Bundesverwaltungsgericht (BVwG)

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Entscheidungstext W261 2253020-1

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Entscheidungsart

Erkenntnis

Geschäftszahl

W261 2253020-1

Entscheidungsdatum

10.10.2022

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
  1. B-VG Art. 133 heute
  2. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2019 bis 24.05.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 138/2017
  3. B-VG Art. 133 gültig ab 01.01.2019 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 22/2018
  4. B-VG Art. 133 gültig von 25.05.2018 bis 31.12.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 22/2018
  5. B-VG Art. 133 gültig von 01.08.2014 bis 24.05.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 164/2013
  6. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2014 bis 31.07.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  7. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.2004 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. B-VG Art. 133 gültig von 01.01.1975 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 444/1974
  9. B-VG Art. 133 gültig von 25.12.1946 bis 31.12.1974 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 211/1946
  10. B-VG Art. 133 gültig von 19.12.1945 bis 24.12.1946 zuletzt geändert durch StGBl. Nr. 4/1945
  11. B-VG Art. 133 gültig von 03.01.1930 bis 30.06.1934

Spruch


W261 2253020-1/19E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, vom 04.02.2022, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

römisch eins.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Somalias, stellte nach unregelmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 29.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am selben Tag fand seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der Beschwerdeführer unter anderem an, dass er in römisch 40 geboren sei und zuletzt in Shabeelaha Hoose in Somalia gelebt habe, der Volksgruppe der Jereer angehöre und Muslim sei. Er habe die Grundschule besucht und sei keiner Arbeit nachgegangen. Seine Eltern seien bereits verstorben, seine Ehefrau, seine Tochter und seine beiden Söhne würden noch in Somalia leben.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass seine Familie Landwirte gewesen seien. Al-Shabaab habe ihren Bauernhof weggenommen und habe sie umbringen wollen. Er habe Angst vor der Al-Shabaab.

3. Am 10.12.2021 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, dass er gesund und nicht in medizinischer Behandlung sei. Er sei sunnitischer Muslim, gehöre der Volksgruppe der Jarer, Weyne und dem Clan der Biomal, römisch 40 an. Er sei im Dorf römisch 40 in der Region Shabeelaha Hoose geboren, wo er bis zu seiner Ausreise aus Somalia gelebt habe. Er habe keine Schul- oder Berufsausbildung und habe als Landwirt am Land seiner Familie gearbeitet. Seine Eltern seien bereits verstorben, zwei Schwestern und ein Bruder würden noch in römisch 40 in Shabeelaha Hoose leben. Er habe 2017 geheiratet und habe zwei Töchter und einen Sohn im Alter von ein bis drei Jahren. Seine Ehefrau und Kinder befänden sich in einem Flüchtlingslager in Kenia, er habe derzeit keinen Kontakt mit ihnen.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er ganz normal als Landwirt gearbeitet habe. Ihr Dorf sei unter Kontrolle der Al-Shabaab gewesen. Der Grund, warum er die Heimat verlassen habe, sei, dass sein Vater umgebracht worden sei. Sie seien erpresst bzw. aufgefordert worden, Zahlungen zu leisten. In ihrem Dorf habe es kein Wasser mehr gegeben, daher sei es schwierig gewesen, die Felder zu bewässern. Sie hätten die geforderten Gelder nicht aufbringen können, und daher sei sein Vater im März 2021 von Al-Shabaab umgebracht worden. Diese hätten begonnen, sie zwangszurekrutieren, weil sie die geforderten Gelder nicht zahlen konnten. Die Mitglieder von Al-Shabaab hätten sie an einen bestimmten Ort beordert und sie vom Dschihadismus überzeugen wollen. Man habe ihn dann dazu aufgefordert, ein Selbstmordattentat durchzuführen, da er Angehöriger einer Minderheit sei. Er habe gesagt, dass er Frau und Kinder habe und das nicht machen könne. Dann habe „er“ gesagt, er wolle sich das überlegen. Er habe den Beschwerdeführer in ein Dorf namens römisch 40 mitgenommen, wo er in eine Zelle gesperrt worden sei. Man habe ihm mitgeteilt, dass er bereit sein solle. Er würde mit einer Jacke, in der eine Bombe platziert sei, in Richtung der somalischen Soldaten und afrikanischen Truppen (Amisom) geschickt. Er sei immer wieder misshandelt worden. Seine Frau habe Probleme gehabt, sie habe nicht mehr essen können und sei auch bewusstlos geworden. Seine ganze Familie habe nichts zu essen gehabt. Sein Onkel mütterlicherseits habe gesehen, wie schlecht es seiner Familie gegangen sei. Er sei daraufhin zur Frau des Kommandanten der Al-Shabaab gegangen und habe um Hilfe gebeten. Er habe gebettelt, dass der Beschwerdeführer sich von seiner Familie verabschieden dürfe. Die Frau habe mit ihrem Gatten gesprochen und ihm seien drei Tage eingeräumt worden, um zu seiner Familie zu gehen. Sie habe ihm auch angeboten, ihn bei der Flucht zu unterstützen, wenn er ihr seine Felder überlasse. Er sei nach den drei Tagen nicht mehr dorthin zurückgegangen und deshalb in Abwesenheit von den Al-Shabaab verurteilt worden. Die Frau habe ihm einen Schlepper organisiert, mit dessen Hilfe er über Mogadischu ausgereist sei. Sein Onkel väterlicherseits sei 2018 in Mogadischu von den Angehörigen eines mächtigen Stammes abgebrannt worden, weil dessen Sohn (sein Cousin) eine Frau aus diesem Stamm geheiratet habe.

4. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 04.02.2022 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt römisch II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt römisch III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt römisch VI.).

Begründend führte die belangte Behörde zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer weder aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe noch der politischen Gesinnung in seiner Heimat von staatlicher Seite verfolgt worden sei. Auch eine Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder eine persönliche Bedrohung durch Mitglieder der Al-Shabaab habe in seinem Fall nicht festgestellt werden können. Die von ihm angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien unglaubwürdig und der vorgebrachte Fluchtgrund habe nicht als entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt werden können. Die Bedrohung durch die Al-Shabaab habe der Beschwerdeführer in keiner Weise glaubhaft darstellen können und diese habe daher durch die Behörde als nicht nachvollziehbar und unglaubwürdig gewertet werden müssen. Er habe bei der Erstbefragung und bei der behördlichen Einvernahme völlig unterschiedliche Fluchtgründe vorgebracht und auch bei weiteren Aspekten widersprüchliche Angaben gemacht. Seine Angaben seien aus näher dargestellten Gründen auch nicht plausibel und nicht mit den Länderinformationen vereinbar. Weder von staatlicher Seite noch von Seite der Al-Shabaab sei eine asylrelevante Bedrohung zu erkennen gewesen. In einer Gesamtschau könne durch die befasste Behörde keinerlei Asylrelevanz abgeleitet werde.

5. Mit Eingabe vom 15.03.2022 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten nach erneuter Darstellung des Fluchtvorbringens im Wesentlichen vorgebracht, dass die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe, indem sie mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe. Diese seien unvollständig und teilweise unrichtig. Sie würden zwar allgemeine Aussagen über Somalia beinhalten, sich jedoch nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen befassen. Die Behörde habe es zur Gänze unterlassen, sich mit der Problematik von Zwangsrekrutierungen durch Al-Shabaab und der Clanzugehörigkeit des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen. Es werde daher ergänzend auf Länderberichte zur Stärke der Al-Shabaab und zu Zwangsrekrutierungen verwiesen, die sich mit seinem Vorbringen decken würden. Für den Beschwerdeführer stehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die Situation in Mogadischu werde in aktuellen Berichten als „instabil“ und „unsicher“ beschrieben, überdies werde aufgezeigt, das Al-Shabaab dort eine versteckte, aber klar erkennbare Präsenz aufrechterhalte. Auch mit der bedrohlichen Versorgungslage in Somalia habe sich die Behörde nicht ausreichend auseinandergesetzt, wozu ebenfalls auf Länderberichte verwiesen werde. Der Beschwerdeführer gehöre dem Clan der Dir und Unterclan der Biyomaal an, welcher eine Minderheit darstelle. Aus diesem Grund würde er keinen effektiven Schutz von seinem Clan erhalten. Auch die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides sei mangelhaft und unschlüssig. Er habe sein Vorbringen sehr detailliert und lebensnah gestaltet und dieses decke sich auch mit den Länderberichten. Die belangte Behörde stütze seine vermeintliche Unglaubwürdigkeit auf behauptete Widersprüche, die sich bei näherer Auseinandersetzung mit dem Fluchtvorbringen jedoch leicht auflösen hätten lassen. Insoweit die vermeintliche Unglaubwürdigkeit auf Widersprüche zwischen der Erstbefragung und den weiteren Einvernahmen stütze, werde auf Judikatur des Verfassungsgerichtshofes verwiesen, wonach Asylwerber im Zuge der Erstbefragung gar nicht näher zu ihren Fluchtgründen befragt werden dürften. Die Behörde müsse in diesem Zusammenhang den psychischen und physischen Zustand des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung berücksichtigen und müsse darlegen, aus welchen Gründen sie davon ausgehe, dass deren Ergebnisse ein valides Beweismittel darstellen würden. Der Beschwerdeführer sei bei der Erstbefragung von der Situation sehr eingeschüchtert gewesen und ihm sei mitgeteilt worden, sich hinsichtlich etwaiger Fluchtgründe kurzzuhalten. Weiters seien seine Angaben in der Erstbefragung jedenfalls mit jenen in der Einvernahme in Einklang zu bringen, da er stets angegeben habe, Angst vor den Al-Shabaab zu haben. Auch weitere von der Behörde angeführte Widersprüche würden tatsächlich nicht vorliegen. In einer Gesamtbetrachtung bestehe beim Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Verfolgung durch Al-Shabaab aufgrund der unterstellten politischen Gesinnung sowie der Zugehörigkeit zur ethnischen und sozialen Gruppe der Dir. Es wäre ihm daher der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen.

6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 16.03.2022 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 18.03.2022 in der Gerichtsabteilung W205 einlangte.

7. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.04.2022 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W205 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 25.04.2022 einlangte.

8. Mit Eingabe vom 09.08.2022 übermittelte die belangte Behörde Unterlagen aus einem Verfahren der Finanzpolizei wegen Beschäftigung unter anderem des Beschwerdeführers ohne die erforderliche arbeitsmarktrechtliche Bewilligung.

9. Mit Eingabe vom 10.08.2022 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass er stets angegeben habe, der Volksgruppe der Jareer, Weyne anzugehören. „Jareer“ stelle eine andere Bezeichnung für die Ethnie der somalischen Bantu dar, welche in ganz Somalia rassistisch diskriminiert werde. Er habe in seiner behördlichen Einvernahme mehrmals angegeben, wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Minderheitenstamm massiv diskriminiert worden zu sein, wobei klarzustellen sei, dass der mit „Stamm“ nicht nur seine Zugehörigkeit zum Clan der Biyomaal meine, sondern auch zur Volksgruppe der Jareer bzw. der somalischen Bantu. Der Beschwerdeführer sei aufgrund seines Äußeren optisch klar als Angehöriger der Jareer erkennbar. Es werde daher auf Auszüge des Länderinformationsblatts zur Diskriminierung der somalischen Bantu verwiesen. Der von ihm geschilderte Vorfall, bei dem sein Onkel in Zusammenhang mit einer Mischehe ermordet worden sei, werde sogar im LIB beschrieben. Angesichts dieser Berichtslage hätte die belangte Behörde feststellen müssen, dass seine Schilderungen in den Länderberichten Deckung finden und er aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit in ganz Somalia massiv diskriminiert und stigmatisiert werde. Es bestehe auch aus diesem Grund die Gefahr einer Verfolgung. Eine innerstaatliche Fluchtalternative komme angesichts der besonderen Vulnerabilität der Bantu erst recht nicht in Betracht.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.08.2022 eine mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle einer Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

11. Mit Eingabe vom 02.09.2022 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass seine Angaben im bisherigen Verfahren durchwegs konsistent und detailliert gewesen seien und in den Länderberichten Deckung fänden. Es werde auf Länderberichte zu seiner Herkunftsregion Lower Shabelle, in der Al-Shabaab über eine starke Präsenz verfüge, zur Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab und die Konsequenzen einer Verweigerung bzw. Desertion, zur Einhebung von Steuern durch Al-Shabaab und zur Situation der Jarir bzw. Bantu verwiesen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mogadischu bestehe nicht.

römisch II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch 40 und wurde am römisch 40 geboren. Er ist somalischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Bantu, des Clans der Jareer Weyne und des Subclans der Biyomal sowie sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Somalisch, er spricht auch etwas Englisch und Deutsch.

Er wurde im Dorf römisch 40 im Bezirk römisch 40 in der Region Lower Shabelle geboren, wo er bis zu seiner Ausreise aus Somalia gelebt hat. Sein Vater hieß römisch 40 und seine Mutter hieß römisch 40 , sie verstarben 2021 bzw. 2015. Er hat zwei Schwestern und einen Bruder, die zuletzt in römisch 40 in der Nähe seines Heimatdorfes gelebt haben. Er weiß nicht, wo sich seine Geschwister derzeit aufhalten.

Der Beschwerdeführer hat eine Koranschule, aber keine öffentliche Schule besucht und keine Berufsausbildung absolviert. Er hat als Landwirt auf den Feldern seiner Familie gearbeitet und vor allem Mais angebaut und geerntet.

