Bundesverwaltungsgericht (BVwG)

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Entscheidungstext W142 2259817-1

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Entscheidungsart

Erkenntnis

Geschäftszahl

W142 2259817-1

Entscheidungsdatum

10.10.2023

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
  1. B-VG Art. 133 heute
  2. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2019 bis 24.05.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 138/2017
  3. B-VG Art. 133 gültig ab 01.01.2019 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 22/2018
  4. B-VG Art. 133 gültig von 25.05.2018 bis 31.12.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 22/2018
  5. B-VG Art. 133 gültig von 01.08.2014 bis 24.05.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 164/2013
  6. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2014 bis 31.07.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  7. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2004 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.1975 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 444/1974
  9. B-VG Art. 133 gültig von 25.12.1946 bis 31.12.1974 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 211/1946
  10. B-VG Art. 133 gültig von 19.12.1945 bis 24.12.1946 zuletzt geändert durch StGBl. Nr. 4/1945
  11. B-VG Art. 133 gültig von 03.01.1930 bis 30.06.1934

Spruch


W142 2259817-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER über die Beschwerde des römisch 40 , vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.08.2022, Zl. 1285757207/211414202, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.05.2023, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.


Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

römisch eins. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger aus Somalia, reiste illegal in Österreich ein und stellte am 26.09.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 28.09.2021 fand vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung des BF im Beisein eines Dolmetschers, welcher in die Sprache Somalisch übersetzte, statt. Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt, gab der BF an, er sei am römisch 40 in Somalia geboren. Er sei 16 Jahre alt und ledig. Seine Muttersprache beherrsche er in Wort und Schrift. Er bekenne sich zum Islam und gehöre der Volksgruppe „Sheekhaal“ an. Er habe 8 Jahre die Schule besucht (Volksschule, Mittelschule). Zuletzt sei er Schüler gewesen. Sein Vater sei verstorben. Neben seiner Mutter habe er vier Schwestern und zwei Brüder. Ein Cousin lebe in Salzburg. Seine Wohnsitzadresse im Herkunftsland sei in Baardheere. Der BF verneinte befragt Beschwerden oder Krankheiten zu haben, die ihn an dieser Einvernahme hindern oder das Asylverfahren in der Folge beeinträchtigten würden. Er könne dieser Einvernahme ohne Probleme folgen. Es seien keine Medikamente erforderlich. Den Entschluss zur Ausreise habe er am 15.05.2020 gefasst. Sein Zielland sei Österreich gewesen. Er sei im Juni 2020 abgereist. Er sei legal mit einem Reisepass und Visum in die Türkei eingereist. Er habe einen Reisepass gehabt, ausgestellt in Somalia. Er sei mit einem Reisedokument ausgereist und habe er seinen Reisepass in der Türkei gelassen. Zur Reiseroute führte er aus, sich 9 Monate in der Türkei, 5 Monate in Griechenland, 4 Tage in Mazedonien, 15 Tage in Serbien sowie in Ungarn aufgehalten zu haben. Er habe in Griechenland um Asyl angesucht (sei abgelehnt worden). Er habe ein Visum in der Türkei erhalten, als Begleitperson seiner Tante, welche in der Türkei eine Behandlung erhalten habe. Das Visum für die Türkei habe er von seinem Onkel bekommen. Die Weiterreise nach Europa habe ein Schlepper organisiert.

Zu seinem Fluchtgrund brachte er vor: „Mein Vater wurde von der Terrorgruppe Al Shabaab umgebracht. Er wurde 2 Jahre gezwungen mit dieser Gruppe zu arbeiten, er wollte dies aber nicht. Als er aufgehört hat für diese Gruppierung zu arbeiten, wurde er von ihnen umgebracht. Danach kam die Terrorgruppe auf mich zu und sie wollten mich rekrutieren. Sie haben mir mit dem Umbringen gedroht, sollte ich nicht für sie arbeiten. Ich wurde immer wieder von ihnen bedroht, deshalb habe ich Somalia verlassen “

Bei einer Rückkehr würden die Al Shabaab ihn sofort umbringen.

Befragt, ob es konkrete Hinweise gebe, dass ihm bei Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohe, oder er im Falle einer Rückkehr in seinen Heimatstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, gab er den Fluchtgrund erneut ident zu Protokoll.

3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) veranlasste in der Folge eine Altersfeststellung betreffend den BF.

Der im Akt einliegenden Volljährigkeitsbeurteilung des römisch 40 , Medizinische Universität, Ass.Prof.i.R. – Zentrum für Anatomie und Zellbiologie, ehem. Leiter Knochenlabor vom 17.11.2021 zufolge konnte ein fiktives Geburtsdatum (höchstmögliches Mindestalter) mit römisch 40 bestimmt werden.

4. Am 28.07.2022 wurde der BF durch das BFA in der Sprache Somali niederschriftlich einvernommen.

Der BF bejahte eingangs psychisch und physisch in der Lage zu sein, Angaben zu seinem Asylverfahren zu machen. Er verneinte, Krankheiten zu haben und Medikamente zu nehmen. Er habe keine ärztlichen Befunde.

Angesprochen auf die Erstbefragung vom 28.09.2021 gab der BF an, dass seine Angaben richtig gewesen seien. Aber es gebe Fehler. Es stehe, dass er sein Visum am 15.05.2020 erhalten habe. Dieses habe er am 25.05.2020 erhalten. Es sei ein Visum für die Türkei. Er verneinte in der Folge, dass es sonst noch Fehler gegeben habe. Befragt gab er an, den Dolmetscher bei der Erstbefragung einwandfrei verstanden zu haben und seien alle seine Angaben richtig und vollständig protokolliert worden und sei auch rückübersetzt worden. Er habe damals die Wahrheit gesagt, habe seine Fluchtgründe genannt, wolle heute aber mehr ins Detail gehen.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen gab er an, den im Entscheidungskopf angeführten Namen zu führen und sei er am römisch 40 geboren worden. Befragt, warum er in der Erstbefragung angegeben habe, am römisch 40 geboren worden zu sein, führte er aus, dass seine Eltern ihm mitgeteilt hätten, dass er an diesem Datum geboren worden sei. Danach sei hier in Österreich eine Altersfeststellung durchgeführt worden und sei das andere Datum festgestellt worden. Er sei in Bardheere geboren. Er besitze die Staatsangehörigkeit von Somalia und gehöre der Volksgruppe der Sheikhal an, der Hauptclan heiße Hawiye. Er bekenne sich zum Islam. Er spreche Somali und ein bisschen Englisch. Er sei ledig und kinderlos.

Er habe 8 Jahre die Schule besucht (Grundschule, Mittelschule). Er könne Lesen und Schreiben. Über eine Berufsausbildung verfüge er nicht. Er sei zuletzt zur Schule gegangen.

Die wirtschaftliche bzw. finanzielle Situation in Somalia sei mittelmäßig gewesen.

Er habe in Baardheere (Jubaland, Region Gedo) gelebt. Zur Wohnsituation gab er Blech- und Holzhütte an, diese habe seiner Familie gehört. Er habe dort mit seinen sechs Geschwistern und mit seinen Eltern gelebt.

Befragt, ob er jemals in Mogadischu gelebt habe, gab der BF an, von dort ausgereist zu sein, er sei dort acht Tage gewesen.

Befragt, wer für den Lebensunterhalt in Somalia gesorgt habe, führte der BF aus, dass sein Vater sie ernährt hätten.

Befragt, ob sich Angehörige von ihm noch in Somalia befänden gab er an, dass sein Vater bereits verstorben sei, aber seine Mutter sowie seine Geschwister befänden sich in Somalia.

Er verneinte Kontakt zu seiner Familie in Somalia zu haben, da er die Telefonnummer seiner Familie verloren habe. Er habe keine Telefonnummer seiner Familie und wisse nicht, wie er seine Familie kontaktieren könne. Zuletzt habe er Kontakt gehabt, als er in der Türkei gewesen sei. Er wisse nicht, wie es seiner Familie in Somalia gehe.

In Österreich befinde sich sein Cousin väterlicherseits. Jener sei in Österreich subsidiär schutzberechtigt. Er verneinte Bezugspersonen im EU-Raum zu haben.

Weiters verneinte der BF in Somalia jemals in Haft gewesen zu sein. Er verneinte auch, sich hier in Österreich bereits strafrechtlich etwas zu Schulden kommen haben zu lassen.

Weiters befragt verneinte der BF auch in Somalia jemals Probleme aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit, seines Religionsbekenntnisses, seiner Rasse, seiner Nationalität aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe sowie wegen seiner politischen Überzeugung gehabt zu haben.

In der Folge gab der BF wie folgt an (F: Leitendes Organ der Amtshandlung, A: BF):

„[…]

F: Was war der konkrete Grund, warum Sie Somalia verlassen haben? Erzählen Sie bitte möglichst chronologisch über alle Ereignisse, die Sie persönlich zum Verlassen der Heimat veranlasst haben (freieNächster Suchbegriff Erzählung)!

A: Eines Tages bin ich vom Fußballplatz zurückgekommen. Es ist am 05.05.2020 gewesen. Ich war gerade auf dem Nachhauseweg. Es ist dann plötzlich jemand mir nachgekommen. Diese Person hat mich gefragt, ob ich der Sohn des römisch 40 sei.

Ich habe dies bejaht und man sagte zu mir, dass man beabsichtigte Jugendliche zu rekrutieren beabsichtigt. Er sagte auch, dass ich lernen müsse zu kämpfen und dafür eine Ausbildung benötige. Er sagte, dass er ein Mitglied der al-Shabaab sei und dass Sie gerade die Jugendliche, die in diesem District leben, rekrutieren. Er sagte zu mir, dass ich in dieser Stadt wohne und ich einen Anruf eines Mitgliedes der al-Shabaab bekommen würde. Dieses Mitglied würde Hilfe benötigen und ich müsse ihm helfen. Ich habe gesagt, dass ich jung sei und habe dies verneint. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich eine Zukunft aufbauen wolle und mich Ihnen nicht anschließen wolle. Er sagte, dann dass ich nicht diskutieren dürfen. Dies sei eine Anweisung und ich hätte Zeit, mir das drei Tage zu überlegen. Ich habe die Sache meinem Vater mitgeteilt und wir sind am nächsten Tag zur Polizei gegangen und haben dort eine Anzeige gemacht. Die Polizei sagte, dass es soviele Männer in der stadt gebe, welche versuchen würden, Jugendliche zu rekrutieren. Sie sagten, dass wir nochmals kommen sollen, wenn wir neues Wissen würden oder wenn nochmals jemand zu mir käme. Wir sind dann gegangen. Nach drei Tagen hat mein Vater dann einen Anruf von einem Mitglied der al-Shabaab bekommen. Dieser hat gesagt, dass er schon wisse, dass wir bei der Polizei gewesen seien und eine Anzeige erstattet hätten. Der Anrufer sagte auch, dass er wisse, dass er seit zwei Jahren das Erpressungsgeld/Steuergeld nicht bezahlt hätte. Er müsse nun den Sohn, also mich schicken, damit ich mich Ihnen anschließen. Mein Vater sagte, dass ich noch klein sei und ich mich nicht anschließen wolle. Man sagte, dass wenn er seinen Sohn, also mich, nicht schicken wolle, man uns dann töte. Das Mitglied der al-Shabaab hat dann aufgelegt. Nach zwei Tage, es war am Abend, als mein Vater das letzte Gebet in der Moschee gebetet hatte und die Moschee verlassen hat, hat ein Mitglied der al-Shabaab meinen Vater angeschossen und getötet. Nach weiteren vier Tagen habe ich einen Anruf eines Mitgliedes der al-Shabaab erhalten. Dieses fragte mich, ob ich schon wisse, dass der Vater von Ihnen erschossen wurde. Er sagte auch, dass mein Vater gegen Sie gewesen sei und er nicht gewollt habe, dass ich mich Ihnen anschließe. Er sagte, dass wenn ich mich Ihnen nicht anschließe, sie mich gleich wie meinen Vater töten würden.

Ich habe dann gleich aufgelegt, meine Sim-Karte herausgenommen und weggeschmissen. Meine Mutter hat gesagt, dass ich mitkommen solle und hat mich zum Polizeikommando gebracht. Sie sagte, dass Ihr Mann von der al-Shabaab getötet wurde und auch Ihr Sohn, also ich, getötet werden sollte. Sie fragte, ob ich zur Sicherheit dort bleiben kann. Der Polizeikommandant war damit einverstanden und ich war dort sieben Tage. Der Onkel mütterlicherseits hat dann den Schlepper kontaktiert. Dieser hat dann meinen Reisepass und das Visum organisiert. Mein Onkel hat sich zu dieser Zeit in der Türkei befunden und die Sachen telefonisch organisiert. Ein Bekannter meines Onkels hat mich von Bardheere nach Mogadishu zu meiner Tante väterlicherseits gebracht. Mit dieser bin ich gemeinsam in Richtung der Türkei geflogen.

[ … ]

F: Wann hat Al Shabab versucht Sie zu rekrutieren?

A: 05.05.2020.

Vorhalt: Sie sagte, dass al-Shabaab Ihnen eine Überlegungsfrist von 3 Tagen eingeräumt hat. Warum sollte der Mann Ihnen eine Überlegungsfrist von drei Tagen einräumen, wenn Sie diesem bereits sagten, dass Sie sich der al-Shabaab nicht anschließen wollen und er sie bereits darauf hingewiesen hat, dass es da nichts zum Diskutieren gebe?

A: Das weiß ich nicht.

Anmerkung: Der Dolmetscher wiederholt die Frage in einfacher Satzstellung.

A: Er hat mir die Möglichkeit dieser drei Tage gegeben, weil er meinte, dass ich meine Entscheidung dann vielleicht ändere.

F: Ist die Region Gedo, bzw. Bardheere unter der Kontrolle der al-Shabaab?

A: Nein, es ist unter der Kontrolle der somalischen Regierung.

F: Haben Sie zuvor schon einmal Mitglieder der al-Shabaab gesehen? Können die Mitglieder in der Region Einfluss ausüben?

A: Ich bin dort bei diesem Vorfall das erste Mal einem Mitglied der al-Shabaab begegnet, aber Sie nehmen dort Steuergelder von den Einwohnern.

F: Sie sagten, dass sogar die Polizei daraufhingewiesen habe, dass es in der Region vermehrt bereits solche Rekrutierungsversuche gegeben habe? Ist al-Shabaab nicht bereits zuvor schon einmal in die Schule gekommen und hat dort versucht Jugendliche anzuwerben oder sind diese Ihnen sonst schon irgendwo begegnet?

A: Nein, ich hatte dort die erste Begegnung, aber andere Jugendliche wurden rekrutiert.

F: Kannten Sie solche Jugendliche, die rekrutiert wurden?

A: Ich habe jemanden gekannt. Ein alter Kollege, dieser heißt Ali Ahmad und sie haben Ihn rektrutiert.

F: Wie haben Sie davon erfahren?

A: Er war mein Nachbar.

F: Ja aber hat er es Ihnen dies erzählt oder wie haben Sie es erfahren?

A: Meine Mutter hat es mir erzählt.

F: Hat Ihr Vater jemals für die al-Shabaab gearbeitet?

A: Nein, aber er hat die Steuergelder bezahlt.

Vorhalt: Bei der Erstbefragung sagten Sie, dass er für die al-Shabaab gearbeitet hat und jetzt sagen Sie, dass es nur um Steuergeldzahlungen ging. Was sagen Sie dazu?

A: Mein Vater hat nicht für die al-Shabaab gearbeitet. Er hat nur das Steuergeld für die al-Shabaab zwei Jahre lang bezahlt.

F: Haben Sie mitbekommen, dass Ihr Vater zur Bezahlung von Steuergelder aufgefordert wurde?

A: Mein Vater hat mir dies später erzählt.

F: Wann hat Ihr Vater Ihnen das erzählt?

A: Im März 2020.

Vorhalt: Sie sagten bei der Erstbefragung, dass die al-Shabaab erst zu Ihnen gekommen ist und versucht hat Sie zu rekrutieren, nachdem Ihr Vater von der al-Shabaab getötet wurde. Jetzt erzählen Sie, dass zunächst versucht wurde Sie zu rekrutieren und Ihr Vater auch wegen der Tatsache, dass Sie sich Ihnen nicht angeschlossen haben, getötet wurde.

A: Die Version die ich heute erzählt habe ist richtig.

F: Wann wurde Ihr Vater getötet?

A: Am 05.10.2020.

F: Warum hat Ihr Vater die Steuergelder an die al-Shabaab nicht mehr bezahlt?

A: Mein Vater hatte ein Feld. In unserer Region herrschte Dürre und mein Vater konnte es sich nicht leisten, die Steuergelder zu bezahlen.

F: Sind das alle Fluchtgründe?

A: Ja.

F: Möchten Sie noch was vorbringen?

A: Nein.

F: Haben Sie sämtliche Gründe und Vorfälle, welche Sie zum Verlassen von Somalia veranlasst haben, angeführt?

A: Ja.

F: Was hätten Sie im Falle einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat konkret zu befürchten?

A: Wenn ich nach Somalia zurückkehren müsste, würde ich mein Leben verlieren.

F: Wären Sie wirtschaftlich in der Lage, sich wieder in Ihrem Heimatland niederzulassen und Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten?

A: Wenn es Sicherheit geben würde, ja.

F: Wären Sie dazu bereit, freiwillig in Ihr Heimatland zurückzukehren?

A: Nein.

F: Wurde Ihnen ausreichend Zeit eingeräumt, ihre Probleme vollständig und so ausführlich, wie Sie es wollten, zu schildern?

A: Ja.

F: Sie werden nochmals auf das Neuerungsverbot im Beschwerdeverfahren aufmerksam gemacht. Ich frage Sie daher jetzt nochmals, ob Sie noch etwas Asylrelevantes angeben möchten oder etwas vorbringen möchten, was Ihnen wichtig erscheint, ich jedoch nicht gefragt habe?

A: Ja, Ich bin damit einverstanden. Ich habe keine weiteren Fluchtgründe und ich habe meine Fluchtgründe erzählt.

[ … ]“

In der Folge gab der BF weiters an (F: Leitendes Organ der Amtshandlung, A: BF):

„[ … ]

F: Halten Sie die im Rahmen der Erstbefragung vor der Exekutive gemachten Angaben bezüglich Ihres Fluchtweges vollinhaltlich aufrecht?

A: Ja.

F: Wann haben Sie den Entschluss gefasst Somalia zu verlassen?

A: 15.05.2020

Vorhalt: Warum haben Sie den Entschluss zur Ausreise nicht gleich nach dem Tod Ihres Vaters gefasst? Der Rekrutierungsversuch Ihrerseits war ja ausschlaggebend für die Tötung Ihres Vaters?

A: Ich habe noch Drohungen bekommen und erst dann habe ich entschieden Somalia zu verlassen.

F: Wann genau haben Sie Somalia dann tatsächlich verlassen?

A: 01. Juni 2020

F: Wo haben Sie sich bis vor Ihrer Ausreise in Somalia aufgehalten?

A: In Mogadishu

F: Sind Sie legal oder illegal ausgereist?

A: legal

F: Bei Ihrer Erstbefragung gaben Sie an, dass Sie ca. 9 Monate in der Türkei aufhältig gewesen sind. Was war der Grund für Ihre lange Aufenthaltsdauer in der Türkei und warum sind Sie nicht früher weiter gereist nach Österreich?

A: Mein Visum in der Türkei war drei Monate gültig. Ich habe dort um einen Aufenthaltsberechtigung angesucht und diese wurde mir für weitere sechs Monate bewilligt. Ich habe dann nochmals angesucht und dieses Ersuchen wurde abgelehnt. Deshalb habe ich entschieden die Türkei zu verlassen.

F: Wo haben Sie sich in der Türkei aufgehalten und wo haben Sie gelebt?

A: Istanbul, mit meinem Onkel mütterlicherseits.

F: Waren Sie legal oder illegal aufhältig?

A: legal und als die türkische Behörde dies nicht mehr bewilligte, habe ich die Türkei verlassen.

F: Mit welchen finanziellen Mitteln haben Sie in der Türkei gelebt?

A: Mein Onkel mütterlicherseits hat mich finanziert.

F: Haben Sie Familienangehörige in der Türkei?

A: Nein aktuell nicht.

F: Wo befindet sich Ihr Onkel mütterlicherseits?

A: Dieser ist zurück nach Somalia gegangen.

Vorhalt: Hat nicht dieser Onkel Kontakt zu Ihrer Familie und könnten Sie nicht über diesen Kontakt zu Ihrer Familie in Somalia halten?

A: Das weiß ich nicht.

F: Weiters gaben Sie an, sich fünf Monate in Griechenland aufgehalten zu haben und wurden dort auch erkennungsdienstlich behandelt, dh. dass Ihnen Fingerabdrücke abgenommen wurden. Was war der Grund für Ihre lange Aufenthaltsdauer in Griechenland und warum sind Sie nicht früher weiter gereist nach Österreich?

A: Es stimmt ich habe dort Asyl angesucht. Ich habe dort aber keine Unterkunft und keine Unterstützung erhalten und Griechenland deswegen verlassen.

F: Wurde über Ihren Antrag bereits abgesprochen und wie wurde über Ihren Asylantrag abgesprochen?

A: Ich habe nicht darauf gewartet, ich bin einfach weitergezogen.

F: Wo waren Sie in Griechenland aufhältig?

A: Ich war in Athen.

[ … ]

F: Wieso sind Sie nach Österreich gekommen?

A: Die Polizei hat mich aufgegriffen, aber ich wollte auch nach Österreich. Dies war mein Ziel.

F: Warum war dies Ihr Ziel? Haben Sie zuvor schon etwas über Österreich gehört?

A: Als ich in Rumänien war und in Ungarn war, hat mich die Polizei geschlagen. Als ich zur Polizei in Österreich gekommen bin, hat man mich hier gut behandelt und ich habe einen Cousin hier in Österreich.

F: Von welchen finanziellen Mitteln leben Sie hier in Österreich?

A: Von der Grundversorgung.

[ … ]“

Zur Integration in Österreich befragt gab der BF an, in einer Flüchtlingsunterkunft zu leben. Er besuche in Österreich Sprachkurse und gehe gerne Fußballspielen. Er würde sich auch gerne integrieren. Er helfe in der Flüchtlingsunterkunft einmal in der Woche dabei, den Küchenbereich zu putzen. Er verneinte Mitglied in einem Verein, einer Moschee oder Organisation hier in Österreich zu sein. Er versuche auch selbst die deutsche Sprache zu lernen.

Abschließend verneinte er befragt während dieser Befragung irgendwelche Probleme gehabt zu haben. Er habe den Dolmetscher sehr gut verstehen können und habe alles verstanden. Nach der Rückübersetzung gab der BF an, dass ihm aufgefallen sei, dass geschrieben worden sei, dass sein Vater am 05.10.2020 getötet worden sei. Eigentlich sei dieser am 10.10.2020 getötet worden. Ansonsten sei alles korrekt gewesen. Es habe alles gepasst. Er habe nichts mehr hinzuzufügen.

Am Ende der Niederschrift wurde festgehalten: „Ausdrücklich wird festgehalten, dass der Antragsteller während dieser Vernehmung zeitlich und örtlich orientiert war, der Antragsteller einen völlig normalen Eindruck machte, auf die Fragen klar und spontan antwortete. Es ergaben sich während dieser Vernehmung keinerlei Anzeichen, dass der Asylwerber psychisch beeinträchtigt wäre.“

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 16.08.2022 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihm jedoch gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt römisch II.) und erteilte ihm gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für 1 Jahr (Spruchpunkt römisch III.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der BF sei somalischer Staatsbürger und gehöre zum Hauptclan der Hawiye, dem Subclan der Sheikal an. Er sei ledig und kinderlos und sei 8 Jahre zur Schule gegangen. Er stamme aus Baardheere. Er verfüge in Somalia über ein familiäres Netzwerk. Ob er noch Kontakt zu seiner Familie in Baardheere habe, könne nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.

Fest stehe, dass der BF keine Verfolgung durch den somalischen Staat zu befürchten gehabt habe. Es sei nicht glaubhaft, dass er einer persönlichen Verfolgung oder Bedrohung durch die Al Shabaab ausgesetzt sei. Sein Vorbringen bezüglich seiner Gründe zur Ausreise seien als gänzlich unglaubhaft befunden worden. Fest stehe daher auch, dass er in Somalia keine persönliche Verfolgung zu befürchten gehabt habe. Die Behörde gehe davon aus, dass er Somalia aus wirtschaftlichen oder sonstigen Überlegungen verlassen habe.

Im Falle einer Rückkehr nach Somalia wäre der BF weder staatlicher noch einer persönlichen Verfolgung ausgesetzt.

Aufgrund der nach wie vor prekären Sicherheitslage in Süd- bzw. Zentralsomalia, sowie der schwierigen Versorgung sei dem BF jedoch derzeit eine Rückkehr nach Baardheere nicht zumutbar und möglich. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe ihm nicht zur Verfügung.

6. Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides brachte der BF fristgerecht durch seine Rechtsvertretung das Rechtsmittel der Beschwerde ein und wurde begründend im Wesentlichen ausgeführt, dass dem BF – entgegen der Beurteilung durch das BFA – sehr wohl asylrelevante Verfolgung durch Al Shabaab drohe.

Beantragt wurde u.a. eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

7. Am 20.09.2022 langten die Beschwerde und der Verwaltungsakt beim erkennenden Gericht ein. Mit Beschwerdevorlage ersuchte das BFA darum, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

8. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte für den 30.05.2023 eine mündliche Verhandlung an, zu der insbesondere der BF sowie seine im Spruch genannte Rechtsvertretung ordnungsgemäß und rechtzeitig geladen wurde.

9. Mit Schreiben vom 07.02.2023 gab das BFA die Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung bekannt und beantragte die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde.

10. Mit Eingabe vom 25.05.2023 gab der BF über seine Rechtsvertretung bekannt, dass er zur mündlichen Verhandlung am 30.05.2023 nicht persönlich erscheinen werde. Die Vollmacht zur Rechtsvertretung (BBU) sei nach wie vor aufrecht, seine Rechtsvertretung werde an der Verhandlung teilnehmen. Der BF teile mit, dass er aufgrund der Ereignisse, die ihn zur Flucht gezwungen hätten, traumatisiert sei und regelmäßig Albträume habe. Er sehe sich daher psychisch nicht in der Lage, erneut über seine Vergangenheit zu sprechen. Der BF verzichte ausdrücklich auf eine Einvernahme.

11. Das erkennende Gericht führte am 30.05.2023 eine öffentliche mündliche Verhandlung in Anwesenheit der Rechtsvertretung des BF sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Somali, jedoch in Abwesenheit des BF sowie des BFA durch. Der genaue Verhandlungsverlauf ist der Niederschrift der mündlichen Verhandlung zu entnehmen (OZ 6), wobei die Rechtsvertretung insbesondere auf die Beschwerde verwiesen hat und anführte, dass sich seit Beschwerdeerhebung keine wesentlichen Veränderungen ergeben hätten. Medizinische Unterlagen wurde auf Nachfrage durch die erkennende Richterin nicht vorgelegt. Erörtert wurde insbesondere das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia, 17.03.2023.

römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person des BF:

Der volljährige BF ist ein Staatsangehöriger von Somalia und stellte am 26.09.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Die Identität des BF steht nicht fest.

Er bekennt sich zum muslimischen Glauben und gibt an, dem Clan der Sheikhal/Hawiye anzugehören.

Der BF spricht muttersprachlich Somalisch. Nach eigenen Angaben spricht er auch ein wenig Englisch.

Nach eigenen Angaben ist er ledig und kinderlos.

Der BF stammt nach eigenen Angaben aus Baardheere (Jubaland/Gedo). Zuletzt hielt sich seine Kernfamilie (Eltern, sechs Geschwister) in der Heimat des BF auf. Dass sein Vater bereits verstorben ist, kann aufgrund des nicht glaubhaften Fluchtvorbringens des BF nicht festgestellt werden.

In Somalia hat er nach eigenen Angaben 8 Jahre lang die Schule besucht. Er kann lesen und schreiben.

Der BF ist gesund und strafrechtlich unbescholten.

Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom 16.08.2022 wurde dem BFA der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde in der Folge für zwei weitere Jahre verlängert.

1.2. Zum Fluchtvorbringen sowie einer möglichen Rückkehr des BF nach Somalia:

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung in seinem Herkunftsstaat Somalia verfolgt wird.

Ebenso konnte nicht festgestellt werden, dass der BF seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia wird auf folgende Feststellungen verwiesen:

Politische Lage

SÜD-/ZENTRALSOMALIA, PUNTLAND

Letzte Änderung 2023-03-14 07:30

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 28.6.2022, Sitzung 4f). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2022, Sitzung 4).

Staatlichkeit: Trotz massiver militärischer, diplomatischer und finanzieller Unterstützung hat die Regierung in Mogadischu kaum Fortschritte gemacht (Meservey 19.10.2021). Nach anderen Angaben hat Somalia in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert (BBC 18.1.2021). Somalia ist nun zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6). Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 2022a, C1), da sie nur wenige Gebiete kontrolliert (BS 2022, Sitzung 33). Zudem hängt die Existenz des somalischen Staates zum größten Teil von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ab (HIPS 3.2021, Sitzung 9). Dies gilt natürlich auch für die Umsetzung von Aktivitäten seitens der Regierung (FH 2022a, C1).

Die Unfähigkeit, gegen die endemische Korruption vorzugehen, behindert den Staatsbildungsprozess und den Aufbau von Institutionen (BS 2022, Sitzung 18); der politische Machtkampf hat das Vertrauen der Bevölkerung in bestehende staatliche Institutionen weiter geschwächt, die politischen Konflikte haben die Kluft zwischen den Fraktionen vergrößert (BS 2022, Sitzung 18/42). Zusätzlich spielen Clanälteste bei der Führung des Landes eine bedeutende Rolle. Sie repräsentieren und lobbyieren für ihre Claninteressen (Sahan 16.9.2022).

Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 28). Seit 2016 und 2017 die fünf Bundesstaaten gegründet wurden, stockt der Verfassungsprozess. Grundlegende Fragen des Staatsaufbaus sind nicht geklärt. Dies lähmt staatliches Handeln und fördert politische Spannungen zwischen Mogadischu und den föderalen Gliedstaaten, weil eben die Verfassungsgebung und Kompetenzverteilung noch immer nicht abgeschlossen sind (AA 28.6.2022, Sitzung 4).

Regierung: Unter der bestehenden Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 wird der Präsident für eine Amtszeit von vier Jahren von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments gewählt. Der Präsident teilt sich seine exekutive Macht mit dem Premierminister, der wiederum nur mit Unterstützung des Parlaments arbeiten kann (FH 2022a, A1).

2017 wurde Farmaajo als Präsident gewählt, sein Mandat endete eigentlich am 8.2.2021 (FH 2022a, A1), er regierte aber bis Mai 2022 weiter (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6). Somalia stürzte in eine schwere Verfassungs- und politische Krise (Sahan 9.2.2021a), in deren Folge es in Mogadischu zwischen Kräften der Regierung und Kräften der Opposition auch zu Kampfhandlungen kam (UNSC 19.5.2021, Absatz 3 -, 11,). Nach dieser Eskalation im April 2021 konnte im Mai 2021 eine Einigung der Umsetzungsmodalitäten der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erzielt werden. Trotz aller Bekundungen konnten die eigentlich Ende 2020 geplanten Parlamentswahlen nicht demokratisch gestaltet werden. Stattdessen wurde wieder auf einen Selektionsprozess ähnlich wie bei den Wahlen 2016 zurückgegriffen. Zudem wurde der Wahlprozess zu einem Zweikammerparlament durch innenpolitische Streitigkeiten für mehr als ein Jahr verzögert (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6). Mit der erneuten Wahl des ehemaligen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamud (2012-2017) am 15.5.2022 ist der Wahlprozess mit großer Verzögerung abgeschlossen (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 2). Es gab 33 Kandidaten für das Präsidentenamt, darunter eine Frau. Die Präsidentschaftswahlen selbst wurden als friedlich und transparent bezeichnet (UNSC 1.9.2022, Absatz 4 f,). Nach mehr als 15 Monaten Streitigkeiten sind die Wahlen ruhig verlaufen. Im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2017 hat diesmal Geld bzw. Stimmenkauf keine entscheidende Rolle gespielt. In der letzten Wahlrunde erhielt Farmaajo 110 Stimmen, Hassan Sheikh Mohamud 214 Stimmen (AQ10, 5.2022). Der Wahlsieg wurde allgemein akzeptiert (AA 28.6.2022, Sitzung 4/6; vergleiche UNSC 1.9.2022, Absatz 5,). Am 9.6.2022 wurde der neue Präsident ins Amt eingeführt (UNSC 1.9.2022, Absatz 5 ;, vergleiche Sahan 10.6.2022; GN 9.6.2022). Dieser ernannte am 15.6.2022 Hamza Abdi Barre, einen ehemaligen Vorsitzenden der staatlichen Wahlkommission von Jubaland, zum Premierminister (BAMF 20.6.2022; vergleiche FTL 28.6.2022).

