.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Ombudsmann
Der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, Wladimir Lukin, übt in seinen Jahresberichten ausgewogene, aber teils auch sehr deutliche Kritik u. a. an Missständen im Gerichtswesen und den Zuständen in russischen Gefängnissen, insbesondere hinsichtlich Gewaltakte gegenüber Häftlingen und deren unzureichender medizinischer Versorgung.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Der Ombudsmann Wladimir Lukin kommentierte zahlreiche Menschenrechtsprobleme, wie Polizeigewalt, Haftbedingungen, die Behandlung von Kindern, und Schikanen beim Militär. 2010 kritisierte Lukin auch die Intoleranz und das Anwachsen von ethnischem und religiösem Hass. In seinem Bericht 2009 kritisierte Lukin, dass seine Effektivität eingeschränkt wäre, da er keine (Menschenrechts-)Gesetze vorschlagen kann. Zudem sei es schwierig, von einigen Regierungsbehörden Antworten auf die Anfragen seines Büros zu bekommen. Lukins Büro nutzte seinen Einfluss, um die Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsprobleme in den Gefängnissen zu lenken. Viele Führungspersönlichkeiten von Menschenrechtsorganisationen gaben weiterhin an, dass Lukin als behördlicher Vertreter im Allgemeinen effektiv sei, trotz der rechtlichen Einschränkungen seiner Position.
Das Büro des Ombudsmannes umfasst mehrere spezialisierte Abteilungen, die für die Untersuchung von Beschwerden zuständig sind. Mit September 2009 gab es in 47 der 83 Regionen regionale Menschenrechtsbeauftragte, deren Verantwortungsbereich jenem Lukins ähnlich war. Ihre Effektivität variierte beträchtlich.
Im September 2009 wurde die Position eines Kinderombudsmannes eingerichtet, und Aleksey Golowan, ein bekannter Menschenrechtsaktivist, als solcher ernannt. Im Dezember wurde Golowan durch den Anwalt Pawel Astakhov ersetzt.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Minderheiten
Die Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von Rasse, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik.
Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments sind in der Bevölkerung und in den Behörden weit verbreitet. Sie richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten, so genannte "Tschornyje" (,¿Schwarze"). Regelmäßige Medienberichte über Schlägereien zwischen ethnischen Gruppen zeigen, dass die Ressentiments schnell in Gewalt umschlagen können. Jüngster trauriger Höhepunkt waren fremdenfeindliche Gewaltausbrüche am 11.12.2010 und den Folgetagen in Moskau und weiteren russischen Städten, bei denen Tausende zumeist jugendlicher Hooligans gezielt Menschen mit ausländischem Aussehen angriffen. Dabei wurden ein Kirgise niedergestochen und mehrere weitere Personen zum Teil schwer verletzt. Erst ein massiver Einsatz von Sicherheitskräften und (vorbeugende) Festnahmen Hunderter potenzieller Gewalttäter konnte die Situation zunächst beruhigen.
Menschen "nichtslawischen Aussehens" (vor allem Zuwanderer aus Zentralasien und Transkaukasien) sind häufig Ziel fremdenfeindlicher Angriffe durch "Skinheads", obwohl jüngst ein Rückgang der Opferzahlen zu verzeichnen ist. Für 2009 verzeichnete die Menschenrechts-NRO "Sowa", die die verlässlichste einschlägige Statistik führt, 71 Todesopfer und 333 Verletzte bei derartigen Übergriffen (Vergleichszahlen für 2008: 109 Todesopfer und 486 Verletzte). In den ersten neun Monaten 2010 wurden 23 Todesopfer und 241 Verletzte bei derartigen Übergriffen registriert (Vergleichszahlen für den entsprechenden Zeitraum 2009: 48 Todesopfer und 253 Verletzte).
Nichtregierungsorganisationen bemängeln, dass es bisher keine hinreichend energische Abwehr- oder Aufklärungspolitik des Staates gegen solche Obergriffe gebe. Nach den gewaltsamen Vorfällen in Moskau scheinen der Staatsführung die Folgen der verschleppten Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen deutlich geworden zu sein, und sie erklärte, Schritte im Kampf gegen fremden feindliche Tendenzen in der Gesellschaft unternehmen zu wollen. "Sowa" listet für 2009 45 Gerichtsurteile auf bei denen Gewalttäter ausdrücklich als rassistisch motiviert verurteilt wurden (Vergleichszahl 2008: 35); für die ersten neun Monate 2010 sind bereits 63 entsprechende Gerichtsurteile verzeichnet (Vergleichszahl für den entsprechenden Zeitraum 2009: 34 Verurteilungen). Dies dokumentiert eine gesteigerte Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane gegenüber Rechtsextremen, erscheint angesichts der Zahl der Überfälle jedoch immer noch unzureichend.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Das Gesetz verbietet Diskriminierung aufgrund der Nationalität. Regierungsbehörden diskriminierten Minderheiten jedoch gelegentlich. In den letzten Jahren wurde ein stetiger Anstieg gesellschaftlicher Gewalt gegen und Diskriminierung von Minderheiten beobachtet, insbesondere Roma, Menschen aus dem Kaukasus und aus Zentralasien, dunkelhäutige Menschen und Ausländer. Die Anzahl von berichteten Hassverbrechen stieg 2010 an, und Skinhead-Gruppen und andere extrem nationalistische Organisationen fachten rassistische Gewalt an. Rassistische Propaganda war weiterhin ein Problem, obwohl Gerichte Individuen für die Anstiftung zu ethnischem Hass durch Propaganda verurteilten. Im Dezember kam es zu einem Straßenkampf zwischen ethnischen Russen und Personen aus dem Kaukasus in Moskau. Dabei kam ein ethnischer Russe zu Tode. Dies führte zu rassistisch motivierten Unruhen mit tausenden Teilnehmern, die die Behörden oft nicht zu kontrollieren vermochten. Einige dutzend Personen mit zentralasiatischem oder kaukasischem Aussehen wurden in der Hauptstadt angegriffen und zusammengeschlagen. Präsident Medwedew verurteilte die nationalistische Gewalt. Einige hochrangige Regierungsbeamte taten dies zu Beginn nicht, und einige schienen den Forderungen der Nationalisten sogar Recht zu geben, indem sie die Schuld ausländischen Migranten gaben.
Farbige Personen beklagten sich über ungleiche Behandlung durch die Behörden. In Moskau wurden sie, insbesondere solche die aus Zentralasien und dem Nordkaukasus zu sein schienen, öfter von Behörden Dokumentenkontrollen unterzogen als andere, die Behörden verlangen von jenen ohne Dokumente regelmäßig Bestechungsgelder.
Gemäß SOVA-Zentrum wurden 2010 24 rassistische Angriffe auf Afrikaner in Moskau berichtet. Das SOVA Zentrum berichtete von einem allgemeinen Anstieg an rassistischer Gewalt. SOVA zufolge gab es 2010 400 rassistische Angriffe, die zu 37 Todesfällen und 363 Verletzten führte (2009: 19 Tote und 167 Verletzte). 273 Personen wurden 2010 für Verbrechen verurteilt, die von "aggressiver Xenophobie" motiviert waren, 154 davon zu Haftstrafen.
Die polizeilichen Untersuchungen von Fällen, die aus rassistischen oder ethnischen Gründen vorgefallen zu sein schienen, blieben oft ineffektiv. Die Behörden waren gelegentlich nachlässig, rassistische oder nationalistische Elemente von Verbrechen anzuerkennen, und bezeichneten die Angriffe oft als "Hooliganismus".
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Immigranten und ethnische Minderheiten - insbesondere jene die aus dem Kaukasus oder aus Zentralasien zu kommen scheinen - sind mit staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung und Schikane konfrontiert. Während rassistische Gewalt in den letzten Jahren angestiegen ist, ist die Anzahl an Morden und Verletzungen 2009 und 2010 laut NRO Sova, die ultranationalistische Aktivitäten im Land beobachtet, zurückgegangen.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Rassistisch motivierte Gewalt war auch 2010 ein ernstes Problem. Nach vorläufigen Daten der NGO Sowa-Zentrum für Information und Analyse forderte sie im Berichtsjahr 37 Todesopfer. Im April wurde der Moskauer Richter Eduard Tschuwaschow, der mehrere rassistisch motivierte Gewalttäter zu langen Gefängnisstrafen verurteilt hatte, vor seiner Haustür erschossen. Berichten zufolge waren die Täter Mitglieder einer extremistischen Gruppe. Im Oktober wurde der 22-jährige Vasilii Krivets wegen der Ermordung von 15 Personen nicht-slawischen Aussehens zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Die Untersuchungshaft der beiden Personen, die nach der Ermordung des Rechtsanwalts Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Baburowa im Januar 2009 noch im gleichen Jahr als Tatverdächtige festgenommen worden waren, wurde bis Ende 2010 verlängert. Sie sollen einer rechtsextremen Gruppe angehören und Stanislaw Markelow ermordet haben, weil er die Familie eines antifaschistischen Aktivisten vertreten hatte.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, 13.5.2011)
Bevölkerung
Russlands Bevölkerung von fast 142 Millionen setzt sich aus 160 ethnischen Gruppen zusammen (Stand 2003): 79,8% Russen, 3,8% Tataren, 2,0% Ukrainer, 1,1% Tschuwaschen, 1,1% Baschkiren, 0,8% Armenier, 0,4% Russlanddeutsche.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Länder, Reisen, Sicherheit: Russische Föderation, Stand Mai 2012,
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/RussischeFoederation_node.html / CIA World Factbook: Russia, Stand 13.4.2012, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html,)
Religionsfreiheit
Die Russische Föderation ist ein multinationaler und multikonfessioneller Staat. Artikel 28, der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Orthodoxie, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei eine herausgehobene Stellung. Artikel 14, der Verfassung schreibt die Trennung von Staat und Kirche fest.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) erhebt einen Monopolanspruch für alle Gläubigen russischer Herkunft (Nationalität) und propagiert ihren Wertekanon als Basis einer neuen "nationalen Idee". Unter dem Patriarchen Kyrill, im Amt seit 01.02.2009 und vorher langjähriger Leiter des Außenamts der ROK, bietet sich die ROK vermehrt als stabilisierende und ideologisch allrussische Institution an. Faktisch wird sie vom Staat bevorzugt behandelt und hofiert. Die verfassungsmäßige Stellung der anderen Glaubensgemeinschaften und die rechtliche Trennung von Staat und Kirche bleiben jedoch weitgehend aufrechterhalten. Seit April 2010 gibt es in 18 Pilot-Regionen verpflichtenden Religionsunterricht (orthodox, muslimisch, jüdisch oder buddhistisch) nach Wahl. Die Einführung von Militärgeistlichen ist geplant. Umstritten ist ein Restitutionsgesetz zugunsten der ROK (Rückgabe aller 1.517 in Staatseigentum befindlichen Immobilien und Gegenstände an die ROK. Darunter sind auch Immobilien, die niemals Eigentum der ROK waren, sondern - wie in Kaliningrad - vor der Enteignung nach der Oktoberrevolution anderen Konfessionen gehörten). Dieses Gesetz unterstreicht die spirituelle und gesellschaftliche Ausnahmestellung der ROK und dürfte längerfristig zu wachsenden Problemen mit anderen Konfessionen, gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Einrichtungen führen.
In Russland leben rund 20 Mio. Muslime. Der Islam als eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands wird von staatlicher Seite nicht diskriminiert, sondern in der Regel gefördert. Überdies ist der Islam in Russland in seiner Grundausrichtung von Toleranz gegenüber anderen Religionen geprägt. Der Staat fördert und kontrolliert die Ausbildung von Imamen.
Nicht als traditionelle Religionen anerkannte Glaubensrichtungen können hingegen auf Schwierigkeiten mit staatlichen Behörden stoßen. Dies gilt vor allem für nichttraditionelle islamische Strömungen, denen insbesondere im Nordkaukasus und im Wolgagebiet häufig der Vorwurf gemacht wird, extremistisches Gedankengut zu vertreten oder in Beziehung zu terroristischen Gruppierungen zu stehen, aber auch für die Zeugen Jehovas, die seit dem Sommer 2009 mit einer Welle von Verfahren nach dem Antiextremismusgesetz konfrontiert sind.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Die Bedingungen für Religionsfreiheit verschlechtern sich in Russland weiterhin. Im letzten Jahr wandte die Regierung die Anti-Extremismus-Gesetzgebung zunehmend gegen religiöse Gruppen und Individuen an, die nicht für ihre Anwendung von oder Fürsprache für Gewalt bekannt waren. Nationale und lokale Regierungsbehörden wandten regelmäßig andere Gesetze an, um Muslime und andere religiöse, nicht-traditionelle Gruppen zu schikanieren. Russische Beamte betrachten bestimmte religiöse und andere Gruppen als der russischen Kultur und Gesellschaft fremd, wodurch sie zum einem Klima der Intoleranz beitragen. Ein hohes Niveau an Xenophobie und Intoleranz, darunter auch Antisemitismus, führten zu gewalttätigen und gelegentlich tödlichen Hassverbrechen. Trotz der vermehrten Strafverfolgung für solche Handlungen, gelang es der russischen Regierung nicht, diese Probleme konsequent oder effektiv zu behandeln. Aufgrund dieser Bedenken wurde Russland von der U.S. Kommission für Internationale Religionsfreiheit (USCIRF) 2011 wieder auf ihre Watchliste gesetzt, auf der das Land 2009 erstmals gestanden hatte.
Im Berichtszeitraum stieg die Anwendung von Extremismus bezogenen Anklagen an, Leser der Arbeiten des türkischen Theologen Said Nursi und Zeugen Jehovas wurden mehrfach angeklagt. Mehrere religiöse Minderheitengruppen wurde weiterhin die Registrierung verweigert, und Verzögerungen und Ablehnungen von Baugenehmigungen oder Genehmigungen Räumlichkeiten zu mieten kamen vor, ebenso wie Schikanen und Festnahmen der Mitglieder. Zahlreiche gewalttätige Hassverbrechen gegen Mitglieder verschiedenen religiöser Gemeinschaften fielen vor, chauvinistische Gruppen griffen Individuen und Gruppen an, sowie Richter und andere Regierungsbehörden, die Minderheitenrechte verteidigen. Obwohl die Moskauer Polizei Festnahmen und Strafverfahren intensivierten, blieben die meisten anderen Regionen diesbezüglich zurück.
(U.S. Commission on International Religious Freedom: Annual Report 2011, Mai 2011)
Die Verfassung sieht die Religionsfreiheit vor, jedoch schränken andere Gesetze und Politiken diese durch die Diskriminierung unter religiösen Gruppen und die Verweigerung eines legalen Status für einige Gruppen ein. Diese Einschränkungen wurden von der Regierung in der Praxis umgesetzt. Es gibt keine Staatsreligion, aber die dominante Russisch Orthodoxe Kirche und andere "traditionelle" religiöse Gemeinden genießen vorrangige Bedeutung. Religiöse Minderheiten, insbesondere Anhänger des türkischen Theologen Said Nursi, Zeugen Jehovas und Scientologen, standen Verboten ihrer religiösen Literatur und Problemen bei der Registrierung als Rechtspersonen gegenüber.