Er ist seit Jänner 2017 mit römisch 40 (ca. 21 Jahre alt) verheiratet. Mit ihr hat er einen Sohn, römisch 40 (ca. 4,5 Jahre alt), sowie zwei Töchter, römisch 40 (ca. drei Jahre alt) und römisch 40 (ca. zwei Jahre alt). Seine Frau und seine Kinder leben seit ca. Mai 2021 in einem Flüchtlingslager in römisch 40 , Kenia. Mit seiner Frau hatte er zuletzt Kontakt, als er sich in Serbien aufhielt, danach ist der Kontakt abgebrochen.

In Somalia lebten zuletzt noch ein Onkel mütterlicherseits und mehrere Cousins und Cousinen des Beschwerdeführers. Weitere Geschwister seiner Eltern sind bereits verstorben. Er hat keinen Kontakt zu diesen Verwandten und weiß nicht, wo sich diese derzeit aufhalten.

Der Beschwerdeführer hat Somalia im Mai 2021 verlassen. Er hielt sich unter anderem ca. zwei Wochen in Griechenland und ca. ein Monat in Serbien auf und stellte am 29.07.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Das Heimatdorf des Beschwerdeführers befindet sich unter Kontrolle von Al-Shabaab. Sein Vater musste für die Landwirtschaft der Familie regelmäßig Abgaben an die Gruppierung leisten. Als er diese Abgaben infolge einer Dürre nicht mehr bezahlen konnte, wurde er im März 2021 von Al-Shabaab-Mitgliedern mitgenommen und ermordet. Al-Shabaab nahm der Familie daraufhin den größeren Teil ihrer Felder weg und entschied wenig später, auch die jungen Männer des Dorfes zu rekrutieren. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, für sie zu kämpfen und einen Selbstmordanschlag zu verüben. Er wurde zu einem Al-Shabaab-Gericht in einem anderen Dorf gebracht und dort drei Tage eingesperrt. Auf Bitten seines Onkels mütterlicherseits bürgte die Frau eines lokalen Al-Shabaab-Kommandanten für ihn und erwirkte, dass er für drei Tage freigelassen wurde und zu seiner Familie gehen konnte. In dieser Zeit kam die Frau des Kommandanten zum Beschwerdeführer und bot an, ihm und seiner Familie im Austausch für den verbliebenen Teil ihrer Felder zur Flucht zu verhelfen. Er stimmte dem zu, woraufhin sie seine Ausreise organisierte und bezahlte. Sie schickte ihn zunächst zu einem Verwandten von ihr in Mogadischu, und zwei Wochen später reiste er mit dessen Hilfe endgültig aus Somalia aus. Kurz drauf verließen auch seine Frau, Kinder und Geschwister die Herkunftsregion.

Bei einer Rückkehr an seinen Herkunftsort in Somalia wäre der Beschwerdeführer aufgrund seiner Flucht vor einer Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab zumindest von einem Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Al-Shabaab bedroht. Der somalische Staat ist nicht in der Lage, ihn vor einem solchen Übergriff zu schützen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht.

1.3.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Somalia aus dem COI-CMS, Version 4 vom 27.07.2022 (LIB)

-        EUAA-Leitlinien zu Somalia vom Juni 2022 (EUAA)

1.3.1. Politische Lage

1.3.1.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 22.07.2022

Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird. Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (LIB).

Staatlichkeit: Trotz massiver militärischer, diplomatischer und finanzieller Unterstützung hat die Regierung in Mogadischu kaum Fortschritte gemacht. Nach anderen Angaben hat Somalia in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert. Jedenfalls zeigt das Land trotz erzielter Fortschritte auch weiterhin alle Merkmale eines failed state . Laut einer anderen Quelle ist Somalia zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind demnach sehr schwach, wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Bundesregierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen, da sie nur wenige Gebiete kontrolliert. Zudem hängt die Existenz des somalischen Staates zum größten Teil von der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ab. Dies gilt natürlich auch für die Umsetzung von Aktivitäten seitens der Regierung (LIB).

Aktuelle Politische Lage: Der neue Präsident hat von seinem Vorgänger eine politisierte, parteiische und unfähige Bürokratie geerbt. Die Nabad iyo Nolol (N&N, Friede und Leben), die Partei von Ex-Präsident Farmaajo, hat die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Verwaltung ohne Skrupel zu zentralisieren. Die Regierung unter Farmaajo und dem NISA-Chef Fahad Yasin wollte gemäß einer Quelle in Richtung von Verhandlungen mit al Shabaab und einer Talibanisierung Somalias. Dutzende ehemalige Dschihadisten wurden von ihnen in Schlüsselpositionen der Bundesverwaltung und der Sicherheitskräfte gehievt, politische Führungskräfte und Minister wurden auf Basis von Loyalität und nicht von Kompetenz ausgewählt. Jeder, der als Bedrohung wahrgenommen wurde, wurde angegriffen. Die Bundesregierung und regionale Führer haben alles getan, um zeitgerechte und glaubwürdige Wahlen zu verhindern. Der Versuch, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Wahlen zu manipulieren, führte das Land in politisches Chaos. Die Verzögerungen, Zusammenstöße und Ungewissheiten rund um die Wahlen haben außerdem zu einem fast vollständigen Zusammenbruch hinsichtlich der Erfüllung von Regierungsfunktionen geführt. Dies hat wiederum zur Spaltung aller Sektoren - auch des Sicherheitsapparats - beigetragen. Der mehr als ein Jahr andauernde Streit um die Wahlen hat nicht nur die Regierungsarbeit gelähmt, er hat es ermöglicht, dass al Shabaab den angeschlagenen Staat weiter ausgehöhlt hat (LIB).

Dahingegen ist Präsident Hassan Sheikh gemäß Angaben einer Quelle ein Demokrat. Er will die Staatsbildung im Konsens fortführen. Um aber den Einfluss von N&N zu tilgen und eine inklusive Politik umzusetzen, wird es Zeit brauchen. Gleichzeitig wird N&N alles daran setzen, von Hassan Sheikh vorangetriebene Reformen zu sabotieren - und zwar von innerhalb der Regierung. Folglich ist das Machtzentrum Somalias nach der Machtübernahme durch den neuen Präsidenten paralysiert. Eine Elite im Wettstreit stehender islamistischer Fraktionen, die allesamt dem Föderalismus abgeneigt sind, versucht, Reformen zu hintertreiben oder rückgängig zu machen. Die N&N ist im Begriff, sich neu zu gruppieren. Der neue Präsident möchte dem mit einer Stärkung von Dam ul-Jadiid ["Partei" bzw. politisch-islamische Strömung des Präsidenten] entgegenwirken. Der Präsident ist moderat islamisch und keine Bedrohung für demokratische Werte. Insgesamt ist die Politik in Somalia zunehmend in der Hand von Eliten und fraktioniert. Clans üben weniger Macht aus, islamistische Fraktionen gewinnen an Macht und Einfluss (LIB).

1.3.1.1.1. South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle) – Letzte Änderung: 25.07.2022

Der SWS wurde in den Jahren 2014/2015 etabliert. Im Jänner 2019 ist mit Abdulaziz Hassan Mohamed 'Laftagareen' ein neuer Präsident angelobt worden. Der Bundesregierung wird vorgeworfen, sich in den Wahlkampf eingemischt zu haben. Ein Kandidat – der ehemalige stellvertretende Kommandant von al Shabaab, Mukhtar Robow – war verhaftet worden, was zu gewaltsamen Demonstrationen geführt hat. Die Amtszeit von Präsident Laftagareen läuft im Dezember 2022 aus. Mit der Einschüchterung von Gegnern wurde bereits begonnen (LIB).

Im März 2020 haben Clanälteste ein neues Regionalparlament ausgewählt. Im Jahr 2021 konzentrierte sich die Regierung auf den Aufbau von Lokalräten in ausgewählten Bezirken. Dieser Prozess konnte in der offiziellen Hauptstadt des SWS, Baraawe (Lower Shabelle), in Waajid und Ceel Barde (Bakool) auch abgeschlossen werden. In den Gebieten, die in Bay von der Regionalregierung kontrolliert werden, funktioniert die Verwaltung einigermaßen. Beim Aufbau der Verwaltung konnten seit 2021 keine weiteren Fortschritte erzielt werden (LIB).

1.3.2. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten – Letzte Änderung: 25.07.2022

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen. Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIB).

1.3.2.1. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 25.07.2022

Die Sicherheitslage bleibt instabil bzw. volatil, mit durchschnittlich 236 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle gingen auf das Konto von al Shabaab. Die Angriffe der Gruppe richten sich in erster Linie gegen somalische Sicherheitskräfte und AMISOM. Dabei werden Angriffe vorwiegend mit improvisierten Sprengsätzen und sogenannten hit-and-run-Angriffen durchgeführt. Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt, während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet. Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (LIB).

AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Allerdings konnten trotz internationaler Unterstützung kaum weitere territoriale Gewinne verzeichnet werden. Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren. Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS - aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen. Wenn ATMIS abzieht, würde Mogadischu rasch fallen. An dieser Situation wird sich in den nächsten Jahren nichts ändern. Zudem ist die Regierung zum eigenen Überleben schon alleine deswegen auf ausländische Truppen und Hilfe angewiesen, weil sie nicht in der Lage ist, aus eigenen Mitteln Polizisten und Soldaten zu bezahlen (LIB).

Trend: Die Bundesregierung hat es nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten. Der Kampf gegen al Shabaab stagniert seit mehreren Jahren. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hat die vergangenen vier Jahre damit zugebracht, einen Krieg gegen den Föderalismus, politischen Pluralismus und demokratische Normen zu führen – aber nicht gegen al Shabaab. Die Gruppe ist heute stärker denn je und hat 2021 aggressiv expandiert. Dabei sah sich al Shabaab schon zuvor durch den Abzug der USA und einen Teilabzug äthiopischer Kräfte gestärkt. Danach hat sie die große politische Unsicherheit und die damit verbundenen Spannungen genutzt, um das Tempo ihrer Aktivitäten in Mogadischu und in den Bundesstaaten auch mittel- und langfristig aufrechterhalten zu können. Die Regierung unter Präsident Farmaajo hatte den Kampf gegen al Shabaab aufgeben, und immer mehr Gebiete gingen an die Gruppe verloren. Al Shabaab gewinnt an Boden und konnte im Jahr 2021 in Gebiete vordringen, die bis dahin als geschützt gegolten hatten - etwa in den Nordwesten von Galmudug und in die zuvor friedliche Küstenzone nordwestlich von Mogadischu in Middle Shabelle. Insgesamt konnte al Shabaab unter Ausnutzung der politischen Instabilität im Jahr 2021 in Galmudug, HirShabelle, Jubaland und dem SWS-Geländegewinne erzielen (LIB).

Al Shabaab führt nach wie vor einen Guerillakrieg mit gewalttätigen, extremistischen Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Die Gruppe ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte hit-and-run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Insgesamt verfolgt al Shabaab eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus. Die Präsenz von al Shabaab im ländlichen Raum hat 2021 zugenommen (LIB).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab. Die Kriegsführung von al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn. Am meisten betroffen waren davon zuletzt Mogadischu, Lower Shabelle und Bay. Generell sind insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle betroffen. Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unterhält al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (LIB).

Innerhalb der von al Shabaab gehaltenen Gebiete führen Bundesarmee und AMISOM kaum Operationen durch. Es kommt dort lediglich zu sporadischen Luftschlägen der USA. Die größte Einzeloffensive der Bundesregierung der vergangenen Jahre richtete sich im Oktober 2021 gegen ASWJ in Guri Ceel. Dabei wurden 120 Menschen getötet und hunderte verwundet. Dies war die blutigste Schlacht in Somalia seit dem Angriff der al Shabaab auf den kenianischen Stützpunkt in Ceel Cadde (Gedo) Anfang 2016 (LIB).

Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt. Während AMISOM (bzw. als deren Nachfolgerin die ATMIS) und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen. Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen und hat Gebiete gefestigt, wo die Gruppe zuvor unter Druck von Regierungskräften gestanden ist. Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen. Nach anderen Angaben besitzt die Bundesregierung kaum Legitimität und kontrolliert lediglich Mogadischu - und das nicht zur Gänze. In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen. Gleichzeitig erhöht al Shabaab mit der Einnahme von Wegzöllen das eigene Budget. Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (LIB).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind

1.       das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2.       Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3.       größere Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4.       Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5.       der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor; sowie Rab Dhuure;

6.       weites Gebiet rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7.       sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (LIB).

Die Regierung kontrolliert Städte und Orte nur punktuell als Inseln inmitten umstrittener und umkämpfter Gebiete. Selbst in diesen Städten und Orten wird die Regierung von Rebellen unterwandert. In Süd-/Zentralsomalia kann kein Gebiet als frei von al Shabaab bezeichnet werden – insbesondere durch die Infiltration mit verdeckten Akteuren kann al Shabaab nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Matabaan - einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (LIB).

Zivile Opfer: Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten. Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Nach eigenen Angaben greift al Shabaab einfache Zivilisten nicht gezielt an. Jedenfalls gelten die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu ATMIS und somalischen Sicherheitskräften. Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIB).

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulicht dies mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote und Verletzte: 454 zu 1.140 im Jahr 2019. Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von AMISOM bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28% der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es nur 20% (LIB).

Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:9367 [Anm.: Rechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen] (LIB).

1.3.2.1.1. South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle) – Letzte Änderung: 25.07.2022

In den größeren von der Regierung kontrollierten Städten besteht eine grundlegende Verwaltung. Es gibt Bürgermeister, eine lokale Rechtsprechung und Ordnungskräfte. Die Regierung konnte mit internationaler Unterstützung ihre eigene, lokal rekrutierte Armee, die South West State Special Police Force (SWSSPF), weiter ausbauen. Sie wird von Äthiopien versorgt und ist in Bay der Hauptträger des Kampfes gegen al Shabaab. Al Shabaab kontrolliert viele ländliche Gebiete und nahezu alle wichtigen Hauptversorgungsrouten. Sicheres Reisen erfolgt über den Luftweg. Da der SWS maßgeblich von den Häfen Kismayo und Mogadischu abhängig ist, müssen Güter durch von al Shabaab kontrolliertes Gebiet transportiert werden. Generell haben sich zwischen al Shabaab und Sicherheitskräften das ganze Jahr 2021 über dutzende Angriffe und Gegenangriffe ereignet - auf den ganzen SWS verteilt. Al Shabaab bleibt in der Lage, die somalische Armee und AMISOM im Gebiet anzugreifen. Vor allem die Regionen Bay und Lower Shabelle sind von Angriffen und Anschlägen betroffen (LIB).

Stößt al Shabaab auf den Widerstand lokaler Clanmilizen, so wie dies bei den Leysan (Rahanweyn) in Bay und Bakool oder den Galja'el (Hawiye) in Lower Shabelle geschehen ist, und wo es kaum Schutz durch Sicherheitskräfte gibt, dann entführt die Gruppe mitunter Älteste, und es kommt zur Zwangsvertreibung ganzer Dörfer (LIB).

Lower Shabelle: Wanla Weyne, Afgooye, Qoryooley, Merka und Baraawe befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM, Kurtunwaarey und Sablaale werden von al Shabaab kontrolliert. Dies gilt auch für große Teile des Hinterlandes nördlich des Shabelle. Lower Shabelle ist nach wie vor von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen den Städten liegt im Fokus der al Shabaab (LIB).

Generell wurde der Großteil der militärischen Anstrengungen der Bundesarmee gegen al Shabaab 2020 in die Operation Badbaado investiert. Bundesarmee und AMISOM hatten damals neben Janaale auch noch Sabiid, Bariire und Aw Dheegle einnehmen können. Diese Orte sind insofern strategisch relevant, als dort Brücken über den Shabelle führen und diese für al Shabaab wichtige Nachschubwege in Richtung Mogadischu dargestellt haben. In jedem der genannten Orte wurde eine FOB (Forward Operating Base) der Bundesarmee eingerichtet. Manche Orte, die später von AMISOM an somalische Kräfte übergeben worden sind, wurden von al Shabaab wieder eingenommen. Während die Operation Badbaado 1 einige Erfolge erzielen konnte, kam die Phase 2 zu einem Stillstand. Mit dieser sollten eigentlich Hauptversorgungsrouten freigekämpft und -gehalten werden. Die Operation wurde nie umgesetzt (LIB).

Das Jahr 2021 hat zudem gezeigt, dass die militärischen Operationen gegen al Shabaab immer mehr taktischen als strategischen Charakter haben; und dass es den Regierungskräften an Kapazitäten mangelt, erobertes Gebiet auch zu halten. Insgesamt wird immer noch auf die Stationierung einer ausreichenden Zahl an Polizisten gewartet, der Übergang zur Zivilverwaltung ist nicht erfolgt. Bislang wurden nur einige Darawish, sowie Polizeirekruten des SWS ausgebildet, ausgerüstet und im Gebiet stationiert. Anfang Juli 2021 hat die Bundespolizei 150 Darawish in Janaale und Aw Dheegle stationiert, um diese Gebiete abzusichern. Immer wieder kann al Shabaab aber in Orte vordringen - z.B. am 7.4.2022 nach Buulo Mareer. Der Ort, in dem es Stützpunkte von AMISOM und Bundesarmee gibt, wurde vorab mit Mörsern beschossen und danach kurzzeitig von al Shabaab besetzt (LIB).

Anfang 2021 eskalierte der Konflikt zwischen al Shabaab und dem Clan der Galje’el (Hawiye). Al Shabaab vertrieb in Lower Shabelle dabei ca. 1.500 Haushalte aus 11 Dörfern. Im Zuge dieser Strafaktion ermordete die Gruppe zwei Menschen, setzte mehrere Dutzend Wohnstätten in Brand und stahl ca. 100 Kamele. Auch gegen Angehörige der Shanta Alemod (Rahanweyn) ging al Shabaab vor, dabei wurden im Feber 2021 rund 500 Haushalte aus vier Gemeinden vertrieben. Nach anderen Angaben kam es Mitte März 2021 im Bereich Wanla Weyne zu schweren Auseinandersetzungen zwischen zwei rivalisierenden Clans und al Shabaab. Zahlreicher Häuser wurden niedergebrannt, Vieh geplündert; 500 Familien sind alleine in Mogadischu als Flüchtlinge angekommen. Im Mai 2021 sind weitere Flüchtlinge aus diesem Gebiet in Mogadischu angekommen. Auch Mitte 2021 kam es im Gebiet zwischen al Shabaab, Galja'el, Shanta Alemod und Digil/Mirifle zu Auseinandersetzungen. Milizen der Galja'el griffen dabei Konvois an und beteiligten sich an Vergewaltigungen, Brandschatzungen, Plünderungen und Landraub (LIB).

Afgooye liegt aufgrund seines strategischen Wertes im ständigen Fokus aller Konfliktparteien - die Stadt gilt als Schlüssel zu Mogadischu. Trotzdem kann Afgooye hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Als sicher kann die Stadt allerdings nicht bezeichnet werden (LIB).

Merka findet sich unter Kontrolle der Regierung. Hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung kann die Stadt als konsolidiert erachtet werden. Die Kontrolle über einige Dörfer an der Küste zwischen Mogadischu und Merka ist unklar. Allerdings kann dieser Landesteil durch al Shabaab nicht mehr so einfach erreicht werden als vor der Operation Badbaado (LIB).

Aus Baraawe gibt es auch weiterhin nur wenige sicherheitsrelevante Meldungen. Am 9.2.2022 kam es zu einem Mörserangriff auf Baraawe, vier Zivilisten wurden getötet (LIB).

In den Gebieten von Qoryooley und Kurtunwaarey hat al Shabaab die Bewohner einiger Dörfer der Leysan (Rahanweyn) zwangsvertrieben (LIB).

Vorfälle: In den Regionen Bakool, Bay und Lower Shabelle lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 2,36 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2020 insgesamt 60 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie violence against civilians). Bei 48 dieser 60 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2021 waren es 55 derartige Vorfälle (davon 44 mit je einem Toten) (LIB).

1.3.3. Al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022

Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz. Zuletzt hat al Shabaab an Macht gewonnen. Im Zuge der politischen Machtkämpfe 2021 ergab sich für al Shabaab die Möglichkeit, die politische Elite als korrupt und inkompetent und sich selbst als verlässliche Alternative darzustellen. Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: die Eroberung Somalias bzw. die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation des Islams und der Scharia in "Großsomalia" und der Errichtung eines islamischen Staates in Somalia. Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Sheikh Ahmed Umar Abu Ubaidah. Al Shabaab kontrolliert auch weiterhin große Teile Süd-/Zentralsomalias und übt auf weitere Teile, wo staatliche Kräfte die Kontrolle haben, Einfluss aus. Nachdem al Shabaab in den vergangenen zehn Jahren weiter Gebiete verlustig ging, hat sich die Gruppe angepasst. Ohne Städte physisch kontrollieren zu müssen, übt al Shabaab durch eine Mischung aus Zwang und administrativer Effektivität dort Einfluss und Macht aus (LIB).

Verwaltung: Während al Shabaab terroristische Aktionen durchführt und als Guerillagruppe agiert, versucht sie unterhalb der Oberfläche eine Art Verwaltungsmacht zu etablieren - z.B. im Bereich der humanitären Hilfe und beim Zugang zu islamischer Gerichtsbarkeit. römisch fünf.a. bei der Justiz hat al Shabaab geradezu eine Nische gefunden. Im Gegensatz zur Regierung ist al Shabaab weniger korrupt, Urteile sind konsistenter und die Durchsetzbarkeit ist eher gegeben. Bei der Durchsetzung von Rechtssprüchen und Kontrolle setzt al Shabaab vor allem auf Gewalt und Einschüchterung (LIB).

Im eigenen Gebiet hat die Gruppe grundlegende Verwaltungsstrukturen geschaffen. Al Shabaab ist es gelungen, dort ein vorhersagbares Maß an Besteuerung, Sicherheit, Rechtssicherheit und sozialer Ordnung zu etablieren und gleichzeitig weniger korrupt als andere somalische Akteure zu sein sowie gleichzeitig mit lokalen Clans zusammenzuarbeiten. Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung. Mit der Hisbah verfügt die Gruppe über eine eigene Polizei. Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de-facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (LIB).

Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten und geringer Kriminalität. Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet, sie beansprucht das Gewaltmonopol für sich. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft. Al Shabaab unterhält ein rigoroses Justizsystem, welches Fehlverhalten – etwa nicht sanktionierte Gewalt gegen Zivilisten – bestraft. Daher kommt es kaum zu Vergehen durch Kämpfer der al Shabaab. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (LIB).

Insgesamt nimmt die Gruppe im Vergleich zur Regierung effizienter Steuern ein, lukriert mehr Geld, bietet ein höheres Maß an Sicherheit, eine höhere Qualität an Rechtsprechung. Zudem ermöglicht al Shabaab Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen. In Jilib gehen laut einer Quelle Mädchen zur Schule, und Frauen werden von al Shabaab durchaus ermutigt, einer Arbeit nachzugehen (LIB).

Clans: Mitunter konsultieren lokale Verwalter der al Shabaab auch Clanälteste oder lassen bestehende Bezirksstrukturen weiterbestehen. Andererseits nutzt al Shabaab auch Spannungen und Clankonflikte aus, um eigene Ziele zu erreichen. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit, denn auch manche Clans nutzen al Shabaab, um politische Vorteile zu erlangen oder sich an Rivalen zu rächen. Manche Clans werden mit Zwang und Gewalt in Partnerschaft zu al Shabaab gehalten. Die Gruppe organisiert mitunter Feiern zur Ernennung neuer Clanältester (Nabadoon, Sultaan, Ugaas, Wabar) und stattet letztere mit z.B. einem Fahrzeug und einer Waffe aus. Dies geschah beispielsweise bei somalischen Bantu im Bezirk Jamaame, aber auch bei Elay, Wa’caysle, Sheikhal oder Mudulod (LIB).

Rückhalt: Trotz des Einflusses, den die Gruppe in weiten Teilen Somalias ausüben kann, folgen nur wenige Somali der fremden und unflexiblen Theologie, den brutalen Methoden zur Kontrolle und der totalitären Vision von Staat und Gesellschaft. Es gibt einige wenige, ideologisch positionierte Anhänger; Personen, die religiös gebildet sind und sich bewusst auf dieser Ebene mit al Shabaab solidarisieren. Es gibt aber eine viel größere Anzahl von Menschen, die pragmatisch agieren. Sie akzeptieren al Shabaab als geringeres Übel. Andere unterstützen al Shabaab, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet. Die meisten Menschen befolgen ihre Anweisungen aber aus Angst (LIB).

Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; oder Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk. Laut einer Schätzung vom Feber 2022 hat die Gruppe nunmehr 12.000 Kämpfer, jedenfalls mindestens 10.000 Mann an permanent verfügbarer Kampftruppe; mit einer Hinzunahme diverser Dorfmilizen ist diese Zahl vervielfachbar. Eine Quelle vom Mai 2021 spricht von 5.000-10.000 (bewaffneten) Angehörigen der al Shabaab. Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und her wechseln. Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk. Dieser Dienst, der mehr als nur ein Geheimdienst ist, verfügt über 500 bis 1.000 Mann. Der Amniyad ist die wichtigste Stütze der al Shabaab, und diese Teilorganisation hat ihre Fähigkeiten in den vergangenen Jahren ausgebaut. Der Amniyad ist auch für die Erhebung ausnützbarer Clanrivalitäten zuständig. Al Shabaab verfügt jedenfalls über ein extensives Netzwerk an Informanten und ist in der Lage, der Bevölkerung Angst einzuflößen. Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (LIB).

Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position bzw. hat die Gruppe dort eine feste Basis. Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen. Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (LIB).

Jedenfalls steht ebenso fest: Das Einsatzgebiet von al Shabaab ist fast so groß wie Deutschland. In diesem weitläufigen und infrastrukturell wenig erschlossenen Gebiet muss die Gruppe mit ca. 10.000 bewaffneten Kämpfern auskommen. Das bedeutet, dass al Shabaab zu keinem Zeitpunkt eine permanente Kontrolle über alle strategisch wichtigen Punkte ausüben kann. Die Gruppe kann nicht alle wichtigen Straßen kontrollieren, kann nicht in allen Orten des Hinterlandes mit permanenter Präsenz aufwarten, kann sich nicht um alle Konflikte vor Ort gleichzeitig kümmern. Gemäß einer Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus. Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Polizei von al Shabaab regelmäßig auch entlegene Gebiete besucht. Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuzuschlagen, bzw. kann sie sich auch in vielen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen. In den meisten Städten verfügt die Gruppe zudem über Schattenverwaltungen. "Kontrolliert" wird - wie es ein Experte ausdrückt - durch "exemplarische Gewalt"; durch das Streuen von Gerüchten; durch terroristische Anschläge zur Einschüchterung der Bevölkerung (LIB).