Parlament: Die provisorische Verfassung sieht ein Zweikammernparlament mit einem 275-köpfigen Unterhaus und einem 54 Senatoren umfassenden Oberhaus vor (HIPS 11.2021). Die Mitglieder zum Oberhaus werden von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt. Die Wahlen zum Oberhaus begannen im Juli 2021 und konnten nach Monaten der Streitigkeiten im November 2021 abgeschlossen werden (FH 2022a, A2). Sie wurden auf voller Breite manipuliert, nur um 15 der 54 Sitze gab es tatsächlich einen Wettstreit. Die meisten Senatoren sind nunmehr de facto von den Präsidenten der Bundesstaaten nominierte (HIPS 8.2.2022, Sitzung 8; vergleiche HIPS 11.2021) Alliierte, Freunde und manchmal auch Familienangehörige. Insgesamt hat es sich nicht um einen glaubwürdigen Wahlbewerb gehandelt, der Vorgang kann kaum als „Wahl“ bezeichnet werden (HIPS 11.2021).

Bei der Wahl zum Unterhaus wählen Älteste und Gruppen der Zivilgesellschaft eines bestimmten Subclans Wahlmänner, welche als Delegation dann wiederum einen Abgeordneten küren. Senatoren und Abgeordnete wählen schlussendlich den Präsidenten. Der Manipulation sind Tür und Tor geöffnet (FP 22.9.2021). Eigentlich war für die Wahlen vorgesehen, dass jeder einzelne Unterhausabgeordnete von 101 Wahldelegierten seines Clans gewählt wird (2017 waren es 51 Delegierte pro Sitz). Später wurde die Zahl auf 67 Delegierte pro Sitz gesenkt (HIPS 11.2021). Insgesamt wurden die Wahlen durch innenpolitische Streitigkeiten für mehr als ein Jahr verzögert. Die Abgeordneten wurden in indirekter Wahl von Delegierten gewählt (AA 28.6.2022, Sitzung 6; vergleiche UNSC 13.5.2022, Absatz 3 f, f,). In diesem Wahlsystem spielt eine begrenzte Anzahl an Volksvertretern eine sehr eingeschränkt demokratische Rolle (BS 2022, Sitzung 20). Es musste eine allseits akzeptierte Repräsentation der verschiedenen Clans sowie der Gliedstaaten sichergestellt werden, was den Prozess der Delegiertenbestimmung sehr langwierig und intransparent machte. Die Legitimität der letzten Wahlprozesse war noch weitestgehend akzeptiert. Der derzeitige Prozess wird von verschiedenen nationalen und internationalen Politikern und Beobachtern hinsichtlich seiner Legitimität in Frage gestellt (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Tatsächlich ist es auf breiter Front zu Wahlmanipulationen gekommen (HIPS 8.2.2022, Sitzung 4; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 3) bzw. gab es zahlreiche Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten und einen Mangel an Transparenz (UNSC 8.2.2022, Absatz 2,) sowie hinsichtlich Bestechung (AA 28.6.2022, Sitzung 12). Der Wahlvorgang war selbst gegen den vorhergehenden – schwer defizitären – Wahlprozess noch eine dramatische Verschlechterung (Meservey 19.10.2021) und wird von einer Quelle als die korrupteste, intransparenteste und teuerste Wahl in der jüngeren Geschichte Somalias bezeichnet. Viele der Abgeordneten haben demnach ihre Stimme an den Höchstbietenden verkauft (Sahan 18.7.2022).

Am 28.4.2022 wurde der Wahlprozess der am 29.7.2021 begonnenen Parlamentswahlen abgeschlossen (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Alle 275 Abgeordneten zum Unterhaus waren gewählt, 20 % davon sind Frauen (UNSC 13.5.2022, Absatz 2,). Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 6; ÖB 11.2022, Sitzung 3f; BS 2022, Sitzung 12). Seit dem Jahr 2000 gilt diese 4.5-Formel, die eigentlich dazu bestimmt war, Somalia vorübergehend Stabilität zu verleihen. Allerdings hat sie sich bezüglich der Entwicklung des Landes als kontraproduktiv erwiesen. Denn mit ihr ist Clanzugehörigkeit und -Loyalität wieder wichtiger geworden als die Loyalität zum Staat (Sahan 28.3.2022).

Demokratie: Seit Jahrzehnten hat es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene mehr gegeben (AA 28.6.2022, Sitzung 6; vergleiche FP 10.2.2021; USDOS 12.4.2022, Sitzung 28f). In Süd-/Zentralsomalia gibt es keine demokratischen Institutionen (BS 2022, Sitzung 20). Somalia ist keine Wahldemokratie und hat auch keine strikte Gewaltenteilung, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2022, Sitzung 11/15). Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung demokratisch nicht legitimierter traditioneller Strukturen (v. a. Clanstrukturen) vergeben (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Eine andere Quelle gibt zu bedenken: Auch wenn sie nicht wirklich frei und fair waren, so haben die in den letzten zwei Jahrzehnten in Somalia durchgeführten indirekten Wahlen zu Ergebnissen geführt, die im Allgemeinen von den politischen Akteuren und der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wurden. So wurden durch einen – gewaltfreien – Wahlprozess jeweils schwache, aber akzeptierte Institutionen geschaffen (HIPS 11.2021). Generell sind zwar immer wieder progressive Bemühungen zu beobachten, jedoch scheint der Druck der konservativen Eliten im Land oftmals größer zu sein als das tatsächliche Bewusstsein in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte (ÖB 11.2022, Sitzung 21).

Aktuelle politische Lage: Präsident Hassan Sheikh will die Staatsbildung im Konsens fortführen (Sahan 17.6.2022). Er setzt etwa auf ein klares und geregeltes Verhältnis zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten - auch wenn dabei noch ein weiter Weg zu gehen sein wird. Hassan Sheikh versucht zudem, Versäumnisse der Vorgängerregierung aufzuholen. Er hat in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit mehr Gesetzesvorschläge (z.B. zum Nachrichtendienst, zur Stromversorgung, zur Fischerei) im Parlament zur Abstimmung gebracht als sein Vorgänger in fünf Jahren (BMLV 9.2.2023). Seine moderat-islamische politische Ausrichtung (BMLV 9.2.2023; vergleiche Sahan 28.6.2022) entspricht de facto der Ausrichtung der Muslimbruderschaft. Der Präsident stützt sich dabei auf die von ihm gegründete politische Partei, Union for Peace and Development, und die islamische Gruppierung Dam ul-Jadiid (Neues Blut) (BMLV 9.2.2023).

Präsident Hassan Sheikh hat von seinem Vorgänger eine politisierte, parteiische und unfähige Bürokratie geerbt. Die Nabad iyo Nolol (N&N, Friede und Leben), die Partei von Ex-Präsident Farmaajo, hat die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Verwaltung ohne Skrupel zu zentralisieren (Sahan 17.6.2022). Politische Führungskräfte und Minister wurden auf Basis von Loyalität und nicht von Kompetenz ausgewählt. Jeder, der als Bedrohung wahrgenommen wurde, wurde angegriffen. Die Bundesregierung und regionale Führer haben alles getan, um zeitgerechte und glaubwürdige Wahlen zu verhindern. Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahlen zu manipulieren, führte das Land in politisches Chaos (Ali 28.1.2022). Um aber den Einfluss von N&N zu tilgen und eine inklusive Politik umzusetzen, wird es Zeit brauchen. Gleichzeitig wird N&N alles daran setzen, von Hassan Sheikh vorangetriebene Reformen zu sabotieren - und zwar von innerhalb der Regierung (Sahan 17.6.2022). Folglich ist das Machtzentrum Somalias nach der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten paralysiert. Eine Elite im Wettstreit stehender islamistischer Fraktionen, die allesamt dem Föderalismus abgeneigt sind, versucht, Reformen zu hintertreiben oder rückgängig zu machen. Die N&N ist im Begriff, sich neu zu gruppieren. Der neue Präsident möchte dem mit einer Stärkung von Dam ul-Jadiid ["Partei" bzw. politisch-islamische Strömung des Präsidenten] entgegenwirken. Insgesamt ist die Politik in Somalia zunehmend in der Hand von Eliten und fraktioniert (Sahan 28.6.2022).

Föderalisierung: Die Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 sieht föderale Strukturen vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 17), und zwar auf zwei Regierungsebenen: Die Bundesregierung (Federal Government) sowie die Bundesstaaten (Federal Member States), welche auch Lokalregierungen umfassen (SIDRA 12.2022, Sitzung 5). Seit damals sind sechs Entitäten durch die Bundesregierung als Bundesstaaten anerkannt worden: Puntland, Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Jeder dieser Bundesstaaten hat eine eigene Verfassung. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 17). Die Hauptstadtregion Benadir (Mogadischu) verbleibt als Banadir Regional Administration/BRA unter direkter Kontrolle der Bundesregierung (HIPS 8.2.2022, Sitzung 19). Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, Sitzung 55f).

Ein Jahrzehnt nach Einführung der föderalen Verfassung gibt es nur geringe Fortschritte hinsichtlich der Implementierung funktionierender Beziehungen zwischen den Regierungsebenen (SIDRA 12.2022, Sitzung 6). Die Judicial Service Commission sowie das Verfassungsgericht wurden immer noch nicht eingerichtet, es gibt keine Möglichkeit, Konflikte zwischen den Regierungsebenen geregelt zu lösen (SIDRA 12.2022, Sitzung 18).

Die Verfassungen der Bundesstaaten widersprechen teilweise der Bundesverfassung, was wiederum zu Spannungen in den Beziehungen zwischen den Regierungsebenen führt. So sieht zum Beispiel die puntländische Verfassung diplomatische Beziehungen des Bundesstaates vor, obgleich die Außenpolitik laut Bundesverfassung bei der Bundesregierung liegt (SIDRA 12.2022, Sitzung 13). Gleichzeitig wurden zahlreiche Befugnisse nicht geklärt. Das betrifft die Verteidigung, welche militärischen Truppen und Polizeieinheiten vor Ort eingesetzt werden können, die Frage der Ressourcenverteilung, die Verteilung von internationalen Hilfsgeldern. Auch Entwicklungszusammenarbeitsprojekte werden über die Zentralregierung in Mogadischu abgewickelt, und die Verteilung auf die Regionen ist strittig, ebenso die Fragen, wer welche Hoheiten über welche Verträge hat (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 4).

Unter der Regierung von Präsident Farmaajo waren die Beziehungen zwischen Bundesregierung und einigen Bundesstaaten angespannt. Dabei ging es um Fragen der Machtteilung, um Ressourcen, Territorien und die Kontrolle bewaffneter Kräfte (SPC 9.2.2022). Präsident Farmaajo hatte versucht, die Macht wieder zu zentralisieren (TNYT 14.4.2021). Unter der neuen Regierung sind die Spannungen zwischen den Bundesstaaten und der Regierung vorerst weitestgehend abgeflaut (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche BMLV 9.2.2023). Im Dezember 2022 arbeitete der Präsident von Puntland, Said Abdullahi Deni, aber einer Quelle zufolge bereits an einer Front gegen Präsident Hassan Sheikh. Dieser sollen die Präsidenten von Galmudug und dem SWS angehören (KM 8.12.2022; vergleiche SG 12.12.2022), möglicherweise auch jener von Jubaland (SG 12.12.2022).

Quellen:

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        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        Ali, Hodan / The Elephant (28.1.2022): Somalia’s Famines, Government Apathy and the Aid Industry, https://www.theelephant.info/features/2022/01/28/somalias-famines-government-apathy-and-the-aid-industry/, Zugriff 17.2.2022

        AQ10 - Anonyme Quelle 10 (5.2022): Bei der Quelle handelt es sich um einen analytischen Newsletter

        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.6.2022): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw25-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 30.6.2022

        BBC - BBC News (18.1.2021): Somali concern at US troop withdrawal, https://www.bbc.com/news/world-africa-55677077, Zugriff 24.6.2022

        BFA - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Staatendokumentation [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, https://www.ecoi.net/en/file/local/1406268/5209_1502195321_ffm-report-somalia-sicherheitslage-onlineversion-2017-08-ke.pdf, Zugriff 9.6.2022

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

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        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (17.6.2022): Editor’s Pick – Some policy advice for Somalia's new president: römisch eins f you build it, they will come, in: The Somali Wire Issue No. 407, per e-Mail 4.7.2022

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        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (28.3.2022): The Somali government’s culture of corruption – a clear and present danger, in: The Somali Wire Issue No. 358, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Matt Bryden (9.2.2021a): Editor’s Pick - Ku Qabso ku Qadi Mayside, in: The Somali Wire Issue No. 78, per e-Mail

        SG - Somali Guardian (12.12.2022): Four state leaders consider forming alliance against Somalia’s president, https://somaliguardian.com/news/somalia-news/four-state-leaders-consider-forming-alliance-against-somalias-president/, Zugriff 15.12.2022

        SIDRA - Somali Institute for Development Research and Analysis / Salim Said Salim (12.2022): Somalia’s Intergovernmental Relations between the Constitutional Theory and Political Practice, Policy Analysis, https://sidrainstitute.org/wp-content/uploads/2022/12/Policy-Analysis.pdf, Zugriff 9.1.2023

        SPC - Somalia Protection Cluster (9.2.2022): Protection Analysis Update, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOM_PAU_Somalia-Protection-Analysis_Feb2022.pdf, Zugriff 25.5.2022

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        UNSC - UN Security Council (8.2.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/101], https://www.ecoi.net/en/file/local/2068141/S_2022_101_E.pdf, Zugriff 21.2.2022

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Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba)

Letzte Änderung 2023-03-14 08:04

Jubaland wurde im Jahr 2013 gebildet, damals wurde auch Ahmed Mohamed Islam 'Madobe' zum Präsidenten gewählt (HIPS 2021, Sitzung 12). Bei der Präsidentenwahl im Jahr 2019 hat die damalige Bundesregierung versucht, Madobe durch einen loyalen Präsidenten abzulösen (HIPS 8.2.2022, Sitzung 22; vergleiche Bryden 8.11.2021). Dieser Versuch scheiterte und Ahmed Madobe wurde - bei einer umstrittenen Wahl - als Präsident bestätigt (HIPS 8.2.2022, Sitzung 22). Er konnte u. a. mit Unterstützung des kenianischen AMISOM-Kontingents seine Position verteidigen (Bryden 8.11.2021). Die Bundesregierung hat daraufhin versucht, Madobe als Präsidenten zu delegitimieren; sie hat seine Präsidentschaft erst im Juni 2020 anerkannt (HIPS 8.2.2022, Sitzung 22). Angesichts des Konflikts mit der damaligen Bundesregierung hatte Präsident Madobe versucht, sich mit seinen politischen Rivalen in Jubaland zu versöhnen (HIPS 2021, Sitzung 13). Im August 2022 hat das Parlament in Kismayo die Verfassung von Jubaland geändert und das eigene sowie das Mandat von Präsident Madobe um zwei Jahre bis August 2024 verlängert (UNSC 1.9.2022, Absatz 11 ;, vergleiche RD 22.8.2022). Dies wurde von der Opposition kritisiert (UNSC 1.9.2022, Absatz 11,). Auch wenn Jubaland offiziell der Bundesregierung untersteht, stellt der Bundesstaat in der Realität ein weitgehend unabhängiges Gebilde dar, das von einer signifikanten Präsenz kenianischer Truppen gestützt wird (GITOC 8.12.2022).

Die vormalige Bundesregierung hat sich mit militärischer Macht der Region Gedo bemächtigt (HIPS 8.2.2022, Sitzung 22). Seit dem Wahlsieg von Hassan Sheikh Mohamud hat sich die Lage in Gedo nachhaltig beruhigt. Eine endgültige Klärung zwischen Jubaland und der Bundesregierung steht allerdings noch aus. Die abtrünnigen Milizen des ehemaligen Jubaland-Ministers Abdirashid Janan, der sich im Zuge der Auseinandersetzungen in Gedo 2021 den Bundestruppen ergeben hatte, wurden an die Bundesarmee angegliedert und stellen zumindest vorläufig kein Problem dar. Der aktuelle Fokus der Regierung von Jubaland liegt wie jener der Bundesregierung auf der Bekämpfung von al Shabaab (BMLV 9.2.2023).

In Kismayo hat sich die Verwaltung durch Jubaland gefestigt und diese funktioniert. Dies gilt auch für die Kooperation mit anderen Clans und deren Beteiligung an Regierungsaufgaben (BMLV 9.2.2023). Kenia hat enge Beziehungen zur Regierung von Jubaland aufgebaut und kooperiert mit den dortigen Sicherheitskräften (BS 2022, Sitzung 41; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 31). Dies ist mit ein Grund für die in Kismayo gegebene, relative Stabilität (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 31).

Quellen:

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

        Bryden, Matt / The Elephant (8.11.2021): Fake Fight: The Quiet Jihadist Takeover of Somalia, https://www.theelephant.info/long-reads/2021/11/08/fake-fight-the-quiet-jihadist-takeover-of-somalia/#.YYjpCzdaMR4.twitter, Zugriff 25.5.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

        GITOC - Global Initiative Against Transnational Organized Crime / Jay Bahadur (8.12.2022): Terror and Taxes. Inside al-Shabaab’s revenue-collection machine, https://globalinitiative.net/wp-content/uploads/2022/12/AS-protection-economies.-WEB.pdf, Zugriff 14.12.2022

        HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (8.2.2022): State of Somalia Report 2021, Year in Review, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOS-REPORT-2021-English-version.pdf, Zugriff 21.2.2022

        HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (2021): State of Somalia Report 2020, Year in Review, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOS-REPORT-2020-Final-2.pdf, Zugriff 23.6.2022

        RD - Radio Dalsan (22.8.2022): Jubaland parliament extends President Madobe’s term by one year, https://en.radiodalsan.com/76666/2022/08/jubaland-parliament-extends-president-madobes-term-by-one-year/, Zugriff 25.8.2022

        UNSC - UN Security Council (1.9.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/665], https://www.ecoi.net/en/file/local/2078696/N2257941.pdf, Zugriff 24.11.2022

Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Letzte Änderung: 15.03.2023

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst - und in noch geringeren Teilen vom Islamischen Staat in Somalia - während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 9.2.2023).

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PGN 23.1.2023

Quellen:

        ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (2023): Curated Data - Africa (6 January 2022), https://acleddata.com/curated-data-files/, Zugriff 16.1.2023

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

        PGN - Political Geography Now (23.1.2023): Special Preview: Somalia Control Map – Full Report Forthcoming, mit Zugriffsberechtigung verfügbar auf: https://controlmaps.polgeonow.com/2023/01/al-shabaab-controlled-territory-2023-map-somalia/, Zugriff 25.1.2023

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 15.03.2023

Die Sicherheitslage bleibt volatil (UNSC 1.9.2022, Absatz 15 ;, vergleiche BS 2022, Sitzung 38), mit durchschnittlich 227 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat (Zeitraum Mai-Juli 2022). Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto von al Shabaab. Die Angriffe der Gruppe richten sich in erster Linie gegen somalische Sicherheitskräfte und ATMIS. Dabei werden Angriffe vorwiegend mit improvisierten Sprengsätzen und sogenannten hit-and-run-Angriffen durchgeführt. Am meisten betroffen von Aktivitäten der al Shabaab waren zuletzt Mogadischu, Lower Shabelle und Bay (UNSC 1.9.2022, Absatz 15,) und im Zusammenhang mit der Offensive auch Middle Shabelle, Mudug, Galgaduud und Hiiraan (BMLV 9.2.2023). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖB 11.2022, Sitzung 2), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet (AA 28.6.2022, Sitzung 5/9). Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (ÖB 11.2022, Sitzung 2).

Die Afrikanische Union (AU) hat angekündigt, die Reduzierung der Truppenstärke von ATMIS zu verschieben. Diese Entscheidung deutet auf Lücken im Aufbau der somalischen Sicherheitskräfte hin. Geplant war eine Reduzierung um 2.000 Mann im Dezember 2022 und ein vollständiger Abzug bis Ende 2024. Die Truppenreduktion wurde nun von der AU auf Juni 2023 verschoben – auf Antrag Somalias (GO 24.11.2022; vergleiche TEA 29.11.2022). Die nächsten Schritte zur Truppenreduktion sollen aber eingehalten werden, am Ziel, im Dezember 2024 die letzten Teile von ATMIS abzuziehen, wird festgehalten (BMLV 9.2.2023).

ATMIS hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete (BS 2022, Sitzung 6). Die somalische Regierung und ATMIS können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 17.5.2022). Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS - aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen (BMLV 9.2.2023; vergleiche BS 2022, Sitzung 11/13; HIPS 4.2021, Sitzung 16). Wenn ATMIS abzieht, würde Mogadischu rasch fallen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Robinson 27.1.2022). An dieser Situation wird sich nur etwas ändern, wenn die aktuellen Bemühungen zur Ausbildung weiterer Soldaten (geplant sind zusätzliche 15.000 Mann bis Ende 2023) erfolgreich abgeschlossen werden können und mit entsprechenden finanziellen Mitteln (Gehälter, Ausrüstung) ausgestattet werden (BMLV 9.2.2023). Nach älteren Angaben ist die Regierung zudem zum eigenen Überleben schon alleine deswegen auf ausländische Truppen und Hilfe angewiesen, weil sie nicht in der Lage ist, aus eigenen Mitteln Polizisten und Soldaten zu bezahlen (FP 22.9.2021).

Trend: Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten (BMLV 9.2.2023; vergleiche HIPS 3.2021, Sitzung 22). Der Kampf gegen al Shabaab stagnierte mehrere Jahre lang (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 7). Gegen Ende der Amtsperiode von Ex-Präsident Farmaajo war die Gruppe stärker denn je, immer mehr Gebiete gingen an die Gruppe verloren (Bryden 8.11.2021). Insgesamt konnte al Shabaab unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS-Geländegewinne erzielen (HIPS 8.2.2022, Sitzung 6). Noch im Mai und Juni 2021 hatte die Bundesarmee bei einer Offensive in Middle Shabelle bewiesen, dass sie zu einer ausschließlich auf eigenen Kräften beruhenden Initiative kaum in der Lage war. Die Operation endete unter großen Verlusten im Fiasko (Sahan 14.7.2021).

Doch seit dem Abschluss der Wahlen im Mai 2022 und dem Beschluss der USA, wieder Truppen in Somalia zu stationieren, haben die militärischen Operationen gegen al Shabaab zugenommen (UNSC 10.10.2022, Absatz 36 ;, vergleiche Sahan 29.6.2022). Der Kampf gegen al Shabaab hat seit Mai 2022 größere Fortschritte erzielt als in den vergangenen fünf Jahren zusammen (Sahan 12.10.2022; vergleiche TEC 3.11.2022). Die Dürre hat Pastoralisten – u.a. die Hawadle / Ali Madaxweyne und die Habr Gedir / Saleeban – derart hart getroffen, dass sie sich weigerten, Steuern an al Shabaab abzuführen (AQ12 10.2022). Lokale (Clan-)Milizen, die Macawiisley, haben gegen al Shabaab revoltiert. Dies hatte mehrere Ursachen: Erstens hebt al Shabaab hohe Steuern ein – auf Händler, Landwirte, Verkehr und Viehbesitzer. Zweitens betreibt al Shabaab in einigen Gebieten Zwangsrekrutierungen. Mehrfach wurden Eltern dazu „überredet“, der Gruppe Kinder zu „spenden“. Drittens gibt es regelmäßig Berichte, wonach al Shabaab lokale Clans zwingt, der Gruppe Frauen und Mädchen zuzuführen. So werden etwa die Mitglieder der Selbstmordgruppe von al Shabaab mit Ehefrauen ausgestattet (Sahan 23.9.2022). Gleichzeitig sind aufgrund der Dürre im ländlichen Raum mehr als drei Millionen Stück Vieh verendet, eine Million Menschen musste fliehen, die Städte sind mit dem Zustrom überfordert. Die Landbevölkerung ist aufgebracht, weil sich al Shabaab diesbezüglich als wenig hilfreich erwiesen hat (Sahan 26.9.2022).

Während vorherige Offensiven immer von Truppen der AU geführt wurden, handelt es sich dieses Mal um eine somalische Offensive. An der Spitze des Kampfes stehen die Macawiisley, die Aufstände in mehreren Bezirken von HirShabelle angeführt haben. Sie kennen das Terrain und sind motiviert, für ihr eigenes Gebiet zu kämpfen (TEC 3.11.2022). Die Regierungskräfte bieten den Macawiisley Aufklärung, Informationen und Versorgung, ATMIS und die USA geben Luftunterstützung (Sahan 23.9.2022; vergleiche TEC 3.11.2022). Kräfte der Bundesarmee (Danab und Gorgor) wurden als alliierte Kräfte hinzugefügt. Schlussendlich wird den Macawiisley auch Ausbildung, Logistik und Unterstützung mit schweren Waffen zuteil (AQ12 10.2022). Dieses Zusammenwirken ist einmalig und der Grund dafür, dass al Shabaab zum Rückzug gezwungen wurde (Sahan 23.9.2022). Die Erfolge der Macawiisley sind beeindruckend, al Shabaab wurde aus den östlichen Teilen von Hiiraan und Middle Shabelle sowie aus wichtigen Orten in Galmudug verdrängt (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab befindet sich auf dem Rückzug. Beide Seiten erlitten schwere Verluste (AQ12 10.2022). Aber vor allem al Shabaab wurde durch die jüngeren Offensiven schwer beschädigt. Der Verlust von Adan Yabaal ist für die Gruppe schmerzhaft, die Stadt war eines ihrer strategischen Zentren (Sahan 7.12.2022). Mehrere größere Städte und Dutzende Dörfer wurden befreit (Sahan 26.9.2022; vergleiche TEC 3.11.2022). Durch die Gebietsgewinne seitens der Regierung wird al Shabaab von lukrativen Handelsrouten abgedrängt (TEC 3.11.2022).

Die aktuelle Offensive hat al Shabaab dazu gezwungen, in entlegene Gebiete auszuweichen; dort konnte sich die Gruppe neu gruppieren und reorganisieren. Derweil haben sich Regierungskräfte in den Städten verstärkt und eingerichtet, das Zwischenland - und damit die Versorgungsrouten - hingegen al Shabaab überlassen (Sahan 30.11.2022). Einerseits sind die Macawiisley an der Grenze ihrer Durchhaltefähigkeit angelangt, andererseits können neu herangeführte Kräfte der Bundesarmee (Gorgor, Danab) erfolgreich Orte in Besitz nehmen (BMLV 9.2.2023). Allerdings stehen dann keine bzw. zu wenige leistungsfähige und verlässliche Truppen zur Verfügung, um diese Orte zu halten, wenn die Angriffstruppen weiterziehen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Sahan 7.12.2022). Da sich aber al Shabaab weiterhin im freien Gelände zwischen den Ortschaften aufhält und bei jeder Gelegenheit die Orte selbst bzw. die Bewegungen zwischen den Ortschaften angreift (BMLV 9.2.2023), gelten die neuen Gewinne noch als fragil (Sahan 7.12.2022). Zudem sind die Clanmilizen nicht nur schlecht ausgebildet, sondern auch brutal. Gleichzeitig gibt es im weiter südlich gelegenen Teil Somalias keine derart gut ausgerüsteten und großen Clanmilizen (TEC 3.11.2022; vergleiche Sahan 7.12.2022). Außerdem haben sich nur einige Clans dem Kampf gegen al Shabaab angeschlossen. In der Vergangenheit hat sich wiederholt gezeigt, dass derartige Allianzen nicht immer von langer Dauer sind, sondern dass sich Clanmilizen gegeneinander wenden, sobald der gemeinsame Feind nicht mehr als existenzielle Gefahr wahrgenommen wird. Dies ist auch der Grund dafür, warum die Bundesregierung den Macawiisley keine Waffen liefert. Al Shabaab ist sich dessen ebenfalls bewusst und hat begonnen, Munition und Waffen an Nachbarclans jener Clans abzugeben, die sich den Macawiisley angeschlossen haben. Zudem arbeiten Kräfte von Ex-Präsident Farmaajo daran, in die Allianz einen Keil zu treiben (AQ12 10.2022). Insgesamt haben die militärischen Kräfte der al Shabaab in Zentralsomalia zwar hohe Verluste hinnehmen müssen, sind aber bei Weitem nicht geschlagen (BMLV 9.2.2023).

Durch Konflikte Vertriebene: Alleine in den ersten zehn Monaten 2022 wurden fast 1,6 Millionen Menschen zu Vertriebenen im Land, eine Million davon aufgrund von Dürre und 500.000 aufgrund von Konflikten. Fast die Hälfte dieser 500.000 wurde im Rahmen der Offensive lokaler Milizen und der Bundesarmee in Hiiraan vertrieben (VOA 15.12.2022). Die meisten neuen IDPs aufgrund von Konflikten gab es im Jahr 2022 in den Regionen Hiiraan (255.350), Galgaduud (120.610), Lower Shabelle (73.910), Bakool (56.510), Middle Shabelle (46.620) und Bay (21.370). Dahingegen wurden in Bari (200), Benadir (590), Nugaal (890) und Middle Juba (900) deutlich weniger Menschen neu vertrieben (UNHCR 31.12.2022).

Al Shabaab steht gemäß Aussagen des Experten Rashid Abdi mit dem Rücken zur Wand. Die Gruppe hat in wenigen Monaten mehr Gebiet verloren, als in den gesamten fünf Jahren zuvor und steht gleichzeitig einer Revolte mehrere Clans gegenüber. Damit steht auch das Wirtschaftsimperium al Shabaab unter Druck (GN 5.11.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Insgesamt führt al Shabaab aber weiterhin einen Guerillakrieg (USDOS 2.6.2022, Sitzung 5) mit gewalttätigen, extremistischen Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Sie ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte hit-and-run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen (UNSC 6.10.2021). Insgesamt verfolgt al Shabaab eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab kann sich – frei nach Mao Zedong – als Guerilla innerhalb der Bevölkerung wie ein Fisch im Wasser bewegen. In Mogadischu oder anderen Gebieten unter Regierungskontrolle geschieht dies durch eine Mischung aus Einschüchterung und Anonymität (Sahan 20.7.2022).

Da al Shabaab an den Fronten an Boden verliert, hat die Gruppe ihre terroristischen Aktivitäten verstärkt. Dadurch soll suggeriert werden, dass die Gruppe jederzeit an jedem Ort zuschlagen kann (Sahan 14.12.2022; vergleiche AQ12 10.2022). Beim Einsatz von improvisierten Sprengsätzen ist hinsichtlich der Anzahl in den letzten Jahren keine Veränderung eingetreten. Allerdings sind die Opferzahlen seit 2020 stetig nach oben gegangen. Im Jahr 2020 wurden 501 Somali durch improvisierte Sprengsätze getötet; 2021 waren es 669; und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gab es mindestens 855 Opfer (UNSC 10.10.2022, Absatz 10,). Daher war 2022 hinsichtlich der Opferzahlen ein sehr blutiges Jahr. Al Shabaab eskalierte Anschläge und komplexe Attentate - etwa in Belet Weyne und Mogadischu, weil die Gruppe etwa in Hiiraan und angrenzenden Gebieten zunehmend unter Druck geraten ist. Die Gruppe wollte mit größeren Gewalttaten zeigen, dass sie immer noch dazu in der Lage ist. Es handelte sich um Racheangriffe auf zivile Ziele, um den politischen Willen und die öffentliche Unterstützung für die Regierungsoffensive zu unterminieren (GN 5.11.2022). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, aber auch Hotels, Märkte und andere öffentliche Einrichtungen (AA 17.5.2022).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab (AA 28.6.2022, Sitzung 20; vergleiche AA 17.5.2022; ÖB 11.2022, Sitzung 21). Die Kriegsführung von al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn (JF 28.7.2020). Generell sind insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle betroffen (AA 28.6.2022, Sitzung 20). Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Im zweiten Halbjahr 2022 rebellierten in Hiiraan und Galmudug mehrere Clans gegen al Shabaab, es kam und kommt zu direkten Auseinandersetzungen (Sahan 26.9.2022).

Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖB 11.2022, Sitzung 2). Während ATMIS und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen. Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 5f). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 28.6.2022, Sitzung 5). In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss (BMLV 9.2.2023; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 12). Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß (BMLV 9.2.2023). Das "urban island scenario" besteht also weiterhin. Viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben (BMLV 9.2.2023; vergleiche WZ 29.12.2021). Und selbst in den Orten und Städten wird die Regierung von Rebellen unterwandert (WZ 29.12.2021). Gebessert hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle, wo auch Bewegungen zwischen den Orten möglich sind (BMLV 9.2.2023). In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen (UNSC 6.10.2021). Gleichzeitig erhöht al Shabaab mit der Einnahme von Wegzöllen das eigene Budget (HIPS 8.2.2022, Sitzung 6). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 13.1.2022).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind

1.       das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2.       Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3.       größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4.       Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5.       der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor; sowie Rab Dhuure;

6.       Gebiete rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7.       sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit der Stadt Ceel Buur (PGN 23.1.2023).

In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden – insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch ATMIS und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i. d. R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Galcad am 20.1.2023 - einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab hat sich – in begrenztem Ausmaß – fähig gezeigt, Territorien, die bereits durch die Nationale Armee und ATMIS befreit wurden, wieder zurückzuerobern. In der Vergangenheit war das Scheitern, eroberte Territorien erfolgreich zu halten, mit dem Mangel an Polizeipräsenz in den eroberten Gebieten und der allgemein schlechten Moral in der Nationalen Armee verbunden, die auf sehr geringe und oftmals verzögerte Besoldung zurückzuführen war (ÖB 11.2022, Sitzung 9).

Andere Akteure: Über drei Jahrzehnte gewaltsamer Konflikte haben die sozialen Brüche größer werden lassen. Kämpfe zwischen Clanmilizen und gewaltsame Auseinandersetzungen in Bundesstaaten und zwischen Bundesstaaten und der Bundesregierung kennzeichnen den anhaltenden Konflikt um Macht und Ressourcen (BS 2022, Sitzung 34). Kämpfe zwischen Clans und Subclans, insbesondere um Wasser- und Landressourcen sind weit verbreitet, insbesondere in den Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle bzw. in Regionen, in denen die Regierung oder staatliche Behörden schwach oder nicht vorhanden sind (ÖB 11.2022, Sitzung 11). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 17.5.2022) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie ASWJ (AA 28.6.2022, Sitzung 20). Solche Kämpfe zwischen (Sub-)Clans - vorrangig um Land und Wasser, aber auch um Macht - haben im Jahr 2021 zugenommen. Bei Zusammenstößen in Galmudug, Jubaland und dem SWS kam es dabei zu Toten und massiven Vertreibungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 4f). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15). Generell sind Clan-Auseinandersetzungen üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer - generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter - Gewalt verbunden sein (BMLV 9.2.2023).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub („Carjacking“), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (AA 17.5.2022).

Im Zeitraum Feber-Mai 2022 verübte der Islamische Staat in Somalia (ISIS) zwei Sprengstoffanschläge auf einen Polizisten und einen Beamten sowie einen Handgranatenanschlag auf einen Checkpoint der Polizei. Alle diese Vorfälle, bei denen zwei Zivilisten und drei Angehörige der Sicherheitskräfte verletzt wurden, ereigneten sich in Mogadischu (UNSC 13.5.2022, Absatz 21,). Im Zeitraum Mai-August 2022 verübte der ISIS einen Anschlag in Mogadischu, drei Polizisten wurden dabei verletzt (UNSC 1.9.2022, Absatz 22,). Nach Einschätzung der Expertengruppe der Vereinten Nationen kann der ISIS lediglich in Puntland eingeschränkt operieren (UNSC 10.10.2022, Absatz 31,).

Zivile Opfer: Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten (HRW 13.1.2022). Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an (C4 15.6.2022). Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu ATMIS und somalischen Sicherheitskräften (AA 28.6.2022, Sitzung 6). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (BMLV 9.2.2023).

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von ATMIS bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28 % der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20 % (Sahan 6.4.2021a).

Von der UN werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) wie folgt angegeben:

[ … ]

Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 17 Millionen Einwohnern (IPC 13.12.2022) lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:12.117 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen].

Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v.a. durch die USA: 2017 waren es 35, 2018 47, 2019 63, 2020 51 (HIPS 2021, Sitzung 21), 2021 11 (HRW 13.1.2022) und 2022 15 (BMLV 9.2.2023). Bei Luftangriffen auf al Shabaab und den ISIS sind zwischen 2017 und 2021 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden (HIPS 2021, Sitzung 21). Auch Kenia führt nach wie vor Luftschläge in Somalia durch, z. B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (GN 22.6.2022); und es kommt auch zu äthiopischen Luftangriffen (VOA 8.8.2022), z. B. am 30.7.2022 in der Region Bakool (SG 31.7.2022). Nach Angaben somalischer Armeevertreter sind nunmehr auch türkische Drohnen bei den Operationen gegen al Shabaab in Lower und Middle Shabelle zum Einsatz gekommen (VOA 30.11.2022).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (17.5.2022): Somalia - Reise- und Sicherheitshinweise – Reisewarnung, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/somalia-node/somaliasicherheit/203132#content_1, Zugriff 17.5.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        AQ12 - Anonyme Quelle 10 (10.2022): Bei der Quelle handelt es sich um einen analytischen Newsletter

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

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        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (12.10.2022): A worrying turn in Somalia’s ‘war on terror’, in: The Somali Wire Issue No. 462, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (26.9.2022): The promise and the peril of the Ma’awiisley, part 2: planning for peace, in: The Somali Wire Issue No. 456, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (23.9.2022): The promise and the peril of the Ma’awiisley, in: The Somali Wire Issue No. 455, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (20.7.2022): A blueprint for the fight against Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 428, per e-Mail

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        Sahan - Sahan / Ahmed Abdullahi Sheikh (14.7.2021): Editor’s Pick – Bad Blood between Brothers in Arms, in: The Somali Wire Issue No. 184, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Matt Bryden (6.4.2021a): Editor’s Pick – Measuring Somalia’s IED Problem, in: The Somali Wire Issue No. 116, per e-Mail

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        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

        VOA - Voice of America / Harun Maruf (15.12.2022): Somali Government Says al-Shabab römisch eins s Deliberately Displacing Civilians, https://www.voanews.com/a/somali-government-says-al-shabab-is-deliberately-displacing-civilians/6878887.html, Zugriff 20.12.2022

        VOA - Voice of America / Harun Maruf (30.11.2022): Somalia Military Rebuilding Shows Signs of Improvement, https://www.voanews.com/a/somalia-military-rebuilding-shows-signs-of-improvement/6856894.html, Zugriff 15.12.2022

        VOA - Voice of America / Mohamed Dhaysane (8.8.2022): Ethiopia Deploys New Troops into Neighboring Somalia, https://www.voanews.com/a/ethiopia-deploys-new-troops-into-neighboring-somalia-/6693095.html, Zugriff 13.9.2022

        WZ - Wiener Zeitung (29.12.2021): Sezessionisten, Islamisten und eine streitende Regierung, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2132800-Somalia-zwischen-Sezessionisten-Islamisten-und-streitender-Regierung.html, Zugriff 27.6.2022

Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba)

Letzte Änderung 2023-03-15 14:08

Al Shabaab kontrolliert größere Teile von Jubaland, nämlich nicht nur die gesamte Region Middle Juba, sondern auch einen Teil von Lower Juba und Teile von Gedo. Dahingegen ist die Regierung von Jubaland auf Teile von Lower Juba - darunter Kismayo - beschränkt (PGN 23.1.2023).

Jubaland nahm mit Anfang Feber 2023 den Kampf gegen al Shabaab wieder auf. Derzeit konzentrieren sich die Operationen auf den Unterlauf des Juba-Flusses. Laut Präsident Madobe ist die Einnahme von Buale das Ziel Jubalands (BMLV 9.2.2023).

Lower Juba: Die Region steht unter Kontrolle von ATMIS, kenianischer Armee, Kräften von Jubaland; und al Shabaab. Die Städte Kismayo, Afmadow und Dhobley sowie die Orte Tabta, Dif, Koday und Kolbiyow werden von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert. Jamaame steht unter Kontrolle von al Shabaab; dies gilt auch für den nördlichen Teil Lower Jubas. Auch Badhaade und das Umland in Richtung Norden werden von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023). Dhobley ist relativ frei von al Shabaab und wird als sicher erachtet. Die Städte Kismayo, Afmadow und Dhobley sowie der Ort Bilis Qooqaani können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 9.2.2023).

In Kismayo selbst wird versucht, Clanstreitigkeiten friedlich zu lösen. Die Bevölkerung hat verstanden, dass sie von einer Friedensdividende profitiert (BMLV 9.2.2023). Es gibt ein funktionierendes Gerichtssystem (Majid 26.3.2021), die Regierung gilt als relativ stabil (BMLV 9.2.2023; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 31). Ihr ist es zudem gelungen, eine Verwaltung zu etablieren. Diese ist gefestigt und funktioniert (BMLV 9.2.2023). Die Stadt gilt als friedlich (BMLV 9.2.2023; vergleiche Majid 26.3.2021) bzw. sicher (AJ 14.9.2022a). Regierungskräfte kontrollieren Kismayo, es gibt ausreichend Sicherheitskräfte. Der Aufbau von Polizei und Justiz wurde und wird international unterstützt. Die Polizei wurde in den letzten Jahren von AMISOM bzw. ATMIS, Kenia und UN ausgebildet, sie hat ein relativ gutes Ausbildungsniveau erreicht. Es gibt eine klare Trennung zwischen Polizei und anderen bewaffneten Kräften. Das verhängte Waffentrageverbot in der Stadt wird umgesetzt, die Kriminalität ist auf niedrigem Niveau, es gibt kaum Meldungen über Morde. Folglich lässt sich sagen, dass die Polizei in Kismayo entsprechend gut funktioniert. Zivilisten können sich in Kismayo frei und relativ sicher bewegen. Hinsichtlich Sicherheit hat Kismayo das Niveau von Garoowe (Puntland) erreicht. Der einzige Unterschied ist, dass die Front hier erheblich näher ist. Das letzte auffällige Ereignis hinsichtlich der Sicherheitslage in Kismayo war die Unruhe rund um die Wiederwahl von Präsident Madobe im Jahr 2019 (BMLV 9.2.2023).

Die Sicherheitskräfte in Kismayo bauen auch auf Informationen aus der Bevölkerung. Die Bedrohungslage durch al Shabaab in der Stadt wurde reduziert (NMG 25.10.2022; vergleiche Majid 26.3.2021). Durch die fähige nachrichtendienstliche und Sicherheitsstruktur wurde auch die Kriminalität eingeschränkt (Majid 26.3.2021). Al Shabaab ist trotzdem in und um Kismayo aktiv (HIPS 8.2.2022, Sitzung 23) - aber nur sehr eingeschränkt. Al Shabaab hat keinen großen Einfluss in der Stadt. Dies beweist auch, dass die Kooperation zwischen Polizei und Bevölkerung funktioniert (BMLV 9.2.2023; vergleiche Majid 26.3.2021). Aus dem Umfeld von Kismayo im Radius von ca. 30 km wurde al Shabaab abgedrängt (BMLV 9.2.2023; vergleiche PGN 23.1.2023). So ist al Shabaab zumindest nicht mehr in der Lage, entlang des Juba in Richtung Kismayo vorzustoßen. Anschläge durch al Shabaab in Kismayo sind zur Seltenheit geworden (BMLV 9.2.2023). Zudem weigerten sich laut einer Studie aus dem Jahr 2020 damals rund ein Drittel der Wirtschaftstreibenden in Kismayo, Steuern an al Shabaab abzuführen. Dies weist auf einen besseren Schutz bzw. auf eine geringere Dichte an Straforganen der al Shabaab hin (HI 10.2020, Sitzung 2).

Die Bevölkerung der Stadt ist in kurzer Zeit um 30 % auf ca. 300.000 (Stand 2018) gewachsen. Viele der Zuzügler stammen aus dem Umland oder kamen aus Kenia oder der weltweiten Diaspora nach Kismayo zurück (FIS 5.10.2018, Sitzung 20f). Die Regierung von Jubaland hat es geschafft, die Stadt für alle ehemaligen Einwohner zugänglich zu machen - und zwar aus zahlreichen vormals streitenden Clans. Gleichzeitig wurde aber das Risiko von Clankämpfen reduziert (Majid 26.3.2021). Präsident Madobe setzt sich auch außerhalb von Kismayo für Vermittlungen zwischen Clans ein. So etwa im Gebiet von Dif, wo es im Juni 2022 zu Auseinandersetzungen gekommen ist (RK 27.6.2022). Zur Bekräftigung der Vermittlungsversuche wurden dorthin auch Darawish-Truppen entsandt (MM 8.6.2022).

Middle Juba: Die ganze Region und alle Bezirkshauptstädte (Buale, Jilib, Saakow) stehen unter Kontrolle der al Shabaab (PGN 23.1.2023; vergleiche HIPS 8.2.2022, Sitzung 23). Jilib ist de facto die Hauptstadt der Gruppe (C4 15.6.2022; vergleiche CFR 19.5.2021).

Gedo: Die Städte Baardheere, Belet Xaawo, Doolow, Luuq und Garbahaarey sowie die Orte Ceel Waaq und Buurdhuubo werden von Regierungskräften und ATMIS kontrolliert. Die Orte und das Umland von Ceel Cadde und Qws Qurun befinden sich unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 23.1.2023). Die Städte Luuq, Garbahaarey, Doolow und Baardheere können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Die Grenzstadt Doolow sowie Luuq werden als sicher erachtet. Diese Städte und das direkte Grenzgebiet zu Äthiopien sind relativ frei von al Shabaab und stabil. Auch Garbahaarey gilt als stabil. Ceel Waaq wird – als einziger Teil von Gedo – von Sicherheitskräften Jubalands und kenianischen Truppen kontrolliert (BMLV 9.2.2023).

Unter der Regierung von Präsident Farmaajo war Gedo das Zentrum einer politischen und Sicherheitskrise. Vor allem ab 2019 hatte sich die Situation verschlechtert. De facto handelte es sich um einen Stellvertreterkonflikt zwischen Jubaland und der Bundesregierung (Sahan 31.5.2022). Im Jahr 2020 wurde in Gedo eine neue, zur Bundesregierung loyale Verwaltung installiert (HIPS 2021, Sitzung 8). Unter Präsident Hassan Sheikh Mohamed hat sich die Lage in Gedo hinsichtlich des Konflikts zwischen Jubaland und der Bundesregierung beruhigt. Mit Bezug auf al Shabaab gibt es seit 2021 keine wesentlichen Veränderungen. Die Gruppe nutzt die von ihr in Gedo gehaltenen Gebiete v.a. als Ausgangsbasis für Angriffe in Kenia (BMLV 9.2.2023).

Vorfälle: In den Regionen Lower Juba (1,038.602), Middle Juba (366.851) und Gedo (938.249) leben nach Angaben einer Quelle 2,343.702 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2021 insgesamt 34 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie violence against civilians). Bei 20 dieser 34 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2022 waren es 21 derartige Vorfälle (davon 12 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und "Violence against Civilians" ergeben sich für 2022 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Lower Juba 0,67; Gedo 1,07; Middle Juba 1,09;

In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2022 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie violence against civilians, in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:

[ … ]

ACLED 2023 (und Vorgängerversionen)

Quellen:

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

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        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

        C4 - Channel 4 / Osman, Jamal (15.6.2022): Inside Al Shabaab: The extremist group trying to seize Somalia (Video), https://www.channel4.com/news/inside-al-shabaab-the-extremist-group-trying-to-seize-somalia, Zugriff 29.6.2022

        CFR - Council on Foreign Relations / Cheatham, A. / Felter, Claire / Laub, Z. (19.5.2021): Backgrounder – Al-Shabab, https://www.cfr.org/backgrounder/al-shabab, Zugriff 9.6.2022

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        HI - Hiraal Institute (10.2020): A Losing Game: Countering Al-Shabab’s Financial System, https://hiraalinstitute.org/wp-content/uploads/2020/10/A-Losing-Game.pdf, Zugriff 15.6.2022

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        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (31.5.2022): Editor’s Pick – A way forward for the Gedo region, in: The Somali Wire Issue No. 396, per e-Mail

Al Shabaab

Letzte Änderung: 17.03.2023

Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz (AA 28.6.2022, Sitzung 5; vergleiche SPC 9.2.2022). Die Gruppe erkennt die Bundesregierung nicht als legitime Regierung Somalias an (UNSC 10.10.2022, Absatz 5,) und lehnt die gesamte politische Ordnung Somalias, die sie als un-islamisch bezeichnet, ab (Sahan 20.7.2022). Al Shabaab war mit Stand August 2022 stärker und besser entwickelt als im Jahr 2012 (BBC 24.8.2022). Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen (TNH 20.5.2021). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias (BMLV 9.2.2023; vergleiche BBC 18.1.2021) bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" (USDOS 2.6.2022, Sitzung 6) und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia (CFR 19.5.2021). Al Shabaab ist eine tief eingegrabene, mafiöse Organisation, die in fast allen Facetten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik integriert ist (GITOC 8.12.2022). Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah (UNSC 10.10.2022, Absatz 5,).

Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (BMLV 9.2.2023).

Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z. B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 7; vergleiche FP 22.9.2021). römisch fünf. a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben (FP 22.9.2021). Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (BS 2022, Sitzung 10). [Zur Gerichtsbarkeit der al Shabaab siehe auch das Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen (6.1)]

Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen (BS 2022, Sitzung 10). Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten (HO 12.9.2021). Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung (ICG 27.6.2019, Sitzung 1). Durch das Anbieten öffentlicher Dienste - v. a. hinsichtlich Sicherheit und Justiz - genießt al Shabaab in einigen Gebieten ein gewisses Maß an Legitimität (GITOC 8.12.2022). Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei (GITOC 8.12.2022; vergleiche UNSC 6.10.2021). Offensichtlich führt al Shabaab auch eine Art Volkszählung durch. Auf den diesbezüglich bekannten Formularen müssen u. a. Clan und Subclan, Zahl an Kindern in und außerhalb Somalias, Quelle des Haushaltseinkommens und der Empfang von Remissen angegeben werden (UNSC 10.10.2022, Sitzung 45). Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 28.6.2022, Sitzung 5/19).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität (BMLV 9.2.2023; vergleiche JF 18.6.2021). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 9.2.2023).

Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung (Bryden 8.11.2021). Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (C4 15.6.2022).

Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiter bestehen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 29). Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen (SPC 9.2.2022). Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattetLletztere mit z. B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (UNSC 6.10.2021).

Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft (Sahan 30.6.2022). Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 13). Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (FIS 7.8.2020, Sitzung 15f).

Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und ATMIS bzw. AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk (Maruf 14.11.2018). Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer (VOA 17.5.2022). Eine andere Quelle berichtet im Juli 2022 von einer Stärke von 7.000-12.000 Mann (Sahan 4.11.2022); eine weitere Quelle bestätigt diese Zahl (BMLV 9.2.2023). Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln (WP 31.8.2019). Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen ATMIS manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyat über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 9.2.2023). Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann (BBC 27.5.2019). Der Amniyat ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyat ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig (JF 18.6.2021). Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen (UNSC 6.10.2021). Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (Maruf 14.11.2018).

Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und - in sehr geringem Maße - Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und - in sehr geringem Maße - Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 23.1.2023).

Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 8). Gemäß einer Quelle verfügt al Shabaab bei Clans über Verbindungsleute (Kilmurry 1.4.2022); laut einer anderen Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (LI 21.5.2019a, Sitzung 3). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (BMLV 9.2.2023). Al Shabaab funktioniert in nahezu ganz Südsomalia als Schattenregierung bzw. -Verwaltung (GITOC 8.12.2022; vergleiche FP 22.9.2021). "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt"; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 8). In Gebieten, die an von der Regierung kontrollierte und von al Shabaab unter Blockade gestellte Städte grenzen, hat die Gruppe strenge Regeln hinsichtlich ökonomischer und beruflicher Tätigkeiten eingeführt. Al Shabaab setzt diese mit Drohungen und Gewalt durch und bestraft jene, die diese Regeln brechen (UNSC 10.10.2022, Absatz 117,).

Kapazitäten: Die Kämpfe der letzten Monate haben bei al Shabaab erhebliche Spuren hinterlassen. Die Angaben der Bundesregierung von angeblich 2.000 getöteten Kämpfern von al Shabaab seit Juni 2022 müssen allerdings angezweifelt werden und sind vermutlich doppelt so hoch angesetzt wie tatsächlich gegeben (BMLV 9.2.2023). Jedenfalls verfügt al Shabaab weiterhin über die Kapazität und die Präsenz, um in fast allen Teilen Somalias – auch in Mogadischu – Operationen durchführen zu können. Dabei geht die Einflusssphäre der Gruppe über jene Gebiete, die sie tatsächlich unter Kontrolle hat, hinaus (UNSC 10.10.2022, Absatz 8,). Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z. B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 9).

Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Kapitel "Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen"]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem (BS 2022, Sitzung 10), dort wird alles und jeder besteuert (HI 10.2020, Sitzung 2f; vergleiche BBC 18.1.2021). Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022, Sitzung 10). Mit Steuereinnahmen kann al Shabaab genug Geld generieren, um die Rebellion auch hinkünftig aufrechterhalten zu können (UNSC 6.10.2021). Schätzungen von Experten zufolge nimmt al Shabaab alleine an Checkpoints pro Jahr mehr als 100 Millionen US-Dollar ein (GITOC 8.12.2022).

Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen (UNSC 6.10.2021). Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen (Bryden 8.11.2021). In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (HI 10.2020, Sitzung 1ff). Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat (FDD 11.8.2021). Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel (FIS 7.8.2020, Sitzung 18).

Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen US-Dollar generieren (VOA 17.5.2022). Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh (BS 2022, Sitzung 10; vergleiche UNSC 6.10.2021); sowie auf manche Dienstleistungen (HIPS 2020, Sitzung 13). Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 10.2020, Sitzung 6f). Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (WP 31.8.2019).

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        WP - The Washington Post (31.8.2019): ‘If römisch eins don’t pay, they kill me’: Al-Shabab tightens grip on Somalia with growing tax racket, https://www.washingtonpost.com/world/africa/if-i-dont-pay-they-kill-me-al-shabab-tightens-its-grip-on-somalia-with-growing-tax-racket/2019/08/30/81472b38-beac-11e9-a8b0-7ed8a0d5dc5d_story.html, Zugriff 6.7.2022

Rechtsschutz, Justizwesen

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 17.03.2023

Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden (AA 28.6.2022, Sitzung 5). Der Hauptgrund, weswegen Menschen Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen, ist es, dass die Regierung Einzelpersonen und Betriebe nicht ausreichend Sicherheit bieten kann (UNSC 10.10.2022, Absatz 46,). Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61).

Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia) (AA 17.5.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 16; USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtssprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen (BS 2022, Sitzung 9). Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (HIPS 3.2021, Sitzung 13; vergleiche LI 16.6.2021, Sitzung 2; SPC 9.2.2022).

Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 11f), und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene. Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit (BS 2022, Sitzung 16). Diese wird von al Shabaab etwa durch die Einhebung von Steuern und die Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte untergraben. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen (HI 10.2020, Sitzung 9f). Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (ÖB 11.2022, Sitzung 10f).

Formelle Justiz - Kapazität, Qualität, Unabhängigkeit: Eine landesweite Implementierung und einheitliche Anwendung der von der somalischen Bundesregierung vorgegebenen Bestimmungen ist nicht gesichert (AA 17.5.2022). Den meisten staatlichen Gerichten mangelt es an Durchsetzbarkeit, manchmal werden Urteile gänzlich ignoriert – ohne Konsequenzen (Sahan 21.11.2022). Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 36). De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61). Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten (LI 16.6.2021, Sitzung 2). In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet (BS 2022, Sitzung 16). Es gibt nur wenige staatliche Gerichte, Menschen müssen oft weite Reisen in Kauf nehmen (Sahan 21.11.2022). Generell sind Gerichte nur in größeren Städten verfügbar (BS 2022, Sitzung 9; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 11). Der Verfassungsgerichtshof ist immer noch nicht eingerichtet worden (HIPS 3.2021, Sitzung 10).

Bestehende Gerichte verfügen oft nicht über eine ausreichende Infrastruktur, es mangelt an Standorten, Richtern und relevanter Technologie. Gleichzeitig kosten Verfahren bis zu 5.000 US-Dollar und diese können sich über Jahre hinziehen (Sahan 21.11.2022; vergleiche AJ 14.9.2022b). An allen Gerichten mangelt es dem Personal an Ausbildung (BS 2022, Sitzung 17; vergleiche LIFOS 1.7.2019, Sitzung 4). Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt (SIDRA 11.2019, Sitzung 5). Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes (AA 28.6.2022, Sitzung 4). Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt (FH 2022a, F1). Die meisten der in der Verfassung vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nicht angewendet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12f). Nationales oder internationales Recht werden bei Fest- oder Ingewahrsamnahme sowie beim Vorgerichtstellen von Tatverdächtigen nur selten eingehalten (AA 28.6.2022, Sitzung 10/15; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 12f).

In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt (AA 28.6.2022, Sitzung 8), und nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11). Das Clansystem unterminiert die Strafjustiz. Clanführer üben Macht und Einfluss aus (Sahan 16.9.2022; vergleiche Sahan 21.11.2022), und Urteile werden mitunter durch Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst (BS 2022, Sitzung 17; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 11; FH 2022a, F2). Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11).

Zudem spielt in der somalischen Justiz Korruption eine Rolle (Sahan 21.11.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 17; FH 2022a, F1). Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder (SIDRA 11.2019, Sitzung 5). In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 9; vergleiche SIDRA 11.2019, Sitzung 5). Zusätzlich halten sich Behörden oft selbst nicht an gerichtliche Anordnungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 11; vergleiche FH 2022a, F1). In anderen Worten ist [Zitat] 'die somalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden' (Sahan 9.4.2021). Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen (BS 2022, Sitzung 16). Insgesamt stehen Zivilisten also ernsten Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). In der Bevölkerung herrscht die Auffassung, dass Bundes- und Regionalregierungen bislang daran scheitern, Recht zu sprechen (AJ 14.9.2022b). Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (FH 2022a, F1).

UNODC leistet Weiterbildung für Staatsanwälte und Richter in Mogadischu (FTL 24.7.2022), und auch UNSOM trägt zur Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten bei (UNSC 1.9.2022, Absatz 71 f, f,). In Mogadischu konnten hinsichtlich der Qualität der Richter Verbesserungen beobachtet werden (Majid 26.3.2021). Seit 2016 ist es zu einer signifikanten Ausweitung von unentgeltlicher Rechtshilfe gekommen, allerdings ist das Ausmaß immer noch unzureichend (UNOHCHR 25.11.2022). UNDP unterstützt in Puntland seit 2007 das Puntland Legal Aid Centre (PLAC). Dieses hilft vulnerablen, armen und benachteiligten Menschen in IDP-Lagern und entlegenen Gegenden. Das PLAC hat Büros in Garoowe, Bossaso und Galkacyo (UNSOM 12.11.2022).

Beispiel Kismayo: In dieser Stadt gibt es zwei Bezirksgerichte, ein Obergericht und ein Berufungsgericht. Zudem existieren ein Ältestenkomitee, wohin Streitigkeiten getragen werden können (Xeer) und private Schariagerichte. Die drei Justizsysteme koordinieren sich unter dem Schirm der formellen Gerichte, endgültige Entscheidungen werden von diesen getroffen. Abseits davon wurde ein spezielles Land-Komitee geschaffen, das sich mit komplexen und sensiblen Streitigkeiten um Land befasst. Dieses Komitee verfügt über eine eigene Polizeieinheit, um Beschlüsse durchzusetzen (Majid 26.3.2021).

Formelle Justiz - Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig (BS 2022, Sitzung 16). Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen (AA 28.6.2022, Sitzung 9; vergleiche BS 2022, Sitzung 16; FH 2022a, F2; UNOHCHR 25.11.2022), bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3). Nach anderen Angaben widerspricht der Einsatz von Militärgerichten oftmals der Übergangsverfassung (Sahan 16.9.2022). Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren (AA 28.6.2022, Sitzung 9; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; HRW 13.1.2022; FH 2022a, F2: UNOHCHR 25.11.2022). Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 13; vergleiche UNOHCHR 25.11.2022). Laut einem Bericht über ein von einem Militärgericht gegen einen Soldaten ausgesprochenen Todesurteil wurde diesem ein Monat Berufungsfrist eingeräumt (HO 4.12.2022).

Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61; vergleiche SPC 9.2.2022). Durch Älteste und al Shabaab werden selbst in Mogadischu mehr Fälle abgewickelt als durch formelle Gerichte (Majid 26.3.2021). Auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist Xeer von Bedeutung (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 61; vergleiche SPC 9.2.2022). Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung eine Policy zu traditioneller Konfliktlösung verabschiedet. Damit sollte die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert (USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Jedenfalls können etwa Mordfälle von Ältesten im Xeer abgehandelt werden, oft enden die Verhandlungen mit einer finanziellen Kompensation (Diya/Mag). Dieses System verhindert zwar oft weiteres Blutvergießen, führt aber gleichzeitig zu Straflosigkeit und unterminiert die Strafjustiz (Sahan 16.9.2022).

Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert (BS 2022, Sitzung 16). Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen (USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Jedenfalls dient diese Art der Justiz im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12). Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet (SEM 31.5.2017, Sitzung 34). Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität (BFA 8.2017, Sitzung 100). Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück (LIFOS 9.4.2019, Sitzung 7), in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 4). Es ist möglich, sich selbst bei schweren Verbrechen (Mord, Vergewaltigung) und nach einer Verurteilung durch ein staatliches Gericht im Rahmen des traditionellen Rechts freizukaufen bzw. die Strafe durch Kompensation zu tilgen (AE 7.9.2022). Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).

Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen (SEM 31.5.2017, Sitzung 8ff). Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan (FIS 7.8.2020, Sitzung 20). Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (SEM 31.5.2017, Sitzung 8ff).

Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14). Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt (SEM 31.5.2017, Sitzung 36). Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (GIGA 3.7.2018).

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle (SEM 31.5.2017, Sitzung 8; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 11), denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden (SEM 31.5.2017, Sitzung 35). Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 31).

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler (LI 15.5.2018, Sitzung 3). Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen (SPC 9.2.2022). Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren (SEM 31.5.2017, Sitzung 35). Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 12). Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv (UNHRC 6.9.2017, Absatz 60,). Zusammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z.B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (SEM 31.5.2017, Sitzung 32).

In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält (DW 3.2021). Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (Majid 2017, Sitzung 18).

Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 37). Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird (SEM 31.5.2017, Sitzung 34). Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen (BS 2022, Sitzung 16f). Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 32).

Recht bei al Shabaab: In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab verfügt die Gruppe über das Gewaltmonopol – auch hinsichtlich der Durchsetzung von Gerichtsurteilen, denen mit Drohungen und Gewalt Nachdruck verliehen wird (Sahan 21.11.2022). Außerdem wird dort das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt (AA 28.6.2022, Sitzung 8). Al Shabaab hat in den eigenen Gebieten eine drakonische Interpretation der Scharia eingeführt (Sahan 21.11.2022; vergleiche AA 17.5.2022). Diese ersetzt auch Xeer (SEM 31.5.2017, Sitzung 33; ÖB 11.2022, Sitzung 4); nach anderen Angaben kommt Xeer fallweise zum Einsatz (USDOS 2.6.2022, Sitzung 3). Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem (USDOS 12.4.2022, Sitzung 13). Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (SEM 31.5.2017, Sitzung 33f), es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LI 21.5.2019a, Sitzung 3). Angehörige von Minderheiten erhalten bei Gerichten von al Shabaab eher Gerechtigkeit (Sahan 21.11.2022).

Al Shabaab hat eigene Gerichte geschaffen, die v. a. über Land- und Vertragsstreitigkeiten entscheiden, mitunter aber auch in Zivil- und Strafrechtsfällen (Sahan 21.11.2022; vergleiche VOA 17.8.2022; SG 16.8.2022). Neben zahlreichen permanenten Gerichten kommen auch mobile Gerichte in von der Regierung kontrollierten Gebieten zum Einsatz (Sahan 21.11.2022; vergleiche AJ 14.9.2022b). Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch (BS 2022, Sitzung 10). In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch (AA 28.6.2022, Sitzung 16; vergleiche Sahan 21.11.2022; AJ 14.9.2022b).