Der Grad der Achtung der Religionsfreiheit der Regierung durch Gesetze und in der Praxis ging in Bezug auf einige Minderheitenglaubensrichtungen zurück. Der Staat leitete erstmals Strafrechtsfälle ein gegen Personen in Besitz verbotener religiöser Literatur oder in Verbindung mit illegalen religiösen Gruppen. Für "traditionelle" religiöse Gruppen blieben die Bedingungen weitgehend uneingeschränkt. Für "nicht-traditionelle" Gruppen blieben die Bedingungen weitgehend gleich. Die Regierung richtete sich weiterhin gegen einige dieser Gruppen bei der Umsetzung rechtlicher Einschränkungen der Religionsfreiheit. Einschränkungen der Religionsfreiheit fallen im Allgemeinen unter eine der vier Kategorien - Registrierung religiöser Organisationen, - Zugang zu Andachtsstätten (darunter auch Zugang zu Land und Baugenehmigungen), - Visa für ausländisches religiöses Personal, und - Razzien bei religiösen Organisationen und Festnahme von Individuen.
Es gab Berichte über gesellschaftliche Schikanen und Diskriminierung aufgrund der religiösen Zugehörigkeit, des Glaubens und der Ausübung der Religion. Religiöse Fragen waren für die große Mehrheit der Bevölkerung kein Grund für soziale Spannungen oder Probleme, es gab jedoch einige Probleme zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen. Da Xenophobie, Rassismus und religiöser Fanatismus oft ineinander greifen, war es oft schwer die jeweilige Motivation für die Diskriminierung von Mitgliedern religiöser Gruppen zu erfahren.
Aktivisten, die sich als der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) zugehörig bezeichneten, verteilten gelegentlich negative Publikationen und veranstalteten gelegentlich im ganzen Land Proteste gegen Katholikan, Protestanten, Zeugen Jehovas und andere Minderheitengruppen.
(U.S. Department of State: July-December, 2010 International Religious Freedom Report, 13.9.2011)
Die Religionsfreiheit wird ungleichmäßig respektiert. Ein 1997 erlassenes Gesetz ermöglicht dem Staat eine umfassende Kontrolle und macht es neuen oder unabhängigen Glaubensgemeinschaften schwer, zu arbeiten. Das orthodoxe Christentum hat eine privilegierte Stellung, 2009 erlaubte der Präsident Religionserziehung in öffentlichen Schulen. Regionale Behörden schikanierten weiterhin nicht-traditionelle Gruppen wie Zeugen Jehovas oder Mormonen. Im Februar 2009 bekam ein Expertenrat zu Religionsstudien vom Justizministerium die Aufgabe, religiöse Organisationen auf Extremismus und andere mögliche Vergehen hin zu untersuchen.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Religionsgemeinschaften
Religion: 15 bis 20% der Bevölkerung sind Russisch-orthodox, 10 bis 15% Muslime, ca. 2% Christen (2006 est.). Diese Schätzungen beziehen sich auf praktizierende Gläubige. Als Folge des Sowjetregimes gibt es in Russland zahlreiche nicht-praktizierende Gläubige, sowie viele Menschen ohne Bekenntnis.
(CIA World Factbook: Russia, Stand 13.4.2012, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html)
Es gibt keine verlässlichen Statistiken, die die Glaubenszugehörigkeit der Bevölkerung aufgliedern. Rund 100 Millionen Bürger bezeichnen sich selbst als Russisch Orthodox, obwohl nur 5% der Russen sich selbst als praktizierend benennen. Schätzungen geben die Zahl der Muslime mit 10 bis 23 Millionen an, womit diese die größte Minderheit sind. Die Mehrheit der Muslime lebt in der Region Wolga-Ural und im Nordkaukasus, aber in Moskau, St. Petersburg und in Teilen Sibiriens gibt es ebenfalls beträchtliche muslimische Bevölkerungen. Es gibt schätzungsweise eine Million Buddhisten, von denen die Mehrheit in den traditionell buddhistischen Regionen Burjatien, Tuwa und Kalmückien lebt. Gemäß der NRO Slavic Center for Law and Justice stellen Protestanten die zweitgrößte christliche Glaubensgruppe dar, mit 3.500 registrierten Organisationen und mehr als zwei Millionen Anhängern. Die Römisch Katholische Kirche schätzt die Anzahl der Katholiken auf 600.000, die meisten davon nicht-ethnische Russen. Schätzungen zufolge gibt es 250.000 bis eine Million Zeugen Jehovas, die Mehrheit von ihnen lebt in Moskau und St. Petersburg. In einigen Gebieten, wie Jakutien, Tschuktschen und Mari-El, werden pantheistische und naturbezogene Religionen ausgeübt.
Dem Jahresbericht des Justizministeriums zufolge waren mit 1.1.2010
23.494 religiöse Organisationen registriert, um 416 mehr als 2009. 2008 waren darunter Gruppen folgender Religionen: Russisch Orthodox (12.586), Muslime (3.815), Protestanten (3.410), Zeugen Jehovas (402), Orthodoxe Altgläubige (283), Katholiken (240), Buddhisten (200).
(U.S. Department of State: July-December, 2010 International Religious Freedom Report, 13.9.2011)
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Soziale Gruppen
Gemäß Artikel 19, Absatz 3, der Verfassung haben "Mann und Frau die gleichen Rechte und Freiheiten und die gleichen Möglichkeiten zu deren Realisierung". Die geringe Anzahl der Frauen in Führungspositionen zeigt aber, dass Frauen im Berufsleben nicht die gleichen Chancen wie Männer haben. Ihr Anteil entspricht jedoch ungefähr dem europäischen Durchschnitt.
Ein großes Problem ist häusliche Gewalt. Mit diesem Thema befasste Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass jährlich etwa 14.000 Frauen von ihrem Partner oder einem Angehörigen getötet werden. Als Hauptursachen hierfür gelten Alkoholismus, ein traditionell geprägtes Verständnis der Rolle von Männern und Frauen und beengte Wohnverhältnisse. Die Polizei bleibt meist passiv.
Schutzmöglichkeiten für Frauen gibt es in Russland kaum: Nach Angaben des Ministeriums für Gesundheit und Soziales gibt es landesweit 23 staatliche Frauenhäuser. In Tschetschenien werden vereinzelt Schutzmöglichkeiten von einzelnen lokalen Nichtregierungsorganisationen bereitgestellt, wenn auch in unzureichendem Umfang.
Beim Menschenhandel gehören russische Frauen neben anderen Osteuropäerinnen zu den Hauptopfergruppen. Durch internationale Zusammenarbeit, die Zeugenverbringungs- und Zeugenschutzmaßnahmen einschließt, wird versucht, die Rotlicht-Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Trotz der Verankerung des Straftatbestandes Menschenhandel im russischen Strafesetzbuch (Artikel 127, Absatz eins,) bleiben die Strafverfolgungszahlen niedrig. Russland gilt zugleich als Ursprungs-, Transit- und Empfangsland im Menschenhandel. Das von der International Organisation for Migration (IOM) in Zusammenarbeit mit russischen Regierungsbehörden und NRO in drei ausgesuchten Regionen (Karelien, Astrachan, Moskau) durchgeführte zweijährige Pilotprojekt "Verhinderung von Menschenhandel in der Russischen Föderation" erwies sich nach Angaben der IOM als Erfolg. Bis November 2009 wurden insgesamt etwa 13.500 Beratungsgespräche geführt, davon ca. 800 durch das Büro des Roten Kreuzes in St. Petersburg. Daneben betreibt die IOM zwei Rehabilitierungszentren für Opfer von Menschenhandel, in Moskau und seit Februar 2009 in Wladiwostok.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Frauen in Russland haben Schwierigkeiten, an politische Macht zu gelangen. Frauen haben 14% der Sitze in der Duma inne, und weniger als 5% im Föderationsrat. Nur drei von 19 föderalen Ministern sind Frauen, auf regionaler Ebene stellt die Gouverneurin von St. Petersburg als einzige Frau eine Ausnahme dar. Häusliche Gewalt ist weiterhin ein ernsthaftes Problem, die Polizei ist bei der Intervention in innerfamiliäre Angelegenheiten oft nachlässig.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Das Gesetz verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, jedoch setzte die Regierung dieses Verbot nicht effektiv um.
Vergewaltigung ist illegal, es gibt jedoch keine gesetzlichen Unterscheidungen betreffend die Beziehung zwischen Täter und Opfer (etwa bei Vergewaltigung in der Ehe). Vergewaltigung in der Ehe oder durch eine bekannte Person wurde von der Gesellschaft oder Exekutivbehörden weitgehend nicht als Problem betrachtet. Frauen berichteten selten über Vergewaltigungen durch Personen, die sie kannten. NRO zufolge berichteten viele Frauen aufgrund des sozialen Stigmas und der mangelhaften staatlichen Unterstützung oft nicht über Vergewaltigung oder andere Gewalt. Während medizinische Angestellte Opfer von Übergriffen unterstützten und gelegentlich halfen, Fälle von Körperverletzung oder Vergewaltigung zu identifizieren, waren Ärzte oft nachlässig, als Zeugen vor Gericht aufzutreten. Gemäß dem Innenministerium wurden in den ersten 11 Monaten 2010 4.624 Vergewaltigungen oder versuchte Vergewaltigungen begangen, um 6,1% weniger als 2009.
Häusliche Gewalt ist weiterhin ein großes Problem. Ab März 2009 verwaltete das Innenministerium Aufzeichnungen von mehr als 4 Millionen Tätern häuslicher Gewalt. Das Duma-Komitee zu Sozialer Verteidigung berichtete, dass es 2010 21.400 Morde gab, zwei Drittel davon waren Frauen, die in häuslichen Auseinandersetzungen starben, das sind um 50% mehr als noch 2002. Das Innenministerium berichtete, dass mindestens 34.000 Frauen jedes Jahr Opfer häuslicher Gewalt würden, was bedeutet, dass alle 40 Minuten eine Frau durch ihren Mann, Freund, oder andere Familienmitglieder starb. Jedoch ist es aufgrund der Zurückhaltung der Opfer, über Fälle häuslicher Gewalt zu berichten, unmöglich verlässliche statistische Informationen über deren Umfang zu erhalten. Offizielle Telefonverzeichnisse enthielten keine Informationen über Krisenzentren oder Frauenhäuser. Gemäß dem Moskauer "Anna National Center for the Prevention of Violence" gibt es lediglich rund 25 Frauenhäuser in ganz Russland, mit Betten für insgesamt etwa 200 Frauen.
Es gibt keine rechtliche Definition von häuslicher Gewalt. Föderale Gesetze verbieten tätliche Angriffe, Körperverletzung, Drohungen und Morde, aber die meisten Fälle häuslicher Gewalt fallen nicht unter die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft. Gemäß einer Studie des "Zentrums zur Unterstützung von Frauen" mit Sitz in Smolensk, reagiert die Polizei auf Berichte über häusliche Gewalt oft lustlos oder mit unpassenden Antworten, und schlug manchmal vor, bis zum nächsten Tag zu warten.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Innerstaatliche Fluchtalternative
Das Gesetz sieht die Bewegungsfreiheit im Land, Auslandsreisen, Emigration und Repatriierung vor. Jedoch schränkte die Regierung die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes und Migration ein. Alle Erwachsenen müssen behördlich ausgestellte Interne Pässe bei sich tragen, wenn sie im Land reisen, und müssen sich innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nach ihrer Ankunft an einem neuen Ort bei den lokalen Behörden melden. Behörden verweigerten oft Personen ohne Internem Pass oder ordnungsgemäßer Registrierung öffentliche Dienstleistungen. Die offizielle Frist für die Registrierung nach Ankunft ist 90 Tage. Dunkelhäutigere Personen oder Personen aus dem Kaukasus oder Zentralasien wurden oft zum Zweck der Dokumentenkontrolle angehalten. Es gab glaubhafte Berichte, dass die Polizei bei unregistrierten Personen willkürlich höhere als die gesetzlich vorgeschriebenen Strafen verhängten und Bestechungsgelder verlangten.
Obwohl das Gesetz dem Bürger das Recht zuspricht, seinen Wohnort frei zu wählen, schränkten viele regionale Regierungen dieses Recht durch Registrierungsbestimmungen, die stark an jene aus Sowjetzeiten erinnerten, ein. Bürger, die auf Dauer umziehen, müssen sich innerhalb von sieben Tagen registrieren, um dort wohnen zu dürfen, arbeiten zu können, oder öffentliche Dienste und Versorgungsleistungen, sowie Bildung für ihre Kinder zu erhalten. Bürger, die innerhalb des Landes ihren Wohnsitz änderten, Migranten, und Personen mit einem rechtlichen Anspruch auf die russische Staatsbürgerschaft, die aus einer der ehemaligen Sowjetrepubliken ins Land kamen, hatten oft Schwierigkeiten sich in bestimmten Städten registrieren zu lassen bzw. wurde es ihnen in einigen Städten nicht erlaubt. Der Registrierungsprozess in lokalen Polizeibezirken war oft korrupt. Es gab regelmäßige Berichte, dass Polizisten Bestechungsgelder erwarten, um Registrierungsanträge zu bearbeiten oder während sie stichprobenartigen Kontrollen der Registrierungsdokumente durchführten.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Die Regierung erlegt der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit einige Einschränkungen auf. Erwachsene müssen ihren Inlandsreisepass bei Reisen mitführen, und benötigen ihn, um gewisse staatliche Leistungen zu erhalten. Einige regionale Behörden haben Registrierungsvorschriften, die das Recht der Bürger ihren Wohnort frei zu wählen einschränken. In der Mehrheit der Fälle wird hier auf ethnische Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien abgezielt.
(Freedom House: Freedom in the World 2011, Mai 2011)
Ein Aufenthaltsort ist ein Ort, wo sich ein Bürger eine begrenzte Zeit aufhält - z.B. Hotel, ein Sanatorium, Campingplatz, Krankenhaus, oder andere ähnliche Einrichtungen und auch eine Wohnräumlichkeit, die keinen Wohnort des Bürgers darstellt. Ein Wohnort ist die Stelle, wo der Bürger ständig oder vorwiegend wohnhaft ist und zwar als Eigentümer oder aufgrund eines Miet- oder Untermietvertrages, oder in einer sozial zugewiesenen Wohnung oder aufgrund anderer Grundlagen, die durch die Gesetzgebung der Russischen Föderation vorgesehen sind: ein Wohnhaus, spezielle Objekte wie Heim, Wohnung, Dienst-Wohnraum, Hotel-Zufluchtsstätte, Ersatzwohnung des Ersatzwohnungsfonds [wortwörtlich Manövrierungsfond - Anmerkung der Übersetzerin/, spezielle Einrichtung für alleinstehende und alte Personen, Internatshaus für Behinderte, Veteranen oder andere] und eine andere Wohnräumlichkeit.