Kapazitäten: Al Shabaab hat insgesamt an Stärke gewonnen - auch hinsichtlich personeller und materieller Kapazitäten. Die Gruppe weitet ihren Einfluss ständig aus – nicht nur in den eigenen Gebieten, sondern auch in den nominell unter Kontrolle der Regierung befindlichen Landesteilen. Al Shabaab hat jedoch nicht genügend Kapazitäten, um ständig und überall präsent zu sein. Sie führt z.B. Körperstrafen immer wieder exemplarisch aus; aber nur so intensiv und so oft, wie es nötig ist, um die lokale Bevölkerung zu erschrecken und dafür zu sorgen, dass ein Großteil der Menschen sich tatsächlich - zwangsläufig - mit der Herrschaft von al Shabaab arrangiert (LIB).

Steuern bzw. Schutzgeld [siehe auch Kapitel "Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen"]: In den Gebieten der al Shabaab gibt es ein zentralisiertes Steuersystem, dort wird alles und jeder besteuert. Die Besteuerung scheint systematisch, organisiert und kontrolliert zu erfolgen (BS 2022, Sitzung 10). Mit Steuereinnahmen kann al Shabaab genug Geld generieren, um die Rebellion auch hinkünftig aufrechterhalten zu können (LIB).

Ein Teil der Einkünfte wird an einem Netzwerk an Straßensperren eingehoben. Insgesamt ist al Shabaab in der Lage, in ganz Süd-/Zentralsomalia erpresserisch Zahlungen zu erzwingen - auch in Gebieten, die nicht unter ihrer direkten Kontrolle stehen. Wirtschaftstreibende nehmen die Macht von al Shabaab zur Kenntnis und zahlen Steuern an die Gruppe – auch weil die Regierung sie nicht vor den Folgen beschützen kann, die bei einer Zahlungsverweigerung drohen. In umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden Steuern an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben; aber jene, die sich weigern, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Andere müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst (LIB).

Denn al Shabaab agiert wie ein verbrecherisches Syndikat. Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu lukrieren. Die Religion dient nur als Deckmantel. So wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (LIB).

Laut einer Schätzung vom Feber 2022 kann al Shabaab pro Monat bis zu 10 Millionen US-Dollar generieren. Eingehoben werden Steuern und Gebühren etwa auf die Landwirtschaft, auf Fahrzeuge, Transport und den Verkauf von Vieh; sowie auf manche Dienstleistungen. Sogar Bundesbedienstete – darunter hochrangige Angehörige der Armee – führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöser Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird. Die Höhe der Steuer ist oft verhandelbar. Jedenfalls haben die Menschen de facto keine Wahl, sie müssen al Shabaab bezahlen (LIB).

1.3.4. Rechtsschutz, Justizwesen – Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Letzte Änderung: 26.07.2022

Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden. Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (LIB).

Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem („Xeer“) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtsprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen. Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (LIB).

Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere, und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene. Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit. Diese wird von al Shabaab etwa durch die Einhebung von Steuern und die Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte untergraben. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen. Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (LIB).

Formelle Justiz – Kapazität: De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem. Nach anderen Angaben verfügt die somalische Justiz über sehr begrenzte Kapazitäten. In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet. Generell sind Gerichte aber nur in größeren Städten verfügbar. Der Verfassungsgerichtshof ist immer noch nicht eingerichtet worden. An allen Gerichten mangelt es dem Personal an Ausbildung. Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt. Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes. Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt. Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt, v. a. außerhalb urbaner Zentren nicht vorhanden. Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig. Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (LIB).

Die somalische Justiz ist zudem von Korruption geprägt. Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren. Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder. In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten. Zusätzlich halten sich Behörden oft selbst nicht an gerichtliche Anordnungen). In anderen Worten ist [Zitat] 'die soalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden'. Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen. Insgesamt stehen Zivilisten also ernsten Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (LIB).

Formelle Justiz – Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig. Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen, bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren. Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (LIB).

Traditionelles Recht (Xeer): Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 90 % der Somali bevorzugen das informelle System, denn dieses ist leichter zugänglich und schneller. Auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist Xeer von Bedeutung. Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Im Jahr 2017 hat die Bundesregierung eine Policy zu traditioneller Konfliktlösung verabschiedet. Damit sollte die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich ist die Anwendung des Xeer auf Strafverbrechen nicht standardisiert (LIB).

Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert. Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen. Jedenfalls dient diese Art der Justiz im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten. Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet. Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität. Es kommt auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück, in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer. Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIB).

Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen. Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan. Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (LIB).

Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei. Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen. Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt. Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (LIB).

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle, denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden. Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (LIB).

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler. Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen. Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren. Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv. Zusammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z. B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (LIB).

In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält. Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (LIB).

Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten. Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia hat jedoch dazu geführt, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird. Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen. Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (LIB).

Recht bei al Shabaab: In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten wird das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt. Dort ersetzt islamisches Recht auch Xeer; nach anderen Angaben kommt Xeer fallweise zum Einsatz. Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem. Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (, es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LIB).

Al Shabaab unterhält in den von ihr kontrollierten Gebieten ständige, von Geistlichen geführte Gerichte, welche ein breites Spektrum an straf- und zivilrechtlichen Fällen abhandeln. Zusätzlich gibt es auch mobile Gerichte. Diese Form der Justiz ist effektiv, aber drakonisch. Al Shabaab wendet eine zum Teil extreme Sichtweise und Auslegung der Scharia an. In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch. Al Shabaab inhaftiert Personen für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören, den Verkauf von Khat, das Rasieren des Bartes, unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs. Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LIB).

Die Gerichte der al Shabaab werden als gut funktionierend, effektiv, weniger korrupt, schnell und im Vergleich fairer beschrieben – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung. Al Shabaab urteilt oder vermittelt u. a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden. Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt, bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – selbst Personen aus von der Regierung kontrollierten. So begeben sich z. B. Streitparteien aus Mogadischu extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen. Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz. Zudem bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren. So kann die Justiz von al Shabaab z. B. für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen. Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt. Al Shabaab setzt eigene Gerichtsbeschlüsse auch durch, mit Gewalt und Drohungen und auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (LIB).

Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage. Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIB).

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v. a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen. Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (LIB).

1.3.5.  Sicherheitsbehörden – Süd-/Zentralsomalia, Puntland

1.3.5.1. Ausländische Kräfte - Letzte Änderung: 26.07.2022

Im April 2022 hat die African Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) von der African Union Mission in Somalia (AMISOM) übernommen, nachdem dies vom UN Security Council und zuvor vom Sicherheitsrat der Afrikanischen Union so beschlossen wurde. AMISOM war zuvor seit 2007 in Somalia aktiv. Das Mandat von ATMIS umfasst die Umsetzung des Somali Transition Plans und die Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit an somalische Kräfte und Institutionen mit Ende 2024. Das vorläufige Mandat von ATMIS erstreckt sich auf ein Jahr und ist mehr oder weniger mit jenem von AMISOM ident. Das militärische Mandat umfasst: die Ausführung gezielter Operationen in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften, um al Shabaab und andere terroristische Gruppen zu bekämpfen; in Tandem mit somalischen Sicherheitskräften Städte zu halten und die dort ansässige Bevölkerung zu schützen und die Sicherheit zu gewährleisten; Hauptversorgungsrouten zu sichern und einzunehmen; die Kapazitäten somalischer Sicherheitskräfte zu entwickeln, damit diese Ende 2024 die Verantwortung übernehmen können (LIB).

Auch hinsichtlich der Truppenstärke ist ATMIS mit AMISOM vergleichbar, die Aufstellung soll aber ein mobileres und agileres Vorgehen gegen al Shabaab gewährleisten. ATMIS bzw. AMISOM gelten als mächtigster Gegner der al Shabaab. Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung, die in großem Maße von den Kräften der AMISOM abhängig ist (LIB).

AMISOM hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien mit einem Mandat für 18.586 Mann. Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.513; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMISOM über eine zusätzliche Luftkomponente von vier Hubschraubern, die von Uganda gestellt werden. Diese dienen v. a. für Verbindung, Versorgung und medizinische Notfälle. Insgesamt verfügt ATMIS über sieben militärische Luftfahrzeuge, zwölf wären autorisiert. Bis Ende 2022 ist ein Abzug von 2.000 Mann projektiert (LIB).

AMISOM wird maßgeblich von der EU finanziert. Seit 2007 hat die EU fast 2,3 Mrd. Euro für AMISOM bzw. ATMIS ausgegeben und wird die Truppe - und maßgeblich den Sold - auch weiterhin maßgeblich finanzieren während die UN für logistische Unterstützung sorgt. Die Ausbildung für ATMIS erfolgt laufend auch im Rahmen der Einsatzvorbereitung in den Herkunftsländern und in Somalia, maßgeblich durch Großbritannien, die USA, Frankreich und die EU. In manchen Gebieten kooperiert ATMIS eng mit lokalen Milizen oder anderen Kräften (LIB).

Im Land befindet sich auch eine auf 1.040 Polizisten mandatierte ATMIS-Polizeikomponente unterschiedlicher afrikanischer Teilnehmerstaaten (Uganda, Nigeria, Ghana, Sierra Leone, Kenia und Sambia). Die Hauptaufgabe von ATMIS ist hier u. a. die Unterstützung der somalischen Polizei bei der Polizeiarbeit und die Ausbildung somalischer Polizisten (LIB).

Neben den fünf Armeen der AMISOM-Truppenstellerstaaten sind in Somalia noch Militärberater aus zahlreichen anderen Staaten aktiv. Zur Zahl der bilateral auf somalischem Territorium operierenden äthiopischen Truppen gibt es unterschiedlichste Angaben. Denn Äthiopien hat auch diese Truppenteile mit dem grünen Barett von AMISOM ausgestattet. Eine Quelle berichtet von vermutlich drei (teils verstärkten) Bataillonen und insgesamt geschätzten 2.500 Mann in Gedo, Hiiraan und Galmudug. Bereits abgezogene äthiopische Truppen wurden zumindest an der Grenze durch rund 1.500 Mann Liyu Police aus dem äthiopischen Somali Regional State ersetzt (LIB).

1.3.5.2. (Zwangs-)Rekrutierungen – Letzte Änderung: 26.07.2022

(Zwangs-)Rekrutierung:

Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia. Die meisten Rekruten stammen aus ländlichen Gebieten – v. a. in Bay und Bakool. Bei den meisten neuen Rekruten handelt es sich um Kinder, die das Bildungssystem der al Shabaab durchlaufen haben, was wiederum ihre Loyalität zur Gruppe fördert. Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus den Regionen Bay und Bakool. Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren hierbei eine Hauptquelle an Fußsoldaten. Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich hingegen um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu (LIB).

Die Rekrutierung durch Al-Shabaab fand ursprünglich in urbanen Zentren statt. Seit Al-Shabaab in den urbanen Zentren 2012 und 2015 Territorium verloren hat, hat die Rekrutierung in ländlichen Gebieten begonnen. Es wurde berichtet, dass Al-Shabaab seine Stärke aktiver Kämpfer von geschätzten 2.000–3.000 im Jahr 2017 auf 5.000–7.000 im Jahr 2020 erhöht hat. Obwohl Al-Shabaab überwiegend aus Gebieten unter seiner Kontrolle rekrutiert, gab es auch solche Berichte über Rekrutierungen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten, insbesondere aus Mogadischu. Die Rekrutierung außerhalb des eigenen Territoriums von Al-Shabaab beinhaltet häufig Aspekte von Nötigung. Auch in von der Gruppe kontrollierten Gebieten wurde über Zwangsrekrutierung berichtet (EUAA).

Al-Shabaab rekrutiert in der Regel an Orten mit mehreren Clans und baut ihre Rekrutierungsstrategie auf Clan-Konflikten auf. Bis zu 40 % der einfachen Mitglieder werden aus den Regionen Bay und Bakool rekrutiert. In der Region Gedo erleichtern hohe Arbeitslosigkeit und Armut die Fähigkeit von Al-Shabaab, junge Männer als Kämpfer zu rekrutieren, indem sie stark aus dem Marehan-Clan rekrutieren und aus den Beschwerden der Marehan-Subclans Kapital schlagen, die von stärkeren Subclans an den Rand gedrängt werden. In Hirshabelle nutzt Al-Shabaab Beschwerden gegen die wahrgenommene Hawadle-Dominanz aus, indem sie erfolgreich aus den Clans Gaaljeel, Jajele und Baadi Adde rekrutiert Die Mirifle-Clan-Gruppe stellt die Hauptquelle für Fußsoldaten für Al-Shabaab dar, während in der Region Middle Shabelle die Mehrheit der Fußsoldaten von Al-Shabaab aus Gruppen mit niedrigem Status wie den Bantu/Jareer rekrutiert wurden (EUAA).