Die Gerichte von al Shabaab werden als gut effizient, effektiv, weniger oder nicht korrupt, schnell und im Vergleich fairer bzw. unparteiischer (auch von Claneinflüssen) beschrieben (Sahan 21.11.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 17; AA 28.6.2022, Sitzung 8) – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung (FIS 7.8.2020, Sitzung 16). Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden (HI 10.2020, Sitzung 7). Die Prozesse bei al Shabaab sind rasch beendet. Manchmal revidieren Gerichte der Gruppe auch Urteile formeller Gerichte (AJ 14.9.2022b). Über die Jahre haben diese Gerichte einiges an Popularität und Akzeptanz in der Bevölkerung gewonnen – selbst in einigen von der Regierung kontrollierten Gebieten und bei einigen Angehörigen der Diaspora. Die Gerichte werden u.a. als leistbar, leicht zugänglich und durchsetzbar wahrgenommen. Verfahren, die vor staatlichen Gerichten aufgrund des großen Rückstaus oft Monate oder Jahre dauern, werden dort innerhalb weniger Tage abgewickelt (Sahan 21.11.2022). Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt (HIPS 4.2021, Sitzung 22), bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – auch Personen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 16) und selbst Soldaten und Polizisten (SG 16.8.2022). So begeben sich z.B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen (FIS 7.8.2020, Sitzung 16; vergleiche LIFOS 1.7.2019, Sitzung 4). Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14). Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren (SRF 27.12.2021). So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen (UNSC 1.11.2019, Sitzung 14). Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt (FIS 7.8.2020, Sitzung 16). Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche HI 10.2020, Sitzung 10), mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (AA 28.6.2022, Sitzung 8; vergleiche VOA 17.8.2022). Gegen Urteile von Gerichten der al Shabaab kann Berufung eingelegt werden (AJ 14.9.2022b).

Die Bundesregierung möchte diesen Gerichten ein Ende setzen, um den Einfluss von al Shabaab zu reduzieren (Sahan 21.11.2022). Sicherheitskräfte haben damit begonnen, Menschen und Älteste, die sich an Gerichte der al Shabaab wenden bzw. mit der Gruppe kooperieren, zu verhaften (SD 26.9.2022).

Al Shabaab inhaftiert Personen für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7; vergleiche CFR 19.5.2021), den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes (CFR 19.5.2021), unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs (USDOS 12.4.2022, Sitzung 7). Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LI 20.12.2017, Sitzung 3).

Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage (AA 28.6.2022, Sitzung 16). Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 24).

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 8). Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (AA 28.6.2022, Sitzung 16).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (17.5.2022): Somalia – Reise- und Sicherheitshinweise – Reisewarnung, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/somalia-node/somaliasicherheit/203132#content_1, Zugriff 17.5.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

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Sicherheitsbehörden

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Ausländische Kräfte

Letzte Änderung: 17.03.2023

Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council (RVI 9.6.2022; vergleiche UNSC 13.5.2022, Absatz 62,) und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde (UNSC 13.5.2022, Absatz 62,). AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv (ISS 29.3.2022). Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024 (RVI 9.6.2022). Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr (UNSC 13.5.2022, Absatz 62,) und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident (RVI 9.6.2022; vergleiche ACLED 14.4.2022). Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (ATMIS 2022a).

Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten (RVI 9.6.2022; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 8; ISS 29.3.2022). ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 6). Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung (BBC 18.1.2021), die in großem Maße von den Kräften der ATMIS abhängig ist (BS 2022, Sitzung 4; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 9; BBC 18.1.2021).

ATMIS ist in fünf Sektoren geteilt: Sektor 1 (Mogadischu und Umland; Lower Shabelle / Uganda); Sektor 2 (Middle und Lower Juba / Kenia); Sektor 3 (Bakool, Bay und Gedo / Äthiopien); Sektor 4 (Hiiraan und Galgaduud / Dschibuti); Sektor 5 (Middle Shabelle / Burundi); Sektor 6 (Teile von Lower Juba und Lower Shabelle / Kenia und Äthiopien) (NMG 25.10.2022). ATMIS hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann (ATMIS 2022a; vergleiche ATMIS 2022b). Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM bzw. ATMIS über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert (BMLV 9.2.2023). Bis Ende 2022 war eigentlich ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (ATMIS 2022a). Der UN Sicherheitsrat hat im Dezember 2022 allerdings einem Aufschub dieses Teilabzugs zugestimmt, dieser wurde auf Ende Juni 2023 verschoben (Xinhua 22.12.2022). Danach soll ATMIS Stück für Stück abgezogen werden, die letzten 9.586 Mann dann Ende 2024 (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 8).

ATMIS wird maßgeblich von der EU finanziert (ÖB 11.2022, Sitzung 8; vergleiche NMG 25.10.2022; Halbeeg 7.7.2022). Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren (TET 7.7.2022; vergleiche Halbeeg 7.7.2022) während die UN für logistische Unterstützung sorgt (ISS 29.3.2022; vergleiche UNSC 1.9.2022, Absatz 82 f, f,). Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (BMLV 9.2.2023).

Im Land befindet sich auch eine auf 1.040 Polizisten mandatierte ATMIS-Polizeikomponente unterschiedlicher afrikanischer Teilnehmerstaaten (Uganda, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, Kenia und Sambia) (ATMIS 2022c). ATMIS bietet spezielle Ausbildung und Beratung für die somalische Polizei, unterstützt diese bei Patrouillen und beim Schutz relevanter Infrastruktur; und bei der Bekämpfung gewaltsamer Extremisten und im Falle sozialer Unruhen (ATMIS 14.7.2022). Außerdem sind die ATMIS-Polizisten hinsichtlich der strategischen Führung und der Erstellung von Policies von großer Bedeutung (NMG 25.10.2022).

Neben ATMIS sind in Somalia noch andere militärische Kräfte aus dem Ausland aktiv, u.a. TURKSOM (türkisches Ausbildungszentrum in Mogadischu); die Kapazitätsbildungsmission der EU; die britische Mission Tangham; und Truppen der USA (UNSC 10.10.2022, Absatz 98,). Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von ATMIS ausgestattet. Eine Quelle berichtet von geschätzten 3.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle berichtet von 2.000 äthiopischen Truppen, die nach einem Vorstoß von al Shabaab nach Äthiopien wieder verstärkt worden sind. Hunderte Soldaten wurden demnach in die Region Gedo entsandt (VOA 8.8.2022).

Zuvor abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle spricht von mehreren Tausend Mann - außerhalb des ATMIS-Kontingents Äthiopiens (VOA 20.7.2022). Damit ist die Liyu Police wieder verstärkt in Somalia aktiv (MM 3.8.2022). Liyu-Stützpunkte finden sich etwa in Yeed, Ato und Washaaqo. Die Liyu-Police dient den bilateral in Somalia befindlichen äthiopischen Streitkräften als Grenzschutz und zur Sicherung des Nachschubs (VOA 20.7.2022).

Die USA haben die Eliteeinheit Danaab ausgebildet (BBC 1.6.2022). Allerdings wurden die US-Truppen abgezogen, dieser Abzug war mit Mitte Jänner 2021 offiziell abgeschlossen (PGN 2.2021, Sitzung 12f). 2022 wurde die Entscheidung zum Abzug revidiert. Nun sollen wieder bis zu 500 Soldaten in Somalia stationiert werden (BBC 1.6.2022; vergleiche AQ10 5.2022), um somalische Truppen auszubilden, zu beraten und auszurüsten. Sie werden in Bali Doogle stationiert – samt Drohnen und Hubschraubern (AQ10 5.2022). Zusätzlich befinden sich im Land 50 Soldaten aus Großbritannien. Diese führen ein Trainingsprogramm für somalische Kräfte in Baidoa durch (BMLV 9.2.2023; vergleiche PGN 12.2021). Es gibt Hinweise darauf, dass die Türkei in Somalia auch über Kampfdrohnen verfügt (UNSC 10.10.2022, Absatz 96,), die auch gegen al Shabaab eingesetzt werden (VOA 30.11.2022).

Quellen:

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        RVI - Rift Valley Institute (9.6.2022): A Year in the Horn of Africa: Latest Developments in Ethiopia, Eritrea, Somalia, Somaliland and Djibouti, https://riftvalley.net/news/year-horn-africa-latest-developments-ethiopia-eritrea-somalia-somaliland-and-djibouti, Zugriff 15.7.2022

        TET - The European Times (7.7.2022): EU support to the African Union Mission in Somalia with €120 million, https://www.europeantimes.news/2022/07/eu-support-to-the-african-union-mission-in-somalia-with-e120-million/, Zugriff 15.7.2022

        UNSC - UN Security Council (10.10.2022): Letter dated 10 October 2022 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Letter dated 1 September 2022 from the Panel of Experts on Somalia addressed to the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia [S/2022/754], https://www.ecoi.net/en/file/local/2081261/N2263844.pdf, Zugriff 6.12.2022

        UNSC - UN Security Council (1.9.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/665], https://www.ecoi.net/en/file/local/2078696/N2257941.pdf, Zugriff 24.11.2022

        UNSC - UN Security Council (13.5.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/392], https://reliefweb.int/attachments/02e8f544-fa6f-47fe-80a1-6f7ee9d6c94e/N2233663.pdf, Zugriff 27.5.2022

        VOA - Voice of America / Harun Maruf (30.11.2022): Somalia Military Rebuilding Shows Signs of Improvement, https://www.voanews.com/a/somalia-military-rebuilding-shows-signs-of-improvement/6856894.html, Zugriff 15.12.2022

        VOA - Voice of America / Mohamed Dhaysane (8.8.2022): Ethiopia Deploys New Troops into Neighboring Somalia, https://www.voanews.com/a/ethiopia-deploys-new-troops-into-neighboring-somalia-/6693095.html, Zugriff 13.9.2022

        VOA - Voice of America / Harun Maruf (20.7.2022): Al-Shabab Attacks Somali Towns Close to Ethiopian Border, https://www.voanews.com/a/al-shabab-attacks-somali-towns-close-to-ethiopian-border-/6667670.html, Zugriff 13.9.2022

        Xinhua (22.12.2022): UN Security Council delays drawdown of AU transition mission in Somalia, https://english.news.cn/20221222/d1accc446e2b4b6f9b8be9dcb9b18d00/c.html#:~:text=UNITED%20NATIONS%2C%20Dec.%2021%20(,(ATMIS)%20for%20six%20months, Zugriff 5.1.2023

Somalische Kräfte

Letzte Änderung: 17.03.2023

Der Sicherheitssektor ist sehr relevant, 80 % der öffentlichen Stellen befinden sich in diesem Bereich, zwei Drittel der Staatsausgaben (AA 28.6.2022, Sitzung 9). - Nach anderen Angaben fließen jedenfalls mehr als die Hälfte dorthin (HIPS 4.2021, Sitzung 20). Der Sicherheitssektor präsentiert sich nach wie vor als Mischung aus Truppen auf Clanbasis und neuen, durch externe Akteure wie die Türkei ausgebildeten Verbänden (BMLV 9.2.2023). Die Gesamtzahl der Sicherheitskräfte wird 2021 mit ca. 40.000 angegeben (HIPS 4.2021, Sitzung 28). Nach anderen Angaben sind die Sicherheitskräfte unter der Regierung von Präsident Farmaajo mithilfe externer Unterstützung stark expandiert. Demnach hat Somalia mit 53.000 Mann auf Bundesebene und ca. 23.000 auf Ebene der Bundesstaaten mehr staatliches Sicherheitspersonal als notwendig und finanzierbar ist. Trotzdem ist die Aufnahme und Ausbildung weiterer 22.500 Soldaten in Planung (Sahan 29.6.2022).

Der Bundesregierung ist es nicht gelungen, das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen (BS 2022, Sitzung 6), obwohl in den vergangenen Jahren Milliarden an US-Dollar in die Ausbildung und Ausrüstung von tausenden Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeitern investiert worden sind. Trotzdem sind die Sicherheitskräfte Somalias auch nach 15 Jahren immer noch schwach und werden für politische Zwecke eingesetzt (HIPS 4.2021, Sitzung 4/8). Die Kräfte des Bundes werden als in „alarmierender Weise disfunktional“ beschrieben (Bryden 8.11.2021). Die somalischen Sicherheitskräfte sind jedenfalls noch zu schwach und schlecht organisiert, um selbstständig - ohne internationale Unterstützung - die Sicherheit im Land garantieren zu können (BMLV 9.2.2023; vergleiche SRF 27.12.2021).

Sie sind stark fragmentiert (AA 28.6.2022, Sitzung 10; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 4/8), für die militärische Organisation gibt es kein zentrales Kommando (HIPS 3.2021, Sitzung 16). Zudem sind die Sicherheitskräfte von al Shabaab unterwandert (BMLV 9.2.2023; vergleiche GO 25.3.2021; AQ10, 5.2022), und die Loyalität vieler Sicherheitskräfte liegt eher beim eigenen Clan bzw. der patrilinearen Abstammungsgruppe als beim Staat (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29). Zudem wurde der Sicherheitssektor unter dem ehemaligen Präsidenten Farmaajo darauf getrimmt, dass nicht al Shabaab bekämpft, sondern politische Rivalen unterdrückt werden konnten. Loyale und unterqualifizierte Personen wurden auf relevante Stellen gehoben, die Führung der Sicherheitskräfte politisiert (Sahan 29.6.2022). Seither hat sich die Koordination von Aktivitäten und Operationen des Sicherheitsapparats gebessert, wie die Operationen gegen al Shabaab in Zentralsomalia gezeigt haben (BMLV 9.2.2023).

Zivile Kontrolle, Verantwortlichkeit, Ansehen: Es mangelt an effektiver Kontrolle ziviler Behörden über die Sicherheitskräfte (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1) bzw. entziehen sich Aktionen der staatlichen Sicherheitskräfte oftmals der zivilen Kontrolle. Dies gilt insbesondere für die NISA. Gleichzeitig bekennt sich die Regierung zu ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen (AA 28.6.2022, Sitzung 21/9). Bei der Polizei wurde das Police Oversight Committee (POC) eingerichtet, das durch Polizisten begangenen Vergehen nachgehen soll (UNOHCHR 25.11.2022). Die justizielle Verantwortlichkeit einzelner Mitglieder der Sicherheitsorgane ist zumeist schwach bis inexistent (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Denn auch wenn die Regierung Schritte unternimmt, um öffentlich Bedienstete - v.a. Polizisten und Soldaten - zu bestrafen, bleibt Straflosigkeit die Norm (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Obwohl es eigene Militärgerichte gibt, bleiben Vergehen durch Armeeangehörige häufig ungeahndet (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Allerdings gibt es immer wieder Beispiele, wo Sicherheitskräfte zur Verantwortung gezogen werden [siehe Kapitel Folter].

Die Ausbildung im Menschenrechtsbereich wird zwar international unterstützt; es muss aber weiterhin davon ausgegangen werden, dass der Mehrzahl der regulären Kräfte die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns nur äußerst begrenzt bekannt sind. Dies gilt insbesondere für regierungsnahe Milizen (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Maßnahmen zur Verhinderung willkürlicher Verhaftungen werden weder von der Polizei noch von der NISA oder militärischen Institutionen beachtet. Zudem wird deren Arbeit von Korruption unterminiert (FH 2022a, F2). Da die Sicherheitskräfte gegenüber der Zivilbevölkerung oft auch als Gewalt- und nicht als Sicherheitsakteure auftreten (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29), genießen sie insgesamt keinen guten Ruf bei der Bevölkerung (AA 28.6.2022, Sitzung 10; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29).

Polizei: Die nationale Polizei untersteht dem Ministerium für innere Sicherheit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Neben der Bundespolizei führt jeder Bundesstaat eigene regionale Polizeikräfte. Die Kräfte sind jeweils dem Bundes- bzw. dem bundesstaatlichen Ministerium für innere Sicherheit unterstellt (SIDRA 12.2022, Sitzung 14). Die genaue Größe der somalischen Polizei ist unbekannt. Laut offiziellen Angaben stehen 11.000 Polizisten auf der Gehaltsliste des dafür zuständigen Ministeriums für innere Sicherheit. Die große Mehrheit dieser Polizisten versieht ihren Dienst in Mogadischu und Umgebung (HIPS 4.2021, Sitzung 7). Nach anderen Angaben umfasst die Polizei mittlerweile 37.000 Mann, wovon ungefähr die Hälfte der Bundespolizei zuzurechnen ist (Sahan 29.6.2022).

Weitere verfügbare Zahlen hierzu [inkl. Polizei einzelner Bundesstaaten]:

●        Benadir/Mogadischu: Stand September 2021 - ca. 11.000 Mann;

●        Galmudug: mindestens 700;

●        HirShabelle: ca. 600;

●        Jubaland: Stand vom August 2017 - 500-600; allerdings bildet Kenia jedes Halbjahr 100-200 neue Polizisten aus;

●        South West State: Zwischen 1.000 bis 1.100 (BMLV 9.2.2023).

Im Bereich der Polizeiausbildung bestehen Trainingsschulen von ATMIS und UNSOM, bilaterale Initiativen (v. a. zur Ausbildung von Polizeikräften in Mogadischu), Unterstützung durch UNDP und UNODC sowie IOM (ÖB 11.2022, Sitzung 9). Im Joint Police Programme unterstützen die UN, die EU, Deutschland und Großbritannien den Aufbau der Polizei. So haben z. B. die UN die Führungsausbildung für 500 höherrangige Polizisten aus Süd-/Zentralsomalia und Puntland unterstützt (UNSC 1.9.2022, Absatz 68,). ATMIS hat im Zeitraum 2009-2022 8.167 Polizisten in Somalia ausgebildet (FTL 17.9.2022; vergleiche ATMIS 25.8.2022), und zwar in Jubaland, HirShabelle, dem SWS und Mogadischu, auf regionaler und Bundesebene. Die Ausbildung umfasst u. a. auch Menschenrechte und Prävention von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt. Zudem wurden Polizeistationen neu gebaut oder renoviert und Ausrüstung zur Verfügung gestellt (ATMIS 25.8.2022). In Jubaland hat Anfang Oktober der fünfte Lehrgang von 150 Polizisten die Grundausbildung abgeschlossen. Die Ausbildung erfolgte durch ATMIS in Kismayo und umfasste u. a. auch Menschenrechte, geschlechtsspezifische Themen, öffentliche Ordnung und Tatortuntersuchungen (RD 4.10.2022). Überhaupt unterstützt ATMIS die somalische Polizei auch bei der Ausbildung hinsichtlich Menschenrechten. So wurden etwa im Dezember 2022 zwei Dutzend Polizisten als Trainer ausgebildet, die ihrerseits 300 Polizisten in HirShabelle hinsichtlich Menschenrechten ausbilden sollen (ATMIS 28.12.2022). Die UN unterstützen den Aufbau der Polizei im Bundesstaat HirShabelle (FTL 18.9.2022). Über das Joint Police Programme werden Kapazitäten für die Somali Police Force aufgebaut. Im Berichtszeitraum Feber bis Mai 2022 erwähnt der Bericht des UN-Sicherheitsrats die Ausbildung von 300 Polizisten für Jubaland und von 400 für Galmudug. Außerdem wurden zwölf neue Polizeistationen in Jubaland, HirShabelle, Benadir, Galmudug und Puntland ausgestattet (UNSC 13.5.2022, Absatz 69,). Polizisten werden u. a. auch in Ruanda ausgebildet bzw. weitergebildet. So durchliefen sechs somalische Polizisten den Police Senior Command and Staff Course in Ruanda (RD 15.7.2022). Auch Dschibuti bildet in Kooperation mit Italien Polizisten aus (RD 12.12.2022). UNODC führt Ausbildungslehrgänge für Polizisten durch, diese Maßnahme wird von den USA finanziert (FTL 19.11.2022).

Polizeikapazitäten: Die Strafverfolgungsbehörden sind schwach (SPC 9.2.2022). Es gibt kein zentrales Strafregister. Dies erschwert es den Sicherheitskräften, Untersuchungen durchzuführen. Polizeistationen führen handschriftliche „Vorfallsbücher“ („occurrence books“) (Sahan 16.9.2022). Die Bezahlung erfolgt meist nur unregelmäßig, dies fördert die Korruption (AA 28.6.2022, Sitzung 9). Im Fall einer kriminalitätsbedingten Notlage fehlen weitgehend funktionierende staatliche Stellen, die Hilfe leisten könnten. Die Polizei verfügt zwar über einige Kapazitäten, hat aber auch Probleme, sich an den Menschenrechten zu orientieren. Dass die Bevölkerung die Polizei nicht unbedingt als eine Kraft erachtet, welche sie schützt, scheint sich in manchen größeren Städten langsam zu ändern. Dort wurden Polizeikräfte lokal – und die lokale Clandynamik berücksichtigend – rekrutiert. Das hat zu Verbesserungen geführt. Dies betrifft etwa Kismayo, Jowhar oder Belet Weyne (BMLV 9.2.2023). In Einzelfällen funktioniert auch die Kooperation unterschiedlicher Polizeieinheiten in Süd-/Zentralsomalia. So wurde etwa im Dezember 2022 in Mogadischu ein Mann verhaftet, der von der Polizei in Gedo wegen einer Vergewaltigung gesucht worden war (HO 26.12.2022). In HirShabelle wird die Polizei in erster Linie in den größeren Städten und an Checkpoints entlang von nach Jowhar führenden Hauptverbindungsstraßen zum Einsatz gebracht (ATMIS 25.8.2022).

Die Türkei hat die paramilitärische Polizei-Spezialeinheit Haramcad (Gepard) ausgebildet und mit modernen Waffen, Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen ausgestattet (Bryden 8.11.2021; vergleiche Sahan 29.6.2022). Haramcad umfasst ca. 1.200 Mann (Sahan 29.6.2022). Diese Einheit wird allgemein als fähig erachtet, wurde allerdings von der Regierung Farmaajo u. a. eingesetzt, um interne Gegner auf Linie zu bringen (HIPS 2021, Sitzung 28). Damals war die Einheit dem Kommando der NISA (siehe unten) unterstellt, nunmehr steht sie wieder unter dem Kommando der Polizei (BMLV 9.2.2023).

Armee: Das Verteidigungsministerium ist für die Kontrolle der Armee verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1). Es wurde versucht, diverse Milizen zu einer Armee unter Führung der Bundesregierung zu fusionieren (Reuters 19.2.2021). Die Regierungstruppen bestehen hauptsächlich aus Clanmilizen (LI 8.9.2022; vergleiche Robinson 27.1.2022), deren Loyalität in erster Linie beim eigenen Clan liegt (LI 8.9.2022); bzw. waren viele militärische Einheiten der Bundesarmee ursprünglich Clanmilizen (WP 10.12.2022). Anders ausgedrückt ist die Linie zwischen der Bundesarmee und Clanmilizen sehr schmal. Ein Soldat kann an einem Tag im Interesse des Landes arbeiten und am nächsten im Interesse seines Clans oder einer politischen Gruppe (BBC 1.6.2022). Jedenfalls zeigt die Bundesarmee nur wenige Merkmale einer effektiven Armee im westlichen Sinne. Ausländische Militärhilfe ist stark an Eigennutz gebunden, unterschiedliche politische Akteure werden gegeneinander ausgespielt. Als Resultat bietet sich ein Bild von einerseits Brigaden auf Clanbasis, die den Großteil der Truppen stellen und eigentlich dem eigenen Clan zur Verfügung stehen; und andererseits durch vom Ausland unterstützten, nur teilweise mit der Bundesarmee verbundenen Kräften wie Danaab (USA), Gorgor (Türkei), Haramcad, Gashaan, sowie von Eritrea (Robinson 27.1.2022), den Vereinten Arabischen Emiraten, Katar, Großbritannien, der EU, Uganda, Kenia, Dschibuti und anderen Staaten ausgebildeten Kräften. Folglich sieht man auf der Straße auch ein breites Spektrum an Uniformen und Waffen (BBC 1.6.2022).

Korruption ist verbreitet (FH 2022a, F2). Soldaten werden durch Nepotismus aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit befördert und/oder um ihre Loyalität zu erlangen. Dies zerstört die Moral der Sicherheitskräfte und lenkt ihre Loyalität in Richtung der Clans (HIPS 4.2021, Sitzung 4/28). Der chronische Nepotismus in der Bundesarmee wirkt sich hinsichtlich der Moral der Soldaten verheerend aus (HIPS 4.2021, Sitzung 14). Einige Kommandanten nehmen Bestechungsgelder an oder kooperieren mit al Shabaab (Sahan 3.3.2021). Im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Präsident Farmaajo und der Opposition 2021 haben sich Auflösungstendenzen verstärkt. Die Sicherheitskräfte und die Armee hatten sich entlang von Clanlinien fragmentiert (TNH 20.5.2021; vergleiche Sahan 4.5.2021).

Besoldung: Soldaten verdienen etwa 100 US-Dollar im Monat (BMLV 9.2.2023). Es kommt vor, dass Soldaten nur sehr unregelmäßig bezahlt werden, dies fördert die Korruption. Diese, sowie Misswirtschaft und finanzielle Einschränkungen beeinträchtigen die Wirksamkeit der Armee (AA 28.6.2022, Sitzung 9f). Die Einführung der biometrischen Registrierung aller Soldaten der Bundesarmee hat die davor bestehende Korruption eingeschränkt, aber nicht eliminiert (HIPS 4.2021, Sitzung 15). Generell erfolgt nunmehr die (elektronische) Bezahlung der Soldaten viel regelmäßiger, doch selbst hier kommt es mitunter zu Verzögerungen. Die Spezialeinheit Danab wird und wurde von den USA finanziert und regelmäßig bezahlt (BMLV 9.2.2023).

Der Armee mangelt es zudem an Ausbildung und Ausrüstung (FP 22.9.2021; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 20), obwohl die Bundesarmee im vergangenen Jahrzehnt von zahlreichen Akteuren diesbezüglich Unterstützung erhalten hat - namentlich von Burundi, Dschibuti, Äthiopien, Italien, Kenia, dem Sudan, der Türkei, den VAE, Uganda, Großbritannien, den USA, der AU, der EU und den UN (Williams 2019, Sitzung 2ff). Selbst in Katar (FTL 5.7.2022; vergleiche BBC 1.6.2022) und in Eritrea wurden Soldaten ausgebildet (BMLV 9.2.2023). Alleine Großbritannien hat seit 2016 mehr als 2.000 somalische Soldaten ausgebildet (UKG 18.8.2022). Die Türkei hat bis 2022 5.000 Soldaten für die Einheit Gorgor und zudem hunderte Offiziere und Unteroffiziere ausgebildet. Die USA haben knapp 2.000 Kräfte von Danaab ausgebildet und weitere 350 Rekruten zur Ausbildung aufgenommen (VOA 30.11.2022). Die vielen externen Akteure, welche sich am Aufbau somalischer Sicherheitskräfte beteiligen, arbeiten notorisch unkoordiniert, und einige Akteure – etwa Kenia und Äthiopien – verfolgen darüber hinaus nationale Interessen (HIPS 4.2021, Sitzung 24ff). Die somalischen Streitkräfte haben keine Übersicht über ihre eigenen Lagerbestände. Und obwohl Somalia in den letzten Jahren Tausende Waffen beschafft hat, sind nach wie vor nicht alle Soldaten mit einer Waffe ausgestattet (BMLV 9.2.2023). Dabei nennt die somalische Regierung als Grund für die mangelnde Effektivität der eigenen Truppen das nach wie vor aufrechte Waffenembargo der Vereinten Nationen. Aufgrund des Embargos können weder schwere Waffen noch Fluggerät angeschafft werden (UNSC 10.10.2022, Absatz 95,).

Die Nationale Armee wird von der AU, der EU, den USA sowie anderen Ländern, wie Türkei und Israel in der Besoldung, Bewaffnung und beim Training unterstützt (ÖB 11.2022). Die USA haben Armee- und Regionalkräfte ausgebildet, die Spezialeinheit Danaab aufgestellt und Anti-Terrorismus-Kapazitäten gestärkt; die EU führt ihre Ausbildungsmission EUTM weiter (BS 2022, Sitzung 40). Die Türkei unterstützt die Bundesarmee materiell und bildet in einem eigens erbauten Stützpunkt (TURKSOM) auch Soldaten aus (HIPS 2021, Sitzung 28). Die UN-Agentur UNSOS unterstützt 11.649 Angehörige der Sicherheitskräfte logistisch (UNSC 1.9.2022, Absatz 87,).

Armee/Stärke: Die Regierung nennt unterschiedliche Zahlen: 24.000 oder 28.000 (HIPS 4.2021, Sitzung 7). Eine andere Quelle nennt eine Zahl von 19.000-20.000 Mann - ohne die 5.000 in Eritrea ausgebildeten, deren Verwendung weiterhin unklar ist (BMLV 9.2.2023). Eine andere Quelle nennt diesbezüglich mehr als 25.000 - ohne die Spezialeinheit Gorgor; mit Letzterer umfasst die Bundesarmee demnach fast 30.000 Soldaten (Sahan 29.6.2022). Insgesamt sind in den vergangenen 15 Jahren von externen Akteuren Schätzungen zufolge mehr als 100.000 Soldaten ausgebildet worden (HIPS 4.2021, Sitzung 7).

Spezialeinheiten: Danab (Blitz) - von den USA ausgebildet, ausgerüstet und betreut (HIPS 8.2.2022, Sitzung 5; vergleiche BBC 1.6.2022; Williams 2019, Sitzung 2/9) - ist die einzige Einheit, bei welcher bei der Rekrutierung nicht der Clan, sondern militärische Erfahrung und Können eine Rolle spielen (BMLV 9.2.2023; vergleiche Williams 2019, Sitzung 2/9). Es handelt sich um eine bestens ausgebildete (HIPS 8.2.2022, Sitzung 5) und um die schlagkräftigste Einheit in Somalia (Robinson 27.1.2022; vergleiche HIPS 4.2021, Sitzung 26f). Diese Truppe umfasst etwa 1.500-1.600 Mann (BMLV 9.2.2023; vergleiche BBC 23.11.2022; WP 10.12.2022) und war in der Offensive an fast allen Frontabschnitten in Hiiraan, Middle Shabelle und Galgaduud aktiv (BMLV 9.2.2023). Es ist geplant, die Mannzahl von Danab zu verdoppeln (BBC 23.11.2022). Danab-Soldaten werden regelmäßig bezahlt. Es gibt dort fixe Quoten, um dafür zu sorgen, dass die Soldaten aus allen unterschiedlichen Clans stammen. Danab hat nunmehr 1.500 Soldaten (WP 10.12.2022).

Eine weitere Spezialeinheit ist die von der Türkei ausgebildete und mit modernen Waffen, Ausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen ausgestattete Gorgor (Adler) (Bryden 8.11.2021; vergleiche Robinson 27.1.2022; HIPS 2021, Sitzung 28). Diese Einheit wird nicht geschlossen eingesetzt, sondern ist in Mogadischu, Dhusamareb, Belet Xaawo und mehreren Orten in Lower Shabelle im Einsatz (BMLV 9.2.2023). Die Einheit umfasst nunmehr mehr als 5.000 (Sahan 29.6.2022), nach anderen Angaben 5.500 Mann in vermutlich 10 Bataillonen (BMLV 9.2.2023). Danab wird zunehmend als apolitisch erachtet (WP 10.12.2022). Sowohl Danab als auch Gorgor ist es gelungen, Clanrivalitäten innerhalb ihrer Reihen aufzulösen und gleichzeitig effektive Anti-Terror-Operationen durchzuführen (Sahan 16.11.2022).

Sowohl Danab als auch Gorgor sind nun wieder klar der Armee unterstellt (BMLV 9.2.2023).