Die Bürger sind verpflichtet, sich am Aufenthaltsort und Wohnort bei den Meldebehörden zu melden und bestimmte Bestimmungen zu beachten. Die Kontrolle der Einhaltung dieser Bestimmungen durch die Bürger und Amtspersonen übernimmt der Föderale Migrationsdienst, seine territorialen Behörden und die Behörden für innere Angelegenheiten.
Die für die Durchführung der Registrierung notwendigen Dokumente, die die Identität der Bürger der Russischen Föderation bestätigen (in Folge Identitätsdokumente) sind: Pass des Bürgers der Russischen Föderation, der die Identität des Bürgers der Russischen Föderation auf dem Territorium der Russischen Föderation bestätigt; Pass eines Bürgers der UdSSR, der die Identität des Bürgers der Russischen Föderation bis zu seinem Umtausch in den Pass des Bürgers der Russischen Föderation in der festgelegten Frist bestätigt; Geburtsurkunde für Personen, die jünger als 14 Jahre alt sind; Pass, der die Identität eines Bürgers der Russischen Föderation bestätigt für Personen, die ständig außerhalb der Russischen Föderation wohnen.
Registrierung am Aufenthaltsort
Bürger die einen vorübergehenden Aufenthalt in einem Wohngebiet außerhalb ihres Wohnortes für einen Zeitraum von über 90 Tagen beziehen, haben sich nach Ablauf der genannten Frist an die für die Registrierung zuständigen Amtspersonen zu wenden und folgende Dokumente vorzuweisen:
Die für die Registrierung zuständigen Amtspersonen, sowie Bürger und juristischen Personen, die eine, ihnen aufgrund des Eigentumsrechts gehörende, Räumlichkeit zu Wohnzwecken übergeben, haben binnen 3 Tagen, nachdem sich die Bürger an sie gewandt haben, diese Dokumente an die Meldebehörden zu übergeben.
Die Registrierungsbehörden haben binnen 3 Tagen ab dem Zeitpunkt des Erhaltes der Dokumente, die Bürger gemäß der festgelegten Ordnung am Aufenthaltsort in Wohnräumlichkeit, anzumelden, die kein ständiger Wohnort ist und eine Bescheinigung der Registrierung für den Aufenthaltsort auszustellen.
Die Registrierung der Bürger am Aufenthaltsort erfolgt ohne, dass die Bürger am Wohnort abgemeldet werden.
Registrierung am Wohnort
Ein Bürger, der seinen Wohnort wechselt, ist verpflichtet, sich spätestens binnen 7 Tagen nach seiner Ankunft an dem neuen Wohnort an Amtspersonen zu wenden, die für die Registrierung zuständig sind.
Dabei sind folgende Dokumente vorzulegen:
Die für die Registrierung zuständigen Amtspersonen und die Bürger und die juristischen Personen, die eine ihnen aufgrund des Eigentumsrechts gehörende Wohnräumlichkeit zur Verfügung stellen, übergeben binnen 3 Tagen nach der Meldung der Bürger diese Dokumente zusammen mit den Adressenblättern bezüglich der Ankunft und den Formularen für statistische Zwecke an das Meldebehörde.
Die Meldebehörden registrieren die Bürger am Wohnort binnen einer Frist von 3 Tagen ab dem Erhalt der Dokumente und führen einen entsprechenden Vermerk über die Registrierung über den Wohnort in den Pass ein. Den Bürgern, deren Registrierung aufgrund von anderen identitätsbestätigenden Dokumenten erfolgt ist, wird eine Bescheinigung bezüglich der Registrierung über den Wohnort ausgestellt.
Die Abmeldung eines Bürgers vom Melderegister am Wohnort erfolgt durch die Registrierungsbehörden in folgenden Fällen:
a) Änderung des Wohnortes aufgrund eines Antrages des Bürgers auf Registrierung am neuen Wohnort oder seines Antrages über seine Abmeldung vom Melderegister am Wohnort. Wenn sich der Bürger am vorherigen Wohnort nicht vom Melderegister abgemeldet hat, ist die Meldebehörde verpflichtet, bei der Registrierung am neuen Wohnort, binnen 3 Tagen eine entsprechende Benachrichtigung an die Meldebehörde am vorherigen Wohnort des Bürgers zu schicken, damit dieser vom Melderegister gelöscht wird.;
b) Im Falle der Einberufung in die Armee - aufgrund der Mitteilung des Wehrkommandos;
c) Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe - aufgrund eines rechtskräftigen Gerichtsurteils;
d) Im Todesfall, oder im Falle einer Erklärung als tot durch ein Gericht - aufgrund der Sterbeurkunde, die in der durch das Gesetz festgelegten Ordnung, ausgestellt wurde.
e) Im Falle der Aussiedlung aus der bezogenen Wohnräumlichkeit oder wenn das Recht zur Benützung einer Räumlichkeit als erloschen erklärt wird - aufgrund eines rechtskräftigen Gerichtsurteils;
f) Wenn nicht übereinstimmende, ungültige Mitteilungen oder Dokumente entdeckt werden, die als Grundlage für die Registrierung gegolten haben und auch, wenn es zu unrechtsmäßigen Handlungen der Amtspersonen bei der Registrierung gekommen ist - aufgrund eines rechtskräftigen Gerichtsurteils.
(Regierung der Russischen Föderation: Beschluss vom 17. Juli 1995 N
713 - Über die Regelung der Registrierung und Abmeldung von Bürgern
der Russischen Föderation an ihrem Wohn- und Aufenthaltsort innerhalb der Russischen Föderation und die Auflistung der für die Registrierung zuständigen Ämter)
Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u. a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.
Die Registrierungsregeln gelten einheitlich im ganzen Land, ihre Anwendung ist jedoch regional unterschiedlich. Viele Regionalbehörden wenden örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken restriktiv an.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Rückkehrfragen
Seit 2000 haben sich die Realeinkünfte der Bevölkerung mehr als verdoppelt, gleichzeitig ging die Armut stark zurück. Während im Jahr 2000 in Russland über 29 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben mussten, sind es nun etwa 13,6 % (1. Halbjahr 2010). Es gibt staatliche Unterstützung (z.B. Sozialhilfe für bedürftige Personen), die jedoch nicht zur Deckung des Grundbedarfs ausreicht. Nach einer Prognose des russischen Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung im September 2010 sollen die durchschnittlichen Löhne und Gehälter (im Oktober 2010 bei monatlich 20.789 Rubel, ca. 520 Euro) bis 2015 im Vergleich zu 2009 um 51,4 % auf 28.219 Rubel (ca. 705 Euro) steigen. Der Anteil der Bevölkerung mit einem unter dem Existenzminimum liegenden Einkommen soll bis 2013 auf 11,3 % verringert werden. Bis Anfang Januar 2010 stieg die Zahl der Arbeitslosen auf geschätzte 6,8 Mio. Menschen an. Ende September 2010 vermeldete Vizepremier Alexandr Schukow wieder einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit auf das Niveau vor der Wirtschaftskrise. Im Oktober 2010 waren in Russland nach internationalen Maßstäben 5,1 Mio. Menschen arbeitslos¿ was einer Arbeitslosenquote von 6,8% entspricht. Offiziell waren Ende Oktober 2010 nach Angaben des Föderalen Dienstes für Arbeit und Beschäftigung (ROSTRUD) lediglich 1,5 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet.
In den Jahresberichten des Menschenrechtsbeauftragten Lukin wird regelmäßig auch auf die noch immer problematische Situation der Rentner hingewiesen. Die Mehrheit der etwa 39,1 Mio. Rentner Russlands lebt in recht armen Verhältnissen. In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Lage nach einigen Rentenerhöhungen merklich verbessert. Zum Oktober 2010 betrug die durchschnittliche Sozialrente 4.754 Rubel (ca. 120 Euro) gegenüber 4.245 Rubel (ca. 105 Euro) im vergangenen Jahr. Mit der sogenannten Valorisierung, die seit Beginn 2010 gilt, erhalten rund 36 Mio. Rentner, die den größten Teil ihres Erwerbslebens in der Sowjetzeit geleistet haben, 10% Zuschlag auf einen Teil der bisherigen Rente sowie zusätzlich ein weiteres Prozent für jedes zu Sowjetzeiten geleistete Jahr Erwerbsarbeit. Die Arbeitsrente stieg u. a. dadurch zum Oktober 2010 auf durchschnittlich 7.608 Rubel (ca. 190 Euro)¿ was einer realen Steigerung von 30 % gegenüber dem Vorjahr entspricht (Angaben des Föderalen Dienstes für staatliche Statistik ROSSTAT). Dennoch erscheinen die Renten vor dem Hintergrund des staatlich berechneten Existenzminimums für Rentner für das zweite Halbjahr 2010 von durchschnittlich 4.475 (ca. 110 Euro) Rubel nach wie vor relativ niedrig. Das Existenzminimum richtet sich nach regionalen Kennziffern, weshalb es zu großen Unterschieden je nach Region kommt und der Durchschnittswert nur bedingt aussagefähig ist. Lukin kritisiert überdies, dass ein Rentner im Mittel lediglich ca. 28% seines früheren Arbeitslohns als Rente erhalte.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Die Arbeitslosigkeit ist weiterhin rückläufig. Nach einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote im Jahr 2010 von 7,5% waren 2011 noch 6,6% der erwerbsfähigen Bevölkerung ohne Arbeit. (jeweils berechnet nach der ILO-Methode). Allerdings bestehen erhebliche regionale Unterschiede.
Der Durchschnittslohn 2011 betrug rund 23.700 Rubel (knapp 600 ¿), was einem nominalen Wachstum von 13% und einem realen Wachstum von 4,2% gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Die Durchschnittsrente betrug 2011 8.522 Rubel (ca. 213 Euro), nominal plus 8,8% und real plus 1,2% gegenüber dem Vorjahr.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Länder, Reise, Sicherheit - Russische Föderation - Innenpolitik, Stand Mai 2012, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html)
Arm zu sein bedeutet gemäß dem UNO-Standard, mit maximal zwei Dollar pro Tag auskommen zu müssen. In Russland wird die Armutsgrenze ausgehend vom Mindestlohn ermittelt und beträgt derzeit 4.611 Rubel im Monat - d. h. umgerechnet knapp über fünf Dollar pro Tag. Unter dem Existenzminimum leben in Russland nach dem Stand von Ende 2011 mehr als 20 Millionen Menschen bzw. 14,3 Prozent der Bevölkerung. Dies ist die offizielle Kennziffer. Wenn aber die Armut in Russland nach amerikanischen, europäischen oder sogar asiatischen Kriterien (für die mit Russland vergleichbaren Länder) analysiert wird, so wird der Anteil der Unterbemittelten in Russland auf 60 Prozent steigen.
(Ria Novosti: Blick in die russischen Zeitungen - Armes Russland, 30.1.2012, http://de.rian.ru/papers/20120130/262570380.html)
Russlands Regierung hat nach Ergebnissen des dritten Quartals [2011] das Existenzminimum neu berechnet und mit 6.287 Rubel (ca. 150 Euro) pro Monat festgelegt. Das ist um 3,4 Prozent weniger, als im zweiten Quartal 2011. Das Existenzminimum eines arbeitsfähigen Menschen in Russland wurde um 3,3 Prozent herabgesetzt. Es beträgt nun 6.792 Rubel (ca. 162 Euro). Das Existenzminimum für Pensionierte beträgt nach den neuen Berechnungen 4.961 Rubel (ca. 118 Euro) und für Kinder 6.076 Rubel (ca. 145 Euro) monatlich. Im zweiten Quartal waren es 5.141 Rubel (ca. 122 Euro) bzw. 6.294 Rubel (ca. 150 Euro).
(Ria Novosti: Existenzminimum in Russland auf 150 Euro herabgesetzt, 19.12.2011, http://de.rian.ru/business/20111229/262377336.html)
"Das Lebensniveau der Bürger verschlechterte sich zwar etwas in den Krisenjahren 2008 und 2009, als die Einkommen und die Zahlungsfähigkeit zurückgingen, doch gegenwärtig bleibt die positive Dynamik erhalten", heißt es in einer Studie der Nationalen Agentur für Finanzforschungen (NAFI). Die sogenannte "Vormittelklasse", zu der fast die Hälfte der Einwohner Russlands gehört, bestätigte einen Wachstumstrend. Dabei handelt es sich um Bürger, die genug Geld für Lebensmittel und Kleidung haben, denen jedoch der Kauf von langlebigen Waren schwer fällt. Laut der Meinungsforschung betrug diese Menschengruppe vor sieben Jahren nur höchstens 30 Prozent der Bevölkerung.
(Ria Novosti: Russland: Lebensstandard der Bürger verbessert sich allmählich - Umfragen, 27.12.2011, http://de.rian.ru/business/20111227/262365221.html)
Gesundheitswesen
Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem ist ineffektiv. Die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals sind noch immer vergleichsweise niedrig. Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist.
Infektionskrankheiten, wie Tuberkulose und insbesondere HIV/AIDS, breiten sich weiter aus. Besonders betroffen sind Gefängnisinsassen und Drogensüchtige. Bevölkerungsgruppen mit Anspruch auf kostenreduzierte und -freie Dienst- bzw. Sachleistungen sind immer wieder von Versorgungsengpässen betroffen. In die Modernisierung des Gesundheitswesens Russlands werden erhebliche Geldmittel investiert. Ziel ist es, die staatliche Gesundheitsversorgung bis Ende 2012 technisch und verwaltungsmäßig so effizient zu machen, dass sie ab 2013 weitgehend durch die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden kann.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Länder, Reise, Sicherheit - Russische Föderation - Innenpolitik, Stand Mai 2012, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html)
Die medizinische Versorgung in Russland ist auf einfachem Niveau, aber erscheint strukturell grundsätzlich ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie Moskau und St. Petersburg. sind auch das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen vorhanden. Nach Einschätzung westlicher Nichtregierungsorganisationen ist das Hauptproblem weniger die fehlende technische oder finanzielle Ausstattung, sondern ein gravierender Ärztemangel. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung zu stark auf klinische Behandlung ausgerichtet ist und gleichzeitig Allgemeinmediziner fehlen. Weiter mangelt es weitgehend an präventiven Gesundheitskonzepten, es kommt zu Effizienzverlusten durch unterschiedliche Kompetenzen im Gesundheitswesen auf föderaler, regionaler und kommunaler Ebene. Außerdem ist das Gesundheitssystem strukturell unterfinanziert.