Die Rekrutierung umfasst sowohl Männer als auch Frauen und findet in allen Altersgruppen statt. Der Zweck der Rekrutierung wird durch Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund und frühere BerufeNächster Suchbegriff beeinflusst. Al-Shabaab rekrutiert nicht nur Kämpfer, sondern auch Verwaltungspersonal, Finanziers, Logistikpersonal, Richter, Lehrer und Gesundheitspersonal. Sie ist auch auf Unterstützer und Sympathisanten angewiesen. Informanten werden in Gebieten rekrutiert, die nicht unter der Kontrolle von Al-Shabaab stehen. Die Organisation kann sich auf ein sehr starkes Geheimdienstnetzwerk in Mogadischu verlassen, wo Informanten einfache Studenten, Beamte, Sicherheitskräfte usw. sein können. Einige Rekruten arbeiten in Teilzeit für die Gruppe und gehen ihren täglichen Aufgaben wie der Landwirtschaft oder Geschäftstätigkeit nach (EUAA).

Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet, jedenfalls nicht strategisch und nur eingeschränkt oder unter spezifischen Umständen. Alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet sind als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z. B. bei militärischen Operationen im Bereich oder zur Aufklärung. Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen. Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen aber oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen. Knapp ein Drittel der in einer Studie befragten al Shabaab-Deserteure gab an, dass bei ihrer Rekrutierung Drohungen eine Rolle gespielt haben. Dies kann freilich insofern übertrieben sein, als Deserteure dazu neigen, die eigene Verantwortung für begangene Taten dadurch zu minimieren. Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss. Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen. Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM oder die Regierung äußern (LIB).

Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan. Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (LIB).

Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt. Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können, trotz fehlenden religiösem Verständnis, auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle. Bei manchen spielt auch Abenteuerlust eine Rolle. Etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab sind der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden. Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 %. Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen. Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent. Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (LIB).

Im Übrigen ist auch die Loyalität von al Shabaab ein Anreiz. Während die Regierung kriegsversehrten Soldaten keinerlei Unterstützung zukommen lässt, sorgt al Shabaab für die Hinterbliebenen gefallener Kämpfer. Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit einer Rache an Angehörigen anderer Clans. Für Angehörige marginalisierter Gruppen bietet der Beitritt zu al Shabaab zudem die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern. Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet. So z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft Tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (LIB).

Verweigerung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan. Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufens. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (LIB).

Sich einer Rekrutierung zu entziehen ist möglich, aber nicht einfach. Die Flucht aus von al Shabaab kontrolliertem Gebiet gestaltet sich mit Gepäck schwierig, eine Person würde dahingehend befragt werden (LIB).

Es besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat. Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird. Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es mitunter zu Gewalt (LIB).

Menschen, die Rekrutierungsanträge abgelehnt haben, einschließlich lokaler Gemeindemitglieder, die sich geweigert haben, jüngere Familienmitglieder für die Organisation bereitzustellen, wurden bedroht und als Ungläubige bezeichnet, die den Islam und die Scharia ablehnen, und einige wurden getötet, um andere zu warnen. In anderen Fällen verlässt sich Al-Shabaab auf Älteste, die sich angesichts der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen, Angriffen, Verhaftungen und Zwangsvertreibungen im Falle einer Weigerung nicht weigern können, Dutzende oder sogar Hunderte junger Menschen aus ihrem Clan an die Organisation auszuliefern (EUAA).

1.3.6. Deserteure und ehemalige Kämpfer von al Shabaab – Letzte Änderung: 27.07.2022

Allgemein geben Deserteure für das Verlassen der al Shabaab folgende Gründe an: inadäquate Bezahlung, familiäre Verpflichtungen, schlechte Lebensbedingungen, Risiko für Leib und Leben. Mit Letzterem ist nicht bloß die Gefahr von Kampfhandlungen gemeint, sondern auch die von al Shabaab angewandte Bestrafung bei (vermeintlichen) Regelbrüchen. Generell stellt die Desertion eines Einzelnen für al Shabaab ein kleineres Problem dar, als der Seitenwechsel ganzer Clans und der zugehörigen Milizen (LIB).

Verfolgung: Al Shabaab duldet keine Desertion – wie auch andere dschihadistische Bewegungen erlaubt die Gruppe keinen Austritt. Allerdings sind nicht alle ehemaligen Kämpfer der al Shabaab Deserteure. Es gibt Beispiele, wo Angehörige die Entlassung eines Familienmitglieds durch die al Shabaab erwirken konnten. Zudem werden Kämpfer der al Shabaab nicht auf unbestimmte Zeit als Soldaten eingesetzt. Nach einem bestimmten Zeitraum (möglicherweise auch je nach Funktion variabel), werden diese abgerüstet und aus dem Dienst entlassen. Als ausgebildete Kämpfer können sie im Notfall rasch wieder reaktiviert werden (LIB).

Eine Desertion gleicht jedoch oft einer Flucht – mit entsprechender Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens al Shabaab. Manche Deserteure warten Monate oder sogar Jahre, bevor sich ihnen eine Gelegenheit zur Flucht bietet. In manchen Fällen kann ein Deserteur bei seinem eigenen Clan Schutz finden. Der Experte Marchal betont, dass für Deserteure, die nach Mogadischu geflüchtet sind, der Clan eine bestimmte Rolle spielt – nämlich bei der Frage, ob der Clan innerhalb von al Shabaab stark oder wenig vertreten ist. Für jene, deren erweiterte Familie in Mogadischu stark vertreten ist und deren Clan bei al Shabaab wenig vertreten ist (z. B. Hawiye / Habr Gedir), wird es eine Möglichkeit geben unterzutauchen. Für andere, deren Clan in Mogadischu keine starke Position hat, und dieser noch dazu bei al Shabaab stark involviert ist (z. B. Rahanweyn), wird ein Untertauchen mitunter schwierig. Al Shabaab ist aufgrund eines Systems von Informanten in der Lage, Deserteure nahezu im gesamten Land aufzuspüren. Die Gruppe nutzt dafür unter anderem Clannetzwerke. In Mogadischu sind Deserteure nicht sicher. Ob sie jedoch zum Ziel werden oder nicht, hängt auch von ihrer früheren Rolle bei al Shabaab ab. Generell richtet sich al Shabaab aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen darauf ein, Gewalt „exemplarisch“ auszuüben. Bestrafungen kommen zum Einsatz, um die Bevölkerung zu ängstigen. Der Experte Marchal erklärt, dass al Shabaab versucht, jene Deserteure, welcher sie habhaft werden kann, auch zu bestrafen – und zwar zum Zweck des statuierten Exempels. Dieses soll potenziellen Deserteuren zur Abschreckung dienen. Ein Deserteur befindet sich also dann in einer gefährlichen Situation, wenn al Shabaab ihn aufspüren konnte. Es gibt Berichte, wonach Deserteure von al Shabaab als Abtrünnige (murtadd) verfolgt und teilweise exekutiert werden. Dies gilt insbesondere für Deserteure mittleren Ranges. Doch auch einfache Mannschaftsgrade können zum Ziel werden. Viele Deserteure haben Angst davor, vom Amniyad [Geheimdienst von al Shabaab] aufgespürt zu werden. 70 %% von 32 bei einer Studie im Jahr 2017 befragten Deserteuren haben angegeben, Todesdrohungen von al Shabaab erhalten zu haben. Sie fühlten sich verfolgt. Weitere Deserteure berichteten davon, dass ihre Familien bedroht worden sind. Von jenen, die nicht bedroht wurden, hatten die meisten ihre Telefonnummern gewechselt (LIB).

Allerdings gibt es kaum bekannte Beispiele für getötete Deserteure. Überhaupt gibt es keine konkreten Zahlen bzw. Berichte zu Tötungen von Deserteuren. Interessanterweise sind auch die vorhandenen Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige der al Shabaab nie zum Angriffsziel geworden [siehe unten]. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass desertierte Fußsoldaten von al Shabaab über weite Strecken verfolgt werden. Inwiefern al Shabaab also tatsächlich Energie in das Aufspüren und Töten von desertierten Fußsoldaten investieren will, ist unklar. Insgesamt besteht in einigen Fällen offenbar auch die Möglichkeit, dass sich ein Deserteur mit der al Shabaab verständigt – etwa durch die Zahlung von Geldbeträgen (LIB).

Deserteure in Somaliland und Puntland gelten grundsätzlich nicht als gefährdet. Deserteure aus Süd- oder Zentralsomalia befinden sich jedoch in Somaliland in einer schwierigen Lage, da sie nicht wissen, wem sie vertrauen können oder wer al Shabaab nahe steht (LIB).

Amnestie: Der ehemalige Präsident Farmaajo hat zwar eine Amnestie für Angehörige der al Shabaab ausgesprochen, welche sich freiwillig ergeben. Allerdings ist diese Amnestie nur mündlich ausgesprochen worden. Es gibt keine rechtliche Grundlage dafür. Trotzdem geben Deserteure an, dass die Aussicht auf eine Amnestie ein maßgeblicher Faktor für ihre Desertion war. Ehemalige Mitglieder der al Shabaab werden von der NISA gescreent; jene, die als „high risk“ eingestuft werden, werden dem Justizministerium zur Strafverfolgung übergeben (LIB).

Rehabilitation/Reintegration: Die somalische Regierung betreibt mehrere Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige von al Shabaab. Dies sind in erster Linie Zentren in Mogadischu, Baidoa und Kismayo. Mitte April 2022 befanden sich in diesen Zentren 296 Männer und 219 Frauen. IOM unterstützt in Baidoa ein Projekt zur Demobilisierung und Reintegration von männlichen und weiblichen "disengaged combatants" der al Shabaab. Dabei wird die Grundversorgung gesichert, Zugang zu Berufsausbildung ermöglicht und Mediationsarbeit zur langfristigen Reintegration geleistet. Nach der Ausbildung wird Geld zur Verfügung gestellt, um gegebenenfalls ein Unternehmen gründen zu können (LIB).

Für Kinder gibt es eigene Zentren. Diese werden von NGOs betrieben, Kindern wird dort Bildung und Berufsbildung zur Verfügung gestellt. U. a. werden bei von UNICEF unterstützten Reintegrationsprojekten für ehemalige Kindersoldaten Minderjährige in ihren Gemeinden resozialisiert. Sie erhalten außerdem Zugang zu einer Ausbildung (LIB).

Reintegration - Beispiel Serendi Rehabilitation Centre (SRC), Mogadischu: Das SRC steht jenen ehemaligen Angehörigen der al Shabaab offen, die als "low-risk" eingestuft wurden. Als "low-risk" wird von der NISA herausgefiltert, wer al Shabaab freiwillig verlassen hat; wer sich gegen die Ideologie der Gruppe ausspricht; und wer nicht als künftiges Risiko für die öffentliche Sicherheit erachtet wird. Trotzdem gibt es in Rehabilitationszentren auch Agenten von al Shabaab (LIB).

Die Aufenthaltsdauer im SRC beträgt 6-12 Monate. Am SRC erhalten die Bewohner neben psycho-sozialer Unterstützung auch eine schulische und eine Berufsausbildung. Ein Rehabilitierter erzählt, dass er nun Schulbusfahrer ist, ein anderer ist Friseur. Im Zentrum gibt es z.B. auch Ausbildung in Mechanik, Schweißen, IT, Basisbildung und Englisch. Das SRC unterstützt die Bewohner bei der Wiederherstellung des Kontakts zu Familie und Clan. Spätestens im Zuge der Reintegration in Mogadischu wenden sich viele aus dem SRC Entlassene an (teils entfernte) Verwandte. In vielen Fällen konnten positive Beziehungen zur Familie wieder hergestellt werden, die meisten wurden von ihrer Kernfamilie wieder aufgenommen (LIB).

Nach der Entlassung aus dem SRC stellt gesellschaftliche Diskriminierung kaum ein relevantes Problem für ehemalige Angehörige der al Shabaab dar, wohl auch, weil es vielen gelingt, ihre Vergangenheit zu verschweigen. Viele der Deserteure stammen zwar aus, die Mehrheit jedoch aus Lower Shabelle, Middle Juba, Hiiraan oder Galgaduud. Trotzdem entscheiden sich viele für eine Reintegration in Mogadischu – mitunter, weil dort relative Anonymität herrscht (LIB).

Bereits entlassene rehabilitierte ehemalige Angehörige von al Shabaab bleiben auch in Mogadischu und versuchen, dort in der Masse unerkannt zu bleiben. Viele der aus dem SRC Entlassenen sind aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht in ihre eigentliche Heimat zurückgekehrt. Einige von ihnen meiden auch in Mogadischu bestimmte Stadtgebiete, da sie Angst haben, dort als ehemalige Angehörige der al Shabaab identifiziert zu werden. Insgesamt äußern aus dem SRC Entlassene häufig Sicherheitsbedenken bezüglich al Shabaab – natürlich besteht eine latente Bedrohung, von ehemaligen Kameraden erkannt zu werden. Allerdings ist nur in einem Fall auch tatsächlich eine Drohung (über SMS) ausgesprochen worden. Schon in ihrer Zeit im halb-offenen SRC haben Deserteure am Wochenende Ausgang, und fast alle nehmen diesen auch in Anspruch (LIB).