Regionale Kräfte: Die Bundesstaaten haben ihre eigenen Sicherheitsapparate (HIPS 3.2021, Sitzung 16). Unklar ist, inwiefern diese Kräfte in die zur Bundesregierung gerechneten Kräfte eingegliedert sind bzw. dorthin zugeordnet werden. Beim Operational Readiness Assessment wurden 2019 in Jubaland, Galmudug, SWS und Puntland fast 20.000 Personen registriert, welche zu "Regionalkräften" (auch Darawish) gezählt werden (UNSC 15.5.2019, Absatz 45,). Unter Darawish werden in Somalia grundsätzlich alle organisierten bewaffneten Kräfte verstanden, die außerhalb der Clanmilizen zu finden sind. Im neueren Kontext werden damit v. a. Sicherheitskräfte der Bundesstaaten bezeichnet (BMLV 9.2.2023). Darawish werden nunmehr auch national ausgebildet. So haben im Feber 2020 die ersten 300 von 1.750 Darawish ihre – u. a. von AMISOM bzw. ATMIS und EUTM gestaltete – Ausbildung in Mogadischu abgeschlossen (AMISOM 14.2.2020). Kenia kooperiert mit den Sicherheitskräften Jubalands (BS 2022, Sitzung 41) und bildet diese aus. Äthiopien (BMLV 9.2.2023) und Großbritannien bilden Sicherheitskräfte des SWS aus (AQ7 2.2022) und auch Dschibuti beteiligt sich am Aufbau lokaler Darawish Forces (UNSC 13.5.2022, Absatz 68,).

Milizen, die nicht Teil der somalischen Sicherheitskräfte sind, aber loyal zu Regionalregierungen stehen, sind Teil des Spektrums. Oft haben sie in der Vergangenheit das Sicherheitsvakuum gefüllt, wo staatliche Kräfte aufgrund ihrer Schwäche nicht dazu in der Lage waren (RD 28.8.2022). In Teilen von Galgaduud – etwa im Bezirk Baxdo – organisieren sich zunehmend lokale Gemeinden und Milizen im Widerstand gegen al Shabaab. Diese werden dabei von der Armee unterstützt (SD 14.9.2022). Auch in Hiiraan wird versucht, den gesellschaftlichen Widerstand gegen al Shabaab zu fördern (RD 15.9.2022).

Die Macawiisely – benannt nach den langen Gewändern der somalischen Nomaden – wurden ursprünglich nur bei Bedarf mobilisiert. Es gab keine permanenten Stützpunkte, keine organisierte Führung, keine regulären Kräfte und keine externe Unterstützung. Mit der zunehmenden Terrorisierung der Zivilbevölkerung in Teilen von Galmudug und HirShabelle hat ihre Bedeutung zugenommen. In der Verteidigung der eigenen Heimat und der eigenen Familien mit eigenen Mitteln und Waffen, greifen diese Milizen al Shabaab an und konnten dabei auch schon einige Erfolge verzeichnen (GF 14.9.2022). Ein signifikanter Teil der Macawiisley besteht folglich aus Personen, die keine Soldaten oder professionellen Milizionäre sind, sondern Viehzüchter und Nomaden (Sahan 23.9.2022; vergleiche BMLV 9.2.2023). Diese lokalen Milizen stellen eine zur SNA parallele und durch die FGS aufgrund ihrer Clan-basierten Strukturen nicht kontrollierbare bewaffnete Macht dar (ÖB 11.2022, Sitzung 9). Zudem sind die Macawiisley aufgrund von Zwängen hinsichtlich der Erwerbstätigkeit nicht unbegrenzt für den Kampf verfügbar (BMLV 9.2.2023).

Zudem verfügen alle politischen Kräfte über eigene Kampftruppen (AA 28.6.2022, Sitzung 12). Einzelne Politiker, Unternehmen und Hilfsorganisationen haben eigenes Sicherheitspersonal (HIPS 3.2021, Sitzung 16).

NISA (National Intelligence and Security Agency): Die NISA ist vergleichbar mit einem Inlandsgeheimdienst. Sie hat die Aufgabe als Sicherheitspolizei vornehmlich gegen al Shabaab vorzugehen (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 29), bzw. ist sie auch für den Staatsschutz zuständig und mit exekutiven Vollmachten ausgestattet. Die exekutiven Einheiten der NISA sind zwar 2018 formal in die Polizei integriert worden. Trotzdem bleibt die NISA mit exekutiven Vollmachten ausgestattet und übt weiterhin eine aktive Rolle in der Terrorismusbekämpfung aus, die über eine rein nachrichtendienstliche Tätigkeit hinausgeht. Es kommt auch immer wieder zu Zusammenstößen mit anderen Sicherheitskräften. Außerdem führt die NISA Razzien durch und nimmt Menschen fest und unterliegt wenigen bis keinen Aufsichts- und Kontrollmechanismen (AA 28.6.2022, Sitzung 10f). Am 6.2.2023 erhielt der bereits im Jahr 2013 offiziell aufgestellte Dienst mit dem im Parlament verabschiedeten NISA-Gesetz eine rechtliche Grundlage (BMLV 9.2.2023). Das in Somalia befindliche Personal der NISA umfasst 5.000 (Sahan 29.6.2022), nach anderen Angaben von 3.200 Mann (BMLV 9.2.2023), wovon die Masse in Mogadischu und Teile im SWS, in HirShabelle und Galmudug eingesetzt sind (BMLV 9.2.2023).

Die NISA verfügt über eigene Spezialeinheiten: die in Eritrea ausgebildeten Dufaan (Sturm) (Sahan 5.5.2021; vergleiche UNSC 6.10.2021) mit einer Stärke von mindestens 450 Mann (UNSC 6.10.2021) und fehlender gesetzlicher Verankerung und Verantwortlichkeit (Sahan 10.6.2022). Auch die Einheit Ruuxaan (Geister) (BMLV 9.2.2023) sowie die von den USA ausgebildeten und als Anti-Terror-Einheiten eingesetzten Waran (Speer) und Gashaan (Schild) gehört zum NISA (Bryden 8.11.2021).

Puntland: Insgesamt beläuft sich die Stärke der Streit- und Sicherheitskräfte Puntlands (Darawish, Polizei, Puntland Maritim Police Force / PMPF und andere) auf rund 10.000-12.000 Mann (BMLV 9.2.2023). Die PMPF wird weiterhin von den Vereinten Arabischen Emiraten unterstützt (Sahan 20.6.2022). PMPF ist zuständig für die Verhinderung und Bekämpfung von Piraterie, illegalem Fischfang und anderen Straftaten entlang der puntländischen Küste (RD 30.11.2022b). Diese Einheit stellt eine signifikante Ressource im Kampf gegen Extremisten und Waffenschmuggler dar (UNSC 6.10.2021). Die Spezialeinheit Puntland Security Force (PSF) dient als Anti-Terrorismuseinheit, wird von den USA ausgebildet und unterstützt (HIPS 8.2.2022, Sitzung 19; vergleiche GITOC 19.4.2022) - für den Kampf gegen al Shabaab und ISIS. Nach Angaben einer Quelle standen die PSF niemals wirklich unter dem Kommando der puntländischen Regierung. Jedenfalls wurden die PSF nach den Auseinandersetzungen Ende 2021 in die Puntland Intelligence Security Force (PISF), die eng mit der PMPF zusammenarbeitet, und die Puntland Security Commando Force (PSCF) geteilt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 61). Die Bossaso Port Maritime Police Unit hingegen schützt den Hafen von Bossaso. Sowohl diese als auch die PMPF werden on der EU-Mission EUCAP u. a. mit Ausbildungsmaßnahmen unterstützt (RD 30.11.2022b). Ausstehende Soldzahlungen sind nach wie vor ein wiederkehrendes Problem, das zwar punktuell zu Störungen des öffentlichen Lebens durch Straßenblockaden führen kann. Diese Störungen dauern gewöhnlich aber nicht mehr als einige Stunden an (BMLV 9.2.2023). Insgesamt hat die puntländische Regierung ein gewisses Problem, an allen Orten wirklich Sicherheit zu gewähren (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 30).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

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        AN - Ahval News (22.2.2021): Turkish-trained special forces take Somalia back to days of civil war, https://ahvalnews.com/turkey-somalia/turkish-trained-special-forces-take-somalia-back-days-civil-war, Zugriff 2.6.2022

        AQ10 - Anonyme Quelle 10 (5.2022): Bei der Quelle handelt es sich um einen analytischen Newsletter

        AQ7 - Anonyme Quelle 7 (2.2022): Bei der Quelle handelt es sich um einen analytischen Newsletter

        ATMIS (28.12.2022): Supported by ATMIS, Somali Police Officers conclude training on human rights, https://atmis-au.org/supported-by-atmis-somali-police-officers-conclude-training-on-human-rights/, Zugriff 5.1.2023

        ATMIS (25.8.2022): African Union supports building Somalia’s Police Force, https://atmis-au.org/african-union-supports-building-somalias-police-force/, Zugriff 9.9.2022

        BBC - BBC News (23.11.2022): Fighting al-Shabab: Rare access to Somalia's US-funded 'lightning' brigade, https://www.bbc.com/news/world-africa-63704004?at_medium=RSS&at_campaign=KARANGA, Zugriff 13.12.2022

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        RD - Radio Dalsan (4.10.2022): Jubaland New Police recruits conclude training In Kismayo, https://www.radiodalsan.com/en/77544/2022/10/jubaland-new-police-recruits-conclude-training-in-kismayo/, Zugriff 7.10.2022

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        Reuters (19.2.2021): Somali government forces, opposition clash in Mogadishu over election protest, https://www.reuters.com/article/us-somalia-politics/somali-government-forces-opposition-clash-in-mogadishu-over-election-protest-idUSKBN2AJ0MI, Zugriff 18.7.2022

        Robinson, Colin / The Global Observatory (27.1.2022): New Name, but Little Sign of Change: The Revised Agreement on the African Union Mission in Somalia, https://theglobalobservatory.org/2022/01/revised-agreement-on-african-union-mission-in-somalia/, Zugriff 15.7.2022

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        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (10.6.2022): Editor’s Pick – Fahad’s dance of the seven veils, in: The Somali Wire Issue No. 402, per e-Mail

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Folter und unmenschliche Behandlung

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 17.03.2023

Staatlichen Akteuren werden Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen, militärische Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen, willkürliche Verhaftungen, außergerichtliche Hinrichtungen, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Vergewaltigungen, Entführung, Folter, schwere Misshandlung von Kindern, Raub, Bestechung, Korruption und willkürlicher Waffengebrauch vorgeworfen oder diese wurden dokumentiert (AA 28.6.2022, Sitzung 10f). Vorwürfe aufgrund systematischer Verfolgung werden jedoch nicht erhoben. Es kann im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden, dass Sicherheitskräfte den entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen und bei Verstößen straffrei gehen (AA 28.6.2022, Sitzung 21).

Tötungen: Die Regierung und ihre Handlanger verüben willkürliche und ungesetzliche Tötungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2f). Auch bei bewaffneten Zusammenstößen werden Zivilisten getötet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; vergleiche BS 2022, Sitzung 18). Alleine im Dezember 2021 töteten Sicherheitskräfte bei unterschiedlichen "Unfällen" in Mogadischu mehrere Zivilisten (HIPS 8.2.2022, Sitzung 29). Während immer noch al Shabaab und Clanmilizen für die Mehrheit der extra-legalen Tötungen verantwortlich zeichnen, wächst die Zahl an Fällen von Tötungen durch Sicherheitskräfte. Es fehlen Regeln hinsichtlich der Gewaltanwendung gegen Zivilisten. Der Einsatz tödlicher Gewalt – etwa von scharfer Munition gegen Demonstranten – ist nicht unüblich und jedenfalls üblicher als eine graduelle Eskalation (Sahan 16.9.2022).

Folter: Folter ist zwar laut Verfassung verboten, es gibt allerdings keinen konkreten Tatbestand im Gesetz (UNOHCHR 25.11.2022). Nach anderen Angaben sind Folter und unmenschliche Behandlung gesetzlich verboten, es kommt aber dennoch zu derartigen Vorfällen. Regierungskräfte und alliierte Milizen setzen exzessiv Gewalt ein - darunter auch Folter. NISA misshandelt Personen bei Verhören (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5f/14), es kommt dabei zu Folter (BS 2022, Sitzung 18; vergleiche ACCORD 31.5.2021, Sitzung 30). Verhaftete sind einem Risiko ausgesetzt, gefoltert (FH 2022a, F3) bzw. unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten und misshandelt zu werden (AA 28.6.2022, Sitzung 15). Bei mehr als tausend Besuchen in Haft- und Anhalteeinrichtungen in Baidoa, Kismayo und Mogadischu wurde festgestellt, dass Folter dort üblich ist (SW 1.2022).

Der UN-Menschenrechtskommissar hat Besorgnis geäußert, wonach sowohl NISA als auch Armee in Fälle von Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt und anderen Vergehen verwickelt sind. Unter Folter fallen demnach auch öffentliche Exekutionen (SG 27.11.2022). römisch fünf. a. NISA verhaftet Personen ohne Haftbefehl, sperrt diese über längere Zeiten ein, misshandelt Personen bei Verhöhren (UNOHCHR 25.11.2022). Vorwürfe gibt es mitunter auch gegen Angehörige der Spezialeinheit Haramcad. So wurde z. B. am 19.2.2021 ein Journalist verhaftet und dann gefoltert (WQ 21.2.2021). Außerdem wenden auch Clanmilizen - auch mit der Regierung affiliierte - Folter und unmenschliche Behandlung an. Aufgrund des Clanschutzes für Täter herrscht diesbezüglich eine Kultur der Straflosigkeit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6).

In Puntland gibt es einige Vorwürfe gegen die Puntland Intelligence Agency, wonach diese gegen Terrorismusverdächtige in Haft Folter anwendet (BS 2022, Sitzung 18).

Verhaftungen: Willkürliche Verhaftungen sind üblich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 10). Es gibt immer wieder Berichte über Polizeigewalt und exzessive Gewaltanwendung, Drohungen, Belästigungen und willkürliche Verhaftungen – vor allem von Terrorverdächtigen, Menschenrechtsverteidigern und Journalisten (UNOHCHR 25.11.2022). Alleine von Feber bis Mai 2022 wurden 27 Journalisten und Medienmitarbeiter willkürlich verhaftet (UNSC 13.5.2022, Absatz 52,). NISA verhaftet Menschen und hält diese über längere Zeit ohne Anklage fest (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6).

Rechenschaft: Hinsichtlich Folter durch Polizei und Armee besteht weitgehende Straffreiheit (UNOHCHR 25.11.2022). Sicherheitskräfte agieren, ohne eine Strafe befürchten zu müssen. Fälle von Polizeigewalt werden oft nicht registriert, die Straffreiheit bei der Polizei floriert. Polizisten können selbst im Fall eines Mordes ungeschoren davonkommen (Sahan 16.9.2022). Nur einige Sicherheitsbeamte wurden in der Vergangenheit zur Verantwortung gezogen (Sahan 16.9.2022; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 16). Der Polizei fehlt für Untersuchungen schon die Kapazität. Die Armee verfügt diesbezüglich über bessere Justizmechanismen, diese werden allerdings nicht immer effizient eingesetzt (Sahan 16.9.2022). Im Juli 2022 wurde ein Soldat für einen an einem Zivilisten begangenen Mord von einem Militärgericht zum Tod verurteilt (Sonna 20.7.2022); ein Soldat wurde im Juli 2022 hingerichtet, der zuvor von einem Militärgericht wegen des Mordes an einem Geheimdienstmitarbeiter und dessen Schwester in Cabudwaaq verurteilt worden war (HO 27.7.2022); Anfang September 2022 wurden zwei Soldaten der Gorgor-Einheit wegen der Ermordung zweier Zivilisten in Lower Shabelle zum Tode verurteilt, ein weiterer Soldat, der bei der Tat anwesend war, wurde zu drei Jahren Haft verurteilt (RD 6.9.2022); ein Soldat wurde Anfang Dezember 2022 von einem Militärgericht zum Tode verurteilt, weil er an einer Straßensperre einen Taxilenker erschossen hat (HO 4.12.2022).

Generell bleibt Straffreiheit aber die Norm (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche FH 2022a, F3). Dies gilt auch für willkürliches Vorgehen der Polizeikräfte, dieses bleibt i. d. R. ungeahndet (AA 28.6.2022, Sitzung 10), denn ohne zivilrechtliche Aufsicht und Rechenschaftsablegung haben die Opfer polizeilicher Willkür und Gewalt oft gar keine legale Möglichkeit, juristisch dagegen vorzugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 15).

Al Shabaab: Die Gruppe tötet, entführt und misshandelt Zivilisten, verübt geschlechtsspezifische Gewalt und führt Frauen einer Zwangsehe zu. Zudem rekrutiert al Shabaab Kinder und setzt diese auch ein (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15ff). Außerdem verhängt und vollstreckt die Gruppe in den Gebieten unter ihrer Kontrolle weiterhin harte Strafen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 6). Dort ist auch von unmenschlicher Behandlung auszugehen, wenn Personen gegen die Interessen von al Shabaab handeln oder dessen verdächtigt werden (AA 28.6.2022, Sitzung 21; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 62). Mitunter wird gegen Zivilisten - z.B. gegen potenzielle Spione und gegen Personen, die keine Abgaben leisten - auch Folter eingesetzt (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 62; vergleiche UNSC 6.10.2021). Mitunter entführt al Shabaab Zivilisten (SMN 2.1.2023) - etwa Verwandte von Clanmilizionären (VOA 15.12.2022).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

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        HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (8.2.2022): State of Somalia Report, 2021, Year in Review, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOS-REPORT-2021-English-version.pdf, Zugriff 21.2.2022

        HO - Hiiraan Online (4.12.2022): Military court sentenced soldier to death for shooting minibus driver at illegal checkpoint, https://hiiraan.com/news4/2022/Dec/188973/military_court_condemns_soldier_to_death_for_shooting_minibus_driver_at_illegal_checkpoint.aspx?utm_source=hiiraan&utm_medium=SomaliNewsUpdateFront, Zugriff 15.12.2022

        HO - Hiiraan Online (27.7.2022): Soldier executed in Somalia following conviction of double murder of NISA commander and his sister, https://www.hiiraan.com/news4/2022/July/187146/soldier_executed_in_somalia_following_conviction_of_double_murder_of_nisa_commander_and_his_sister.aspx, Zugriff 28.7.2022

        NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

        RD - Radio Dalsan (6.9.2022): Two SNA Soldiers sentenced to death for killing civilians, https://www.radiodalsan.com/en/76959/2022/09/two-sna-soldiers-sentenced-to-death-for-killing-civilians/, Zugriff 9.9.2022

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (16.9.2022): Exrajudicial killings in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 452, per e-Mail

        SG - Somali Guardian (27.11.2022): UN accuses Somalia’s army, spy agency of torture and gender-based violence, https://somaliguardian.com/news/somalia-news/un-accuses-somalias-army-spy-agency-of-torture-and-gender-based-violence/, Zugriff 28.11.2022

        SMN - Shabelle Media Network (2.1.2023): Al-Shabaab blamed for "abducting 30 people" in central Somalia, https://shabellemedia.com/al-shabaab-blamed-for-abducting-30-people-in-central-somalia/, Zugriff 5.1.2023

        Sonna (20.7.2022): Somali Military Court sentences Soldier to Death, https://sonna.so/en/2022/07/20/somali-military-court-sentences-soldier-to-death/, Zugriff 28.7.2022

        SW - Saferworld (1.2022): Detainee and detention centre conditions in Mogadishu, Kismayo and Baidoa, https://www.saferworld.org.uk/downloads/pubdocs/somalia-detainees-report-web.pdf, Zugriff 28.6.2022

        UNOHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (25.11.2022): Committee against Torture - Concluding observations on the initial report of Somalia. Adopted by the Committee at its seventy-fifth session (31 October - 25 November 2022), https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CAT/Shared%20Documents/SOM/CAT_C_SOM_CO_1_50826_E.pdf, Zugriff 28.11.2022

        UNSC - UN Security Council (13.5.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/392], https://reliefweb.int/attachments/02e8f544-fa6f-47fe-80a1-6f7ee9d6c94e/N2233663.pdf, Zugriff 27.5.2022

        UNSC - UN Security Council (6.10.2021): Letter dated 5 October 2021 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Final report of the Panel of Experts on Somalia (S/2021/849), https://reliefweb.int/attachments/17a953bc-861a-348a-a59b-1e182f053030/S_2021_849_E.pdf, Zugriff 14.10.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

        VOA - Voice of America / Harun Maruf (15.12.2022): Somali Government Says al-Shabab römisch eins s Deliberately Displacing Civilians, https://www.voanews.com/a/somali-government-says-al-shabab-is-deliberately-displacing-civilians/6878887.html, Zugriff 20.12.2022

Wehrdienst und Rekrutierungen (durch den Staat und Dritte)

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 26.07.2022

Die somalische Armee ist eine Freiwilligenarmee (BMLV 19.7.2022). Es gibt keinen verpflichtenden Militärdienst. Allerdings rekrutieren Clans regelmäßig – und teils unter Androhung von Zwangsmaßnahmen für die Familie – junge Männer zum Dienst in einer Miliz, bei den staatlichen Sicherheitskräften oder bei al Shabaab. Dadurch soll für den eigenen Clan oder Subclan Schutz erlangt werden (AA 28.6.2022, Sitzung 16).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (19.7.2022): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

(Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten

Letzte Änderung: 17.03.2023

Kindersoldaten: Allen Konfliktparteien wird vorgeworfen, Kinder zu rekrutieren (BS 2022, Sitzung 19). Im Jahr 2021 gab es immer wieder Berichte über den Einsatz von Kindersoldaten durch die Bundesarmee, alliierte Milizen, die Sufi-Miliz Ahlu Sunna Wal Jama’a (ASWJ) und al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16). Im ersten Halbjahr 2021 sind 631 Kinder rekrutiert und eingesetzt worden; weitere 348 wurden entführt - oft mit dem Ziel einer Rekrutierung. Für 77 % der Fälle zeichnet al Shabaab verantwortlich (UNSC 6.10.2021). Dahingegen waren im Vergleichszeitraum 2020 insgesamt 535 Kinder rekrutiert worden, mehr als 400 davon durch al Shabaab. Im Jahr 2019 waren noch 1.169 durch al Shabaab rekrutiert worden, 2018 waren es 2.300 (UNSC 28.9.2020, Absatz 137 f,). Die Regierung versucht der Rekrutierung von Kindern durch die Armee mit Ausbildungs- und Screening-Programmen entgegenzuwirken. Der Umstand, dass es keine Geburtenregistrierung gibt, macht diese Arbeit schwierig (USDOS 12.4.2022, Sitzung 16f).

Generell wird festgestellt, dass immer dann, wenn aktive Kampfhandlungen zunehmen, in der Vergangenheit ein damit verbundener Anstieg bei der Rekrutierung von Kindern zu verzeichnen war (UNSC 6.10.2021). Gerade in umkämpften Gebieten ist wiederholt eine besonders hohe Zahl an Rekrutierungen zu verzeichnen (AA 28.6.2022, Sitzung 17).

Kindersoldaten - al Shabaab: Al Shabaab ist weniger an die Rekrutierung Erwachsener als an der Rekrutierung von 8-12-jährigen Kindern interessiert. Diese sind leichter zu indoktrinieren und formbarer (Sahan 6.5.2022). Al Shabaab rekrutiert und entführt auch weiterhin Kinder (UNSC 10.10.2022, Absatz 127 ;, vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 6; HRW 13.1.2022). Alleine im Zeitraum Jänner bis März 2022 sind 177 derartige Fälle bekannt (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Die Gruppe entführt systematisch Kinder von Minderheitengruppen (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab führt u. a. Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Es gibt Berichte über Gruppenentführungen aus Madrassen heraus. So sind etwa bei zwei Vorfällen in Bay und Hiiraan im ersten Halbjahr 2021 insgesamt 35 Buben entführt und zwangsrekrutiert worden (UNSC 6.10.2021). Außerdem indoktriniert und rekrutiert al Shabaab Kinder gezielt in Schulen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17; vergleiche UNSC 6.10.2021; ÖB 11.2022, Sitzung 6). Al Shabaab betreibt eigene Schulen mit eigenem Curriculum. Die besten Schüler werden einer höheren Bildung zugeführt, während der große Rest in Ausbildungslager der Gruppe gebracht wird (VOA 16.11.2022).

Manchmal werden Clanälteste bedroht und erpresst, damit Kinder an die Gruppe abgegeben werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Es wird mitunter auch Gewalt angewendet, um von Gemeinden und Ältesten junge Rekruten zu erpressen (BS 2022, Sitzung 19). In den Gebieten unter ihrer Kontrolle verlangt al Shabaab von Familien, dass sie einen oder zwei ihrer Buben in ihre Ausbildungslager schicken. Familien, die sich weigern, müssen mit Bußgeldern rechnen; manchmal werden sie auch mit Strafverfolgung oder Schlimmerem bedroht. Manche Familien schicken ihre Buben weg, damit sie einer Rekrutierung entgehen (Sahan 6.5.2022). Knapp die Hälfte der Kinder wird mittels Gewalt und Entführung rekrutiert, die andere durch Überzeugung der Eltern, Ältesten oder der Kinder selbst (AA 28.6.2022, Sitzung 17). Die Methoden unterscheiden sich jedenfalls. So wurde beispielsweise ein Fall dokumentiert, wo im Gebiet um Xudur (Bakool) al Shabaab in manchen Dörfern die „freiwillige“ Übergabe von Kindern zwischen 12 und 15 Jahren forderte, während in anderen Dörfern Kinder zwangsweise rekrutiert wurden. Zudem sind Clans unterschiedlich stark betroffen. So berichten etwa die Hadame [Rahanweyn], dass immer wieder Kinder von al Shabaab zwangsrekrutiert worden sind - z.B. im Feber 2021 (UNSC 6.10.2021). Insgesamt bleibt die freiwillige oder Zwangsrekrutierung von Kindern aber unüblich und hauptsächlich auf jene Gebiete beschränkt, wo al Shabaab am stärksten ist (Sahan 6.5.2022). Nach Angaben einer Quelle entführt al Shabaab aber systematisch Kinder von Minderheitengruppen. Auch Mädchen werden für Zwangsehen mit Al-Shabaab-Kämpfern entführt (ÖB 11.2022, Sitzung 6).

Aus Lagern oder anderen Einrichtungen der al Shabaab können Kinder nur mit Schwierigkeit entkommen. Die Kinder sind dort brutalem physischen und psychischen Stress ausgesetzt, die der Folter nahekommen; sie sollen gebrochen werden (Sahan 6.5.2022). In Lagern werden Kinder einer grausamen körperlichen Ausbildung unterzogen. Sie erhalten keine adäquate Verpflegung, dafür aber eine Ausbildung an der Waffe, physische Strafen und religiöse Indoktrination. Kinder werden gezwungen, andere Kinder zu bestrafen oder zu exekutieren. Eingesetzt werden Kinder etwa als Munitions- und Versorgungsträger, zur Spionage, als Wachen; aber auch zur Anbringung von Sprengsätzen, in Kampfhandlungen und als Selbstmordattentäter (USDOS 12.4.2022, Sitzung 17). Mädchen werden auf eine Ehe vorbereitet, manchmal aber auch auf Selbstmordmissionen. Armeeeinheiten - wie Danab - haben immer wieder Operationen unternommen, um Kinder aus solchen Ausbildungslagern zu befreien (6.5.2022 Sahan).

Manchmal werden Kinder aus den Händen der al Shabaab befreit, so etwa durch Sicherheitskräfte im August 2020, als 33 Buben aus einer Madrassa in Kurtunwareey (Lower Shabelle) befreit wurden. Alle Kinder wurden mit ihren Eltern wiedervereint (UNSC 13.11.2020, Absatz 46,).

(Zwangs-)Rekrutierung: Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia (ÖB 11.2022, Sitzung 6). Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert (HI 12.2018, Sitzung 1). Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool (Marchal 2018, Sitzung 107). Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten (EASO 9.2021c, Sitzung 18). Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (Ingiriis 2020). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022).

Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet (Ingiriis 2020), jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen (Marchal 2018, Sitzung 92). Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z.B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung (BMLV 9.2.2023). Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen (Marchal 2018, Sitzung 105). Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen (FIS 7.8.2020, Sitzung 18; vergleiche ICG 27.6.2019, Sitzung 2). Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren (Khalil 1.2019, Sitzung 14). Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 36/40). Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 17f). Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen (BMLV 9.2.2023). Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM bzw. ATMIS oder die Regierung äußern (EASO 9.2021c, Sitzung 21).

Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan (Ingiriis 2020). Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (EASO 9.2021c, Sitzung 18).

Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt (EASO 9.2021c, Sitzung 21). Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlendem religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle (FIS 7.8.2020, Sitzung 17; vergleiche Khalil 1.2019, Sitzung 33). Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle (Khalil 1.2019, Sitzung 33). Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden (Felbab 2020, Sitzung 120f). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 % (Botha 2019). Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen (SIDRA 6.2019a, Sitzung 4). Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent (Khalil 1.2019, Sitzung 16). Nach neueren Angaben verdienen Fußsoldaten und niedrige Ränge 60-100 US-Dollar, Finanzbedienstete z. B. 250 US-Dollar im Monat (UNSC 10.10.2022, Absatz 52,). Gemäß somalischen Regierungsangaben erhalten neue Rekruten 30 US-Dollar im Monat, ein ausgebildeter Fußsoldat oder ein Fahrer 70 US-Dollar; den höchsten Sold erhält demnach mit 25.000 US-Dollar der Emir selbst (FGS 2022, Sitzung 99). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (Botha 2019).

Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer (FIS 7.8.2020, Sitzung 17). Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans (Khalil 1.2019, Sitzung 14f; vergleiche EASO 9.2021c, Sitzung 20). Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern (FIS 5.10.2018, Sitzung 34). Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42f). So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (Ingiriis 2020).

Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Diese "Vorschreibung" - also wieviele Rekruten ein Dorf, ein Gebiet oder ein Clan stellen muss - erfolgt üblicherweise jährlich, und zwar im Zuge der Vorschreibung anderer jährlicher Abgaben. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens (BMLV 9.2.2023). Eltern versuchen, durch Geldzahlungen die Rekrutierung ihrer Kinder zu verhindern (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (BMLV 9.2.2023).

Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 18). Trotzdem schicken Eltern ihre Kinder mitunter in von der Regierung kontrollierte Gebiete – meist zu Verwandten (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,).

Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat (BMLV 9.2.2023). Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 40). Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (BMLV 9.2.2023; vergleiche UNSC 28.9.2020, Annex 7.2).

Frauen: Der Einsatz von Frauen bei al Shabaab erfolgt zumeist in unterstützender Rolle: Als Steuereinheberinnen, Lehrer- oder Predigerinnen in Madrassen, Wächterinnen in Gefängnissen; zum Kochen und Putzen, in der Waffenpflege oder Spionage (UNSC 10.10.2022, Absatz 29,). In den Führungsgremien und Kampfkräften von al Shabaab finden sich keine Frauen. Deren Rolle reicht von jener der einfachen Ehefrau bis hin zu Rekrutierung, Missionierung, Spionage, Waffenschmuggel und Spendensammlung (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Frauen, die mit Soldaten oder AMISOM bzw. ATMIS Kleinhandel treiben, werden als Spione und Informationsbeschafferinnen rekrutiert (ICG 27.6.2019, Sitzung 12). Andererseits werden Frauen und Mädchen der Bantu mitunter nicht nur in eine Ehe gezwungen – und zwar unter Todesdrohungen – die Ehe gestaltet sich noch dazu eher als temporäre sexuelle Versklavung (Benstead 2021).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        Benstead, L. J. / van Lehman, D. (2021): Two Classes of "Marriage": Race and Sexual Slavery in Al-Shabaab-Controlled Somalia, in: The Journal of the Middle East and Africa, zitiert in: EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, S.18, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/2021_09_EASO_COI_Report_Somalia_Targeted_profiles.pdf, Zugriff 23.6.2022

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

        Botha, A. / Security Institute for Governance and Leadership in Africa, Stellenbosch University (2019): Reasons for joining and staying in al-Shabaab in Somalia, Research Brief 5/2019, https://www.sun.ac.za/english/faculty/milscience/sigla/Documents/Navy%20News%202019/SIGLA%20Brief%205%202019.pdf, Zugriff 23.6.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

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        Felbab - Felbab-Brown, Vanda (2020): The Problem with Militias in Somalia; in: Hybrid Conflict, Hybrid Peace: How Militias and Paramilitary Groups Shape Post-conflict Transitions, Adam Day (Hrsg.), UN University, https://i.unu.edu/media/cpr.unu.edu/post/3895/HybridConflictSomaliaWeb.pdf, Zugriff 23.6.2022

        FGS - Federal Government [Somalia] (2022): National Risk Assessment on Money Laundering ans Terrorist Financing, https://frc.gov.so/wp-content/uploads/2022/05/NRA-Report-2022.pdf, Zugriff 13.12.2022

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        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf/2abe79e2-baf3-0a23-97d1-f6944b6d21a7/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf, Zugriff 12.5.2022

        HI - Hiraal Institute (12.2018): Al-Shabab's Military Machine, https://hiraalinstitute.org/wp-content/uploads/2018/12/The-Al-Shabab-Military.pdf, Zugriff 23.6.2022

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        ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011897/b145-women-and-al-shabaab_0.pdf, Zugriff 9.6.2022

        Ingiriis, M. H. (2020): The anthropology of Al-Shabaab: the salient factors for the insurgency movement’s recruitment project, in: Small Wars & Insurgencies, Vol. 31/2, 2020, pp. 359-380, zitiert in: EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, S.18, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/2021_09_EASO_COI_Report_Somalia_Targeted_profiles.pdf, Zugriff 23.6.2022

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Deserteure und ehemalige Kämpfer von al Shabaab

Letzte Änderung: 17.03.2023

Allgemein geben Deserteure für das Verlassen der al Shabaab folgende Gründe an: inadäquate Bezahlung, familiäre Verpflichtungen, schlechte Lebensbedingungen, Risiko für Leib und Leben (Khalil 1.2019, Sitzung 33/16f). Mit Letzterem ist nicht bloß die Gefahr von Kampfhandlungen gemeint, sondern auch die von al Shabaab angewandte Bestrafung bei (vermeintlichen) Regelbrüchen (Khalil 1.2019, Sitzung 16f). Generell stellt die Desertion eines Einzelnen für al Shabaab ein kleineres Problem dar, als der Seitenwechsel ganzer Clans und der zugehörigen Milizen (BMLV 9.2.2023).