Russische Bürger haben ein Recht auf kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden nahezu alle Gesundheitsdienstleistungen erst nach verdeckter privater Zuzahlung geleistet. Private Praxen nehmen in den Mittel- und Großstädten deutlich zu. Nach Angaben des Zentrums für soziale Politik der Russischen Wissenschaftsakademie erhält rund die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung keine medizinische Versorgung, da diese Menschen keine Zeit für Warteschlangen in den formell kostenlosen medizinischen Einrichtungen haben. Nur sieben bis acht Prozent sind zusätzlich durch ihre Arbeitgeber krankenversichert.
Die Versorgung mit Medikamenten ist zumindest in den Großstädten gut, aber nicht kostenfrei. Neben russischen Produkten sind gegen entsprechende Bezahlung auch viele importierte Medikamente erhältlich. Allerdings sind Medikamentenfälschungen noch immer relativ häufig. Die Finanzierung teurer Medikamente ist für Teile der Bevölkerung oft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.
Die Zahl der AIDS-Kranken in Russland ist in den letzten Jahren weiter gestiegen, wenngleich weniger stark als noch Anfang des Jahrtausends. Nach Angaben des dem Gesundheitsministerium unterstehenden Föderalen AIDS-Zentrums gab es zum 31. Dezember 2009
530.185 registrierte HIV-Infizierte, davon 4.647 Kinder. Im ersten Halbjahr 2010 wurden 28.898 Neuerkrankungen registriert. Verglichen mit dem Rekordjahr 2001, als rund 80.000 HIV-Neuinfektionen registriert worden waren, ist dies ein deutlicher Rückgang der Neuansteckungen. Es wurden 10.248 Personen mit akuten AIDS-Symptomen registriert, darunter 287 Kinder. Von den über den gesamten Zeitraum Registrierten sind laut Mitteilung des Chefhygienearztes vom Dezember 2010 insgesamt mehr als 84.000 HIV-Infizierte gestorben, davon mehr als 20.300 Personen an AIDS selbst.
Von den Neuinfektionen sind vor allem Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren betroffen. 2007 sind 22,5 Millionen und 2006 knapp 20 Millionen Einwohner auf HIV untersucht worden. Jährlich stellt der Staat bis zu zehn Milliarden Rubel (ca. 250 Millionen Euro) für die Behandlung von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken zur Verfügung. Es gibt etwa 15 zugelassene AIDS-Präparate (weltweit sind ca. 30 Präparate gebräuchlich). Die Behandlungskosten belaufen sich für eine Person auf durchschnittlich ca. 3.000 Euro pro Jahr.
Mehrere Studien von UN-AIDS und russischen Behörden im Laufe des Jahres 2008 ergaben, dass die Vorbehalte der Bevölkerung gegen HIV-Positive/AIDS-Kranke immer noch sehr groß sind. Das Bewusstsein für HIV,/AIDS nimmt jedoch erheblich zu, insbesondere dank Aufklärungskampagnen mit russischen Prominenten.
Die Anzahl der Tuberkulose-Kranken betrug nach Angaben des Gesundheitsministeriums Ende 2009 ca. 262.700 - 7.827 weniger als im Vorjahr. Nach Angaben des russischen Ministeriums für Gesundheit und soziale Entwicklung gab es in Russland 2009 landesweit 117.227 neue Tbc-Fälle. Insbesondere für Kinder aus schwierigen Verhältnissen fehlt es an prophylaktischen Maßnahmen gegen TBC. In Moskau sind unter den verwahrlosten Kindern und Jugendlichen schätzungsweise 18 von 1.000 TBC-krank.
Im 2006 verabschiedeten "Nationalen Gesundheitsprojekt" wird neben dem Kampf gegen AIDS auch der Prophylaxe gegen Hepatitis besondere Priorität eingeräumt, da man von etwa acht Mio. Hepatitis-B- und drei bis vier Mio. Hepatitis-C- Kranken in Russland ausgeht. 2009 wurden 10.300 Neuerkrankungen bei Hepatitis A festgestellt, bei Hepatitis B waren es 3.800 und bei Hepatitis C 3.200 Fälle. Neben einem Impfprogramm, das 25 Mio. Menschen erfassen soll, ist auch die kostenlose Impfung gegen Hepatitis im allgemeinen Impfkalender für Kinder und Jugendliche vorgesehen. In diesem Rahmen wurden 2009 rund
3.3 Mio. Menschen gegen Hepatitis geimpft, bis September 2010 erhielten nach Angaben des russischen Ministeriums für Gesundheit und soziale Entwicklung 5,3 Mio. Menschen eine Impfung gegen Hepatitis B. Derzeit warnt das Deutsche Tropeninstitut wieder vor einer steigenden Zahl von Hepatitis-A-Infektionen in Russland. So wurden Presseberichten zufolge in den ersten drei Monaten des Jahres 2010 mehr als 757 Hepatitis-A-Erkrankungen allein in Moskau registriert; die Übertragung erfolgt vorrangig durch verunreinigtes Leitungswasser.
Die Notfallversorgung über die "Schnelle Hilfe" (Telefonnummer 03) ist gewährleistet. Die so genannten Notfall-Krankenhäuser bieten einen medizinischen Grundstandard.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
In der Russischen Föderation wird die medizinische Versorgung von staatlichen und privaten medizinischen Einrichtungen gewährleistet. Die Mehrheit der vorhandenen medizinischen Einrichtungen ist staatlich, aber der Privatsektor entwickelt sich rasch. Dennoch befindet sich das Gesundheitswesen in Russland in einer recht schwierigen Situation: Die staatliche Finanzierung ist unzureichend - laut Ministerium für Gesundheit und Soziale Entwicklung wird nur die Hälfte der erforderlichen Mittel gezahlt.
Ca. 80 % der staatlichen medizinischen Einrichtungen werden aus regionalen und/oder kommunalen Geldern finanziert; hier fehlt es an ausreichend finanziellen Mitteln, sodass keine hochwertige medizinische Versorgung gewährleistet werden kann. Die medizinische Ausstattung ist in der Regel überholt, Einrichtungen für die medizinische Grundversorgung sind unterbesetzt (nur 60 % der benötigen Stellen besetzt). Die Folge: Die Qualität der kostenlosen medizinischen Versorgung nimmt ab.
Alle russischen Bürger haben ein Recht auf eine kostenlose medizinische Vorsorge, die vom Staat über eine aus staatlichen Mitteln aller Ebenen, Steuereinnahmen und anderen Quellen finanzierten Krankenpflichtversicherung (OMS) gewährleistet wird (Krankenversicherungsgesellschaften werden in jeder Region vom Staat ausgewählt). Die kostenlose medizinische Versorgung umfasst folgende Dienste: Notfallmedizin, ambulante Versorgung einschließlich Präventivbehandlung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Polikliniken, Krankenhausaufenthalt. Jede pflichtversicherte Person besitzt eine spezielle Plastik-Krankenversicherungskarte mit einer individuellen Nummer (sie wird auf der Grundlage eines Vertrags zwischen einer Person und einer Versicherungsgesellschaft ausgegeben; diesen Vertrag und die Plastikkarte erhalten Bürger, die im System registriert sind); die Karte gewährleistet den Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Hoheitsgebiet der Russischen Föderation, unabhängig vom Wohnort. Wenn man sich an eine Klinik wendet, muss man eine Plastik-Krankenversicherungskarte (oder einen Vertrag mit einer Versicherungsgesellschaft, der die Grundlage für die Ausgabe der Plastikkarte bildet) vorlegen; dies gilt nicht für notfallmedizinische Fälle, da alle Bürger der Russischen Föderation kostenlos ambulante Dienste in Anspruch nehmen können (die Kosten tragen die Kommunen).
Es gibt ein System für die kostenlose ärztliche Betreuung von Kindern im Alter von 0 bis 14 Jahren mit spezialisierten Polikliniken und Kliniken. Dieses System steht allen Kindern offen, die von der Krankenpflichtversicherung abgedeckt sind, auf die alle Kinder der Russischen Föderation ein Anrecht haben. Personen über dieser Altersgrenze werden in medizinischen Einrichtungen für Erwachsene versorgt.
(IOM: Information on Return and Reintegration in the Countries of Origin? IRRICO II; Russian Federation, 13.11.2009)
Alle russischen Bürger - sowohl die pflichtversicherten als auch die in anderen Versicherungssystemen Versicherten -, die gesetzlich keinen Anspruch auf Leistungen bei der Medikamentenversorgung haben, bezahlen Medikamente im Allgemeinen selbst. Es gibt jedoch bestimmte Gruppen, die kostenlos Medikamente erhalten. So haben beispielsweise russische Bürger, die einen Anspruch auf staatlich finanzierte Leistungen wie das Sozialpaket haben, je nach Art der Erkrankung Zugang zu kostenlosen Medikamenten. Auch Menschen mit bestimmten Erkrankungen kann das Recht auf Leistungen der medizinischen Versorgung eingeräumt werden, die mit regionalen Geldern finanziert wird. Anspruch auf kostenlose Medikamente haben Bürger der Russischen Föderation mit folgenden Erkrankungen: Makrogenitalismus, Multiple Sklerose, Myasthenie, Myopathie, zerebellare Ataxie, Parkinsonkrankheit, grüner Star, psychische Störungen, Nebenniereninsuffizienz, AIDS und HIV, Schizophrenie und Epilepsie, systemische chronische Hauterkrankungen, Bronchialasthma, Rheumatismus und rheumatoide Arthritis und Lupus erythematosus, Bechterew-Krankheit (Strümpell-Syndrom), Diabetes, Wachstumshormonmangel, zerebrale Kinderlähmung; hepatolentikuläre (progressive) Lentikular-Degeneration; Phenylketonurie, intermittierende Porphyrie, Krebserkrankungen, Blutkrankheiten, Strahlenkrankheit, Lepra, Tuberkulose, akute Brucellose, chronische urologische Erkrankungen, Syphilis, Patienten, die (in den vorangegangenen sechs Monaten) einen Herzinfarkt hatten, Aorten- und Mitralklappenersatz, Organtransplantationen sowie für Kinder mit Mukoviszidose, Kinder unter drei Jahren und Kinder unter sechs Jahren aus kinderreichen Familien. Bei bettlägerigen Patienten kann ein Verwandter oder ein Sozialarbeiter auf Vorlage eines Rezepts Medikamente bekommen.
Die Preise für Medikamente sind je nach Region oder sogar Lage der Apotheke unterschiedlich, da es in der Russischen Föderation keine festgesetzten Preise für Medikamente gibt. Ein Preis-Beispiel für ein häufig verwendetes Medikament wie Aspirin-Tabletten: In Moskauer Apotheken kosten sie zwischen 30 (0,70 Euro) und 135 Rubel (3 Euro).
(IOM: Information on Return and Reintegration in the Countries of Origin, IRRICO II; Russian Federation, 13.11.2009)
Es gibt Dienste in der Russischen Föderation, die kostenlose Unterstützung für Menschen bieten, die an Drogenmissbrauch leiden (darunter auch HIV-infizierte Personen). Unterstützung für Bürger der Russischen Föderation wird beispielsweise von der Suchtklinik Nummer 19 in Moskau geboten. Nicht in Moskau ansässige Personen müssen einen russischen Reisepass, eine Polizze der verpflichtenden Krankenversicherung und eine Zuweisung von der Moskauer Abteilung für öffentliche Gesundheit vorlegen. HIV-infizierte Personen müssen eine Zuweisung vom Föderalen Betreuungszentrum für Aidsprävention und den Kampf gegen AIDS vorlegen und einen Vorrat an verschriebenen Medikamenten der antiretroviralen Therapie haben.
Die Behandlung für Drogenabhängige ist freiwillig. In der oben erwähnten Suchtklinik erhält der Patient einen Durchgang intensiver Entgiftungsbehandlung mit der Möglichkeit des Transfers in die psychotherapeutische Abteilung um die Rehabilitationsprogramme zu betreiben.
Patienten mit HIV-Infektion und Hepatitis C werden in regionalen AIDS-Zentren (befindlich in großen und durchschnittlichen Städten) am Ort der Registrierung (vorzugsweise) oder am Ort der Überweisung behandelt. Solche Zentren bieten auch psychologische Unterstützung für die Patienten. Methodisch wissenschaftliches Vorgehen und die technische Betreuung dieser Zentren erfolgt durch das föderale AIDS-Zentrum in Moskau.
Die Dienste für Menschen, die an HIV/Hepatitis C leiden und für Drogensüchtige sind kostenlos. Im Fall von HIV-Infektion und Hepatitis C sind auch die Konsultation von Spezialisten, Labor und andere Untersuchungen kostenlos. (Nota Bene: Die Behandlung für Patienten mit kombinierter HIV-Infektion und Hepatitis C-Erkrankung oder nur mit HIV-Infektion ist kostenlos. Ein Patient, der nur an Hepatitis C leidet, hat nicht dieselben Privilegien, außer wenn der Patient an einem medizinisch-wissenschaftlichen Projekt teilnimmt).
(IOM: Anfragebeantwortung von IOM Moskau, per E-Mail vom 26.4.2010)
In der Russischen Föderation ist die Behandlung von HIV/Aids für russische Staatsbürger kostenlos. Laut dem Programm "Dringende Maßnahmen zur Vorbeugung von Krankheiten im Zusammenhang mit HIV in der Russischen Föderation" sollte in allen Regionen, auch der Tschetschenischen Republik, der Zugang zu antiretroviraler Therapie möglich sein.
(IOM: Anfragebeantwortung durch IOM Moskau, per E-Mail vom 03.01.2011)
Behandlung nach Rückkehr
Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige allein deshalb bei ihrer Rückkehr nach Russland staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten.
Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u. a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.
Die Registrierungsregeln gelten einheitlich im ganzen Land, ihre Anwendung ist jedoch regional unterschiedlich. Viele Regionalbehörden wenden örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken restriktiv an. Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im Allgemeinen und gegenüber zurückgeführten Personen im Besonderen bei der Niederlassung verstärkt. Nichtregierungsinstitutionen berichten auch, dass Registrierungsbehörden vereinzelt nicht kooperieren, wenn Tschetschenen sich in ihrem Kreis registrieren lassen oder dort wohnen möchten. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich an dieser Praxis der Behörden in absehbarer Zeit nichts ändern. Daher haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten. außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten.
Zurückkehrende unbegleitete Minderjährige können über die Abteilung für staatliche Jugendpolitik, Erziehung und sozialen Schutz für Kinder des Bildungs- und Wissenschaftsministeriums der Russischen Föderation in einem Kinderheim untergebracht werden, wenn sich keine Verwandten zur Aufnahme bereit erklären. Die Zuständigkeit liegt bei den Behörden des registrierten Wohnortes des Minderjährigen.
(Deutsches Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Mai 2012
Republik Inguschetien
Die vorliegende Feststellung zur Republik Inguschetien ist als Ergänzung zu den aktuellen Feststellungen "Russische Föderation" zu betrachten.