1.3.7. Religionsfreiheit – Letzte Änderung: 26.07.2022

Die somalische Bevölkerung bekennt sich zu über 99 % zum sunnitischen Islam. Eine Konversion zu einer anderen Religion bleibt in einigen Gebieten verboten und gilt als sozial inakzeptabel. Nur eine sehr kleine Minderheit hängt tatsächlich einer anderen Religion oder islamischen Richtung an. Somalis folgten traditionell der Shafi’i-Schule des islamischen Rechts, geführt von mehreren dominanten Sufi-Orden bzw. Sekten (turuuq). Trotz des aggressiven Vordringens des importierten Salafismus’ schätzen viele Somali nach wie vor ihren Sufi-Glauben und ihre Sufi-Bräuche. Allerdings macht sich seit 20 Jahren der Einfluss des Wahhabismus und damit der Vormarsch einer konservativen Auslegung des Islams bemerkbar (LIB).

1.3.7.1. Gebiete unter Regierungskontrolle – Letzte Änderung: 26.07.2022

Somalia ist seinem verfassungsmäßigen Selbstverständnis nach ein islamischer Staat, der nicht vorrangig auf religiöse Vielfalt und Toleranz ausgelegt ist. Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung genannt, alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (LIB).

Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber wird die Scharia entsprechend interpretiert. Blasphemie und "Beleidigung des Islam" sind Straftatbestände. Nach anderen Angaben ist es Muslimen verboten, eine andere Religion anzunehmen. Jedenfalls sind Missionierung bzw. die Werbung für andere Religionen laut Verfassung verboten. Andererseits bekennt sich die Verfassung zu Religionsfreiheit. Auch sind dort ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion sowie die Vorheriger SuchbegrifffreieNächster Suchbegriff Glaubensausübung festgeschrieben (LIB).

Unabhängig von staatlichen Bestimmungen und insbesondere jenseits der Bereiche, in denen die staatlichen Stellen effektive Staatsgewalt ausüben können, sind islamische und lokale Traditionen und islamisches Gewohnheitsrecht weit verbreitet. Es herrscht ein starker sozialer Druck, den Traditionen des sunnitischen Islam zu folgen. Eine Konversion vom Islam zu einer anderen Religion wird als sozial inakzeptabel erachtet. Jene, die unter dem Verdacht stehen, konvertiert zu sein, sowie deren Familien müssen mit Belästigungen seitens ihrer Umgebung rechnen (LIB).

1.4.3.2. Gebiete von al Shabaab – Letzte Änderung: 26.07.2022

In Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab ist die Praktizierung eines moderaten Islams sowie anderer Religionen untersagt. Al Shabaab setzt in den von ihr kontrollierten Gebieten gewaltsam die eigene Interpretation des Islam und der Scharia durch. Al Shabaab drangsaliert, verletzt oder tötet Menschen aus unterschiedlichen Gründen, u. a. dann, wenn sich diese nicht an die Edikte der Gruppe halten. Eltern, Lehrer und Gemeinden, welche sich nicht an die Vorschriften von al Shabaab halten, werden bedroht. Zudem droht al Shabaab damit, jeden Konvertiten zu exekutieren. Auf Apostasie steht die Todesstrafe. Scheinbar gilt dies auch für Blasphemie, denn am 5.8.2021 wurde ein 83-Jähriger in der Nähe der Stadt Ceel Buur (Galmudug) von al Shabaab durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Dem urteilenden Gericht zufolge hatte der Mann gestanden, den Propheten beleidigt zu haben (LIB).

In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab sind Politik und Verwaltung von religiösen Dogmen geprägt. Al Shabaab verbietet dort generell „un-islamisches Verhalten“ - Kinos, Fernsehen, Musik, Internet, das Zusehen bei Sportübertragungen, der Verkauf von Khat, Rauchen und weiteres mehr. Es gilt das Gebot der Vollverschleierung. Allerdings scheint al Shabaab bei der Durchsetzung derartiger Normen zunehmend pragmatisch zu sein (LIB).

1.3.8. Minderheiten und Clans – Letzte Änderung: 26.07.2022

Der Clan ist die relevanteste soziale, ökonomische und politische Struktur in Somalia. Er bestimmt den Zugang zu Ressourcen sowie zu Möglichkeiten, Einfluss, Schutz und Beziehungen. Dementsprechend steht Diskriminierung in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke haben. Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt. In ganz Somalia sehen sich Menschen, die keinem der großen Clans angehören, in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz und für ökonomische sowie politische Partizipation. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten. Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung. Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (LIB).

Recht: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor. Weder das traditionelle Recht (Xeer) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren. Allerdings sind Angehörige von Minderheiten in staatlichen Behörden unterrepräsentiert und daher misstrauisch gegenüber diesen Einrichtungen. Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile. Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen einem andern Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen. Diese Resilienz-Maßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet. Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das Xeer-System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei. Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIB).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen – auch im Falle von Reisepässen (LIB).

Politik: Politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament sind um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir-Isaaq und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel. Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten. Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert. Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen. So ist also selbst die gegebene, formelle Vertretung nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die 4.5-Formel hat bisher nicht zu einem Fortschritt der ethnischen bzw. Clan-bezogenen Gleichberechtigung beigetragen (LIB).

Gesellschaft: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion. Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – nicht aber systematisch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. Zudem mangelt es ihnen an Remissen. Haushalte, die einer Minderheit angehören, stehen einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber. Meist sind Minderheitenangehörige von informeller Arbeit abhängig, und die allgemeinen ökonomischen Probleme haben u. a. die Nachfrage nach Tagelöhnern zurückgehen lassen. Dadurch sind auch die Einkommen dramatisch gesunken (LIB).

Gewalt: Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden. In Mogadischu können sich Angehörige aller Clans frei bewegen und auch niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (LIB).

Al Shabaab: Es gibt Hinweise, wonach al Shabaab gezielt Kinder von Minderheiten entführt. Gleichzeitig nützt al Shabaab die gesellschaftliche Nivellierung als Rekrutierungsanreiz – etwa durch die Abschaffung der Hindernisse für Mischehen zwischen "noblen" Clans und Minderheiten. Dementsprechend wird die Gruppe von Minderheitsangehörigen eher als gerecht oder sogar attraktiv erachtet. Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite ist ein weiterer Grund dafür, dass Angehörige von Minderheiten al Shabaab. Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Regionen, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (LIB).

1.3.8.1. Bevölkerungsstruktur – Letzte Änderung: 26.07.2022

Somalia ist eines der wenigen Länder in Afrika, wo es eine dominante Mehrheitskultur und -Sprache gibt. Die Mehrheit der Bevölkerung findet sich innerhalb der traditionellen somalischen Clanstrukturen. Somalia ist nach Angabe einer Quelle ethnisch sehr homogen; allerdings sei der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung unklar. Gemäß einer Quelle teilen mehr als 85 % der Bevölkerung eine ethnische Herkunft. Eine andere Quelle besagt, dass die somalische Bevölkerung aufgrund von Migration, ehemaliger Sklavenhaltung und der Präsenz von nicht nomadischen Berufsständen divers ist. Es gibt weder eine Konsistenz noch eine Verständigungsbasis dafür, wie Minderheiten definiert werden. Insgesamt reichen die Schätzungen hinsichtlich des Anteils an Minderheiten an der Gesamtbevölkerung von 6 % bis hin zu 33 %. Diese Diskrepanz veranschaulicht die Schwierigkeit, Clans und Minderheiten genau zu definieren. Jedenfalls trifft man in Somalia auf Zersplitterung in zahlreiche Clans, Subclans und Sub-Subclans, deren Mitgliedschaft sich nach Verwandtschaftsbeziehungen bzw. nach traditionellem Zugehörigkeitsempfinden bestimmt. Diese Unterteilung setzt sich fort bis hinunter zur Kernfamilie (LIB).

Insgesamt ist das westliche Verständnis einer Gesellschaft im somalischen Kontext irreführend. Dort gibt es kaum eine Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zudem herrscht eine starke Tradition der sozialen Organisation abseits des Staates. Diese beruht vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Abstammungsgruppen. Seit dem Zusammenbruch des Staates hat sich diese soziale Netzwerkstruktur reorganisiert und verstärkt, um das Überleben der einzelnen Mitglieder zu sichern. Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB).

Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Somali sehen sich als Nation arabischer Abstammung, „noble“ Clanfamilien sind meist Nomaden:

o        Darod gliedern sich in die drei Hauptgruppen: Ogaden, Marehan und Harti sowie einige kleinere Clans. Die Harti sind eine Föderation von drei Clans: Die Majerteen sind der wichtigste Clan Puntlands, während Dulbahante und Warsangeli in den zwischen Somaliland und Puntland umstrittenen Grenzregionen leben. Die Ogaden sind der wichtigste somalische Clan in Äthiopien, haben aber auch großen Einfluss in den südsomalischen Juba-Regionen sowie im Nordosten Kenias. Die Marehan sind in Süd-/Zentralsomalia präsent.

o        Hawiye leben v. a. in Süd-/Zentralsomalia. Die wichtigsten Hawiye-Clans sind Habr Gedir und Abgaal, beide haben in und um Mogadischu großen Einfluss.

o        Dir leben im Westen Somalilands sowie in den angrenzenden Gebieten in Äthiopien und Dschibuti, außerdem in kleineren Gebieten Süd-/Zentralsomalias. Die wichtigsten Dir-Clans sind Issa, Gadabursi (beide im Norden) und Biyomaal (Süd-/Zentralsomalia).

o        Isaaq sind die wichtigste Clanfamilie in Somaliland, wo sie kompakt leben. Teils werden sie zu den Dir gerechnet.

o        Rahanweyn bzw. Digil-Mirifle sind eine weitere Clanfamilie. Vor dem Bürgerkrieg der 1990er war noch auf sie herabgesehen worden. Allerdings konnten sie sich bald militärisch organisieren (LIB).

Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern. In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (LIB).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Vorheriger SuchbegriffBerufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind. Insgesamt gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. Zudem gewinnt die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation immer mehr an Bedeutung. Dadurch kann eine „falsche“ Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden (LIB).

1.3.8.2. Süd-/Zentralsomalia, Puntland – Ethnische Minderheiten, aktuelle Situation – Letzte Änderung: 13.06.2022

Ethnische Minderheiten haben eine andere Abstammung und in manchen Fällen auch eine andere Sprache als die restlichen Einwohner des somalischen Sprachraums. Die soziale Stellung der einzelnen ethnischen Minderheiten ist unterschiedlich. Sie werden aber als minderwertig und mitunter als Fremde erachtet. So können Angehörige ethnischer Minderheiten auf Probleme stoßen - bis hin zu Staatenlosigkeit - wenn sie z. B. in einem Flüchtlingslager außerhalb Somalias geboren wurden (LIB).

Generell sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Verfolgung mehr ausgesetzt, wie dies Anfang der 1990er der Fall war. Dies gilt auch für Mogadischu. Allerdings sind dort all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potenziell gegenüber Kriminalität vulnerabler. In den Städten ist die Bevölkerung aber allgemein gemischt, Kinder gehen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit in die Schule und Menschen ins Spital (LIB).

Nach anderen Angaben drohen ethnischen Minderheiten Stigmatisierung, soziale Absonderung, Verweigerung von Rechten und ein niedriger sozialer, ökonomischer und politischer Status, Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ressourcen. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert und vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen. Die meisten Angehörigen marginalisierter Gruppen haben keine Aussicht auf Rechtsschutz, nur selten werden solche Personen in die Sicherheitskräfte aufgenommen. Auch im Xeer werden sie marginalisiert. In Mogadischu mangelt es den Minderheiten auch an politischem Einfluss. Andererseits ändert sich die Situation langsam zum Besseren, die Einstellung v. a. der jüngeren Generation ändert sich; die Clanzugehörigkeit ist für diese nicht mehr so wichtig wie für die Älteren (LIB).

Die Bantu sind die größte Minderheit in Somalia. Es gibt zahlreiche Bantu-Gruppen bzw. -Clans, wie z. B. Gosha, Makane, Kabole, Shiidle, Reer Shabelle, Mushunguli, Oji oder Gobaweyne; pejorativ werden sie auch Adoon (Sklaven) oder Jareer (Kraushaar) genannt. Traditionell leben sie als sesshafte Bauern in den fruchtbaren Tälern der Flüsse Juba und Shabelle. Von den ca. 900.000 IDPs, die sich im Großraum Mogadischu aufhalten (Stand 2020), sind rund 700.000 Bantu (LIB).

Die Bantu werden überall in Somalia rassistisch stigmatisiert und diskriminiert. Die meisten Somali schauen auf die sesshaften Bantu, die zum Teil einst als Sklaven ins Land gekommen waren, herab. Sie werden als Bürger zweiter Klasse erachtet und befinden sich am untersten Ende der Gesellschaft. Auch in IDP-Lagern werden sie diskriminiert, Bantu-Frauen mangelt es dort an Schutz durch die traditionelle Clanstruktur. 80% der Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt finden sich unter ihnen. Überhaupt befinden sich Bantu in einer vulnerablen Situation, da zuvor bestehende Patronageverhältnisse (welche Schutz gewährleisteten) im Bürgerkrieg erodiert sind. Dadurch haben Bantu heute kaum Zugang zum Xeer). Bantu sind besonders schutzlos. Andererseits sind einige Bantu-Gruppen mit lokal mächtigen Clans Allianzen eingegangen, um sich dadurch zu schützen (LIB).

Mischehen werden stigmatisiert. Im September 2018 wurde ein Bantu in Mogadischu in Zusammenhang mit einer Mischehe getötet. Allerdings war dies ein sehr außergewöhnlicher Vorfall, über welchen viele Somali ihre Entrüstung äußerten. Al Shabaab hingegen hat zahlreiche Kinder der Bantu entführt oder zwangsrekrutiert. Trotzdem genießt die Gruppe bei dieser Minderheit größere Unterstützung. Die meisten Fußsoldaten von al Shabaab, die aus Middle Shabelle stammen, gehören zu Gruppen mit niedrigem Status – etwa zu den Bantu. Al Shabaab hat diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von "noblen" Clans (z. B. Hawiye, Darod) zu heiraten (LIB).