Verfolgung: Al Shabaab duldet keine Desertion – wie auch andere dschihadistische Bewegungen erlaubt die Gruppe keinen Austritt (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Allerdings sind nicht alle ehemaligen Kämpfer der al Shabaab Deserteure. Es gibt Beispiele, wo Angehörige die Entlassung eines Familienmitglieds durch die al Shabaab erwirken konnten (Khalil 1.2019, Sitzung 17f). Zudem werden Kämpfer der al Shabaab nicht auf unbestimmte Zeit als Soldaten eingesetzt. Nach einem bestimmten Zeitraum (möglicherweise auch je nach Funktion variabel), werden diese abgerüstet und aus dem Dienst entlassen. Als ausgebildete Kämpfer können sie im Notfall rasch wieder reaktiviert werden (BMLV 9.2.2023). Auch manche Deserteure gehen zurück zu al Shabaab (Sahan 18.11.2021).

Eine Desertion gleicht jedoch oft einer Flucht – mit entsprechender Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens al Shabaab. Manche Deserteure warten Monate oder sogar Jahre, bevor sich ihnen eine Gelegenheit zur Flucht bietet (Khalil 1.2019, Sitzung 17f). In manchen Fällen kann ein Deserteur bei seinem eigenen Clan Schutz finden (FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Der Experte Marchal betont, dass für Deserteure, die nach Mogadischu geflüchtet sind, der Clan eine bestimmte Rolle spielt – nämlich bei der Frage, ob der Clan innerhalb von al Shabaab stark oder wenig vertreten ist. Für jene, deren erweiterte Familie in Mogadischu stark vertreten ist und deren Clan bei al Shabaab wenig vertreten ist (z. B. Hawiye / Habr Gedir), wird es eine Möglichkeit geben unterzutauchen. Für andere, deren Clan in Mogadischu keine starke Position hat, und dieser noch dazu bei al Shabaab stark involviert ist (z. B. Rahanweyn), wird ein Untertauchen mitunter schwierig (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Al Shabaab ist aufgrund eines Systems von Informanten in der Lage, Deserteure nahezu im gesamten Land aufzuspüren. Die Gruppe nutzt dafür unter anderem Clannetzwerke. In Mogadischu sind Deserteure nicht sicher. Ob sie jedoch zum Ziel werden oder nicht, hängt auch von ihrer früheren Rolle bei al Shabaab ab (ÖB 11.2022, Sitzung 7). Generell richtet sich al Shabaab aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen darauf ein, Gewalt "exemplarisch" auszuüben. Bestrafungen kommen zum Einsatz, um die Bevölkerung zu ängstigen (ACCORD 31.5.2021). Der Experte Marchal erklärt, dass al Shabaab versucht, jene Deserteure, welcher sie habhaft werden kann, auch zu bestrafen – und zwar zum Zweck des statuierten Exempels (EASO 9.2021c, Sitzung 28). Dieses soll potenziellen Deserteuren zur Abschreckung dienen (EASO 9.2021c, Sitzung 28; vergleiche Sahan 18.11.2021). Ein Deserteur befindet sich also dann in einer gefährlichen Situation, wenn al Shabaab ihn aufspüren konnte (FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Es gibt Berichte, wonach Deserteure von al Shabaab als Abtrünnige (murtadd) verfolgt und teilweise exekutiert werden (ÖB 11.2022, Sitzung 7; Sahan 18.11.2021). Dies gilt insbesondere für Deserteure mittleren Ranges. Doch auch einfache Mannschaftsgrade können zum Ziel werden (BFA 8.2017, Sitzung 43f; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7, FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Viele Deserteure haben Angst davor, vom Amniyad [Geheimdienst von al Shabaab] aufgespürt zu werden (BBC 27.5.2019). 70 % von 32 bei einer Studie im Jahr 2017 befragten Deserteuren haben angegeben, Todesdrohungen von al Shabaab erhalten zu haben. Sie fühlten sich verfolgt. Weitere Deserteure berichteten davon, dass ihre Familien bedroht worden sind. Von jenen, die nicht bedroht wurden, hatten die meisten ihre Telefonnummern gewechselt (Taylor 2019, Sitzung 9ff).

Andererseits gibt es keine Hinweise darauf, dass die Gruppe z. B. in Mogadischu aktiv Deserteure sucht und liquidiert (LI 8.9.2022). Es gibt zudem kaum bekannte Beispiele für getötete Deserteure (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 8). Überhaupt gibt es keine konkreten Zahlen bzw. Berichte zu Tötungen von Deserteuren (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7). Interessanterweise sind auch die vorhandenen Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige der al Shabaab nie zum Angriffsziel geworden [siehe unten] (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 34). Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass desertierte Fußsoldaten von al Shabaab über weite Strecken verfolgt werden (ACCORD 31.5.2021). Inwiefern al Shabaab also tatsächlich Energie in das Aufspüren und Töten von desertierten Fußsoldaten investieren will, ist unklar. Insgesamt besteht in einigen Fällen offenbar auch die Möglichkeit, dass sich ein Deserteur mit der al Shabaab verständigt – etwa durch die Zahlung von Geldbeträgen (BMLV 9.2.2023; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 7).

Deserteure in Somaliland und Puntland gelten grundsätzlich nicht als gefährdet. Deserteure aus Süd- oder Zentralsomalia befinden sich jedoch in Somaliland in einer schwierigen Lage, da sie nicht wissen, wem sie vertrauen können oder wer al Shabaab nahe steht (ÖB 11.2022, Sitzung 7; vergleiche BMLV 9.2.2023).

Amnestie: Der ehemalige Präsident Farmaajo hat zwar eine Amnestie für Angehörige der al Shabaab ausgesprochen, welche sich freiwillig ergeben. Allerdings ist diese Amnestie nur mündlich ausgesprochen worden. Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür. Trotzdem geben Deserteure an, dass die Aussicht auf eine Amnestie ein maßgeblicher Faktor für ihre Desertion war (Khalil 1.2019, Sitzung 17). Ehemalige Mitglieder der al Shabaab werden von der NISA gescreent; jene, die als „high risk“ eingestuft werden, werden dem Justizministerium zur Strafverfolgung übergeben (Santur 22.10.2018). Insgesamt gibt es keine eindeutigen Prozeduren oder Regeln im Umgang mit Deserteuren. Es fehlt an Vorhersagbarkeit und Transparenz (Sahan 18.11.2021).

Rehabilitation/Reintegration: Die somalische Regierung betreibt mehrere Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige von al Shabaab, die als "low-risk" eingestuft wurden. Dies sind in erster Linie Zentren in Mogadischu, Baidoa und Kismayo (UNSC 1.9.2022, Absatz 70 ;, vergleiche Sahan 18.11.2021). Im Rahmen des National Program for the Treatment and Handling of Disengaged Combatants, über welches auch die Rehabilitationszentren geführt werden, wurden tausende Deserteure der al Shabaab rehabilitiert und reintegriert. Das Rehabilitationsprogramm wird maßgeblich von Großbritannien und Deutschland finanziert. Mit Stand Ende Dezember 2022 befanden sich mehr als 450 männliche und weibliche Deserteure in Betreuung (VOA 29.12.2022), im Juli 2022 waren es 304 Männer und 184 Frauen. Von Jänner bis August 2022 sind 187 Männer und 186 Frauen aus den Zentren als rehabilitiert entlassen und in die Gesellschaft reintegriert worden (UNSC 1.9.2022, Absatz 70,). IOM unterstützt in Baidoa ein Projekt zur Demobilisierung und Reintegration von männlichen und weiblichen "disengaged combatants" der al Shabaab. Dabei wird die Grundversorgung gesichert, Zugang zu Berufsausbildung ermöglicht und Mediationsarbeit zur langfristigen Reintegration geleistet. Nach der Ausbildung wird Geld zur Verfügung gestellt, um gegebenenfalls ein Unternehmen gründen zu können (ÖB 11.2022, Sitzung 7). Bei der Reintegration gibt es unterschiedliche Erfolge. Einige schaffen es, in ein normales Leben zurückzufinden. Andere sehen sich gezwungen, das Land zu verlassen, nachdem sie unter ständigen Einschüchterungen durch al Shabaab leiden. Eine unbekannte Zahl wurde von al Shabaab ermordet – als Abschreckung für andere (Sahan 18.11.2021).

Für Kinder gibt es eigene Zentren. Diese werden von NGOs betrieben, Kindern wird dort Bildung und Berufsbildung zur Verfügung gestellt (Santur 22.10.2018). U. a. werden bei von UNICEF unterstützten Reintegrationsprojekten für ehemalige Kindersoldaten Minderjährige in ihren Gemeinden resozialisiert. Sie erhalten außerdem Zugang zu einer Ausbildung (ÖB 11.2022, Sitzung 7).

Reintegration - Beispiel Serendi Rehabilitation Centre (SRC), Mogadischu: Das SRC steht jenen ehemaligen Angehörigen der al Shabaab offen, die als "low-risk" eingestuft wurden (Khalil 1.2019, Sitzung vii). Als "low-risk" wird von der NISA herausgefiltert, wer al Shabaab freiwillig verlassen hat; wer sich gegen die Ideologie der Gruppe ausspricht; und wer nicht als künftiges Risiko für die öffentliche Sicherheit erachtet wird (Khalil 1.2019, Sitzung 19/2; vergleiche BBC 23.11.2020). Trotzdem gibt es in Rehabilitationszentren auch Agenten von al Shabaab (BBC 23.11.2020).

Die Aufenthaltsdauer im SRC beträgt 6-12 Monate (Khalil 1.2019, Sitzung 19). Am SRC erhalten die Bewohner neben psycho-sozialer Unterstützung auch eine schulische und eine Berufsausbildung (Khalil 1.2019, Sitzung 23/12). Ein Rehabilitierter erzählt, dass er nun Schulbusfahrer ist, ein anderer ist Friseur. Im Zentrum gibt es z.B. auch Ausbildung in Mechanik, Schweißen, IT, Basisbildung und Englisch (BBC 23.11.2020). Das SRC unterstützt die Bewohner bei der Wiederherstellung des Kontakts zu Familie und Clan (Khalil 1.2019, Sitzung 24). Spätestens im Zuge der Reintegration in Mogadischu wenden sich viele aus dem SRC Entlassene an (teils entfernte) Verwandte. In vielen Fällen konnten positive Beziehungen zur Familie wieder hergestellt werden, die meisten wurden von ihrer Kernfamilie wieder aufgenommen (Khalil 1.2019, Sitzung 27f).

Nach der Entlassung aus dem SRC stellt gesellschaftliche Diskriminierung kaum ein relevantes Problem für ehemalige Angehörige der al Shabaab dar, wohl auch, weil es vielen gelingt, ihre Vergangenheit zu verschweigen (Kahlil 1.2019, Sitzung 29/34). Viele der Deserteure stammen zwar aus Mogadischu (Kahlil 1.2019, Sitzung 3), die Mehrheit jedoch aus Lower Shabelle, Middle Juba, Hiiraan oder Galgaduud (Kahlil 1.2019, Sitzung 3/27). Trotzdem entscheiden sich viele für eine Reintegration in Mogadischu – mitunter, weil dort relative Anonymität herrscht (Khalil 1.2019, Sitzung 29/27).

Bereits entlassene rehabilitierte ehemalige Angehörige von al Shabaab bleiben auch in Mogadischu und versuchen, dort in der Masse unerkannt zu bleiben (BBC 23.11.2020). Viele der aus dem SRC Entlassenen sind aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht in ihre eigentliche Heimat zurückgekehrt. Einige von ihnen meiden auch in Mogadischu bestimmte Stadtgebiete, da sie Angst haben, dort als ehemalige Angehörige der al Shabaab identifiziert zu werden. Insgesamt äußern aus dem SRC Entlassene häufig Sicherheitsbedenken bezüglich al Shabaab – natürlich besteht eine latente Bedrohung, von ehemaligen Kameraden erkannt zu werden. Allerdings ist nur in einem Fall auch tatsächlich eine Drohung (über SMS) ausgesprochen worden (Khalil 1.2019, Sitzung 27f). Schon in ihrer Zeit im halb-offenen SRC haben Deserteure am Wochenende Ausgang, und fast alle nehmen diesen auch in Anspruch (Khalil 1.2019, Sitzung 22).

Quellen:

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        BBC - BBC News (23.11.2020): Life after al-Shabab: Driving a school bus instead of an armed pickup truck, https://www.bbc.co.uk/news/stories-55016792, Zugriff 23.6.2022

        BBC - BBC News / Harper, Mary (27.5.2019): Somalia’s frightening network of Islamist spies, https://www.bbc.com/news/world-africa-48390166, Zugriff 23.6.2022

        BFA - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Staatendokumentation [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, https://www.ecoi.net/en/file/local/1406268/5209_1502195321_ffm-report-somalia-sicherheitslage-onlineversion-2017-08-ke.pdf , Zugriff 9.6.2022

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

        EASO - European Asylum Support Office (9.2021c): Somalia – Targeted Profiles, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/2021_09_EASO_COI_Report_Somalia_Targeted_profiles.pdf, Zugriff 23.6.2022

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

        Khalil - Khalil, James / Brown, Rory / et.al. / Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (1.2019): Deradicalisation and Disengagement in Somalia. Evidence from a Rehabilitation Programme for Former Members of Al-Shabaab, https://static.rusi.org/20190104_whr_4-18_deradicalisation_and_disengagement_in_somalia_web.pdf, Zugriff 23.6.2022

        LI - Landinfo [Norwegen] (8.9.2022): Somalia: Sikkerhetssituasjonen i Mogadishu og al-Shabaabs innflytelse i byen, https://landinfo.no/wp-content/uploads/2022/09/Respons-Somalia-Sikkerhetssituasjonen-i-Mogadishu-og-al-Shabaabs-innflytelse-i-byen-08092022-1.pdf, Zugriff 15.9.2022

        NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

        ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (18.11.2021): A blueprint for the fight against Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 272, per e-Mail

        Santur, H. G. / The New Humanitarian (22.10.2018): Reporter’s Diary: Heal Somalia’s former child soldiers, heal a nation, https://www.thenewhumanitarian.org/opinion/2018/10/22/heal-somalia-former-child-soldiers-heal-nation-al-shabab, Zugriff 23.6.2022

        Taylor, C. / Semmelrock, T. / McDermott, A. (2019): The Cost of Defection: The Consequences of Quitting Al-Shabaab, in: International Journal of Conflict and Violence, Vol. 13/2019, S.1-13, https://www.ijcv.org/index.php/ijcv/article/view/3122/pdf, Zugriff 3.12.2021

        UNSC - UN Security Council (1.9.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/665], https://www.ecoi.net/en/file/local/2078696/N2257941.pdf, Zugriff 24.11.2022

        VOA - Voice of America / Harun Maruf (29.12.2022): Somalia’s Defector Rehabilitation Centers Face Financial Uncertainty, https://www.voanews.com/a/somalia-s-defector-rehabilitation-centers-face-financial-uncertainty/6897372.html, Zugriff 5.1.2023

Allgemeine Menschenrechtslage

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 17.03.2023

In der somalischen Verfassung ist der Schutz der Menschenrechte ebenso verankert wie die prägende Rolle der Scharia als Rechtsquelle (AA 28.6.2022, Sitzung 20).

Trotzdem werden Grund- und Menschenrechte regelmäßig und systematisch verletzt. Im Wettstreit stehende, politische Akteure in Süd-/Zentralsomalia sind in schwere und systematische Menschenrechtsverbrechen involviert (BS 2022, Sitzung 18; vergleiche AI 29.3.2022). Die schwersten Menschenrechtsverletzungen sind: willkürliche und ungesetzliche Tötungen durch Kräfte der somalischen Bundesregierung; Entführungen und Verschwindenlassen; Rekrutierung und Verwendung von Kindersoldaten; Folter und andere grausame Behandlung; harte Haftbedingungen; willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 1f; vergleiche BS 2022, Sitzung 34). Al Shabaab ist für die Mehrheit der schweren Menschenrechtsverletzungen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche UNSC 6.10.2021) und für den größten Teil ziviler Todesopfer verantwortlich (BS 2022, Sitzung 34). Es gibt aber auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Kräfte der Bundesregierung und von Regionalregierungen. Auch Clanmilizen sind für Vergehen verantwortlich - darunter Tötungen, Entführungen und Zerstörung zivilen Eigentums (UNSC 6.10.2021).

Bei Kämpfen unter Beteiligung von ATMIS, Regierung, Milizen und al Shabaab kommt es zur Tötung, Verletzung und Vertreibung von Zivilisten sowie zu anderen Kriegsverbrechen, welche durch alle Konfliktbeteiligten verübt werden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 2). Es gibt zahlreiche Berichte, wonach die Regierung und ihre Handlanger Personen willkürlich und außergesetzlich töten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Nach anderen Angaben stellen extralegale Tötungen bei den Sicherheitskräften kein strukturelles Problem dar (AA 28.6.2022, Sitzung 22). Jedenfalls werden Sicherheitskräfte beschuldigt, Zivilisten bei Streitigkeiten um Land, bei Checkpoints, bei Zwangsräumungen und anderen Gelegenheiten willkürlich angegriffen zu haben (BS 2022, Sitzung 18). In solchen Fällen ist aufgrund des dysfunktionalen Justizsystems häufig von Straflosigkeit auszugehen (AA 28.6.2022, Sitzung 22).

Für die meisten Tötungen sind aber al Shabaab und Clanmilizen verantwortlich (USDOS 12.4.2022, Sitzung 3; vergleiche AI 29.3.2022). Im Zeitraum 7.5. bis 23.8.2022 kamen landesweit 419 Zivilisten ums Leben oder wurden verletzt. Für 88 Opfer trug dabei al Shabaab, für 249 Unbekannte, für 30 Clanmilizen, für 46 staatliche Sicherheitskräfte und für sechs die Liyu Police die Verantwortung (UNSC 1.9.2022, Absatz 52,). Im Zeitraum 1.2. bis 6.5.2022 sind es vergleichsweise insgesamt 428 Opfer gewesen (UNSC 13.5.2022, Absatz 51,). In den vergangenen Jahren war die Zahl an zivilen Opfern stetig zurückgegangen. Gemäß verfügbarer Zahlen der UN ist aber 2022 bereits im November das Jahr mit den höchsten Zahlen an getöteten (613) und verletzten (948) Zivilisten seit dem Jahr 2017. Dabei wurden bei Sprengstoffanschlägen 315 Menschen getötet und 686 verletzt. Von diesen Anschlägen können mindestens 94 Prozent al Shabaab angelastet werden. Die restlichen Opfer wurden durch staatliche Kräfte, Milizen und Unbekannte verursacht (UNOHCHR 14.11.2022).

Es gibt mehrere Berichte über von der Regierung gesteuertes, politisch motiviertes Verschwindenlassen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen durch Bundes- und Regionalbehörden sowie durch alliierte Milizen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 9; vergleiche BS 2022, Sitzung 16). Die Regierung verwendet bei derartigen Verhaftungen oft den Vorwurf der Mitgliedschaft bei al Shabaab (USDOS 12.4.2022, Sitzung 10).

Generell ist Straflosigkeit die Norm. Die Regierung macht zumindest einige Schritte, um öffentlich Bedienstete – vor allem Sicherheitskräfte – strafrechtlich zu verfolgen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2).

Al Shabaab verletzt in den Gebieten unter ihrer Kontrolle systematisch Grundrechte (BS 2022, Sitzung 19). Die Gruppe ist für die Mehrheit schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Al Shabaab verübt terroristische Anschläge gegen Zivilisten; begeht Morde und Attentate; entführt Menschen, begeht Vergewaltigungen und vollzieht grausame Bestrafungen; Bürgerrechte und Bewegungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2). Die Gruppe rekrutiert Kindersoldaten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 2; vergleiche HRW 13.1.2022). Al Shabaab entführt Menschen und nimmt Geiseln (USDOS 12.4.2022, Sitzung 5). Die Entführung und Verhaftung von Zivilisten erfolgt, um Regelbrüche zu ahnden oder Kollaboration zu erzwingen. Von Ende 2020 bis September 2021 wurden 13 derartige Entführungen dokumentiert, betroffen waren 155 Zivilisten – u. a. Älteste, Wirtschaftstreibende und Jugendliche (UNSC 6.10.2021). Nachdem sich al Shabaab bei schweren Kämpfen im Bereich Siigale Degta (Lower Shabelle) am 8.3.2022 zurückziehen musste, kehrte die Gruppe noch am selben Tag in das Dorf zurück. Al Shabaab beschuldigte die Gemeinde der Spionage und Kollaboration mit der Bundesarmee, tötete mindestens einen Mann und entführte 33 Dorfbewohner (darunter neun Frauen). Der Verbleib dieser Menschen ist bis heute ungeklärt (UNSC 10.10.2022, Sitzung 86).

Al Shabaab verhängt in ihren Gebieten Körperstrafen. So werden sexuelle Vergehen mitunter mit Auspeitschen, Diebstahl mit Amputation und Spionage mit dem Tode bestraft (UNSC 6.10.2021). Al Shabaab richtet regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen hin, denen Kooperation mit der Regierung, internationalen Organisationen oder westlichen Hilfsorganisationen vorgeworfen wird (AA 28.6.2022, Sitzung 16), bzw. Zivilisten, die zu Abtrünnigen oder Spionen deklariert werden (BS 2022, Sitzung 19). Al Shabaab übt teils Rache an der Bevölkerung von Gebieten, die zuvor „befreit“ aber danach von al Shabaab wieder eingenommen worden waren. Die Gruppe wendet u. a. auch das Mittel von Zwangsvertreibungen an, um sich an sich widersetzenden oder nicht die eigenen Regeln befolgenden Bevölkerungsgruppen zu rächen. Bei derartigen Kollektivstrafen wurden z. B. im ersten Halbjahr 2021 im SWS und in Galmudug mehr als 11.000 Familien vertrieben (UNSC 6.10.2021). Mitunter kommt es bei al Shabaab auch zu Zwangsarbeit (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        AI - Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22, The State of the World's Human Rights - Somalia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070229.html, Zugriff 6.4.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

        HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Somalia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066476.html, Zugriff 3.2.2022

        ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

        UNOHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (14.11.2022): Somalia - Türk decries steep rise in civilian casualties amid surge in Al-Shabaab attacks, https://www.ecoi.net/de/dokument/2082042.html, Zugriff 22.11.2022

        UNSC - UN Security Council (10.10.2022): Letter dated 10 October 2022 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Letter dated 1 September 2022 from the Panel of Experts on Somalia addressed to the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia [S/2022/754], https://www.ecoi.net/en/file/local/2081261/N2263844.pdf, Zugriff 6.12.2022

        UNSC - UN Security Council (1.9.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/665], https://www.ecoi.net/en/file/local/2078696/N2257941.pdf, Zugriff 24.11.2022

        UNSC - UN Security Council (13.5.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/392], https://reliefweb.int/attachments/02e8f544-fa6f-47fe-80a1-6f7ee9d6c94e/N2233663.pdf, Zugriff 27.5.2022

        UNSC - UN Security Council (6.10.2021): Letter dated 5 October 2021 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Final report of the Panel of Experts on Somalia (S/2021/849), https://reliefweb.int/attachments/17a953bc-861a-348a-a59b-1e182f053030/S_2021_849_E.pdf, Zugriff 14.10.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Minderheiten und Clans

Letzte Änderung: 17.03.2023

Zu Clanschutz siehe auch Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen (SPC 9.2.2022). Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben (AA 28.6.2022, Sitzung 11). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2022, Sitzung 10). Selbst relative starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan 30.9.2022).

Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessenvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des Xeer. Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler. Al Shabaab installiert oft Älteste, welche die Gruppe repräsentieren. Er wird so zum Bindeglied zwischen der Gemeinschaft und al Shabaab. So werden zuvor legitime Strukturen in Geiselhaft genommen (Sahan 26.10.2022).

In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56) und für ökonomische sowie politische Partizipation (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56; vergleiche BS 2022, Sitzung 23). Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2022, Sitzung 23). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UNOCHA 14.3.2022).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Weder das traditionelle Recht (Xeer) (SEM 31.5.2017, Sitzung 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, Sitzung 42; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen (ÖB 11.2022, Sitzung 4). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, Sitzung 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, Sitzung 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, Sitzung 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, Sitzung 14).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 58).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB 11.2022, Sitzung 3). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB 11.2022, Sitzung 3; vergleiche USDOS 12.4.2022, Sitzung 31f; FH 2022a, B4). Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2022a, B4). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (ÖB 11.2022, Sitzung 4).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41; vergleiche AA 28.6.2022, Sitzung 14; FH 2022a, F4). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 28.6.2022, Sitzung 14). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, und sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan 24.10.2022; vergleiche SPC 9.2.2022). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan 24.10.2022). Dementsprechend stehen Haushalte, die einer Minderheit angehören, einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u.a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (UNOCHA 14.3.2022).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41). In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (FIS 7.8.2020, Sitzung 39).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt (BS 2022, Sitzung 19; vergleiche ÖB 11.2022 Sitzung 6). Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten (ICG 27.6.2019, Sitzung 7f). Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet (DI 6.2019, Sitzung 11; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 4). Al Shabaab hat sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Gruppen zunutze gemacht (Sahan 24.10.2022). Ein überproportionaler Teil von al Shabaab setzt sich aus Angehörigen der am meisten marginalisierten Gruppen Somalias zusammen (Sahan 30.9.2022). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab beitreten (FIS 7.8.2020, Sitzung 21). Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan 30.9.2022). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB 11.2022, Sitzung 4f).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

        DI - Development Initiatives (6.2019): Towards an improved understanding of vulnerability and resilience in Somalia, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Report_Towards-an-improved-understanding-of-vulnerability-and-resilience-in-Somalia.pdf, Zugriff 27.5.2022

        FH - Freedom House (2022a): Freedom in the World 2022 – Somalia, https://freedomhouse.org/country/somalia/freedom-world/2022, Zugriff 24.5.2022

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

        ICG - International Crisis Group (27.6.2019): Women and Al-Shabaab’s Insurgency, https://www.ecoi.net/en/file/local/2011897/b145-women-and-al-shabaab_0.pdf, Zugriff 9.6.2022

        LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (1.7.2019): Somalia - Rätts- och säkerhetssektorn Version 1.0, https://lifos.migrationsverket.se/dokument?documentAttachmentId=46794, Zugriff 9.6.2022

        ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (26.10.2022): The deaths of clan elders in the struggle against Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 468, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (24.10.2022): Power, access, and social capital in Somalia, in: The Somali Wire Issue No. 467, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (30.9.2022): Winning the war of grievances, in: The Somali Wire Issue No. 458, per e-Mail

        SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 9.6.2022

        SPC - Somalia Protection Cluster (9.2.2022): Protection Analysis Update, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOM_PAU_Somalia-Protection-Analysis_Feb2022.pdf, Zugriff 25.5.2022

        UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065866/61c97bea4.pdf, Zugriff 12.5.2022

        UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.3.2022): Somalia Humanitarian Bulletin, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/OCHA%20SOMALIA%20HUMANITARIAN%20BULLETIN%20-%20FEBRUARY%202022.pdf, Zugriff 18.5.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Bevölkerungsstruktur

Letzte Änderung: 26.07.2022

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 56). Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar (AA 28.6.2022, Sitzung 11/14). Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist (GIGA 3.7.2018). Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden (UNOCHA 14.3.2022; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44). Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 44; vergleiche SEM, 31.5.2017, Sitzung 12). Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt (AA 18.4.2021, Sitzung 12). Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 5).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern (BS 2022, Sitzung 34). Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (SEM 31.5.2017, Sitzung 8).

Die sogenannten "noblen" Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, "noble" Clanfamilien sind meist Nomaden:

●        Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

●        Hawiye leben v.a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

●        Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

●        Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

●        Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie (SEM 31.5.2017, Sitzung 10). Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (BS 2020, Sitzung 9).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (SEM 31.5.2017, Sitzung 25). In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (FIS 7.8.2020, Sitzung 38ff).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die "noblen" Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Vorheriger SuchbegriffBerufe ausüben; sowie die Angehörigen "nobler" Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (SEM 31.5.2017, Sitzung 5). Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen (LI 4.4.2016, Sitzung 9). Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (BS 2022, Sitzung 25).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf, Zugriff 3.2.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Somalia Country Report, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_SOM.pdf, Zugriff 4.5.2020

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 17.3.2021

        GIGA - Wissenschaftlicher Mitarbeiter am German Institute of Global and Area Studies (3.7.2018): Sachverständigengutachten zu 10 K 1802/14A

        LI - Landinfo [Norwegen] (4.4.2016): Somalia: Practical issues and security challenges associated with travels in Southern Somalia, https://landinfo.no/wp-content/uploads/2018/03/Report-Somalia-Practical-issues-and-security-challenges-associated-with-travels-in-Southern-Somalia-4-April-2016.pdf, Zugriff 18.12.2020

        NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

        SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 10.12.2020

        UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065866/61c97bea4.pdf, Zugriff 12.5.2022

        UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (14.3.2022): Somalia Humanitarian Bulletin, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/OCHA%20SOMALIA%20HUMANITARIAN%20BULLETIN%20-%20FEBRUARY%202022.pdf, Zugriff 18.5.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose

Letzte Änderung: 13.06.2022

Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (SEM 31.5.2017, Sitzung 11f/32f).

Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren (USDOS 12.4.2022, Sitzung 40). Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser (AA 18.4.2021, Sitzung 12). In Mogadischu ist es im Allgemeinen schwierig, Menschen die dort aufgewachsen sind, nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Selbst anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (UNFPA/DIS 25.6.2020).

Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter des Propheten; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye/Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014, Sitzung 46f/103).

Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben (ACCORD 29.5.2019, Sitzung 2f). Allerdings gibt es laut Experten bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri 3.5.2021).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf, Zugriff 3.2.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (29.5.2019): Anfragebeantwortung a-11008 (Auskunftsperson: Lidwien Kapteijns)

        EASO - European Asylum Support Office (8.2014): South and Central Somalia: Country Overview, https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/public/COI-Report-Somalia.pdf, Zugriff 9.6.2022

        SEM - Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (31.5.2017): Focus Somalia – Clans und Minderheiten, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/afrika/som/SOM-clans-d.pdf, Zugriff 9.6.2022

        Shukri, Saeed / The Elephant (3.5.2021): Unrecognized Vote: Somaliland’s Democratic Journey, https://www.theelephant.info/long-reads/2021/05/03/unrecognized-vote-somalilands-democratic-journey/, Zugriff 17.2.2022

        UNFPA/DIS - UN Population Fund / Danish Immigration Service (Dänemark) (25.6.2020): Skype-Interview des DIS mit UNFPA, in: DIS (11.2020): Somalia - Health System, S.79-84, https://www.nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landenotater/COI_report_somalia_health_care_nov_2020.pdf?la=en-GB&hash=3F6C5E28C30AF49C2A5183D32E1B68E3BA52E60C, Zugriff 12.5.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Relevante Bevölkerungsgruppen

Kinder

Letzte Änderung: 17.03.2023

Zu Kindersoldaten und Zwangsrekrutierungen siehe Kapitel "Wehrdienst und Rekrutierungen".