Block 1: Politik/Wahlen
Inguschetien ist eine Republik der Russischen Föderation mit rund
3.600 km². Die Hauptstadt ist Magas, die Mehrheitsreligion der Islam.
Der derzeitige Präsident, der hoch dekorierte Karrieresoldat Junus-Bek Jewkurow, wurde im Oktober 2008 vom russischen Präsidenten Medwedew ernannt, und ersetzte Murat Zjazikow in dieser Funktion. Jewkurow wurde im Juni 2009 bei einem Selbstmordattentat schwer verletzt, und verbrachte zur Genesung zwei Monate in Moskau.
(BBC News: Regions and Territories - Ingushetia, Stand 22.11.2011, http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/europe/country_profiles/3829691.stm, Zugriff 10.5.2012)
Gemäß der Volkszählung 2010 hat Inguschetien 412.529 Einwohner. 38,3% der Bevölkerung leben im städtischen, 61,7% im ländlichen Raum.
(Rosstat: ????? ????????????? ???????? ????????? 2010 - ???????? ????????? - ????????? ? ???????? ????????? ?? ????????? ?????????? ?????????, 2010,
http://www.gks.ru/free_doc/new_site/perepis2010/croc/Documents/Materials/tab1.xls, Zugriff 9.5.2012)
Gemäß der Volkszählung 2010 sind 94,1% der Bevölkerung der Republik ethnische Inguscheten, 4,6% ethnische Tschetschenen, 0,8% ethnische Russen, und 0,5% gehören einer anderen ethnischen Gruppe an. Rund
2.900 Personen gaben ihre Volkszugehörigkeit beim Zensus nicht an.
(Rosstat: ????? ????????????? ???????? ????????? 2010 - ???????????? ?????? ????????? ?? ????????? ?????????? ?????????, ohne Datum, http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/per-itog/tab7.xls, Zugriff 9.3.2012)
Mit der Ernennung von Junus-Bek Jewkurow im Oktober 2008 zum Nachfolger des entlassenen Präsidenten Zjazikow kam es in Inguschetien zu einer innergesellschaftlichen Entspannung. Präsident Jewkurow hat Oppositionsvertreter in die Regierung integriert und die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Konfliktlösungsansätze betont. Der russische Präsident Medwedew hat ihn dabei demonstrativ unterstützt. Präsident Jewkurow hat wiederholt betont, dass die Probleme der Republik nur im Dialog zwischen Gesellschaft und Staatsorganen gelöst werden könnten. Für die schlechte sozioökonomische Lage in der Republik seien die Schwäche und der Vertrauensverlust der Staatsorgane und die Korruption ursächlich. Zudem dürfe der Kampf gegen den Untergrund und bewaffnete illegale Gruppen nur im rechtlich zulässigen Rahmen geführt werden.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Jewkurow gelang es, Inguschetien zu stabilisieren, die Anzahl der Kämpfe ging in den letzten beiden Jahren stark zurück. Aber junge Männer werden nach wie vor sporadisch entführt und verschwinden entweder ganz oder tauchen tot wieder auf. Jewkurow gestand ein, dass vermutlich hinter zumindest einigen dieser Entführungen Sicherheitskräfte stecken.
Jewkurow war weniger erfolgreich dabei, die endemische Korruption auszumerzen, oder die stagnierende Wirtschaft anzukurbeln, um weniger vom föderalen Budget abhängig zu sein, ebenso wenig wie bei der Schaffung der dringend notwendigen neuen Arbeitsplätze. Jewkurows Kritiker betrachten ihn und seine Familie selbst als korrupt.
Bei den Dumawahlen im Dezember 2011 lag die Wahlbeteiligung bei 88%, eine überwältigende Mehrheit stimmte für die Regierungspartei "Einiges Russland". Nach Angaben der Opposition gingen nicht mehr als 6 bis 15% der Bevölkerung zur Wahl.
(RFE/RL: Ingushetian Leader Faces His Critics, 28.2.2012, http://www.rferl.org/content/ingushetian_leader_faces_his_critics/24498976.html, Zugriff 9.5.2012)
Bei den Präsidentschaftswahlen im März 2012 lag die Wahlbeteiligung in Inguschetien offiziell bei 91,1%, die Zustimmung für Wladimir Putin bei etwas über 92%.
(Universität Bremen - Forschungsstelle Osteuropa: Russland-Analyse Nr. 235, 9.3.2012)
Am 21. April 2012 fanden in Nasran zwei verschiedene Veranstaltungen unter demselben Namen statt. Eine Konferenz der Volksbewegung der Republik (RPM) "Mekhk-Khel", bei der die aktuelle Situation in der Republik und die derzeitige Führung stark kritisiert wurden. Kritikpunkte waren die Misere der wirtschaftlichen Lage, die florierende Korruption, und die Willkür der Sicherheitskräfte in Bezug auf die Zivilbevölkerung. Der Rücktritt von Präsident Jewkurow wurde verlangt.
Eine indirekte Antwort auf die Kritik wurde vom Oberhaupt der Republik am selben Tag in einer erweiterten Sitzung des Koordinierungsausschusses der Inguschetischen Bürgerorganisationen gegeben, an der der Vorstand der Ältesten von Inguschetien, ebenfalls "Mekhk-Khel" genannt, teilnahm. Gemäß Jewkurow sei das Schlüsselinstrument zur Konsolidierung der Gesellschaft ein allumfassender Dialog.
(Caucasian Knot: Week in the Caucasus: review of main events of April 16-22, 23.4.2012,
http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/20808/, Zugriff 9.5.2012)
Ende März 2012 veröffentlichte die inguschetische Opposition einen offenen Aufruf an den russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew. Die Opposition in der Republik ist in einer "Mekhk-Khel" (Rat des Volkes) genannten Gruppe organisiert. Diese verlangte vom russischen Präsidenten, eine Rückkehr der Situation in der Republik zum eigentlichen gesetzlichen Rahmen zu erzwingen. Unter Jewkurow wäre keines der großen Problem der Republik gelöst werden.
(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 65, 2.4.2012)
Block 2: Sicherheitslage
Der Tschetschenienkonflikt hatte in den zurückliegenden Jahren auch auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus übergegriffen und die gesamte Region destabilisiert. Die Häufigkeit bewaffneter Auseinandersetzungen nimmt insbesondere in Inguschetien und Dagestan weiterhin zu. Die gesamte Region ist wirtschaftlich und sozial eine der am stärksten benachteiligten in der Russischen Föderation. Sie leidet in ganz besonderem Maße unter Korruption, ethnischen Spannungen und der Machtausübung durch einzelne Clans.
Von internationalen Organisationen (u. a. den VN) wird die Sicherheitslage in Inguschetien mittlerweile als schlechter als in Tschetschenien eingestuft. Der Konflikt dauert unvermindert seit 2004 an und hat sich seit Sommer 2007 nochmals deutlich verschärft. Es kommt fast täglich zu Angriffen gegen die Sicherheitskräfte und staatliche Funktionsträger mit Toten und Verletzten und zu einer Häufung von Terroranschlägen. Lokale Behörden können die Lage in der Region (Korruption, Überfälle von Rebellen, Willkür föderaler Sicherheitskräfte) augenscheinlich nicht kontrollieren. Das unverhältnismäßige und unterschiedslose Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die in Inguschetien operierenden Rebellen, das häufig die Zivilbevölkerung trifft, war einer der Hauptgründe für das Entstehen der inguschetischen Opposition.
Der Kampf gegen den Untergrund und bewaffnete illegale Gruppen dürfe laut Jewkurow nur im rechtlich zulässigen Rahmen geführt werden. Dieser Haltung Jewkurows ist es möglicherweise geschuldet, dass die Anzahl der Entführungen in Inguschetien im Jahr 2009 stark zurückging - laut Memorial auf 13 gegenüber 31 im Vorjahr 2008. 2010 wurden nach belastbaren Angaben von Menschenrechtsorganisationen jedoch erneut mindestens zwölf Entführungen registriert, wobei davon 7 Personen ohne erneutes Lebenszeichen verschwunden sein sollen. Für die zweite Hälfte 2010 ist die Zahl der Terroranschläge in Inguschetien etwas zurückgegangen. Jewkurow selbst stellte Ende 2010 jedoch fest, dass es bezüglich der Rebellenaktivitäten keine Entwarnung geben könne.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
"Caucasian Knot" zählte 2011 mindestens 15 Entführungsfälle in Inguschetien. Die Anzahl der Opfer bei sicherheitsrelevanten Vorfällen ging 2011 (108 Opfer, davon 70 Tote und 38 Verletzte) im Vergleich zu 2010 (326 Opfer) zurück, ist aber in Anbetracht der Einwohnerzahl hoch. 2011 wurden 40 Aufständische getötet und 23 Personen mit Verbindungen zum bewaffneten Untergrund verhaftet.
Die im Vergleich zu Kabardino-Balkarien oder Tschetschenien niedrige Opferzahl in Inguschetien 2011 war nicht überraschend, da die Aufständischen in der Republik ihre Anführer verloren hatten. Es gab einen Rückgang der Aktivitäten des Widerstands in Inguschetien, Ende 2011 und Anfang 2012 stiegen die Rebellenaktivitäten wieder an.
(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 37, 22.2.2012 / The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 23, 2.2.2012)
Im ersten Viertel 2012 kamen gemäß Zählungen von "Caucasian Knot" in Inguschetien neun Personen ums Leben, sieben weitere wurden verletzt.
(Caucasian Knot: In January-March 2012, 258 persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, 12.4.2012, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/20715/, Zugriff 9.5.2012)
Im April wurde der Vorsitzende des Rats der Tejps (Clans) von Inguschetien, Umar Gadaborshev, ermordet. Er war von Präsident Jewkurow als Mitglied dieses Rates gewählt worden, und vom Rat im November 2011 zu dessen Vorsitzenden gewählt worden. Der Mord könnte aufgrund einer ungelösten Blutfehde zwischen zwei Tejps begangen worden sein.
(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 74, 13.4.2012)
Die Gewalt in Inguschetien ging 2010 im Vergleich zu 2009 zurück, es gab aber einige größere Angriffe auf regionale Regierungseinrichtungen. Gemäß dem Caucasian Knot führten die Kämpfe im Nordkaukasus 2010 zu 1.710 Todesfällen, der Großteil davon in Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien. In Inguschetien kam es 2010 zu 40 Bombenanschlägen, zwei Selbstmordanschlägen, und 103 Feuergefechten in denen 31 Sicherheitskräfte, 63 Rebellen, 40 Zivilisten getötet wurden und 133 Regierungsbehörden und 59 Zivilisten verletzt wurden.
(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Block 3: Menschenrechte
Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen bleibt der Nordkaukasus. Im Verlauf des Jahres 2010 hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in Tschetschenien, Inguschetien und insbesondere in Dagestan weiter angespannt.
Seit 2006 kam es in Inguschetien wiederholt auch zu gezielten Übergriffen gegen russischstämmige Bewohner (Tötung russischer Familien in ihrem häuslichen Umfeld, Übergriffe an der Arbeitsstelle); die Zahl dieser Bewohner sollte durch ein gezieltes Regierungsprogramm wieder erhöht werden.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Im Februar 2012 fand das erste Nordkaukasusforum von Menschenrechtsorganisationen in Inguschetien statt. Der inguschetische Präsident Jewkurow sprach hierbei öffentlich über die Verstrickung von russischen Sicherheitskräften in Entführungen in der Region. Von acht Entführungen in Inguschetien 2011 zeigten sich laut Jewkurow bei fünf Anzeichen von staatlicher Mittäterschaft.
Der inguschetische Oppositionsführer Magomed Chasbijew beschrieb die Situation in der Republik als "Staatsterrorismus". Ihm zufolge wären Behörden in Entführungen und Tötungen von jungen Leuten involviert, ohne hierfür zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Verwandten der Opfer würden sich gemäß den lokalen Bräuchen revanchieren, was zu einer Gewaltspirale führt. Der Rückgang der Rebellenaktivität in Inguschetien sei nicht auf behördliche Arbeit zurückzuführen, sondern auf die Arbeit von Bürgerrechtlern, die versuchen einzelne Rebellen dazu zu bringen, die Waffen niederzulegen.
(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 37, 22.2.2012)
Im Zusammenhang mit den Antiterror-Operationen der Regierung kam es weiterhin zu Berichten über Menschenrechtsverletzungen. Anwälte, Journalisten und Menschenrechtsarbeiter berichten über die Anwendung von Entführungen, willkürlicher Haft, Folter, erzwungenem Verschwinden und ungesetzlichen Tötungen. Solche Misshandlungen verbreiteten sich über Tschetschenien hinaus nach Inguschetien und Dagestan und sogar bis Karbadino-Balkarien. Der russische Kommissar für Menschenrechte (Ombudsmann), sowie auch das Komitee für rechtliche Angelegenheiten und Menschenrechte der Versammlung und der Kommissar für Menschenrechte des Europarates, berichteten wiederholt von Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus. Doch solche Berichte scheinen wenige Auswirkungen zu haben.
Im Gegensatz dazu schuf der Ombudsmann von Inguschetien, Dzhambulat Ozdoev, ein Büro, in dem Beschwerdeführer und NGOs gleichsam willkommen sind, was Vertrauen in die Institution des Ombudsmannes schafft.
(Council of Europe - Parliamentary Assembly: The situation of IDPs and returnees in the North Caucasus region, 5.3.2012)
Obwohl sich der Präsident von Inguschetien um einen Dialog mit unabhängigen Menschenrechtsorganisationen bemühte, kam es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger mussten auch 2010 weiter mit Drohungen und körperlichen Angriffen rechnen.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte, 13.5.2011)
Es gab weiterhin Berichte über den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt von Sicherheitskräften, der zu Todesfällen führte. Sicherheitskräfte führten ihre Aktivitäten im Allgemeinen mit Straffreiheit aus und ohne auf zivile Opfer Rücksicht zu nehmen,
Gemäß Menschenrechtsorganisationen entführten oder verhafteten Sicherheitskräfte Personen für einige Tage und ohne Erklärung oder Anklage. Anstatt Vorladungen zu versenden ergreifen Sicherheitskräfte Verdächtige zu Hause oder während diese unterwegs sind.
Es gab weiterhin Berichte über Folter durch Regierungskräfte.
(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Die Behörden werden beschuldigt die Medienfreiheit zu unterdrücken und die Opposition zum Schweigen zu bringen. Die karge Medienlandschaft besteht beinahe komplett aus offiziellen Medien.
(BBC News: Regions and territories: Ingushetia, 22.11.2011, http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/country_profiles/3829691.stm, Zugriff 10.5.2012)
Block 4: Wirtschaftliche und soziale Lage
Nach Angaben der Opposition (Mekhk-Khel) sei die Wirtschaft in der Republik in einer schlechten Verfassung und hat sich verschlechtert. Größtes Problem ist die Massenarbeitslosigkeit, rund 70% der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung sei arbeitslos. Die Arbeitslosen, die meisten davon junge Leute, seien verzweifelt.