Einem Bericht zufolge sind aus den USA deportierte somalische Bantu - manchmal schon am Flughafen in Mogadischu - von Bewaffneten entführt worden, um Lösegeld zu erpressen (LIB).

1.3.9.  Relevante Bevölkerungsgruppen

1.3.9.1. Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und andere terroristische Gruppen –Letzte Änderung: 27.07.2022

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

o        Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS;

o        nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter;

o        Angehörige der Sicherheitskräfte;

o        Regierungsangehörige, Parlamentarier und Offizielle; al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen;

o        mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten;

o        Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen;

o        Wirtschaftstreibende, insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen

o        Älteste und Gemeindeführer;

o        Wahldelegierte und deren Angehörige; dabei hat al Shabaab in der Vergangenheit Delegierte vor die Wahl gestellt, entweder zu ihnen zu kommen und sich zu entschuldigen, oder aber einem Todesurteil zu unterliegen. Die große Mehrheit entschuldigte sich. Immer wieder werden jedenfalls an Wahlen Beteiligte ermordet, so z. B. ein Delegierter und Ältester am 13.6.2022 sowie ein weiterer Delegierter Mitte April 2022 – beide in Hodan (Mogadischu). Al Shabaab bekennt sich nicht immer zu derartigen Attentaten, hat in der Vergangenheit allerdings betont, jede an Wahlen beteiligte Person zum Ziel zu machen;

o        Angehörige diplomatischer Missionen;

o        prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten;

o        religiöse Führer;

o        Journalisten und Mitarbeiter von Medien;

o        Telekommunikationsarbeiter;

o        mutmaßliche Kollaborateure und Spione;

o        Deserteure;

o        als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten);

o        (vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des IS; den IS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (LIB).

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (LIB).

Kollaboration: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden. Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird. Z.B. wurde im Feber 2022 in Buulo Fulay (Bay) ein Mann hingerichtet, dem Spionage für die äthiopischen Streitkräfte und die Kräfte des SWS vorgeworfen wurde. Alleine im Zeitraum Mai-Juli 2021 wurden von al Shabaab 19 Zivilisten öffentlich hingerichtet – 18 davon wegen vorgeblicher Spionage und eine Person wegen Mordes (LIB).

Al Shabaab bedroht Menschen, die mit der Regierung in Verbindung gebracht werden. Zivilisten können bestraft oder auch getötet werden, wenn sie für die Regierung oder die Armee arbeiten. Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt. So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten. Nach eigenen Angaben greift al Shabaab solche Personen hingegen nicht gezielt an. Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden. So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet. Generell sind aber das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (LIB).

Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein "Angebot" von al Shabaab abzulehnen (LIB).

Kapazitäten: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und AMISOM [nunmehr ATMIS]. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (LIB).

Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an. Für diese besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden. So greift al Shabaab etwa Cafés, Restaurants oder Hotels an, die von Behördenvertretern oder Wirtschaftstreibenden frequentiert werden. Zwar richten sich diese Angriffe also gegen Personengruppen, die von al Shabaab als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten. Nach einem Anschlag im Dezember 2019 hat sich al Shabaab sogar dafür entschuldigt, dass derart viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann. Dies führt Zivilisten in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen - und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (LIB).

Ausweichmöglichkeiten: Aufgrund der überregionalen Aktivitäten und der Vernetzung des Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] sind – vor allem prominente – Zielpersonen auch bei einer innerstaatlichen Flucht gefährdet. Nach Angaben eines Journalisten wiederum kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecke). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre, und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (LIB).

Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (LIB).

Der sogenannte Islamische Staat (IS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des IS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes, Polizisten und Angehörige von al Shabaab. In Mogadischu wendet sich der IS gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v.a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (LIB).

1.3.9.2. Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern") - Letzte Änderung: 27.07.2022

Anders als der somalische Staat "besteuert" al Shabaab alles und jeden in Somalia - insbesondere in den eigenen Gebieten. Doch auch in umstrittenen Gebieten findet sich kaum jemand, der eine Schutzgeldforderung von al Shabaab nicht befolgt. Und selbst in Städten wie Mogadischu und sogar in Bossaso (Puntland) zahlen nahezu alle Wirtschaftstreibenden "Steuern" an al Shabaab; denn überall dort sind Straforgane der Gruppe aktiv bzw. wurden Schattenverwaltungen aufgebaut. Nach Angaben einer Quelle besteuert al Shabaab maßgeblich Im- und Export, jeden größeren Gewerbetreibenden in Mogadischu. Kleinere Marktstände sind al Shabaab hingegen weniger wichtig (LIB).

"Steuern" werden eingehoben auf: a) Agrarwirtschaft (dalag beeraha): auf Höfe, agrarische Produkte und Land; b) Fahrzeuge (gadiid): Transitgebühren hängen von der Art des Fahrzeuges und von der Länge der Reise ab. Fahrzeuge müssen jedenfalls bei al Shabaab registriert sein; c) Güter (badeeco): Wegzoll für alle Güter, die Höhe hängt von Art und Quantität ab. Zudem werden z. B. an Häfen Import- und Exportgebühren eingefordert; d) Vieh (xoolo): auf den Verkauf von Vieh, v. a. Rinder, Kamele, Ziegen. Die Haupteinnahmequelle der Gruppe ist die Besteuerung des Transits von Fahrzeugen und Gütern. Doch selbst Bundesbedienstete führen Schutzgeld oder "Einkommenssteuer" an al Shabaab ab, darunter hochrangige Angehörige der Armee und sogar Bundesminister. Dieser Faktor belegt aber auch den Pragmatismus von al Shabaab als mafiöse Organisation, wo Geld vor Ideologie gereiht wird (LIB).

Daneben hebt al Shabaab auch den Zakat ein. Dieser ist eine Spendensammlung und stellt eine der fünf Säulen des Islam dar. Es handelt sich um eine religiöse Verpflichtung, einen Prozentsatz seines Besitzes an die Armen abzugeben. Al Shabaab hebt den Zakat zweimal jährlich auf die Agrarwirtschaft und einmal jährlich auf Viehwirtschaft und Wirtschaftstreibende ein. Außerdem erhält al Shabaab mit dem Infaq noch zusätzliche, freiwillige Beiträge zur Unterstützung von Kämpfern. Schlussendlich nimmt al Shabaab nach Entführungen Lösegelder in Empfang (LIB).

Al Shabaab hebt insgesamt soviel an "Steuern" ein wie die Bundesregierung - oder sogar noch mehr. Dabei agiert die Gruppe wie ein verbrecherisches Syndikat bzw. wie eine mafiöse Organisation. Ziel ist es, aus kriminellen Aktivitäten Gewinn zu machen. Dabei dient die Religion nur als Deckmantel. Konservativen Schätzungen zufolge lukriert al Shabaab alleine an monatlichen Abgaben 15 Millionen US-Dollar – davon die Hälfte in Mogadischu. Generell werden alle Wirtschaftstätigkeiten in Mogadischu von der Gruppe mit Schutzgeldforderungen belegt. Wirtschaftstreibende zahlen Schutzgeld, denn die Regierung ist nicht in der Lage, sie vor Schutzgelderpressung zu schützen. Dabei verlangt al Shabaab von Wirtschaftstreibenden zunehmend höhere "Steuern". Alle großen Unternehmen im südlichen Somalia zahlen diese jährliche "Steuer". Nur sehr kleine Betriebe oder Straßenhändler müssen nichts abführen. Dahingegen werden auch zahlreiche andere Bereiche besteuert – etwa die Nutzung von Bewässerungsanlagen durch Bauern oder der Immobilienmarkt. Selbst das Personal internationaler Organisationen zahlt Schutzgeld, um in Ruhe gelassen zu werden (LIB).

Kommt es zu einem Anschlag auf ein Hotel, dann steht für al Shabaab eine Strafaktion für ausständige "Steuerzahlungen" im Vordergrund. Allfällig anwesende Regierungsvertreter oder Staatsbedienstete sind hierbei nur nebenrangige Ziele. Jene, die sich weigern, an al Shabaab Abgaben abzuführen, werden bestraft und ihr Leben bedroht. Vorerst werden dabei hohe Strafzahlungen ausgesprochen oder aber der Zugang zu Märkten wird blockiert, dann folgen auch Todesdrohungen. Zur tatsächlichen Exekution kommt es aber nur in Extremfällen. Manche Personen müssen ihre Firma schließen, ihre Kontaktdaten ändern oder aus dem Land fliehen. Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden. Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben. Kaum jemand bezahlt die Abgaben freiwillig, das Antriebsmittel dafür ist die Angst. Keine "Steuern" zu zahlen, ist für Wirtschaftstreibende keine Option. Letztere sehen das Schutzgeldsystem zwar als unfair und illegal; angesichts von Morden an Zahlungsverweigerern bezahlen sie dann aber doch die geforderten Summen (LIB).

Auch der sog. Islamische Staat fordert „Steuern“ – v. a. von Wirtschaftstreibenden in städtischen Gebieten. Jene, die sich der Zahlung einer „Steuer“ widersetzen, müssen mit Gewalt rechnen. Auch in Mogadischu fordern Personen, die sich als Mitglieder des IS ausgeben, Steuern ein (LIB).

2.       Beweiswürdigung:

2.1.    Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen-, Clan- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache und weiteren Sprachen, seinen Familienangehörigen, seinem Familienstand, seinem Aufwachsen in Somalia, seiner (fehlenden) Schulbildung, seiner Arbeitserfahrung und seiner Ausreise gründen sich auf die diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben vor der Behörde und in der mündlichen Verhandlung. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 3).

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers stützen sich auf die von ihm in der Erstbefragung vergleiche AS 13), in der Einvernahme vor der belangten Behörde vergleiche AS 89-92) und insbesondere in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichts vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 11-17) getätigten, insgesamt glaubhaften Aussagen.

Der Beschwerdeführer ließ bei der Schilderung seiner Fluchtgründe eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Seine Angaben, wonach seine Familie für ihre Landwirtschaft Abgaben an Al-Shabaab leisten musste, sein Vater wegen Nichtzahlung dieser Abgaben ermordet sowie er selbst schließlich von Al-Shabaab zwangsrekrutiert wurde, sind auch vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Somalia plausibel und nachvollziehbar und entsprechen den diesbezüglichen Länderinformationen. Der Beschwerdeführer beschrieb die Gründe seiner Ausreise im gesamten Verfahren im Kern gleichlautend. Wesentlich bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens war zudem der Umstand, dass er sein Fluchtvorbringen schlüssig und detailliert schildern konnte. Das Fluchtvorbringen war in sich stimmig und wies – abgesehen von kleineren Details – keine Widersprüche auf, sodass das Bundesverwaltungsgericht dieses, vor allem auch aufgrund des vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks, als glaubhaft erachtet.

Die beweiswürdigenden Erwägungen des angefochtenen Bescheides, aufgrund derer das Vorbringen von der belangten Behörde als nicht glaubhaft beurteilt wurde, überzeugen demgegenüber insgesamt nicht. Darin wird zunächst ausgeführt, dass der Beschwerdeführer bei der polizeilichen Erstbefragung und der behördlichen Einvernahme völlig unterschiedliche Fluchtgründe vorgebracht habe. Bei der Erstbefragung habe er angegeben, dass seiner Familie von Al-Shabaab die Felder weggenommen worden wären und man ihnen mit dem Umbringen gedroht hätte. In „krassem Widerspruch“ dazu habe er bei der Einvernahme angegeben, dass seine Familie die Felder verkauft hätte und sein Vater umgebracht worden wäre. Der Beschwerdeführer habe sich somit bereits bei den essentiellen Angaben zu seinem Fluchtvorbringen widersprochen. Überdies habe er sein Vorbringen mit seiner Behauptung, von Al-Shabaab festgehalten und aufgefordert worden zu sein, ein Selbstmordattentat zu verüben, in krassem Widerspruch zur Erstbefragung gesteigert vergleiche AS 290-291).

In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Erstbefragung nach dem klaren Wortlaut des Paragraph 19, Absatz eins, AsylG insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden dient und sich nicht auf die „näheren Fluchtgründe“ zu beziehen hat. Vor diesem Hintergrund hat etwa der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass er der Annahme, ein Asylwerber werde immer alles, was zur Asylgewährung führen könne, bereits bei der Erstbefragung vorbringen, nicht beitreten kann vergleiche VwGH 16.07.2020, Ra 2019/19/0419, mit Verweis auf VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018). Auch der Verfassungsgerichtshof hat festgehalten, dass an die bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen Angaben zu den Fluchtgründen keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind vergleiche VfGH 08.06.2020, E 1043/2020).