Zu Kinderehen siehe Kapitel Frauen / Süd-/Zentralsomalia.

Die Regierung setzt Kinderrechte nur selten durch (Sahan 22.7.2022). Die Übergangsverfassung definiert Kinder als Personen, die jünger als 18 Jahre alt sind (USDOS 12.4.2022, Sitzung 46). Traditionell werden Kinder allerdings ab einem Alter von 15 Jahren als volljährig erachtet (LIFOS 16.4.2019, Sitzung 10/12). Nach anderen Angaben sehen viele Somali - und auch somalische Behörden - die Pubertät als relevantes Kriterium, um ein Kind als erwachsen zu erachten. Dem Geburtsdatum kommt im somalischen Kontext demnach nur eine geringe praktische und kulturelle Bedeutung zu (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 41).

Im April 2022 waren knapp 1,4 Millionen Kinder in ganz Somalia von akuter Unterernährung betroffen, davon 330.000 von schwerer Unterernährung (UNOCHA 20.4.2022, Sitzung 2). Somalia hat weltweit die höchste Kindersterblichkeitsrate (AI 18.8.2021, Sitzung 5). Eines von sieben Kindern stirbt vor dem fünften Geburtstag, schuld daran sind u. a. Unterernährung, Pneumonie, Masern und Durchfallerkrankungen (LIFOS 3.7.2019, Sitzung 11); nach anderen Angaben sind es sogar 117 Todesfälle bei 1.000 Lebendgeburten. Die grundlegenden Impfungen erfolgen bei Kindern in nomadischen Gebieten bei nur 1 %, bei der restlichen ländlichen Bevölkerung bei 14 % und in Städten bei 19 % (WB 6.2021, Sitzung 30).

Gewalt: Es kommt weiterhin zu schweren Verbrechen gegen Kinder, darunter Rekrutierungen, Verwendung von Kindersoldaten (v.a. durch al Shabaab), Tötungen und Verstümmelungen sowie geschlechtsspezifischer Gewalt (UNSC 10.10.2022, Absatz 126,). Somalia findet sich unter den Ländern mit der größten Zahl an Verbrechen an Kindern weltweit (SPC 9.2.2022). Alle am Konflikt in Somalia beteiligten Parteien haben schwere Vergehen gegen Kinder begangen – darunter Tötung, Verstümmelung, Rekrutierung und Kampfeinsatz (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum 6.11.2021-31.1.2022 wurden 767 Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen an Kindern dokumentiert, 635 Kinder waren betroffen (467 Buben, 168 Mädchen). Für ca. 67 % der Vergehen war al Shabaab verantwortlich. Die registrierten Fälle umfassen 289 Kinder, die rekrutiert und eingesetzt wurden; 182 Kinder, die getötet oder verstümmelt wurden; 220 Kinder, die entführt wurden; und 68 Kinder, die einer Vergewaltigung oder einer anderen Form sexueller Gewalt ausgesetzt waren (UNSC 8.2.2022, Absatz 59,). Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl an schweren Verbrechen an Kindern weit höher liegt, als die der gemeldeten und verifizierten Fälle (SPC 9.2.2022).

Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern sind ernste Probleme. Es gibt keine bekannten Anstrengungen der Bundesregierung oder von Regionalregierungen, dagegen vorzugehen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42). Es kommt immer wieder zur Verhaftung und Inhaftierung von Kindern, denen Verbindungen zu bewaffneten Gruppen nachgesagt werden, durch Bundes- und Lokalkräfte (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum Jänner bis März 2022 wurden 194 Fälle von Kindesentführungen dokumentiert. In 192 dieser Fälle wird al Shabaab als Täter genannt (UNSC 10.10.2022, Absatz 127,). Kinder, die aus armen (meist ländlichen) Gegenden zu besser situierten Verwandten in die Städte geschickt werden, können manchmal auch Opfer von Menschenhandel werden (Sahan 22.7.2022).

Eine physische Bestrafung von Kindern wird weitgehend akzeptiert und ist weder im eigenen Heim, noch z.B. in der Schule oder in Haft verboten (UNOHCHR 25.11.2022).

Kinderarbeit: Tatsächlich gibt es kein Mindestalter hinsichtlich einer Anstellung. Das Gesetz verbietet und kriminalisiert nicht einmal die schlimmsten Formen von Kinderarbeit. Ein Gesetz, welches das Mindestalter für die meisten Tätigkeiten auf 15 Jahre festlegt, schreibt gleichzeitig ein unterschiedliches Alter für unterschiedliche Tätigkeiten vor. Dieses Gesetz wird allerdings nicht umgesetzt. Kinderarbeit ist weit verbreitet. Es ist nicht unüblich, dass Jugendliche schon in jungen Jahren als Hirten, in der Landwirtschaft oder im Haushalt arbeiten. Kinder werden außerdem zum Zerkleinern von Steinen, als Verkäufer oder Träger eingesetzt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 47). Kinderarbeit wird nicht als unmoralisch oder illegal erachtet, und daher ist sie in Somalia relativ normal. Die meisten Kinder beginnen bereits in jungen Jahren zu arbeiten, manche von ihnen können Arbeit und Schule kombinieren (Sahan 22.7.2022). Im ländlichen Somalia ist von Kinderarbeit - meist Feldarbeit oder nomadische Hilfstätigkeit - auszugehen. In urbanen Zentren werden Kinder als Dienstboten und für einfache Erledigungen eingesetzt. Für Puntland und Somaliland gilt dies nur eingeschränkt (AA 28.6.2022, Sitzung 17). Die körperliche Züchtigung von Kindern ist gesetzlich nicht verboten, allgemein üblich und wird gesellschaftlich akzeptiert (FIS 5.10.2018, Sitzung 33).

Adoption: Der Konflikt hat viele Waisen hervorgebracht. Zudem wurden viele Kinder von ihren biologischen Eltern getrennt (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 49f). Trotzdem gibt es weder eine offizielle, staatlich geregelte Adoptionspraxis noch ein staatliches Adoptionsrecht (ÖB 11.2022, Sitzung 10; vergleiche UNHCR 22.12.2021, Sitzung 23). Auch die Scharia sieht keine völlige Adoption vor, bevorzugt dagegen ein System der Vormundschaft (kafala). Dabei übernimmt der Vormund alle Pflichten eines Elternteils, allerdings ohne die Rechtsbindung des Kindes zur biologischen Familie zu brechen (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 23). Generell ist es nicht unüblich, eigene Kinder – etwa wegen eigener Armut – bei engen oder fernen Verwandten unterzubringen (SIDRA 6.2019b, Sitzung 4). Viele Kinder und Waisen wachsen innerhalb der weiteren Verwandtschaft auf, bei Familien, in die sie nicht hineingeboren wurden. Dabei gibt es keine rechtliche Vereinbarung, die Unterbringung erfolgt relativ formlos (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 24/49f; vergleiche ÖB 11.2022, Sitzung 10). Offizielle Dokumente sind zumeist nicht vorzufinden bzw. könnten diese einer Urkundenüberprüfung nicht standhalten (ÖB 11.2022, Sitzung 10). In Mogadischu gibt es einige Waisenhäuser; allerdings funktioniert dieses System nicht ausreichend und daher gibt es in der Stadt auch viele Straßenkinder (FIS 7.8.2020, Sitzung 38). In Somaliland gibt es die Möglichkeit, dass ein Gericht einem (Waisen)Kind eine neue Identität gibt, damit dieses Dokumente erhalten und die Schule besuchen kann (UNHCR 22.12.2021, Sitzung 49).

Bildung: Eigentlich sieht das Gesetz eine kostenlose Schulbildung vor. In der Realität ist diese aber weder kostenlos oder verpflichtend. In vielen Gebieten haben Kinder keinen Zugang zu Schulen, sei es aufgrund von Armut, Unsicherheit, langen Schulwegen oder wichtigeren Aufgaben im Haushalt (USDOS 12.4.2022, Sitzung 41f). Die Alphabetisierungsquote ist eine der niedrigsten weltweit. Dabei gibt es Unterschiede: In urbanen Gebieten beträgt die Quote knapp 65 %, in ländlichen Gebieten 27,5 %; unter Nomaden nur 12,1 %. Im Norden ist sie höher als im Süden (BS 2022, Sitzung 32). Außerdem hängt eine Alphabetisierung auch von der individuellen finanziellen Situation ab, Arme können sich Bildung nicht leisten (BS 2022, Sitzung 32; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 32). Die Mehrheit der Kinder - fast zwei Drittel - geht jedenfalls nicht in die Schule. Mädchen sind zudem in geringerem Ausmaß in Schulen eingeschrieben (USDOS 12.4.2022, Sitzung 42/47). Die nationale Bruttoregistrierungsrate (GER) betrug im Jahr 2020 14,4 % für die Grundschule und 14,3 % für die Sekundarstufe (ÖB 11.2022, Sitzung 15). Im Zuge der Dürre besteht für 420.000 Kinder das Risiko, von der Schule genommen zu werden. Darunter finden sich knapp 190.000 Mädchen (Sahan 19.9.2022). Schon vor der Dürre waren nur 52 % der Schulen in Somalia in permanenten Strukturen untergebracht und zudem befanden sich die Schulen für einen von drei Haushalten in einer Entfernung von mindestens 30 Minuten. Mit der Dürre haben immer mehr Kinder die Schulen verlassen und 250 Schulen wurden wegen der Dürre geschlossen. 25 % der Lehrer haben sich nach einer anderen Einkommensquelle umgeschaut und sind aus dem Lehrberuf ausgeschieden. In 50 % der IDP-Lager gibt es für die Kinder keinen Zugang zu Schulen (UNICEF 24.7.2022).

Es gibt mitunter NGOs – wie z. B. Gargaar in Dhusamareb, Galmudug – die Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Mitteln (u.a. finanziell) dabei unterstützen, eine Ausbildung abzuschließen (UNSOM 17.12.2022). In Jubaland gibt es ein von USAID finanziertes, fünf Jahre laufendes Programm (Bar ama Baro), mit welchem Kinder aus armen und marginalisierten Familien der Schulbesuch finanziert wird. Mehr als 20.000 Kinder zwischen neun und 17 Jahren wurden damit bereits eingeschult. Im Jahr 2022 waren 16.000 Schüler registriert. Das Programm läuft an 50 Schulen in den Bezirken Kismayo, Bardheere und Jamaame (RE 24.8.2022). Somalia-weit unterstützt dieses Programm 461 Schulen in 32 Bezirken sowie 2.200 Lehrer. 100.000 Kinder konnten dadurch eine Schule besuchen (FTL 20.9.2022).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        AI - Amnesty International (18.8.2021): "We just watched COVID-19 patients die": COVID-19 exposed Somalia's weak healthcare system but debt relief can transform it [AFR 52/4602/2021], https://www.ecoi.net/en/file/local/2058478/AFR5246022021ENGLISH.pdf, Zugriff 17.5.2022

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf/2abe79e2-baf3-0a23-97d1-f6944b6d21a7/Somalia_Fact_Finding+Mission+to+Mogadishu+and+Nairobi+January+2018.pdf, Zugriff 12.5.2022

        FTL - Facility for Talo and Leadership (20.9.2022): USAID Enrolls 100,000 Somali Children to School through the Bar ama Baro Program, https://www.ftlsomalia.com/usaid-enrolls-100000-somali-children-to-school-through-the-bar-ama-baro-program/, Zugriff 22.12.2022

        HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Somalia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066476.html, Zugriff 3.2.2022

        LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (3.7.2019): Säkerhetssituationen i Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2015777/190827400.pdf, Zugriff 24.5.2022

        LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0), https://www.ecoi.net/en/file/local/2007150/190416400.pdf, Zugriff 27.5.2022

        NLMBZ - Ministerie van Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

        ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

        RE - Radio Ergo (24.8.2022): First time in school for Kismayo children from poor backgrounds, https://radioergo.org/en/2022/08/first-time-in-school-for-kismayo-children-from-poor-backgrounds/, Zugriff 9.9.2022

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (19.9.2022): Worsening drought in Somalia leads to rise in child marriages, in: The Somali Wire Issue No. 453, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (22.7.2022): Mo Farah, global migration, and the perils of child trafficking, in: The Somali Wire Issue No. 429, per e-Mail

        SIDRA - Somali Institute for Development Research and Analysis (6.2019b): Rape: A rising Crisis and Reality for the Women in Somalia, https://sidrainstitute.org/wp-content/uploads/2019/06/Rape-Policy-Brief.pdf, Zugriff 27.5.2022

        SPC - Somalia Protection Cluster (9.2.2022): Protection Analysis Update, February 2022, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/SOM_PAU_Somalia-Protection-Analysis_Feb2022.pdf, Zugriff 25.5.2022

        UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.12.2021): Citizenship and Statelessness in the Horn of Africa, https://www.ecoi.net/en/file/local/2065866/61c97bea4.pdf, Zugriff 12.5.2022

        UNICEF (24.7.2022): Somalia Drought Crisis: Education Snapshot, July 2022, https://reliefweb.int/attachments/f418c9e1-09ca-469e-820a-20f1a2a79db1/impact_of_the_drought_crisis_on_education_july2022-2.pdf, Zugriff 27.7.2022

        UNOCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (20.4.2022): Somalia: Drought Situation Report No.6 (As of 20 April 2022), https://reliefweb.int/attachments/507b4ddd-9836-30a7-9f23-b30c38d38305/Drought%20Situation%20Report%20%236%20-%2020%20April%202022%20eoah.pdf, Zugriff 27.5.2022

        UNOHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (25.11.2022): Committee against Torture - Concluding observations on the initial report of Somalia. Adopted by the Committee at its seventy-fifth session (31 October - 25 November 2022), https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CAT/Shared%20Documents/SOM/CAT_C_SOM_CO_1_50826_E.pdf, Zugriff 28.11.2022

        UNSC - UN Security Council (10.10.2022): Letter dated 10 October 2022 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Letter dated 1 September 2022 from the Panel of Experts on Somalia addressed to the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia [S/2022/754], https://www.ecoi.net/en/file/local/2081261/N2263844.pdf, Zugriff 6.12.2022

        UNSC - UN Security Council (8.2.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/101], https://www.ecoi.net/en/file/local/2068141/S_2022_101_E.pdf, Zugriff 21.2.2022

        UNSOM - United Nations Assistance Mission in Somalia (17.12.2022): Ahmed Abdullahi Ahmed: Creating educational opportunities for disadvantaged communities, https://unsom.unmissions.org/ahmed-abdullahi-ahmed-creating-educational-opportunities-disadvantaged-communities, Zugriff 20.12.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

        WB - Weltbank (6.2021): Somalia Economic Update. Investing in Health to Anchor Growth, http://documents1.worldbank.org/curated/en/926051631552941734/pdf/Somalia-Economic-Update-Investing-in-Health-to-Anchor-Growth.pdf, Zugriff 12.5.2022

Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und andere terroristische Gruppen

Letzte Änderung: 17.03.2023

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

●        Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS (BS 2022, Sitzung 34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);

●        nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter (BS 2022, Sitzung 7/34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);

●        Angehörige der Sicherheitskräfte (BS 2022, Sitzung 7/34; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1);

●        Regierungsangehörige, Parlamentarier, Offizielle (BS 2022, Sitzung 34; vergleiche UNSC 10.10.2022, Absatz 117,) und Wahlkandidaten (UNSC 10.10.2022, Absatz 117,); al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen (BS 2022, Sitzung 7);

●        mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche BS 2022, Sitzung 7);

●        Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15);

●        Wirtschaftstreibende (BS 2022, Sitzung 7; vergleiche Sahan 7.9.2022), insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57);

●        Älteste und Gemeindeführer (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche Sahan 7.9.2022; BS 2022, Sitzung 7); gemäß somalischen Regierungsangaben hat al Shabaab innerhalb von zehn Jahren 324 Älteste ermordet. Einige der Opfer waren in Wahlprozesse involviert (KM 31.8.2022). In jüngerer Vergangenheit hat al Shabaab v. a. solche Älteste ermordet, die ihre Clans zur Beteiligung an der Offensive gegen die Gruppe aufgerufen bzw. deren Teilnahme öffentlich unterstützt haben (BMLV 9.2.2023).

●        Wahldelegierte und deren Angehörige (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche BS 2022, Sitzung 7; UNSC 10.10.2022, Absatz 117,); dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich (Mohamed 17.8.2019). Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen (HO 14.6.2022);

●        Angehörige diplomatischer Missionen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15);

●        prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten (USDOS 12.4.2022, Sitzung 15; vergleiche Sahan 7.9.2022);

●        religiöse Führer (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57f; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 8);

●        Journalisten (BS 2022, Sitzung 34) und Mitarbeiter von Medien (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48);

●        Telekommunikationsarbeiter (USDOS 12.4.2022, Sitzung 48);

●        mutmaßliche Kollaborateure und Spione (HRW 13.1.2022; vergleiche BS 2022, Sitzung 19; USDOS 12.4.2022, Sitzung 15f);

●        Deserteure (FIS 7.8.2020, Sitzung 8);

●        als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten) (BS 2022, Sitzung 19);

●        (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS (AA 28.6.2022, Sitzung 16); den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (JF 14.1.2020).

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (BMLV 9.2.2023).

Kollaboration und Spionage: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden (AA 28.6.2022, Sitzung 19). Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird (HRW 13.1.2022; vergleiche USDOS 2.6.2022, Sitzung 1/6; UNSC 6.10.2021). Beispiele für Hinrichtungen wegen angeblicher Spionage (für Lokalregierungen, die Bundesregierung oder ausländische Kräfte: 2/2022, Buulo Fulay (Bay): 1 Mann (BAMF 7.2.2022); 7/2022, Bay: 6 Männer, öffentlich (RD 31.7.2022; vergleiche GN 1.8.2022); 8/2022, Kunyo Baarow (Lower Shabelle): 6 Männer, öffentlich (Menschen werden gezwungen, der Exekution beizuwohnen) (GN 22.8.2022); 9/2022, Jilib (Lower Juba): 5 Männer, öffentlich (Halbeeg 5.9.2022).

Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 20). Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt (BFA 8.2017, Sitzung 40f). So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten (Sahan 15.2.2021a). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an (C4 15.6.2022). Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden (BFA 8.2017, Sitzung 40ff). So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet (AMISOM 2.7.2021). Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (BFA 8.2017, Sitzung 40ff).

Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein "Angebot" von al Shabaab abzulehnen (BMLV 9.2.2023).

Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und ATMIS. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (BMLV 9.2.2023).

Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (BMLV 9.2.2023; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 24ff) und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (BMLV 9.2.2023; vergleiche LIFOS 3.7.2019, Sitzung 25; FIS 7.8.2020, Sitzung 24). So hat Mogadischu über die Jahre Dutzende Arbeiter der Straßenreinigung verloren, die durch versteckte Sprengsätze getötet wurden, welche entlang von Straßen im dahinter liegendem Müll platziert waren (AJ 21.7.2022). Außerdem greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden (BS 2022, Sitzung 7). So kamen etwa am 17.7.2022 bei einem Selbstmordanschlag auf ein bei Politikern beliebtes Hotel in Jowhar mindestens zwölf Personen ums Leben. Dutzende weitere Personen wurden verletzt. Unter den Opfern befanden sich regionale Minister und Direktoren sowie ehemalige Abgeordnete (SG 17.7.2022; vergleiche BAMF 18.7.2022). Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind (FIS 7.8.2020, Sitzung 25). Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 10ff). Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (ACCORD 31.5.2021, Sitzung 27).

Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet (BMLV 9.2.2023). Generell kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecken (BMLV 9.2.2023; vergleiche AI 13.2.2020, A. 36). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (BMLV 9.2.2023).

Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (BMLV 9.2.2023). Gleichzeitig finden sich etwa Clanälteste immer wieder zwischen den Fronten. So wurden im Dezember 2022 in Galmudug drei Älteste verhaftet, denen Kollaboration mit al Shabaab vorgeworfen wird. Sie geben hingegen an, durch die ihnen vorgeworfene Vereinbarung mit al Shabaab die Freilassung von 69 Geiseln bewirkt zu haben (Halbeeg 25.12.2022).

Der Islamische Staat in Somalia (ISIS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des ISIS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v. a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (BMLV 9.2.2023).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2052555/20210531_COI-Webinar+Somalia_ACCORD_Mai+2021.pdf, Zugriff 17.5.2022

        AI - Amnesty International (13.2.2020): "We live in perpetual fear": Violations and Abuses of Freedom of Expression in Somalia [AFR 52/1442/2020], https://www.ecoi.net/en/file/local/2024685/AFR5214422020ENGLISH.PDF, Zugriff 2.6.2022

        AJ - Al Jazeera (21.7.2022): The street cleaners of Mogadishu: Doing Somalia’s riskiest job, https://www.aljazeera.com/news/2022/7/21/street-cleaners-the-women-doing-mogadishus-riskiest-job?sf168184671=1, Zugriff 28.7.2022

        AMISOM (2.7.2021): Morning Headlines – Newsletter per E-Mail, Überschrift: Al-Shabaab Targets Locals For Welcoming And Feeding SNA, Originallink auf Somali: https://www.caasimada.net/al-shabaab-oo-beegsaday-shacab-caano-iyo-biyo-ku-soo-dhoweeyey-ciidanka-df/

        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (18.7.2022): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw29-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 28.7.2022

        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (7.2.2022): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2022/briefingnotes-kw06-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 6.5.2022

        BFA - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Staatendokumentation [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, https://www.ecoi.net/en/file/local/1406268/5209_1502195321_ffm-report-somalia-sicherheitslage-onlineversion-2017-08-ke.pdf, Zugriff 9.6.2022

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

        C4 - Channel 4 / Osman, Jamal (15.6.2022): Inside Al Shabaab: The extremist group trying to seize Somalia (Video), https://www.channel4.com/news/inside-al-shabaab-the-extremist-group-trying-to-seize-somalia, Zugriff 29.6.2022

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

        GN - Goobjoog News (22.8.2022): Al-Shabaab executes six young men by firing squad for spying, https://goobjoog.com/english/al-shabaab-executes-six-young-men-by-firing-squad-for-spying/, Zugriff 25.8.2022

        GN - Goobjoog News (1.8.2022): Al-Shabaab executes seven men by firing squad, https://goobjoog.com/english/al-shabaab-executes-seven-by-firing-squad/, Zugriff 2.8.2022

        Halbeeg (25.12.2022): Three elders arrested for allegedly collaborating with al-Shabaab, https://en.halbeeg.com/2022/12/25/three-elders-arrested-for-allegedly-collaborating-with-al-shabaab/, Zugriff 5.1.2023

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        HO - Hiiraan Online (14.6.2022): Second former electoral delegate shot dead in Mogadishu, https://www.hiiraan.com/news4/2022/Jun/186603/second_former_electoral_delegate_shot_dead_in_mogadishu.aspx?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter, Zugriff 30.6.2022

        HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Somalia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066476.html, Zugriff 3.2.2022

        JF - Jamestown Foundation (14.1.2020): Islamic State’s Mixed Fortunes Become Visible in Somalia, Terrorism Monitor Volume: 18 Issue: 1, https://jamestown.org/program/islamic-states-mixed-fortunes-become-visible-in-somalia/, Zugriff 20.7.2022

        KM - Keydmedia (31.8.2022): Al-Shabaab killed 324 elders involved in elections – minister, https://www.keydmedia.net/news/al-shabaab-killed-324-elders-involved-in-elections-minister, Zugriff 9.9.2022

        LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (3.7.2019): Säkerhetssituationen i Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2015777/190827400.pdf, Zugriff 24.5.2022

        Mohamed, Abdirizak Omar / Hiiraan.com (17.8.2019): The Recent Al-Shabab Resurgence: Policy Options for Somalia, https://www.hiiraan.com/op4/2019/aug/165221/the_recent_al_shabab_resurgence_policy_options_for_somalia.aspx , Zugriff 20.7.2022

        NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

        RD - Radio Dalsan (31.7.2022): Al-Shabaab publicly executes 6 people for spying, https://en.radiodalsan.com/76096/2022/07/al-shabaab-publicly-executes-6-people-for-spying/, Zugriff 2.8.2022

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (7.9.2022): The threat that locally organised clan militias pose to Al-Shabaab, in: The Somali Wire Issue No. 448, per e-Mail

        Sahan - Sahan / Keydmedia (15.2.2021a): The Somali Wire Issue No. 82, per e-Mail, Originallink auf Somali: https://www.keydmedia.net/news/meydadka-3-ruux-oo-lasoo-dhigay-muqdisho

        SG - Somali Guardian (17.7.2022): Somalia: Truck bomb hits a hotel popular with officials in Jowhar, https://somaliguardian.com/news/somalia-news/somalia-truck-bomb-hits-a-hotel-popular-with-officials-in-jowhar/, Zugriff 28.7.2022

        UNSC - UN Security Council (10.10.2022): Letter dated 10 October 2022 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Letter dated 1 September 2022 from the Panel of Experts on Somalia addressed to the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia [S/2022/754], https://www.ecoi.net/en/file/local/2081261/N2263844.pdf, Zugriff 6.12.2022

        UNSC - UN Security Council (6.10.2021): Letter dated 5 October 2021 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Final report of the Panel of Experts on Somalia (S/2021/849), https://reliefweb.int/attachments/17a953bc-861a-348a-a59b-1e182f053030/S_2021_849_E.pdf, Zugriff 14.10.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (2.6.2022): 2021 Report on International Religious Freedom - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/04/SOMALIA-2021-INTERNATIONAL-RELIGIOUS-FREEDOM-REPORT.pdf, Zugriff 8.6.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern")

Letzte Änderung: 17.03.2023

Anders als der somalische Staat "besteuert" al Shabaab alles und jeden in Somalia (SRF 27.12.2021) - insbesondere in den eigenen Gebieten (HI 10.2020; vergleiche BBC 18.1.2021). Besteuert werden u.a. die Landwirtschaft, der Handel und Immobilientransaktionen; Fahrzeuge, Vieh, Handelswaren, Importe, Exporte von Holzkohle oder Bauarbeiten (FGS 2022, Sitzung 98). Doch auch in umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt (HI 10.2020). Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden "Steuern" an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv (HI 10.2020; vergleiche SRF 27.12.2021) bzw. wurden Schattenverwaltungen aufgebaut (BS 2022, Sitzung 6). Nach Angaben einer Quelle besteuert al Shabaab maßgeblich Im- und Export, jeden größeren Gewerbetreibenden in Mogadischu. Kleinere Marktstände sind al Shabaab hingegen weniger wichtig (BMLV 9.2.2023).

"Steuern" werden eingehoben auf: a) Agrarwirtschaft (dalag beeraha): auf Höfe, agrarische Produkte und Land; b) Fahrzeuge (gadiid): Transitgebühren hängen von der Art des Fahrzeuges und von der Länge der Reise ab. Fahrzeuge müssen jedenfalls bei al Shabaab registriert sein; c) Güter (badeeco): Wegzoll für alle Güter, die Höhe hängt von Art und Quantität ab. Zudem werden z.B. an Häfen Import- und Exportgebühren eingefordert; d) Vieh (xoolo): auf den Verkauf von Vieh, v.a. Rinder, Kamele, Ziegen. Die Haupteinnahmequelle der Gruppe ist die Besteuerung des Transits von Fahrzeugen und Gütern (UNSC 6.10.2021; vergleiche UNSC 10.10.2022). Dabei lukriert al Shabaab jährlich zig-Millionen US-Dollar. Dazu unterhält die Gruppe Dutzende von Checkpoints, die mit Steuerbeamten besetzt sind. Fahrzeuge, die einen solchen Checkpoint passieren, sind bei al Shabaab registriert. Sind sie das nicht, werden sie gegen eine Gebühr ins Register eingetragen (samt Fahrzeugdetails und Besitzern) (GITOC 8.12.2022).

Daneben hebt al Shabaab auch den Zakat ein (UNSC 6.10.2021), eine Quelle betitelt dies als "Zwangsspende" (GITOC 8.12.2022). Dieser ist eine Spendensammlung und stellt eine der fünf Säulen des Islam dar. Es handelt sich um eine religiöse Verpflichtung, einen Prozentsatz seines Besitzes an die Armen abzugeben. Al Shabaab hebt den Zakat zweimal jährlich auf die Agrarwirtschaft und einmal jährlich auf Viehwirtschaft und Wirtschaftstreibende ein. Außerdem erhält al Shabaab mit dem Infaq noch zusätzliche, freiwillige Beiträge zur Unterstützung von Kämpfern (UNSC 6.10.2021). Außerdem nimmt al Shabaab nach Entführungen Lösegelder in Empfang (GITOC 8.12.2022; vergleiche UNSC 6.10.2021). Kommt es zu Finanzengpässen, erwartet sich die Gruppe von Clanältesten, Finanzierungslücken zu schließen (FGS 2022, Sitzung 98).

Al Shabaab hebt insgesamt soviel an "Steuern" ein wie die Bundesregierung - oder sogar noch mehr. Dabei agiert die Gruppe wie ein verbrecherisches Syndikat bzw. wie eine mafiöse Organisation (HIPS 4.2021, Sitzung 5; vergleiche FIS 7.8.2020, Sitzung 18; HI 10.2020). Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu machen. Dabei dient die Religion nur als Deckmantel (FIS 7.8.2020, Sitzung 18). Konservativen Schätzungen zufolge lukriert al Shabaab alleine an monatlichen Abgaben 15 Millionen US-Dollar - davon die Hälfte in Mogadischu (HI 10.2020). Generell werden alle Wirtschaftstätigkeiten in Mogadischu von der Gruppe mit Schutzgeldforderungen belegt (FIS 7.8.2020, Sitzung 13). Wirtschaftstreibende zahlen Schutzgeld, denn die Regierung ist nicht in der Lage, sie vor Schutzgelderpressung zu schützen. Dabei verlangt al Shabaab von Wirtschaftstreibenden zunehmend höhere "Steuern". Alle großen Unternehmen im südlichen Somalia zahlen diese jährliche "Steuer". Nur sehr kleine Betriebe oder Straßenhändler müssen nichts abführen (HI 10.2020). Dahingegen werden auch zahlreiche andere Bereiche besteuert – etwa die Nutzung von Wasserstellen (UNSC 10.10.2022, Absatz 122,) oder von Bewässerungsanlagen durch Bauern (FGS 2022, Sitzung 100; vergleiche HI 10.2020). Aus Diinsoor wird berichtet, dass zurückkehrende IDPs eine Landwirtschaftsgenehmigung beantragen und bezahlen müssen, damit sie ihre eigenen Ackerflächen bewirtschaften dürfen (UNSC 10.10.2022, Absatz 117 /, S, 84). Besteuert wird auch der Immobilienmarkt (HI 10.2020). In Afgooye verlangt al Shabaab z. B. von Hausbesitzern Steuern. Für ein Steinhaus 150 US-Dollar, für ein mehrstöckiges Haus 300 US-Dollar; und für eine Wellblechhütte 100 US-Dollar (UNSC 10.10.2022, Absatz 43 /, S, 44). Auch in Mogadischu erhielten zwischen Mai und Juli 2022 zahlreiche Besitzer von gemauerten oder mehrstöckigen Häusern eine Zahlungsaufforderung von al Shabaab, und auch dort liegt die jährliche Abgabe zwischen 100 und 300 US-Dollar (GN 10.11.2022a). Auf im Entstehen begriffene Bauten erhebt die Gruppe in Mogadischu ebenfalls Steuern. Dort werden einem Bauherrn üblicherweise 25 % des Gesamtwertes des fertigen Baus in Rechnung gestellt. Berichten zufolge ist der Preis allerdings verhandelbar (UNSC 10.10.2022, Absatz 45,). Für Zahlungsverzögerungen drohen Strafzahlungen (GN 10.11.2022a).

Al Shabaab verlangt von Geschäftsleuten in der Stadt die Zahlung von „Steuern“. Das Einsammeln der Gelder erfolgt üblicherweise nicht persönlich sondern über das Mobiltelefon. römisch fünf. a. Unternehmen, die Waren nach und aus Mogadischu transportieren und nach Somalia importieren, werden zur Zahlung gezwungen. Dem Vernehmen nach sollen auch viele Hilfsorganisationen „Steuern“ an al Shabaab abführen. Ähnliches gilt für Hotels. Jedenfalls ist es immer möglich, dass hinter Steuerforderungen gar nicht al Shabaab steht, sondern andere kriminelle Akteure, die sich als al Shabaab ausgeben. Im Fall einer Weigerung der Zahlung an al Shabaab gibt es in vielen Fällen einen Spielraum für Verhandlungen über die Höhe (LI 8.9.2022).