(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 65, 2.4.2012)
Die Wirtschaftslage Inguschetiens ist prekär. Der Anteil der föderalen Mittel am Haushalt der Republik ist mit 89,2% sogar noch höher als in Tschetschenien (dort 80,6%), die Arbeitslosigkeit beträgt nach Schätzungen der VN ähnlich wie in Tschetschenien ca. 80%. Die gesundheitliche Versorgung ist im Vergleich zu Gesamtrussland auf einem niedrigeren Niveau. Nach einem Bericht der Gesundheitsministerin Inguschetiens vom Februar 2009 befinden sich in Inguschetien immer noch 24.000 offiziell registrierte Flüchtlinge (überwiegend aus Tschetschenien und Nord-Ossetien). Dies belaste den Gesundheitssektor, der selbst für die einheimische Bevölkerung nicht ausreichend sei, zusätzlich. Im Vergleich zu der gesamten Russischen Föderation sei die Krankheitsrate sowie die Infektionsrate in Inguschetien doppelt so hoch. Im Bericht der Gesundheitsministerin wurden in diesem Zusammenhang insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs sowie verschiedene Traumata und Verletzungen, die auf Explosionen und Feuerwaffen zurückzuführen sind, genannt.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Die Arbeitslosigkeit in der Nord-Kaukasus-Region ist die höchste in Russland. Die Gesamtzahl der Arbeitslosen in dieser Region lag am 1. Mai 2010 bei 766.6 Tausend Menschen (bzw. 18% der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung). Die höchste Arbeitslosenquote findet man hierbei in Inguschetien - 53%, Tschetschenien - 42% und Dagestan - 17,2%. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Russland liegt bei 8,2%.
Die niedrigsten Durchschnittseinkommen werden in des südlichen Bundes-Distrikten (einschließlich Adygea, Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Karachaevo-Tscherkessien, Nord-Ossetien-Alania, Tschetschenien, Krasnodar und Stavropol Krai etc. verzeichnet (13275 / USD 475).
In der Republik gibt es ca. 50 mittlere und größere landwirtschaftliche Betriebe. Traditionelle
Landwirtschaftszweige sind Ackerbau und Viehzucht. Der Ackerbau ist auf den Anbau von Weizen, Sonnenblumen, Kartoffeln, Beete und anderem Gemüse spezialisiert. Auch für den Anbau von Früchten und Wein findet man gute Bedingungen. Günstige klimatische Bedingungen und das Vorhandensein von vielen Almen und Weideflächen begünstigen die Entwicklung von Viehzucht in Inguschetien. Auch der Obstanbau entwickelt sich aktiv.
In den letzten Jahren wurden in der Republik Obstplantagen mit einer Gesamtfläche von 230 Hektar angelegt.
Ein Drittel der Gesamtbevölkerung Inguschetiens sind Kinder. Für sie gibt es 106 Schulen mit aktuell ca. 60 000 Schülern. In den letzten Jahren wurden 8 neue Schulen eröffnet, davon 4 in ländlichen Gebieten.
Die Inguschische Staatliche Universität (gegr. 1994) ist die erste eigene Hochschule in der Geschichte Inguschetiens und eine der jüngsten Universitäten der Russischen Föderation. Sie besteht aus 7 Fakultäten (historische, philologische, wirtschaftliche, mechanische, physisch-mathematische, medizinische und chemisch-biologische Fakultät), 32 Lehrstühlen und hat 5 000 Studierende.
(IOM: Länderinformationsblatt Russische Föderation, Juni 2011)
Putin zufolge erhält Inguschetien ein einzigartiges Unterstützungspaket von Moskau, im Wert von 1 Milliarde US$.
(Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 7, Issue 133, 12.07.2010)
Um den Nordkaukasus zu entwickeln hat die russische Regierung bis 2025 30 Projekte im Wert von 145 Milliarden Rubel (5,3 Milliarden Dollar) entwickelt. Diese Projekte sind für die Bereiche Landwirtschaft, Tourismus und Informationstechnologie vorgesehen.
Dieses Jahr wird die russische Regierung Staatsgarantien im Wert von 50 Milliarden Rubel zur Verfügung stellen, um Projekte dieser Region zu unterstützen. Das Entwicklungsprogramm für den Nordkaukasus wurde im September letzten Jahres genehmigt und umfasst das Schaffen von 400.000 neuen Arbeitsplätzen, sowie eine Verbesserung des Investitionsklimas in dieser Region, um Investoren in den Sektoren Landwirtschaft, Energie, Bau und Tourismus anzulocken.
Insgesamt werden also 337 Milliarden Rubel in die Entwicklung des Nordkaukasus gesteckt und weitere 202 Milliarden Rubel werden über die nächsten zwei Jahre hinweg zur Verfügung stehen, so der Russische Minister für regionale Entwicklung Basargin.
Diese Bereitstellungen von Hilfsmitteln sind auch von wesentlicher Bedeutung für Moskau, da dadurch die Loyalität lokaler Eliten an den Kreml sichergestellt wird, was für die Präsidentschaftswahl 2012 sehr wichtig sein kann.
Solche Investitionen in die Region können sich auch positiv in Hinblick auf Korruption auswirken, da regionalen Beamten neue Aufgaben und Herausforderungen gestellt werden und die Anleger verlangen, dass die Qualität der Arbeit verbessert wird.
(The Moscow Times: Putin Picks 30 Caucasus Projects Worth $5Bln, 5.5.2011,
http://www.themoscowtimes.com/news/article/putin-picks-30-caucasus-projects-worth-5bln/436319.html, Zugriff 10.5.2012)
3,89 Billionen Rubel (knapp 100 Milliarden Euro) hat die russische Regierung in ihrem Aufbauprogramm bis 2025 an Geldern für den Kaukasus bisher eingeplant. Die Regionen selbst fordern sogar 5,5 Billionen Rubel (knapp 140 Mrd. Euro). Finanz- und Wirtschaftsministerium hingegen wollen die Summe verringern.
Nach dem Rücktritt von Finanzminister Alexej Kudrin, der den Appetit vieler staatlicher Stellen auf mehr Geld in der Vergangenheit dämpfte, sind die Chancen nach Ansicht russischer Medien recht groß, dass die Kaukasus-Regionen so viel Geld bekommen wie noch nie.
Nach den Kriegen in Tschetschenien kämpft die gesamte Großregion nach wie vor mit vielen Problemen. Es herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, Schätzungen nach liegt der Anteil der Schattenwirtschaft bei 60 Prozent in der Region.
Als größtes wirtschaftliches Projekt gilt der Aufbau des Tourismus im Kaukasus. Im Laufe der Zeit ist der Umfang des Projektes deutlich gewachsen. Ging es ursprünglich um fünf Ski-Regionen in den Bergen, so sollen inzwischen sogar Badekurorte am Kaspischen Meer in dieses Projekt einfließen. Dementsprechend ist der ursprüngliche Investitionsplan von rund zwölf Mrd. Euro inzwischen um ein Vielfaches gestiegen.
(Russland Aktuell: "Allah gibt es": Woher kommt das Geld für den Kaukasus, 17.10.2011,
http://www.aktuell.ru/russland/politik/_allah_gibt_es_woher_kommt_das_geld_fuer_den_kaukasus_4238.html, Zugriff 10.5.2012)
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist in Inguschetien vertreten. 2008 bis 2010 unterstützte das IKRK 2.400 mikro-ökonomische Initiativen in Tschetschenien und Inguschetien (die ungefähr der gleichen Anzahl an Familien in beiden Republiken zugute kamen), die es den Familien ermöglichten, ihr Einkommen um durchschnittlich rund 40% zu erhöhen. In der zweiten Hälfte 2010 besuchten über 600 Kinder regelmäßig sieben Spielzimmer in Tschetschenien und Inguschetien und das Beslan-Zentrum für Psychologische Hilfe in Nordossetien.
(ICRC: Russian Federation/Northern Caucasus: ICRC maintains aid effort, 3.1.2011,
http://www.icrc.org/eng/resources/documents/update/2011/russia-update-2011-03-01.htm, Zugriff 10.5.2012)
Block 5: Binnenflüchtlinge (IDPs- Internally Displaced Persons)
Die Behörden in Moskau, Nordossetien und Inguschetien scheinen einen zunehmend praktischen und realistischen Zugang dazu zu haben, die Lebensbedingungen für durch Konflikt intern vertriebene Personen zu normalisieren.
Im Oktober 2011 gab der Föderale Migrationsdienst an, dass es 19.136 Personen mit dem Status des Zwangsmigranten im Föderationskreis Nordkaukasus gibt. Im selben Monat gaben Internationale Organisationen an, dass es mindestens 52.748 IDPs im ganzen Nordkaukasus gibt. UNHCR gab an, dass es unter anderem 16.634 IDPs in Inguschetien gibt, 33.209 in Tschetschenien und 2.905 in Dagestan.
Inguschetien war lange Zeit der einzig sichere Zufluchtsort für IDPs. Anfänglich wurden sie in Zeltlagern und provisorischen Siedlungen untergebracht, aber die Lager wurden 2004 geschlossen und die meisten IDPs leben nun in privaten Unterkünften oder provisorischen Siedlungen die von der Regierung oder Privaten betrieben werden. Die inguschetischen Behörden haben in den letzten Jahren die lokale Integration von IDPs aus Tschetschenien und Nordossetien gefördert. Kinder von Binnenflüchtlingen und örtliche Kinder wurden früher getrennt unterrichtet, gehen jetzt aber zusammen zur Schule.
Die inguschetische Regierung versucht dauerhafte Lösungen für Binnenflüchtlinge zu finden. Derzeit gibt es 608 IDP-Familien aus Nordossetien und 1.400 IDP-Familien aus Tschetschenien, die sich gerne in Inguschetien niederlassen würden. Bis Ende 2011 wollte die Regierung die provisorischen Siedlungen schließen. Die Bewohner fürchteten Zwangsräumungen. Die Umsiedlungspläne der Regierung schienen nicht klar zu sein.
Wie in Tschetschenien sind auch die Lebensbedingungen der IDPs in Inguschetien schlecht, aufgrund der Arbeitslosigkeit und der ineffektiven Kompensationsprogramme für zerstörtes Eigentum. Mehr als 50% der IDPs haben keine Arbeit. Die Lebensbedingungen der IDPs in den provisorischen Siedlungen sind viel schlechter als jene der IDPs in privaten Unterkünften, und die schlechtesten aller Binnenflüchtlinge in der Region. Einige mit dem offiziellen Status eines Zwangsmigranten könnten vom Programm zur sozioökonomischen Entwicklung Inguschetiens 2010-2016 profitieren, aber der hier vorgesehene Hausbau soll erst 2013 beginnen.
Ende 2011 verlassen die Vereinten Nationen den Nordkaukasus und führen keine weiteren Projekte für IDPs durch. Dementsprechend wird der Danish Refugee Council (DRC) die einzige auf Vertreibung spezialisierte internationale Körperschaft mit einem Büro in der Region sein. DRC koordiniert Behausungen, rechtliche Unterstützung und einkommensfördernde Maßnahmen in Tschetschenien, Inguschetien und Nordossetien.
(Council of Europe - Parliamentary Assembly: The situation of IDPs and returnees in the North Caucasus region, 5.3.2012)
Den meisten tschetschenischen IDPs in Inguschetien wurde der IDP-Status aberkannt, nachdem ein Gutachten ergeben hatte, dass die Mehrheit von ihnen gewillt sei, nach Tschetschenien zurückzukehren. UNHCR versuchte sicherzustellen, dass die Aberkennung nicht eine sofortige Rückkehr erzwingen würde. Jedoch wurde der Zugang zu Sozialhilfe dadurch beschnitten: mehr als 2.200 Personen, die in von der Regierung finanzierten temporären Unterkünften gelebt hatten, mussten alternative Unterkünfte suchen. 2009 kehrten 775 IDPs freiwillig von Inguschetien nach Tschetschenien zurück.
(UNHCR: UNHCR Global Report 2009 - Russian Federation, Juni 2010)
2009 führten Sicherheitskräfte Razzien und Passkontrollen in den temporären Unterkünften tschetschenischer Binnenflüchtlinge durch, im Rahmen derer es laut Berichten gelegentlich zu Menschenrechtsverletzungen und Verschwinden von Personen kam. Im Februar 2009 berichtete das UNHCR, dass tschetschenische Behörden begonnen hatten die rund 2.500 IDP in 22 temporären Unterkünften in Inguschetien zu besuchen und zu einer Rückkehr nach Tschetschenien zu drängen, manchmal mit verbalen Drohungen. UNHCR berichtete verschiedene Formen der Drückausübung gegenüber IDPs während des Jahres.
Mit Ende 2010 waren laut UNHCR weiterhin 16.518 IDP aus dem zweiten Tschetschenienkonflikt in Inguschetien, von diesen leben 13.852 in privaten Unterkünften, 2.666 weiterhin in temporären Unterkünften. Zudem leben in Inguschetien 10.047 Binnenflüchtlinge aus Prigorodny/Nordossetien.
Die Behörden stellen früher verwendete "negative Anreize" (etwa De-Registrierung als Binnenflüchtlinge, Streichen der Nahrungsmittelhilfe) ein. Jedoch nahm die inguschetische Zweigstelle des Föderalen Migrationsdienstes keine Anträge auf Wiederaufnahme auf ihre Registrierungslisten an.
(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Block 6: Innerstaatliche Fluchtalternative
Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige allein deshalb bei ihrer Rückkehr nach Russland staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten.
Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen hat etwas abgenommen, wenngleich russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit berichten. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden statt, haben aber an Intensität abgenommen. Kontrollen von kaukasisch aussehenden oder aus Zentralasien stammenden Personen erfolgen seit Jahresbeginn 2007 zumeist im Rahmen des verstärkten Kampfes der Behörden gegen illegale Migration und Schwarzarbeit.
Allen russischen Staatsbürgern steht das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert.
Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u. a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.
Zurückkehrende unbegleitete Minderjährige können über die Abteilung für staatliche Jugendpolitik, Erziehung und sozialen Schutz für Kinder des Bildungs- und Wissenschaftsministeriums der Russischen Föderation in einem Kinderheim untergebracht werden, wenn sich keine Verwandten zur Aufnahme bereit erklären. Die Zuständigkeit liegt bei den Behörden des registrierten Wohnortes des Minderjährigen.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 7.3.2011)
Bewegungsfreiheit im Land, Auslandsreisen, Emigration und Repatriierung sind gesetzlich gewährleistet. Die Regierung schränkte die Bewegungsfreiheit im Land und Migration jedoch ein. Personen mit dunklerer Hautfarbe aus dem Kaukasus oder asiatischer oder afrikanischer Herkunft wurden oft zur Überprüfung ihrer Dokumente herausgegriffen. Es gab glaubhafte Berichte, dass Polizisten Personen oder Registrierung willkürlich über das gesetzliche Maß hinaus bestraften und Bestechungsgelder verlangten.