Unter angemessener Berücksichtigung des Zwecks einer Erstbefragung und der dazu ergangenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung ist dementsprechend nicht zu sehen, dass die Angaben des Beschwerdeführers in der Erstbefragung in „krassem Widerspruch“ zu seinem späteren Vorbringen stünden. Die Angaben in der Erstbefragung („Meine Familie war Landwirt, Al-Shabaab hat unseren Bauernhof weggenommen und wollten uns umbringen“, vergleiche AS 13) waren unvollständig, nicht aber widersprüchlich. Wie der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung näher ausgeführt hat, nahm Al-Shabaab seiner Familie zwar den größeren Teil der Felder weg, den Rest überließ er aber jener Frau, die seine Ausreise organisiert hat. Angesichts der Kürze und des primären Zwecks einer Erstbefragung beeinträchtigt es seine Glaubwürdigkeit auch nicht, dass er bei dieser Gelegenheit die Ermordung seines Vaters und die versuchte Zwangsrekrutierung noch nicht erwähnt hat. In der Beschwerde gab er dazu an, von der Situation bei der Polizei sehr eingeschüchtert gewesen und aufgefordert worden zu sein, sich hinsichtlich der Fluchtgründe kurzzuhalten vergleiche AS 355-356). Denkbar ist daher etwa, dass der Beschwerdeführer seine Angaben damit begonnen hat, die Ursprünge der Auseinandersetzung mit Al-Shabaab (Wegnahme der landwirtschaftlichen Flächen) zu schildern, dann aber unterbrochen wurde.

Des Weiteren führt die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe sich auch bei expliziten Nachfragen in mehrere Widersprüche verstrickt. Insofern sich auch dies auf Unterschiede zwischen den Angaben in der Erstbefragung und der Einvernahme bezieht, ist auf das bisher Gesagte zu verweisen. Im Übrigen lassen sich die behaupteten Widersprüche bei näherer Betrachtung aber auch nachvollziehbar aufklären. So hält die Behörde dem Beschwerdeführer vor, bei der Erstbefragung angegeben zu haben, kein Dokument für seine Ausreise gehabt zu haben, während der bei der Einvernahme angegeben habe, mit einem (auf ihn lautenden) Reisepass, den der Schlepper besorgt hätte, legal ausgereist zu sein vergleiche AS 291). Zwar stimmt es, dass er die Frage, ob er mit einem Reisedokument ausgereist sei, an einer Stelle der Erstbefragung mit Nein beantwortet hat vergleiche AS 11). An einer anderen Stelle gab er aber ausdrücklich an, illegal mit einem gefälschten Reisepass ausgereist zu sein vergleiche AS 9). Es liegt daher nahe, dass der Beschwerdeführer erstere Frage nur so verstanden hat, dass sie sich auf ein „echtes“ Reisedokument bezog. Entgegen den Ausführungen der Behörde gab er auch in der behördlichen Einvernahme nicht an, legal ausgereist zu sein, sondern nur, dass er mit einem Reisepass ausgereist sei, den der Schlepper „besorgt“ habe vergleiche AS 88-89). Er ließ mit seinen Angaben offen, ob dieser Pass echt oder gefälscht gewesen sei, die beschriebene Vorgangsweise deutet aber eher auf eine Fälschung hin. Ein Widerspruch zur Erstbefragung liegt damit nicht vor.

Dasselbe gilt für einen weiteren in der Beweiswürdigung behaupteten Widerspruch. Die belangte Behörde argumentiert, der Beschwerdeführer habe anfangs (in der Erstbefragung) behauptet, dass seine Familie seine Ausreise organisiert und finanziert hätte. In der Einvernahme habe er jedoch von einer Wohltäterin berichtet, die seine Flucht arrangiert hätte. Diese hätte seine Felder abgekauft und seine Ausreise organisiert vergleiche AS 291). Mit diesem vermeintlichen Widerspruch war der Beschwerdeführer aber bereits in der Einvernahme selbst konfrontiert worden, worauf er Folgendes antwortete: „Was ich heute angegeben habe, das stimmt. Es waren nicht meine Felder sondern die meiner Familie, daher war es indirekt die Finanzierung durch meine Familie, da es deren Besitz war.“ vergleiche AS 93). Auf diese durchaus schlüssige Erklärung – dass die Unterstützung der Frau des Kommandanten durch die Felder seiner Familie erkauft und somit „indirekt“ durch diese finanziert und ermöglicht wurde – ging die Behörde in der Beweiswürdigung jedoch mit keinem Wort ein. Auch in der mündlichen Verhandlung erklärte der Beschwerdeführer den vermeintlichen Widerspruch gleichlautend vergleiche Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 17).

Die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides führt auch aus, es sei unglaubhaft, dass Al-Shabaab den Beschwerdeführer „einfach gehen gelassen“ und darauf vertraut hätte, dass er von sich aus zurückkehre. Seine diesbezüglichen Angaben stünden in krassem Widerspruch zu den fundierten Angaben im Länderinformationsblatt zu Somalia, die Rekrutierungsroutine der Al-Shabaab, insbesondere Selbstmordattentäter, betreffend vergleiche AS 291). Dieser Argumentation lässt sich zum einen nicht entnehmen, auf welche konkreten Aussagen des Länderinformationsblatts sie sich bezieht. Eine nachprüfende Kontrolle der Behauptung ist damit nicht möglich, aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts decken sich die Angaben des Beschwerdeführers durchaus mit den Länderinformationen. Zum anderen hat dieser nicht behauptet, Al-Shabaab habe ihn „einfach gehen“ lassen. Sowohl in der behördlichen Einvernahme als auch in der Verhandlung sagte er, seine Freilassung sei erst durch die Intervention der Frau eines lokalen Al-Shabaab-Kommandanten ermöglicht worden, die für ihn gebürgt habe vergleiche AS 90; Niederschrift vom 11.08.2022, Sitzung 12). Diese Erklärung erscheint angesichts dessen, dass die Frau offenbar einen finanziellen Vorteil für sich selbst im Blick hatte, keineswegs unplausibel.

Auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer einerseits angegeben habe, er hätte es sich nicht leisten können, sich von Al-Shabaab freizukaufen, andererseits jedoch keine Probleme gehabt habe, das Geld für seine Ausreise aufzutreiben, ist entgegen den Ausführungen der belangten Behörde nicht zwingend ein Widerspruch. Er erwähnte in diesem Zusammenhang vergleiche AS 93) weder, dass ihm ein solches „Freikaufen“ konkret angeboten worden wäre, noch, wie viel Al-Shabaab dafür in seinem Fall verlangt hätte. Es ist durchaus denkbar, dass der Preis dafür den Wert seiner verbliebenen Felder und die Kosten seiner Ausreise überstiegen hätte. Ebenso ist denkbar, dass im Fall des Beschwerdeführers, der bereits bei einem Al-Shabaab-Gericht festgehalten wurde, gar nicht mehr die Möglichkeit bestand, sich „freizukaufen“, weil es dafür bereits zu spät war. Mit diesen alternativen Erklärungsansätzen hat sich die Beweiswürdigung nicht auseinandergesetzt.

Schließlich verweist die Beweiswürdigung des angefochtenen Bescheides noch darauf, dass der Beschwerdeführer vorgebracht habe, sein Dorf wäre in der Nähe der somalischen Armee, zuvor jedoch ausgeführt habe, dass „dort“ die Al-Shabaab das Sagen hätten vergleiche AS 291). Auch diese Angaben stellen aber, insbesondere unter Berücksichtigung der Situation in Somalia, keinen Widerspruch dar. Nach den Länderberichten ist die Kontrolle über die Herkunftsregion des Beschwerdeführers, Lower Shabelle, zwischen der somalischen Regierung und Al-Shabaab geteilt, viele Gebiete sind umkämpft (siehe Punkt 1.4.2.1.1.). Gerade auch für seinen Heimatbezirk römisch 40 wird ausgeführt, dass „die Kontrolle über einige Dörfer an der Küste zwischen Mogadischu und römisch 40 unklar ist“. Es ist daher plausibel, dass sich das Heimatdorf des Beschwerdeführers unter Kontrolle von Al-Shabaab, zugleich aber „in der Nähe“ der somalischen Armee befinden könnte.

In einer Gesamtschau der Angaben des Beschwerdeführers im Verlauf des Verfahrens und unter Berücksichtigung der vorliegenden Länderinformationen erscheint sein Vorbringen, er sei aufgrund der Nichtbezahlung von Abgaben einer Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab ausgesetzt gewesen und vor dieser geflohen, insgesamt glaubhaft.

Es ist daher davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr nach Somalia aufgrund seiner Flucht vor einer Zwangsrekrutierung zumindest ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder von Al-Shabaab droht.

2.3.    Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Somalia aktuell.

3.       Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.    Zu Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. Paragraph 3, Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

Paragraph 3, (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 23,) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.         dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (Paragraph 11,) offen steht oder
2.         der Fremde einen Asylausschlussgrund (Paragraph 6,) gesetzt hat.

…“

3.1.2. Gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß Paragraphen 4,, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention droht.

3.1.3. Flüchtling im Sinne des Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.

3.1.4. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht vergleiche z. B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).

Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454, VwGH 09.04.1997, 95/01/055), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose vergleiche VwGH 16.02.2000, 99/01/0397). Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein vergleiche VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).

3.1.5. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, GFK nennt vergleiche VwGH 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein vergleiche VwGH 16.06.1994, 94/19/0183).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Artikel eins, Abschnitt A Ziffer 2, Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe vergleiche VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.6. Wie festgestellt drohte dem Beschwerdeführer in Somalia, genauer in seinem Heimatdorf in der Region Lower Shabelle, welches unter dem Einfluss und unter der Kontrolle der Al Shabaab steht, eine versuchte Zwangsrekrutierung durch Al Shabaab, welcher er sich durch Flucht entzogen hat. Die vom Beschwerdeführer geschilderte Verfolgung hat sich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich ereignet, weswegen ihm aus diesem Grund auch Gefahr bei einer Rückkehr nach Somalia, genauer in sein Heimatdorf in der Region Lower Shabelle, droht.

Es liegt beim Beschwerdeführer eine Verfolgungsgefahr aus dem Konventionsgrund der ihm – aufgrund der durch seine Flucht ausgedrückten Weigerung, sich Al-Shabaab anzuschließen – unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung vor, wobei er Bedrohung und Verfolgung erheblicher Intensität durch die Al Shabaab zu gewärtigen hätte.

3.1.7. Die Inanspruchnahme des Schutzes durch den somalischen Staat vor dieser Bedrohung durch die Al Shabaab ist angesichts der ineffizienten Schutzmechanismen des somalischen Staates (kein funktionierender Polizei- oder Justizapparat; im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber bestehen keine effektiven Mechanismen zur Verhinderung der dem Beschwerdeführer drohenden Verfolgung) sowie der instabilen Sicherheitslage nur theoretischer Natur. Es kann vor diesem Hintergrund nicht davon gesprochen werden, dass der somalische Staat derzeit in der Lage wäre, dem Beschwerdeführer effektiven Schutz zu gewähren. Fallbezogen ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er angesichts des ihn betreffenden Verfolgungsrisikos keinen ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.

3.1.8. Die Möglichkeit, sich der Bedrohung durch Al-Shabaab durch Ausweichen in eine andere Region Somalias zu entziehen, besteht für den Beschwerdeführer im gegenständlichen Fall ebenfalls nicht.

Wie aus den Länderberichten hervorgeht, ist Al-Shabaab aufgrund eines Systems von Informanten in der Lage, Deserteure nahezu im gesamten Land aufzuspüren. Auch in Mogadischu sind Deserteure nicht sicher (siehe Punkt 1.4.6.). Mogadischu befindet sich zwar unter Kontrolle der somalischen Regierung, Al-Shabaab hält dort aber eine verdeckte Präsenz aufrecht und ist in der Lage, von ihnen gesuchte Personen zu finden.

Der Beschwerdeführer hat in Somalia zudem keinerlei aufrechte soziale oder familiäre Anknüpfungspunkte mehr. Er gehört der ausgegrenzten Minderheit der somalischen Bantu an, hat keine öffentliche Schule besucht und keine Berufsausbildung absolviert sowie nur Berufserfahrung als Landwirt gesammelt, die er in Mogadischu nicht nutzen könnte.

Die humanitäre Situation in Somalia ist prekär und wegen der allgemeinen schlechten Versorgungslage in Verbindung mit seinen persönlichen Umständen ist es dem Beschwerdeführer nicht zumutbar, sich an einem anderen Ort Somalias, etwa in Mogadischu, neu anzusiedeln.

Dem Beschwerdeführer steht somit keine relevante und auch keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Somalia zur Verfügung.

3.1.6. Da weder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, noch ein in Artikel eins, Abschnitt C oder F der GFK genannter Endigungs- und Asylausschlussgrund hervorgekommen ist, war der Beschwerde stattzugeben, und dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.

Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3.1.7. Gemäß Paragraph 3, Absatz 4, AsylG 2005 kommt einem Fremden, der seinen Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 stellte, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen, oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter.

Der Beschwerdeführer stellte den Antrag auf internationalen Schutz am 29.07.2021, somit nach dem 15.11.2015, weswegen ihm von der belangten Behörde eine auf drei befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen sein wird.

Zu B)     Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, wenn die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.

In der Beschwerde findet sich kein schlüssiger Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung befristete Aufenthaltsberechtigung gesamtes Staatsgebiet Miliz Schutzunfähigkeit des Staates unterstellte politische Gesinnung wohlbegründete Furcht Zwangsrekrutierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2022:W261.2253020.1.00

Im RIS seit

29.11.2022

Zuletzt aktualisiert am

29.11.2022

Dokumentnummer

BVWGT_20221010_W261_2253020_1_00

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