Selbst das Personal internationaler Organisationen zahlt Schutzgeld, um in Ruhe gelassen zu werden (BFA 8.2017, Sitzung 33). Und auch Bundesbedienstete führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab, darunter hochrangige Angehörige der Armee (HI 10.2020) und sogar Bundesminister (Khalif 10.7.2020). Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöse Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (HI 10.2020).

Betriebe und Einzelpersonen werden durch Angst genötigt, Geld an al Shabaab abzuführen (UNSC 10.10.2022, Absatz 46,). Todesdrohungen und tatsächlich angewandte Gewalt halten das „Steuersystem“ al Shabaabs aufrecht. Wenn z. B. ein Fahrer die Abgabe verweigert oder versucht, einen Checkpoint der al Shabaab zu umfahren, dann muss er als Strafe meist den doppelten Betrag abführen. Diese nicht-verhandelbare Strafe wird etwa per SMS „zugestellt“ oder aber Fahrzeugbesitzer oder Fahrer werden per Nachricht an eines der Schariagerichte der Gruppe einberufen. In extremen Einzelfällen kann es auch vorkommen, dass al Shabaab Personen, die keine Gebühren abführen wollten, tötet und Fahrzeuge zerstört. Auch wenn derartige Fälle sehr selten sind, sorgen sie dafür, dass andere Fahrer aus Angst freiwillig „Steuern“ abführen (GITOC 8.12.2022). Kommt es zu einem Anschlag auf ein Hotel, dann steht für al Shabaab eine Strafaktion für ausständige "Steuerzahlungen" im Vordergrund. Allfällig anwesende Regierungsvertreter oder Staatsbedienstete sind hierbei nur nebenrangige Ziele, wiewohl al Shabaab einen "günstigen" Zeitpunkt abwartet, um gleichzeitig auch solche Ziele zu treffen (BMLV 9.2.2023). Jene, die sich weigern, an al Shabaab Abgaben abzuführen, werden bestraft und ihr Leben bedroht (HI 10.2020), oder es das eigene Geschäft wird z. B. mit einem Sprengsatz zerstört. Ein anderes Beispiel stammt aus Galmudug im Jahr 2022, wo Nomaden den Forderungen von al Shabaab nicht nachgekommen sind. Dort griff al Shabaab die Gemeinde an, entführte und tötete Nomaden und plünderte ihren Viehbestand (UNSC 10.10.2022, Absatz 47 f,). Vorerst werden i. d. R. hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Manche Personen müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (HI 10.2020). Keine "Steuern" zu zahlen, ist für Wirtschaftstreibende keine Option. Letztere sehen das Schutzgeldsystem zwar als unfair und illegal; angesichts von Morden an Zahlungsverweigerern bezahlen sie dann aber doch die geforderten Summen (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 57).

Auch der Islamische Staat in Somalia (ISIS) fordert „Steuern“ - v. a. von Wirtschaftstreibenden in städtischen Gebieten. Jene, die sich der Zahlung einer „Steuer“ widersetzen, müssen mit Gewalt rechnen (USDOS 12.4.2022, Sitzung 18). Auch in Mogadischu fordern Personen, die sich als Mitglieder des ISIS ausgeben, Steuern ein (UNSC 8.2.2022, Absatz 27,).

Quellen:

        BBC - BBC News (18.1.2021): Somali concern at US troop withdrawal, https://www.bbc.com/news/world-africa-55677077, Zugriff 24.6.2022

        BFA - Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl / Staatendokumentation [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, https://www.ecoi.net/en/file/local/1406268/5209_1502195321_ffm-report-somalia-sicherheitslage-onlineversion-2017-08-ke.pdf, Zugriff 9.6.2022

        BMLV - Bundesministerium für Landesverteidigung [Österreich] (9.2.2023): Auskunft eines Länderexperten an die Staatendokumentation, per e-Mail

        BS - Bertelsmann Stiftung (2022): BTI 2022 - Somalia Country Report, https://bti-project.org/fileadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2022_SOM.pdf, Zugriff 15.3.2022

        FGS - Federal Government [Somalia] (2022): National Risk Assessment on Money Laundering ans Terrorist Financing, https://frc.gov.so/wp-content/uploads/2022/05/NRA-Report-2022.pdf, Zugriff 13.12.2022

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

        GITOC - Global Initiative Against Transnational Organized Crime / Jay Bahadur (8.12.2022): Terror and Taxes. Inside al-Shabaab’s revenue-collection machine, https://globalinitiative.net/wp-content/uploads/2022/12/AS-protection-economies.-WEB.pdf, Zugriff 14.12.2022

        GN - Goobjoog News (10.11.2022a): Somalia’s al-Shabab militants widening revenue base, https://goobjoog.com/english/somalias-al-shabab-militants-widening-revenue-base/, Zugriff 16.11.2022

        HI - Hiraal Institute (10.2020): A Losing Game: Countering Al-Shabab’s Financial System, https://hiraalinstitute.org/wp-content/uploads/2020/10/A-Losing-Game.pdf, Zugriff 15.6.2022

        HIPS - The Heritage Institute for Policy Studies (4.2021): Structural Impediments To Reviving Somalia’s Security Forces, https://heritageinstitute.org/wp-content/uploads/2021/04/Structural-Impediments-to-Security-English-version-April-17-Final-.pdf, Zugriff 15.6.2022

        Khalif, Ahmad / Garowe Online (10.7.2020): Inside N&N – There is a Trojan Horse, https://www.garoweonline.com/en/opinions/inside-nn-there-is-a-trojan-horse, Zugriff 26.7.2022

        LI - Landinfo [Norwegen] (8.9.2022): Somalia: Sikkerhetssituasjonen i Mogadishu og al-Shabaabs innflytelse i byen, https://landinfo.no/wp-content/uploads/2022/09/Respons-Somalia-Sikkerhetssituasjonen-i-Mogadishu-og-al-Shabaabs-innflytelse-i-byen-08092022-1.pdf, Zugriff 15.9.2022

        NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

        SRF - Schweizer Radio und Fernsehen (27.12.2021): Ein Staat ohne Macht - Somalia: Leben im gescheiterten Staat, https://www.srf.ch/news/international/ein-staat-ohne-macht-somalia-leben-im-gescheiterten-staat, Zugriff 11.5.2022

        UNSC - UN Security Council (10.10.2022): Letter dated 10 October 2022 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Letter dated 1 September 2022 from the Panel of Experts on Somalia addressed to the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia [S/2022/754], https://www.ecoi.net/en/file/local/2081261/N2263844.pdf, Zugriff 6.12.2022

        UNSC - UN Security Council (8.2.2022): Situation in Somalia - Report of the Secretary-General [S/2022/101], https://www.ecoi.net/en/file/local/2068141/S_2022_101_E.pdf, Zugriff 21.2.2022

        UNSC - UN Security Council (6.10.2021): Letter dated 5 October 2021 from the Chair of the Security Council Committee pursuant to resolution 751 (1992) concerning Somalia addressed to the President of the Security Council: Final report of the Panel of Experts on Somalia (S/2021/849), https://reliefweb.int/attachments/17a953bc-861a-348a-a59b-1e182f053030/S_2021_849_E.pdf, Zugriff 14.6.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

Rückkehr

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 17.03.2023

Rückkehr international: Seit Jahren steigt die Anzahl der nach Somalia zurückgekehrten somalischen Flüchtlinge (ÖB 11.2022, Sitzung 13). Seit 2009 kommen Somali der Diaspora zurück in ihre Heimat, viele mit Bildung, Fähigkeiten und einer unternehmerischen Einstellung. Zuerst tröpfelten sie nur ins Land, ab 2012 fluteten sie zurück (Sahan 27.5.2022). Viele lokale Angestellte internationaler NGOs oder Organisationen sind aus der Diaspora zurückgekehrte Somali. Andere kommen nach Somalia auf Urlaub oder eröffnen ein Geschäft (BFA 3./4.2017). Viele Somalis in der Diaspora wollen zurückkommen und das Land aufbauen. Manche tun es nicht, weil es in Somalia keine adäquate Schulbildung für ihre Kinder gibt (SRF 27.12.2021). Andere schicken ihre Kinder gezielt nach Somalia: Alleine im Jahr 2019 wurden hunderte Kinder der somalischen Diaspora in London nach Somalia, Somaliland und Kenia gebracht, weil sich die Eltern zunehmend Sorgen um die Zunahme von Drogenbanden und Gewalt in England machten (TG 9.3.2019).

Die USA, Kanada, Großbritannien, Finnland, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Norwegen führen grundsätzlich Abschiebungen nach Mogadischu durch (AA 28.6.2022, Sitzung 25). Aus Europa wurden im Jahr 2022 – in geringen Zahlen – jedenfalls Somali aus Belgien, Norwegen, Dänemark, der Schweiz und Schweden nach Somalia rückgeführt, die meisten davon freiwillig (ÖB 14.12.2022). Pandemiebedingt und aufgrund der schwierigen Zusammenarbeit mit den somalischen Behörden finden nur wenige bis keine Rückführungen statt (AA 28.6.2022, Sitzung 25). Österreich beteiligt sich am von IOM geführten Programm RESTART römisch III, das freiwillige Rückkehr nach Somalia abwickelt (IOM 12.2021). Insgesamt hat IOM von 2020 bis 2022 bei 187 freiwilligen Rückführungen aus Europa Unterstützung geleistet. Die Rückkehrer kamen u. a. aus Belgien (14), Deutschland (66), Finnland (12), Griechenland (20), den Niederlanden (8), Österreich (8), der Schweiz (22) und Zypern (14). 33 der Rückgeführten waren weiblich. 141 verblieben in Mogadischu, die anderen reisten weiter nach Garoowe (6) und Hargeysa (34) (IOM 2.3.2023).

Rückkehr regional: Die Rückkehrbewegung nach Somalia hat sich seit 2020 deutlich verlangsamt. Insgesamt sind von Ende 2014 bis Jänner 2022 knapp 134.000 Menschen mit oder ohne Unterstützung nach Somalia zurückgekehrt. Im Jahr 2021 waren es ca. 2.500 – vor allem aus dem Jemen (UNHCR 10.2.2022). Verursacht wurde der Rückgang nicht zuletzt von der COVID-19-Pandemie (UNHCR 22.3.2022). In den ersten drei Monaten des Jahres 2022 kehrten nur 187 Personen von UNHCR assistiert nach Somalia zurück (UNHCR 22.4.2022).

Aus dem Jemen kamen mehr als 5.400 somalische Flüchtlinge mit Unterstützung durch den UNHCR zurück in ihr Land. Weitere knapp 46.000 sind aus dem Jemen ohne Unterstützung zurückgekehrt (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Somaliland ist zwar der Hauptankunftsort für Flüchtlinge und Rückkehrer aus dem Jemen, doch UNHCR und Partnerorganisationen unterstützen somalische Rückkehrer bei der Weiterreise zu den Herkunftsgebieten in anderen Teilen Somalias (ÖB 11.2022, Sitzung 19).

Der UNHCR und andere internationale Partner unterstützen seit 2014 die freiwillige Rückkehr von Somaliern aus Kenia. Grundlage ist ein trilaterales Abkommen zwischen Kenia, Somalia und dem UNHCR (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Seit Abschluss des trilateralen Abkommens kehrten mit Unterstützung des UNHCR über 85.000 Menschen aus Kenia nach Somalia zurück (AA 28.6.2022, Sitzung 23; vergleiche NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 69). Diese gingen vor allem nach Kismayo und das südliche Jubaland (AA 28.6.2022, Sitzung 23). Noch nie wurde ein Bus, welcher Rückkehrer transportiert, angegriffen (FIS 7.8.2020, Sitzung 28). Allerdings kommt es aufgrund von Gewalt und Konflikten sowie durch die Pandemie bedingte Reisebeschränkungen immer wieder zu Unterbrechungen bei der Rückkehrbewegung (USDOS 12.4.2022, Sitzung 26). Trotz seiner Rolle bei der Rückführung aus Kenia warnt der UNHCR angesichts der aktuellen Lage in Somalia davor, Personen in Gebiete in Süd- oder Zentralsomalia zwangsweise zurückzuschicken, da die Sicherheit nicht gewährt werden kann (ÖB 11.2022, Sitzung 14).

Seit Frühjahr 2018 unterstützt die sogenannte EU-IOM Joint Initiative for Migrant Protection and Reintegration rückkehrwillige somalische Migranten vornehmlich in Libyen und Äthiopien. Die Leistungen umfassen Beratung zu Möglichkeiten der Rückkehr sowie der Integration in den somalischen Arbeitsmarkt. Außerdem wird die Entwicklung von standardisierten Rückführungsverfahren nach Somalia gefördert. Mit Unterstützung von IOM sind 2021 803 Personen nach Somalia zurückgekehrt, davon 340 aus Saudi-Arabien, 295 aus dem Jemen und 16 aus Deutschland (AA 28.6.2022, Sitzung 24).

Behandlung: Die Zahl der von westlichen Staaten zurückgeführten somalischen Staatsangehörigen nimmt stetig zu. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Das RMO hat für alle Rückführungsmaßnahmen nach Somalia eine einheitliche Prozedur festgelegt, die konsequent zur Anwendung gebracht wird (AA 28.6.2022, Sitzung 24). Es liegen keine Informationen dahingehend vor, dass abgelehnte Asylwerber am Flughafen in Mogadischu Probleme seitens der Behörden erfahren (NLMBZ 1.12.2021, Sitzung 71). Das RMO befragt sie hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete minderjährige und andere Rückkehrer. Eine Unterkunft und ein innersomalischer Weiterflug kann vom RMO organisiert werden, die Rechnung begleichen die rückführenden Staaten. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Nach vorliegenden Erkenntnissen werden Rückkehrer vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt (AA 28.6.2022, Sitzung 24f). Eine strukturelle Diskriminierung von Rückkehrern aus dem Ausland gibt es nicht (AA 28.6.2022, Sitzung 20).

Rückkehrstudie von UNHCR: Der UNHCR hat für eine repräsentative Studie von 2018 bis Dezember 2021 fast 2.900 Haushalte mit mehr als 17.000 Angehörigen – darunter vor allem unterstützte Rückkehrer aus Kenia, Äthiopien und dem Jemen – zu ihrer Situation in Somalia befragt. Dabei hatten 48% der Befragten angegeben, wegen der verbesserten Sicherheitslage nach Somalia zurückgegangen zu sein. 14 % machten diesen Schritt wegen besserer ökonomischer Möglichkeiten. Nur 24 % der befragten Haushalte gaben an, in einem "IDP-Lager" zu wohnen [Anführungszeichen von UNHCR übernommen]. 94 % der Rückkehrer gaben an, nach ihrer Rückkehr keinerlei Form von Gewalt (Drohungen, Einschüchterungen, physische Gewalt) erlebt zu haben. 90 % gaben an, sich in ihrer Gemeinde und im Bezirk frei bewegen zu können. 91 % der Befragten gaben an, dass sie nicht als Rückkehrer diskriminiert würden; und 88 % wurden auch nicht wegen ihrer ethnischen oder Clan-Zugehörigkeit diskriminiert. 88 % der Befragten haben keine Streitigkeiten austragen müssen. Von jenen, die in Konflikte verwickelt waren, gaben 38 % Wohnungs- und Landstreitigkeiten als Gründe an, weitere 27 % Familienstreitigkeiten (UNHCR 22.3.2022).

Erreichbarkeit: Einen regelmäßigen internationalen Direktflugverkehr nach Mogadischu gibt es aus Istanbul, Addis Abeba, Nairobi, Doha und Entebbe (AQ9 1.2022). Darüber hinaus fliegen regionale Fluglinien, die Vereinten Nationen, die Europäische Union und private Chartermaschinen Mogadischu aus Nairobi regelmäßig an (AA 18.4.2021, Sitzung 24). Von Bossaso (Puntland) aus wird Addis Abeba und Dubai angeflogen, von Garoowe (Puntland) Addis Abeba und Nairobi (AQ9 1.2022). Für Rückführungen somalischer Staatsbürger wurden vor der COVID-19-Pandemie die Verbindungen der Turkish Airlines via Istanbul bzw. via Nairobi mit Jubba Airways bevorzugt. Bei Ersterer erfolgte meist eine polizeiliche Eskortierung bis Mogadischu, bei Letzterer nur bis Nairobi, da die Fluglinie sich dann gegen die Zahlung einer Gebühr um die Sicherheit kümmerte (AA 18.4.2021, Sitzung 24).

Quellen:

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2074953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Mai_2022%29%2C_28.06.2022.pdf, Zugriff 4.7.2022

        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (18.4.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2050118/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Somalia_%28Stand_Januar_2021%29%2C_18.04.2021.pdf, Zugriff 6.5.2022

        AQ9 - Anonyme Quelle 9 (1.2022): Bei der Quelle handelt es sich um eine Migrationsanalyse

        BFA - BFA/SEM Fact Finding Mission Somalia (3./4.2017): Informationen aus den Protokollen der FFM

        FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (7.8.2020): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu in March 2020, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf/2f51bf86-ac96-f34e-fd02-667c6ae973a0/Somalia+Fact-Finding+Mission+to+Mogadishu+in+March+2020.pdf?t=1602225617645, Zugriff 6.5.2022

        IOM - Internationale Organisation für Migration (2.3.2023): Information on the socio-economic situation in Somalia/Somaliland; Anfragebeantwortung an die Staatendokumentation, per e-Mail

        IOM - Internationale Organisation für Migration (12.2021): AVRR-Newsletter 04/2021 – Freiwillige Rückkehr und Reintegration aus Österreich

        NLMBZ - Ministerie von Buitenlandse Zaken [Niederlande] (1.12.2021): Algemeen ambtsbericht Somalië, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068196/algemeen-ambtsbericht-somalie-21122021.pdf, Zugriff 11.5.2022

        ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (14.12.2022): Bericht zur Somalia Return Group, per E-Mail

        ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2082923/SOMA_%C3%96B-Bericht_2022_11.pdf, Zugriff 5.12.2022

        Sahan - Sahan / Somali Wire Team (27.5.2022): Somalia’s diaspora needs to bring democratisation as well as entrepreneurship, in: The Somali Wire Issue No. 394, per e-Mail

        SRF - Schweizer Radio und Fernsehen (27.12.2021): Ein Staat ohne Macht - Somalia: Leben im gescheiterten Staat, https://www.srf.ch/news/international/ein-staat-ohne-macht-somalia-leben-im-gescheiterten-staat, Zugriff 11.5.2022

        TG - The Guardian (9.3.2019): Mothers send sons to Somalia to avoid knife crime, https://www.theguardian.com/uk-news/2019/mar/09/british-somalis-send-sons-abroad-to-protect-against-knife-crime, Zugriff 11.5.2022

        UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.4.2022): Somalia Situation, Population of concern to UNHCR as of 31 March 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2072029/RB_Situations_Somalia_220331.pdf, Zugriff 11.5.2022

        UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (22.3.2022): Somalia, Post Return Monitoring Snapshot, PRM Round 7, February 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2070098/Post+Return+Monitoring+-+Snapshot+February+2022.pdf, Zugriff 11.5.2022

        UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (10.2.2022): Somalia, Returnees Figures and Trends as of 31 January 2022, https://www.ecoi.net/en/file/local/2068052/Monthly+Return+Dashboard+as+of++Jan+2022.pdf, Zugriff 11.5.2022

        USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/02/313615_SOMALIA-2021-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 21.4.2022

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des BF:

Die Feststellungen zur Person des BF, insbesondere hinsichtlich Staatsangehörigkeit, zu seiner Muttersprache und seinem Familienstand (ledig, kinderlos), ergeben sich aus seinen diesbezüglichen Angaben während des Asylverfahrens, hinsichtlich seines im Spruch zuerst genannten Geburtsdatums aus der im Akt einliegenden Volljährigkeitsbeurteilung des römisch 40 , Medizinische Universität, Ass.Prof.i.R. – Zentrum für Anatomie und Zellbiologie, ehem. Leiter Knochenlabor vom 17.11.2021 (AS 87 ff), welcher seitens des BF nicht substantiiert entgegengetreten wurde.

Die Identität des BF konnte mangels der Vorlage entsprechender somalischer Personaldokumente nicht festgestellt werden.

Das Datum der Asylantragstellung ergibt sich aus dem unzweifelhaften Akteninhalt.

Die getroffenen Feststellungen zur Herkunft des BF aus Somalia ergeben sich aus seinen diesbezüglichen Angaben während des Asylverfahrens. Mangels eines substantiierten gegenteiligen Vorbringens ist davon auszugehen, dass sich die Kernfamilie des BF zuletzt in Somalia in der Heimat des BF befand vergleiche AS 128). Dass sein Vater bereits verstorben ist, konnte aufgrund des nicht glaubhaften Fluchtvorbringens (siehe Pkt. 2.2.) nicht festgestellt werden.

Dass der BF in Somalia die Schule besucht hat, ergibt sich aus seinen eigenen Angaben vergleiche AS 127). Er gab selbst an, lesen und schreiben zu können (aaO).

Die Feststellung, dass der BF gesund ist, ergibt sich aus seinen Angaben im Asylverfahren vor dem BFA vergleiche AS 125). Es wurde im Verfahren weder substantiiert dargetan noch Nachweise dahingehend erbracht, dass der BF an einer, insbesondere psychischen, Erkrankung oder Beeinträchtigung leidet oder traumatisiert ist. Etwaige diesbezügliche medizinische Unterlagen wurden auch auf Nachfrage durch die erkennende Richterin in der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegt und sind im Verfahren sonst keine Anhaltspunkte einer psychischen Erkrankung oder Beeinträchtigung oder Traumatisierung des BF hervorgekommen.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme ins österreichische Strafregister.

Der Verfahrensgang sowie die Feststellungen zum Verfahrensablauf ergeben sich aus dem unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes und des Gerichtsaktes sowie aus der Einsichtnahme in das Zentrale Fremdenregister (IZR).

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des BF:

Dem BF ist es nicht gelungen, das Vorliegen von Fluchtgründen iSd Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) glaubhaft zu machen, wie im Folgenden aufgezeigt wird:

Auffällig war bereits, dass sich der BF im Zuge der Asylantragstellung am 26.09.2021 als Minderjähriger ausgegeben hat (Angabe des Geburtsdatums: römisch 40 ). Die nicht substantiiert bestrittene Volljährigkeitsbeurteilung ergab hingegen ein errechnetes Geburtsdatum des BF mit römisch 40 und liegt daher eine nicht unwesentliche Differenz zur Altersbehauptung von fast zwei Jahren vor. Es kann nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden, dass dem Asylwerber von seinen Eltern ein – ganz genaues – Geburtsdatum genannt worden wäre, das fast zwei Jahre nach seinem tatsächlichen Geburtsdatum liegt, da ein Irrtum der Eltern über eine derart lange Zeitspanne des Alters ihres Kindes nicht vorstellbar erscheint und eine bewusste Falschinformation der Eltern an ihren Sohn keinen nachvollziehbaren Sinn ergebe. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass dem Asylwerber sein tatsächliches Geburtsdatum jedenfalls im Hinblick auf das Geburtsjahr bekannt war. Es ist davon auszugehen, dass der BF die österreichischen Behörden über sein wahres Alter zu täuschen versucht hat.

Auch gab der BF im Verfahren unterschiedliche Angaben zu seinem Asylverfahren in Griechenland zu Protokoll. So gab er noch im Rahmen der Erstbefragung zu Protokoll, dass sein Asylansuchen in Griechenland abgelehnt worden sei (AS 33), vor dem BFA schilderte er hingegen, dass er nicht auf die Asylentscheidung in Griechenland gewartet habe, er sei einfach weitergezogen vergleiche AS 134).

Ferner machte der BF in der Erstbefragung unvollständige Angaben zu seiner Reiseroute nach Österreich. So erwähnte er im Zuge der Erstbefragung nicht, auch in Rumänien gewesen zu sein vergleiche AS 33). Dies gab er erst vor dem BFA an vergleiche AS 134).

Unabhängig davon, erwies sich das Fluchtvorbringen des BF gesamthaft nur als allgemein gehalten und nur wenig substantiiert. So erwähnte er von sich aus kaum Nebensächlichkeiten und Begleitumstände, vielmehr erschöpfte sich der BF in der Darlegung einer Rahmengeschichte. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen wird jedoch zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen.

Auch verstrickte er sich hinsichtlich des Kernfluchtvorbringens in zeitlicher Hinsicht in grobe Widersprüche: So schilderte der BF im Rahmen der freien Erzählung vor dem BFA, dass am 05.05.2020 versucht worden sei, ihn rekrutieren, am nächsten Tag seien er und sein Vater zur Polizei gegangen, nach drei Tagen hätte sein Vater ein Anruf von Al Shabaab bekommen und nach zwei weiteren Tagen sei sein Vater von Al Shabaab angeschossen und getötet worden. (AS 130). Davon ausgehend wäre sein Vater noch im Mai 2020 getötet worden. In der Folge befragt, wann sein Vater getötet worden sei, gab der BF dann auf einmal den „05.10.2020“ an (AS 132), was im unauflösbaren Widerspruch zu den Schilderungen im Rahmen der freien Erzählung steht. Nach der Rückübersetzung gab der BF dann noch ausdrücklich an, dass dieser eigentlich am „10.10.2020“ getötet worden sei (AS 136), sodass auch ein Irrtum bei der Aufnahme des Datums ausgeschlossen werden kann.

Auffällig war zudem, dass der BF sein Fluchtvorbringen im Laufe des Verfahrens abänderte. So gab er noch im Rahmen der Erstbefragung an, dass sein Vater 2 Jahre gezwungen worden sei, mit dieser Gruppe (Al Shabaab) zu arbeiten, er habe dies aber nicht wollen. Als er aufgehört habe für diese Gruppierung zu arbeiten, sei er von ihnen umgebracht worden. Danach sei die Terrorgruppe auf den BF zugekommen und sie hätten ihn rekrutieren wollen (AS 35). Vor dem BFA schilderte der BF hingegen, dass zunächst versucht worden sei, ihn rekrutieren und sein Vater auch wegen der Tatsache, dass sich der BF ihnen nicht angeschlossen habe, getötet worden sei (AS 130). Auch sprach der BF bei der Erstbefragung noch davon, dass sein Vater für Al Shabaab gearbeitet habe (AS 35), vor dem BFA hingegen gab er an, dass es lediglich um Erpressungsgeld/Steuergeld gegangen sei vergleiche AS 130 f). Er verneinte vor dem BFA befragt ausdrücklich, dass sein Vater jemals für Al Shabaab gearbeitet habe (AS 131).

Mag die Erstbefragung gemäß Paragraph 19, Absatz eins, AsylG 2005 auch in erster Linie der Ermittlung der Identität und der Reiseroute dienen, so hat der BF im vorliegenden Fall bei der Erstbefragung nicht nur allgemeine Angaben zu seinen Fluchtgründen gemacht. In diesem Sinne sind andere Angaben zu den Fluchtgründen in der Erstbefragung als in der folgenden Befragung durch das BFA durchaus als ein Indiz für die Unglaubhaftigkeit der Fluchtgründe zu werten.

Der BF wurde gegenständlich im Zuge seiner Erstbefragung auch darauf hingewiesen, dass seine Angaben eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung sind. Er wurde aufgefordert wahre und vollständige Angaben zu machen bzw. hingewiesen, dass unwahre Angaben nachteilige Folgen haben können. Der BF gab an, der Einvernahme ohne Probleme folgen zu können und gab abschließend zu Protokoll, alles verstanden zu haben.

Im Übrigen erscheint nicht nachvollziehbar, dass – den eigenen Angaben des BF folgend – seine übrige Familie, insbesondere auch sein volljähriger Bruder, in Baardheere verbleiben konnte vergleiche AS 128).

Das Nichterscheinen des BF bei der anberaumten Verhandlung vor dem erkennenden Gericht, zu welcher der BF nachweislich ordnungsgemäß geladen war, muss als eine Missachtung der Mitwirkungspflicht am laufenden Asylverfahren angesehen werden, welche gegen die Glaubwürdigkeit des BF und in der Folge des Fluchtvorbringens spricht. Der BF hätte im Rahmen der mündlichen Verhandlung die Gelegenheit nutzen können, seine Angaben zu konkretisieren bzw. zu ergänzen bzw. die aufgezeigten Ungereimtheiten selbst aufklären zu versuchen. Es darf auch darauf hingewiesen werden, dass der BF selbst im Zuge seiner Beschwerde eine Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Soweit vonseiten des BF die Nichtteilnahme an der Verhandlung mit einer behaupteten Traumatisierung, regelmäßigen Albträumen bzw. dem psychischen Unvermögen, erneut über seine Vergangenheit zu sprechen, begründet wird, wurde Derartiges, wie bereits ausgeführt, weder belegt noch ausreichend substantiiert dargetan.

Aufgrund dieser eben aufgezeigten divergierenden und unschlüssigen Angaben sowie der mangelnden Mitwirkung des BF geht das erkennende Gericht insgesamt somit nicht davon aus, dass die vom BF geschilderten Fluchtgründe der Wahrheit entsprechen können, sondern es sich dabei lediglich um ein gedankliches Konstrukt des BF handelt. Dem erwachsenen und über Bildung verfügenden BF obliegt nämlich selbst, die in seiner Sphäre gelegenen Umstände seiner Flucht einigermaßen nachvollziehbar und genau zu schildern. Der BF konnte daher insgesamt keine asylrelevante Verfolgung darlegen oder glaubhaft machen.

Auch unter Berücksichtigung des Alters des BF zum Zeitpunkt des behaupteten fluchtauslösenden Ereignisses (im Mai 2020 vollendete der BF sein siebzehntes Lebensjahr) gelangt das erkennende Gericht fallgegenständlich im Rahmen der Beweiswürdigung nicht zu einem anderen Ergebnis, zumal auch gegenständlich nicht davon gesprochen werden kann, dass der BF überhaupt über keine Bildung verfügt (der BF besuchte laut eigenen Angaben acht Jahre die Schule). Es wurde im Übrigen auch nicht moniert und ist nicht hervorgekommen, dass der BF während seiner Einvernahmen nicht geistig und örtlich völlig orientiert gewesen wäre.

2.3. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. römisch eins 2013/33 i.d.F. BGBl. römisch eins 2013/122, geregelt (Paragraph eins, leg.cit.). Gemäß Paragraph 58, Absatz 2, VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß Paragraph 17, VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Artikel 130, Absatz eins, B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der Paragraphen eins bis 5 sowie des römisch IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, Bundesgesetzblatt Nr. 194 aus 1961,, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, Bundesgesetzblatt Nr. 173 aus 1950,, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, Bundesgesetzblatt Nr. 29 aus 1984,, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß Paragraph 6, BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG) nicht getroffen und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Zum Spruchteil A)

Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention droht vergleiche auch die Verfolgungsdefinition in Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 11, AsylG 2005, die auf Artikel 9, der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde vergleiche VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr vergleiche VwGH  10.06.1998, 96/20/0287).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren vergleiche VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann vergleiche VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinne des Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 in Verbindung mit Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, der Genfer Flüchtlingskonvention nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe vergleiche VwGH vom 10. 12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der BF die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, Paragraph 45,, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus vergleiche VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (hier: des Bundesverwaltungsgerichts) vergleiche VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Wie bereits ausführlich beweiswürdigend ausgeführt, ist es dem BF nicht gelungen, eine individuelle und konkret gegen ihn gerichtete Bedrohung oder Verfolgung glaubhaft zu machen.

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, ist es dem BF insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der GFK genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.

Vor diesem Hintergrund ist eine aktuelle, gezielt gegen die Person des BF gerichtete Verfolgung nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen.

Dem BF wurde im Übrigen bereits der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Auch sonst haben sich keine Anhaltspunkte für eine asylrelevante Gefährdung des BF im Herkunftsstaat ergeben.

Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 abzuweisen.

Zum Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß Paragraph 25 a, Absatz , des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), Bundesgesetzblatt Nr. 10 aus 1985, idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133, Absatz , B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

Schlagworte

Clanzugehörigkeit Glaubwürdigkeit individuelle Verhältnisse mangelnde Asylrelevanz Menschenrechtsverletzungen subsidiäre Schutzgründe subsidiärer Schutz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2023:W142.2259817.1.00

Im RIS seit

12.12.2023

Zuletzt aktualisiert am

12.12.2023

Dokumentnummer

BVWGT_20231010_W142_2259817_1_00

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