(U.S. Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2010, 8.4.2011)
Es gibt einige Einschränkungen der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit: Alle Erwachsenen sind verpflichtet, ihren Inlandsreispass bei Reisen mitzuführen und um bestimmte staatliche Leistungen zu erhalten. Einige regionale Behörden haben Registrierungsvorschriften, die das Recht der Bürger ihren Wohnort frei zu wählen einschränken. Ziel hiervon sind meistens ethnische Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und aus Zentralasien.
(Freedom House, Freedom in the World 2011 - Russia, März 2011)
römisch II.3. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde ist aus folgenden Gründen nicht zu beanstanden:
Der erkennende Senat des Asylgerichtshofes kam - wie das Bundesasylamt - nach gesamtheitlicher Würdigung zu dem Schluss, dass die Angaben der Beschwerdeführerin nicht glaubhaft und nicht asylrelevant sind.
römisch II.3. Beweiswürdigung:
Die Beweiswürdigung der belangten Behörde ist aus folgenden Gründen nicht zu beanstanden:
Die Identität der Beschwerdeführerin konnte aufgrund der Vorlage von identitätsbezeugenden Dokumenten festgestellt werden. Dass die Beschwerdeführerin aus der Russischen Föderation stammt, hat bereits die belangte Behörde angenommen und es haben sich keine diesbezüglichen Zweifel ergeben.
Den Länderfeststellungen hat die Beschwerdeführerin nicht dezidiert widersprochen, sondern in der Stellungnahme vom 10.09.2012 lediglich Länderberichte betreffend ihre Fluchtbehauptungen auszugsweise zitiert. Es ist anzumerken, dass es sich bei den Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat, welche der Beschwerdeführerin im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht wurden, um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen, sowohl staatlichen als auch nichtstaatlichen Ursprungs handelt, welche es dem Asylgerichtshof augenscheinlich ermöglichten, sich ein möglichst umfassendes und einheitliches Bild von der Lage im Herkunftsstaat machen zu können. Gemäß Amtswissen des erkennenden Senates des Asylgerichtshofes hat sich die Lage im Heimatland seit Erstellung der Berichte jedenfalls nicht zum Nachteil für die Beschwerdeführerin verändert.
Bezüglich der geltend gemachten Fluchtgründe und ihrer Glaubhaftigkeit ist auf die ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach es für die Glaubhaftmachung der Angaben des Fremden erforderlich ist, dass er die für die ihm drohende Behandlung oder Verfolgung sprechenden Gründe konkret und in sich stimmig schildert und dass diese Gründe objektivierbar sind, wobei zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals des "Glaubhaft-Seins" der Aussage des Fremden selbst wesentliche Bedeutung zukommt. Für die Glaubhaftmachung sind insbesondere folgende Faktoren ausschlaggebend:
dass der Antragsteller sich offensichtlich bemüht hat, seinen Antrag zu substantiieren,
dass alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde,
dass festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen,
dass der Antragsteller internationalen Schutz (bzw. Asyl) zum frühest möglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war;
Der erkennende Senat des Asylgerichtshofes kam nach gesamtheitlicher Würdigung wie das Bundesasylamt im bekämpften Bescheid zu dem Schluss, dass die Flucht begründenden Umstände der Beschwerdeführerin nicht glaubhaft sind und nicht den Tatsachen entsprechen sowie nicht den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention genügen.
Bei Durchsicht der Einvernahmeprotokolle und unter Berücksichtigung der Beschwerde und der Stellungnahme vom 10.09.2012 steht für den erkennenden Senat fest, dass die Beschwerdeführerin, der bereits mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.09.2010 der Status der subsidiär Schutzberechtigten aufgrund ihres Gesundheitszustandes zuerkannt wurde, ursprünglich lediglich aufgrund ihrer Erkrankungen nach Österreich gelangt war. Asylrelevante Gründe konnte die Beschwerdeführerin demgegenüber jedoch nicht glaubhaft darlegen. Diesbezüglich sind die Angaben der Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Erstbefragung nach Asylgesetz 2005 am 16.06.2009 klar hervorzuheben, wonach sie schildert, ihre Freundin in Polen habe ihr nach ihrer Asylantragstellung in Polen geraten, dass sie sich aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes in Österreich behandeln lassen sollte, woraufhin die Beschwerdeführerin illegal noch Österreich weitergereist sei. Nach ihrem Fluchtgrund befragt, gab die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Erstbefragung in Österreich an, dass sie heute nicht darüber sprechen wolle. Ganz allgemein führte sie lediglich an, sie könne in ihre Heimat nicht zurückkehren, da ihr dort Gefahr drohe. Dass ein solches Verhalten mit den gesetzlichen Mitwirkungspflichten eines Asylwerbers an der Sachverhaltsermittlung nicht in Einklang zu bringen ist, muss wohl nicht weiter erwähnt werden. Zudem kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass eine im Herkunftsstaat verfolgte Person, die in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung sucht, für gewöhnlich mit den Asylbehörden kooperiert und bemüht sein wird, ihre Fluchtgründe umfassend darzulegen. Bereits dieser Umstand mindert die persönliche Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin in erheblichem Maße und stellt zudem die Dringlichkeit des behaupteten Schutzbedürfnisses in Frage, da angenommen werden kann, dass eine tatsächlich verfolgte Person ein elementares Interesse an der Ermittlung des Sachverhaltes hat und alle Gründe für ihre Ausreise so schnell wie möglich ausführt. Der in der Beschwerde und der Stellungnahme hervorgehobene Verweis auf den schlechten psychischen Zustand der Beschwerdeführerin vermochte ihre Weigerung, ihre Ausreisegründe auch nur ansatzweise anzugeben, ebenfalls nicht glaubhaft darzulegen. Selbst wenn der Beschwerdeführerin zuzugestehen ist, dass sie anlässlich ihrer Erstbefragung (noch) nicht über ihre behauptete Vergewaltigung sprechen wollte oder nicht dazu imstande war, so wäre es ihr jedoch zweifellos möglich und zumutbar gewesen, zumindest ihre anderen Ausreisegründe - wie etwa die Ermordung ihrer Brüder, die Drohungen ihrer gewalttätigen Verwandten, die geplante Zwangsheirat, etc. - zumindest in Grundzügen darzulegen. Diesbezüglich ist insbesondere auch auf das Untersuchungsergebnis der gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Untersuchung am 25.06.2009 (nur zehn Tage nach ihrer Erstbefragung) zu verweisen, wonach bei der Beschwerdeführerin zwar eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vorliegt "(Rel. Milde) Anpassungsstörung, F. 43.21", laut Stellungnahme jedoch keine sonstigen psychischen Krankheitssymptome vorliegen und kein Hinweis auf Denkstörungen, Hinweise auf PTSD, keine Dissoziation, keine Amnesien, keine Intrusionen, etc. bei der Beschwerdeführerin bestehen. Die Beschwerdeführerin hatte erneut am 10.02.2010 ihre Mitwirkungspflicht im Asylverfahren dadurch verletzt, indem sie befragt, warum sie ihr Heimatland verlassen habe und nach Belehrung, dass ihre Angaben unter die Amtsverschwiegenheit fallen, die Frage nicht beantwortete. In derselben Einvernahme führte sie lediglich völlig vage und allgemein gehalten aus, man würde sie im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat töten. Diesbezüglich ist darauf zu verweisen, dass die Beschwerdeführerin eingangs derselben Einvernahme am 10.02.2010 im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache ausdrücklich bestätigt hatte, psychisch und physisch in der Lage zu sein, ihre Angaben in ihrem Asylverfahren zu tätigen.
Bereits die Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht spricht klar gegen die persönliche Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin. Aus den im Folgenden detailliert dargelegten Widersprüchen und Ungereimtheiten sowie der Steigerung ihres Vorbringens wird umso mehr deutlich, dass die Fluchtgeschichte ein Konstrukt zur Asylerlangung darstellt und die Beschwerdeführerin lediglich aus asylfremden Motiven ihren Herkunftsstaat verlassen hat.
Hinsichtlich der Behauptung der Beschwerdeführerin, dass gegen sie rund ein halbes Jahr vor ihrer Ausreise brutalste Gewalt zum Einsatz gekommen sei (bis hin zur Vergewaltigung als einem der massivsten Mittel geschlechtlicher Nötigung) ist darauf zu verweisen, dass es sich beim Verbrechen der Vergewaltigung um eine schwere und besonders verwerfliche strafbare Handlung gegen die Sittlichkeit und die körperliche Integrität einer anderen Person handelt. Da sich jedoch der Vorfall gegen die Beschwerdeführerin gemäß ihrer eigenen Angaben nicht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung ereignete, ist darauf zu verweisen, dass das Asylrecht nicht die Aufgabe hat, vor allgemeinen Fehlverhalten von Einzelpersonen - wie im gegenständlichen Fall - zu bewahren. Zudem hat die Beschwerdeführerin gerade in diesem Bereich stark widersprüchliche Aussagen getätigt:
Hinsichtlich der Behauptung der Beschwerdeführerin, wonach sie vor ihrer Ausreise vergewaltigt worden sei, ist darauf zu verweisen, dass sie laut am 01.07.2009 eingelangter gutachterlicher Stellungnahme im Zulassungsverfahren ausgeführt hatte, sie sei vor einem halben Jahr vergewaltigt worden und man habe ihr damit gedroht, sie zu töten, falls sie den Vorfall anzeige. Im klaren Widerspruch dazu hatte sie anlässlich ihrer Befragung im Rahmen ihrer Untersuchung am 07.04.2010 angegeben, dass sie von drei Burschen vergewaltigt und anschließend verprügelt worden wäre und die Täter, welche von ihr identifiziert worden wären, nunmehr im Gefängnis sitzen. Wiederum im Gegensatz dazu hatte sie im Zuge ihrer Einvernahme am 13.07.2009 und in ihrer Stellungnahme am 10.09.2012 geschildert, dass sie, nachdem sie die Vergewaltigung angezeigt habe, bedroht worden wäre und deshalb habe sie die Anzeige zurückziehen müssen. Die Täter seien deshalb freigelassen worden.
Völlig unglaubwürdig erscheint das Vorbringen der Beschwerdeführerin auch deshalb, weil sie in ihrer Stellungnahme vom 10.09.2012 ausführte, einer der Vergewaltiger sei ein ihr namentlich bekannter Mann gewesen, der zuvor ihren Bruder verhaftet habe und der Miliz in Nasran angehöre. Da die Beschwerdeführerin den Täter angezeigt habe und dadurch auch die beiden anderen Täter, die auch der Miliz angehörten, ausfindig gemacht und verhaftet worden wären, sei die Beschwerdeführerin massiv von den Brüdern der Verhafteten bedroht worden, weshalb sie die Anzeige aus Angst zurückgezogen habe. Demgegenüber hatte sie im Zuge ihrer Einvernahme am 10.09.2010 befragt, ob diese Männer, Soldaten oder Zivilisten gewesen wären, im eklatanten Widerspruch dazu geantwortet, es wären Zivilisten gewesen.
Während die Beschwerdeführerin in der Stellungnahme vom 10.09.2012 ausgeführt hatte, ihr jüngster Bruder habe ein falsches Schuldeingeständnis hinsichtlich eines Drogendelikts unterschrieben und sei in der Folge vermutlich aufgrund von Misshandlungen im Gefängnis gestorben, hatte sie im Widerspruch dazu anlässlich des am 27.07.2010 erstellten psychiatrisch/neurologischen Sachverständigengutachtens geschildert, ihre verstorbenen Brüder seien bei der Miliz bzw. als Verkehrspolizisten tätig gewesen und wären in Ausübung ihrer Berufe ermordet worden.
Auch hinsichtlich ihrer behaupteten gemischtethnischen Beziehung bzw. Ehe mit einem afghanischen Staatsbürger wurden ebenfalls zahlreiche widersprüchliche Angaben von der Beschwerdeführerin getätigt. Am 13.07.2009 gab die Beschwerdeführerin an, sie habe zwei Wochen zuvor in Österreich einen Mann kennengelernt, der anerkannter Flüchtling sei. Auch am 10.02.2010 hatte die Beschwerdeführerin ausgeführt, dass sie nach wie vor eine Beziehung mit einem als Konventionsflüchtling anerkannten afghanischen Staatsangehörigen habe, wobei sie diesen nicht mehr so oft wie früher sehen würde. Im Widerspruch dazu hatte die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Einvernahme am 10.09.2010 ausgeführt, dass der besagte afghanische Staatbürger lediglich Asylwerber sei (und nicht wie bisher behauptet ein anerkannter Flüchtling). Außerdem sei dieser zwischenzeitig in ein anderes Land abgeschoben worden, jedoch wegen der Beschwerdeführerin wieder zurückgekommen und er plane, sich den Behörden zu stellen und neuerlich einen Asylantrag zu stellen. Hinsichtlich ihrer Beziehung schilderte sie, dass sie in Altenmarkt lebe und ihr Lebensgefährte in Wien, wo sie auch wegen der Beziehung zu diesem Mann von Tschetschenen bedroht worden wäre. In der Stellungnahme vom 10.09.2012 behauptete die Beschwerdeführerin schließlich, dass sie mit dem "afghanischen Flüchtling" bereits 2010 die (islamische) Ehe geschlossen habe. Die Beschwerdeführerin steigerte ihre Angaben in ihrer Stellungnahme vom 10.09.2012 schließlich dahingehend, dass sie über eine soziale russische Internetplattform von Freundinnen erfahren habe, dass der Sohn ihres Onkels im Herkunftsstaat sie umbringen wolle, weil er über die Hochzeit der Beschwerdeführerin Kenntnis erlangt hätte und sie behauptete, dass wegen des Bestehens einer gemischt ethnischen Ehe das Verfolgungsrisiko wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorliege. Obwohl die Beschwerdeführerin in der am 14.09.2012 eingelangten Stellungnahme angekündigt hatte, dass binnen einer Woche die islamische Heiratsurkunde über ihre am 2010 eingegangene (islamische) Ehe übermittelt werde, langte diese bis dato nicht ein. Auszugsweise wurde in der Stellungnahme vom 14.09.2012 auf ein Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 25.11.2011, GZ: B13 313056-1/2008, verwiesen, in dem bei der damaligen tschetschenischen Beschwerdeführerin wegen des Bestehens einer gemischt ethnischen Ehe mit einem afghanischen Staatsangehörigen das Verfolgungsrisiko wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe festgestellt wurde. Im Erkenntnis wurde hinsichtlich der Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass es angesichts des betreffenden Sicherheitsrisikos nicht möglich sei, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen, weil den Feststellungen zur Russischen Föderation folgend Gewalt gegen Frauen weiterhin ein schwerwiegendes Problem sei und kaum verfolgt werde. Hinsichtlich des Vorbringens der Beschwerdeführerin kann jedoch bereits aufgrund der eklatanten Widersprüche dem diesbezüglichen behaupteten Fluchtvorbringen keine Glaubwürdigkeit zuerkannt werden.
Was das Vorbringen hinsichtlich der Drohungen durch den Cousin ihres verstorbenen Vaters anbelangt, ist überdies auszuführen, dass aus diesem Vorbringen - selbst bei unterstellter Glaubwürdigkeit - keine asylrelevante Verfolgung iSd GFK abgeleitet werden kann. Die Gründe für die Drohungen durch den Cousin ihres Vaters sind offensichtlich in einem privaten Beziehungsproblem gelegen, nicht jedoch in einem der in der GFK genannten Gründe. Dasselbe gilt auch für die erstmals in der Stellungnahme vom 10.09.2012 - somit rund drei Jahre nach ihrer Einreise - erwähnten Misshandlungen und Drohungen durch den Sohn ihres Onkels, der sie laut ihren Ausführungen bereits zu Lebzeiten ihres Vaters vielfach geschlagen habe und dies damit begründet hätte, dass sich die Beschwerdeführerin "unislamisch" verhalte, weil sie mit Männern spreche. Es mag zwar zutreffen, dass häusliche Gewalt in der Russischen Föderation nicht (immer) ausreichend durch staatliche Behörden verfolgt wird, im gegenständlichen Falls ist jedoch darauf zu verweisen, dass die Beschwerdeführerin bereits vor ihrer ersten Ausreise aus dem Herkunftsstaat über einen Zeitraum von drei Jahren allein gelebt hatte, weshalb die behaupteten Bedrohungen durch entfernte Verwandte im gegenständlichen Fall nicht unter den Begriff "häusliche Gewalt" zu subsumieren wären. Hinsichtlich der geschilderten Bedrohungen durch ihre Verwandte ist überdies hervorzuheben, dass die Beschwerdeführerin nicht einmal versucht hatte, sich in dieser Angelegenheit hilfesuchend an Behörden zu wenden. Zudem muss das Vorbringen als gesteigertes Vorbringen gewertet werden, das zudem erst sehr spät im Verfahren vorgebracht worden ist, weshalb diesem die Glaubwürdigkeit zu versagen ist.
Dass der Cousin des verstorbenen Vaters der Beschwerdeführerin unbedingt die Heirat der Beschwerdeführerin mit einem über 70jährigen Mann erzwingen will, kann vor dem Hintergrund, dass die Beschwerdeführerin bereits mehrere Jahre offensichtlich problemlos alleine oder auch mit anderen Verwandten gelebt hatte sowie kurzzeitig verheiratet gewesen war, in keiner Weise nachvollzogen werden und ist das diesbezügliche Vorbringen deshalb als völlig unglaubwürdig einzustufen. Es ergibt sich anhand der Angaben der Beschwerdeführerin überdies, dass ihre Schwester samt deren Familie in Novosibirsk in Sibirien lebt und es der Beschwerdeführerin zweifellos möglich und zumutbar wäre, bei einer allfälligen Rückkehr in den Herkunftsstaat zu ihrer Schwester und deren Familie zu ziehen oder wie bereits über einen Zeitraum von mehreren Jahren vor ihrer Ausreise alleine zu leben. Der Vollständigkeit halber ist darauf zu verweisen, dass die Beschwerdeführerin laut ihren Angaben auch über weitere Verwandte verfügt, bei denen sie laut ihren eigenen Schilderungen nach der behaupteten Vergewaltigung (somit im Zeitraum von einem halben Jahr vor ihrer Ausreise) gelebt hatte.
Im Ergebnis konnten die Beschwerdeführerin individuelle konkrete Verfolgungsgründe aufgrund der taxativ aufgezählten Gründe in der Genfer Flüchtlingskonvention in der Vergangenheit ebenso wenig wie eine aktuelle individuelle Verfolgungsgefahr glaubhaft machen. Weil es der Beschwerdeführerin nicht gelungen ist, ihr Vorbringen glaubhaft zu machen, ist auch nicht zu befürchten, dass sie bei Rückkehr einer Bedrohung ausgesetzt sein würde.
Die Feststellungen der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens der Beschwerdeführerin konnten auch durch die Beschwerde, die vor allem einzelne Passagen der Länderfeststellungen der angefochtenen Bescheide sowie weitere Länderfeststellungen zitierte, nicht annähernd widerlegt werden.
Lediglich der Vollständigkeit halber ist darauf zu verweisen, dass der Beschwerdeführerin auch eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht. So wäre es ihr wie erwähnt zweifellos möglich, bei ihrer Schwester und deren Familie in Novosibirsk in Sibirien, ein "neues Leben" zu beginnen. Es ist darauf zu verweisen, dass eine generelle Verfolgung der Beschwerdeführerin bereits aufgrund der Ausstellung ihres Reisepasses im Herkunftsstaat und ihrer legalen Ausreise nicht glaubhaft abzuleiten war, weshalb weiterführende Ermittlungstätigkeiten in anderen Gebieten der Russischen Föderation nicht zu erwarten sind. Aus diesem Grunde kann in keiner Weise nachvollzogen werden, weshalb der Beschwerdeführerin nicht eine Niederlassung bei ihrer Schwester und deren Familien in Sibirien möglich und zumutbar ist und ihr diese Verwandte nicht auch bei einer Registrierung behilflich sein könnten, um ihren Aufenthalt dort zu legalisieren.
römisch II.4. Rechtlich folgt daraus:
römisch II.4.1. Gemäß Paragraph 28, Absatz eins, des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof (Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG), Bundesgesetzblatt Teil eins, 4 aus 2008,, tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft.
Gemäß Paragraph 23, AsylGHG, Bundesgesetzblatt Teil eins, 4 aus 2008, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, 147 aus 2008,, sind, soweit sich aus dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), Bundesgesetzblatt römisch eins Nr. 100, nicht Anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), Bundesgesetzblatt Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
Gemäß Paragraph 22, Absatz eins, des Artikel 2, des Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetzes, Bundesgesetzblatt Teil eins, 100 aus 2005, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, 4 aus 2008,, ergehen Entscheidungen des Asylgerichtshofes in der Sache selbst in Form eines Erkenntnisses, alle anderen in Form eines Beschlusses. Die Entscheidungen des Bundesasylamtes und des Asylgerichtshofes haben den Spruch und die Rechtsmittelbelehrung auch in einer dem Asylwerber verständlichen Sprache zu enthalten.
Gemäß Paragraph 61, Absatz eins, AsylG 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, 100 aus 2005, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, 122 aus 2009,, entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten oder, soweit dies in Absatz 3, oder 3a vorgesehen ist, durch Einzelrichter über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes.
Gemäß Paragraph 66, Absatz 4, AVG, Bundesgesetzblatt Teil eins, 51 aus 1991,, hat die Berufungsbehörde, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, im Spruch und in der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.
römisch II.4.2. Im gegenständlichen Fall handelt es sich um ein Beschwerdeverfahren, das gemäß Paragraph 61, Absatz eins, AsylG 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, 100 aus 2005, in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, 122 aus 2009,, von dem nach der Geschäftsverteilung zuständigen Senat zu entscheiden ist.
Gemäß Paragraph 73, Absatz eins, AsylG 2005 tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Jänner 2006 in Kraft und ist gemäß Paragraph 75, Absatz eins, AsylG auf alle Verfahren anzuwenden, die am 31. Dezember 2005 noch nicht anhängig waren. Im vorliegenden Verfahren wurde der Antrag auf internationalen Schutz am 15.06.2009 gestellt, weshalb das AsylG 2005 idgF zur Anwendung gelangt.
Der Beschwerdeführerin wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 10. September 2010, Zl. 09 07.062-BAT, der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Die Spruchpunkte römisch II. und römisch III. des Bescheides des Bundesasylamtes erwuchsen somit in Rechtskraft. Verfahrensgegenstand ist daher die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins., Abweisung des Antrages hinsichtlich der Asylzuerkennung, des angefochtenen Bescheides.
römisch II.4.4. Zu Spruchteil römisch eins des angefochtenen Bescheides:
Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in der Fassung Bundesgesetzblatt römisch eins 100 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK (in der Fassung des Artikel eins, Absatz 2, des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge Bundesgesetzblatt 78 aus 1974,) ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist vergleiche z.B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12. 2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/011). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse vergleiche VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vergleiche auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn die Asylentscheidung erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 09.03. 1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233).
Insgesamt war das Vorbringen betreffend die Fluchtgründe und die drohende Verfolgung der Beschwerdeführerin - wie in der Beweiswürdigung im Detail ausgeführt - mangels schlüssiger Schilderung sowie auf Grund zahlreicher Ungereimtheiten und Widersprüche in ihrem Vorbringen als unglaubwürdig bzw. nicht asylrelevant zu beurteilen. Da das Vorbringen der Beschwerdeführerin unglaubwürdig ist, konnte es auch der rechtlichen Beurteilung nicht zu Grunde gelegt werden.
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl vergleiche zB VwGH 24.3.1999, 98/01/0352 mwN; 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614; 29.3.2001, 2000/20/0539). Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass als Fluchtgründe unter dem Gesichtspunkt der schwere des Eingriffs nur solche Maßnahmen in Betracht kommen, die einen weiteren Verbleib im Heimatland aus objektiver Sicht unerträglich erscheinen lassen (VwGH 16.9.1992, 92/01/0544; 7.10.2003, 92/01/1015 u.a.).
UNHCR betont in seinen Richtlinien zur "Internen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge", dass die Frage des Vorliegens einer inländischen Flucht- bzw. Schutzalternative in einem Asylverfahren nicht losgelöst von allen anderen zu prüfen ist und dass das Konzept der inländischen Flucht- bzw. Schutzalternative auch nicht dazu dienen kann, den Zugang zum Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft zu verweigern, weil sich diese Frage erst im Zusammenhang mit der inhaltlichen Prüfung eines Asylantrages stellt (HCR/GIP/03/04 v. 23.7.2003, S 2).
Die Prüfung, ob eine inländische Flucht- bzw. Schutzalternative vorliegt, erfordert eine Zukunftsprognose dahingehend, ob für den jeweils konkreten Asylwerber im Entscheidungszeitpunkt eine solche
tatsächlich in Frage kommt (= Klärung der Relevanz) und
bejahendenfalls ob diese ihm zumutbar ist (= Klärung der
Zumutbarkeit). Dabei ist zunächst zu klären, ob ein konkretes risikofreies Gebiet existiert, das sich durch Abwesenheit des Verfolgers auszeichnet und dessen Stabilität und Sicherheit von Dauer ist. Weiters ist zu klären, ob ein solches risikofreies Gebiet für den Asylwerber sowohl von innerhalb als auch von außerhalb des Herkunftsstaates in Sicherheit und auf legalem Weg erreichbar ist (= Möglichkeit einer sicheren Rückkehr) und ob das Leben dort für den Asylwerber ohne unangemessene Härten oder Gefahren geführt werden kann. Wenn eine solche inländische Flucht- bzw. Schutzalternative als vorhanden angesehen wird, hat ferner das Entscheidungsorgan nachzuweisen bzw. den Beweis zu erbringen, dass es dem betroffenen Asylwerber in Anbetracht sämtlicher persönlicher Umstände zumutbar wäre, dort Zuflucht zu finden, um nicht länger begründete Furcht vor Verfolgung zu haben vergleiche hierzu auch die o.a. diesbezüglichen UNHCR-Richtlinien v. 23.7.2003, HCR/GIP/03/04).
In Summe erweist sich die von der Beschwerdeführerin behauptete Verfolgung als nicht glaubhaft bzw. nicht asylrelevant, wie im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend dargestellt worden ist. Da das Vorbringen der Beschwerdeführerin hinsichtlich einer zielgerichteten Verfolgung ihrer Person unglaubwürdig ist, konnte es auch der rechtlichen Beurteilung nicht zu Grunde gelegt werden. Andere Gründe, die gegen eine Rückkehr in die Russische Föderation sprechen, sind aus dem Beschwerdevorbringen nicht ersichtlich und können auch von Amts wegen nicht festgestellt werden. Der Asylgerichtshof kommt daher zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat weder individuelle Verfolgung - weder unmittelbar von staatlichen Organen noch von "Privatpersonen" - drohte noch aktuelle und konkrete Verfolgungsgefahr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung iSd Artikel eins, Abschnitt 1 Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention droht und konnte eine solche auch nicht von Amts wegen festgestellt werden.
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Beschwerdeführerin immer wieder schildert, ihre Brüder und Eltern seien verstorben und ein Onkel, der angeblich die Beschwerdeführerin bedrohe und sie zwangsverheiraten wolle, lebe nunmehr im Elternhaus der Beschwerdeführerin, ist der Vollständigkeit halber darauf zu verweisen, dass, selbst wenn man den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin (teilweise) Glaubwürdigkeit zubilligen würde, diese außerdem über eine zumutbare inländische Fluchtalternative bei ihrer verheirateten Schwester und deren Familie in Novosibirsk in Sibirien in der Russischen Föderation verfügt. Diese Gebiete sind für die Beschwerdeführerin auch problemlos erreichbar. Aus diesem Grunde kann in keiner Weise nachvollzogen werden, weshalb der Beschwerdeführerin nicht eine Niederlassung bei ihrer Schwester in Novosibirsk in Sibirien möglich und zumutbar ist. Es ist davon auszugehen, dass ihre Schwester und deren Familie die Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat gegebenenfalls unterstützen und ihr bei einer Registrierung behilflich sein könnten.
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. war daher abzuweisen.
römisch II.4.5. Gemäß Paragraph 41, Absatz 7, AsylG hat der Asylgerichtshof Paragraph 67 d, AVG mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur außer Kraft getretenen Regelung des Art. römisch II Absatz 2, lit. D Ziffer 43 a, EGVG war der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung nicht als geklärt anzusehen, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (VwGH 02.03.2006, 2003/20/0317 mit Hinweisen auf VwGH 23.01.2003, 2002/20/0533; 12.06.2003, 2002/20/0336). Gemäß dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes konnte im vorliegenden Fall die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Asylgerichtshof unterbleiben, da der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt war. Was das Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Beschwerde betrifft, so findet sich in dieser kein neues bzw. kein ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen hinsichtlich allfälliger sonstiger Fluchtgründe der Beschwerdeführerin. Auch tritt die Beschwerdeführerin in der Beschwerde den seitens der Behörde erster Instanz getätigten beweiswürdigenden Ausführungen nicht in ausreichend konkreter Weise entgegen, dass eine Verhandlung zur Klärung notwendig gewesen wäre.
Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.