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Entscheidungstext Bsw25762/07

Gericht

AUSL EGMR

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Fundstelle

Newsletter Menschenrechte NL 2010,179

Geschäftszahl

Bsw25762/07

Entscheidungsdatum

10.06.2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch eins, Schwizgebel gegen die Schweiz, Urteil vom 10.6.2010, Bsw. 25762/07.

Spruch

Artikel 8,, 14 EMRK - Verweigerung der Kindesadoption aus Altersgründen.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Artikel 14, EMRK in Verbindung mit Artikel 8, EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1957 geborene Bf. ist schweizerische Staatsangehörige und lebt in Genf. Sie ist alleinstehend und von Beruf Musiklehrerin. 1998 wurde ein Antrag der Bf. auf Genehmigung der Adoption eines Kindes von den schweizerischen Behörden positiv beschieden. Anfang 2000 nahm sie ein am 30.4.1999 geborenes Mädchen aus Vietnam namens Violaine bei sich auf. Zwei Jahre später sprachen die lokalen Behörden die formelle Adoption aus.

Danach suchte die Bf. bei den Behörden wiederholt vergeblich auch um Erlaubnis zur Adoption eines ein- bis dreijährigen Kindes aus Südamerika an. In der Folge erklärte sie sich bereit, ein – aus Vietnam stammendes – Kind im Alter von höchstens fünf Jahren zu adoptieren.

Mit Beschluss vom 24.6.2006 bestätigte das Gericht des Kantons Genf die Entscheidung der Behörden, dem Antrag der Bf. auf vorläufige Inpflegenahme eines Adoptivkindes keine Folge zu geben. Es stellte die erzieherischen Fähigkeiten und die finanziellen Ressourcen der Bf. nicht in Frage, erachtete aber, dass sich die Adoption eines zweiten Kindes negativ auf Violaine auswirken würde. Ferner habe die Bf. die mit einer internationalen Adoption einhergehenden Probleme unterschätzt. Darüber hinaus bestünden Zweifel, ob bei ihr die Voraussetzungen für die Versorgung eines zweites Kindes vorliegen und ob ihr Vater bzw. Bruder sie dabei unterstützen würden. Insgesamt betrachtet könne nicht gesagt werden, dass eine Adoption dem Kindeswohl diene.

Mit Urteil vom 5.12.2006 wies das Bundesgericht die Verwaltungsbeschwerde der Bf. ab, da im Sinne seiner einschlägigen Rechtsprechung der erhebliche Altersunterschied zwischen der Bf. und dem zweiten Wunschkind (46 bis 48 Jahre) als exzessiv zu betrachten sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. bringt vor, die schweizerischen Behörden hätten ihr die Adoption eines zweiten Kindes wegen ihres Alters verweigert. In diesem Zusammenhang fühlt sie sich gegenüber Frauen, die in ihrem Alter (47 1/2 Jahre zum Zeitpunkt der letzten Antragsstellung) noch Kinder zur Welt bringen könnten, benachteiligt. Sie rügt eine Verletzung von Artikel 12, EMRK (Recht auf Eheschließung) in Verbindung mit Artikel 14, EMRK (Diskriminierungsverbot).

Der GH hält es für angemessen, die Beschwerde unter Artikel 8, EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) in Verbindung mit Artikel 14, EMRK zu prüfen.

römisch eins. Zur behaupteten Verletzung von Artikel 14, EMRK iVm.Art. 8 EMRK

1. Zum Einwand der Regierung

Laut der Regierung habe die Bf. vor den nationalen Instanzen zu keiner Zeit behauptet, sie werde gegenüber gebärfähigen Frauen in ihrem Alter benachteiligt. Sie habe daher mit Rücksicht auf Artikel 14, EMRK nicht den innerstaatlichen Instanzenzug erschöpft.

2. Zur Zulässigkeit der Beschwerde

Die Bf. hat vor den nationalen Instanzen zumindest dem Kern nach eine diskriminierende Behandlung betreffend den Genuss ihrer aus Artikel 8, EMRK erfließenden Rechte behauptet. Der GH teilt ihre Ansicht, dass das Bundesgericht sich »in der Sache« geäußert hat. Der Beschwerdepunkt unter Artikel 8, EMRK in Verbindung mit Artikel 14, EMRK kann daher nicht wegen fehlender Erschöpfung des Instanzenzugs zurückgewiesen werden. Der GH wird die Anwendbarkeit dieser Konventionsbestimmungen auf den vorliegenden Fall jedoch von sich aus prüfen.

Die Konvention garantiert kein Recht auf Adoption als solches. Das Recht auf Achtung des Familienlebens setzt die Existenz einer Familie voraus und schützt nicht den Wunsch, eine solche zu gründen. Im Fall E. B./F hat der GH die Frage offen gelassen, ob das Adoptionsrecht in den Anwendungsbereich von Artikel 8, EMRK fällt.

Im vorliegenden Fall gestattet das schweizerische Recht, namentlich Artikel 264 b, Absatz eins, des Zivilgesetzbuchs, die Adoption durch eine unverheiratete Person, wenn sie das 35. Lebensjahr zurückgelegt hat. Das strittige Verfahren betrifft nun aber nicht die Adoption eines Kindes als solche, sondern vielmehr die Frage der Genehmigung seiner Inpflegenahme in Hinblick auf eine internationale Adoption. Es besteht kein Zweifel, dass eine Genehmigung unerlässlich für die erfolgreiche Adoption eines Kindes ist. Der gegenständliche Fall fällt somit in den Anwendungsbereich von Artikel 8, EMRK.

In Fällen, in denen ein Staat eine Einzeladoption in seinem Recht vorsieht, hat er darüber zu wachen, dass die Anwendung des einschlägigen Rechts nicht in diskriminierender Art und Weise erfolgt. Die Bf. erachtet sich als Opfer einer diskriminierenden Behandlung aus Gründen ihres Alters in Ausübung eines von der nationalen Gesetzgebung anerkannten Rechts. Aus dem Urteil des Bundesgerichts geht hervor, dass ihr Alter tatsächlich eine entscheidende Rolle für die Abweisung ihres Begehrens spielte. Artikel 14, EMRK in Verbindung mit Artikel 8, EMRK ist folglich anwendbar.

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er ist folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).

3. In der Sache

a. Zum Vorliegen einer unterschiedlichen Behandlung

Der GH vermag sich der Ansicht der Bf. nicht anzuschließen, wonach sie im Vergleich zu Frauen in ihrem Alter, die Kinder gebären können, diskriminiert werde. Wie die Regierung zutreffend darlegt, geht es hier nicht um die Frage einer vom Staat zu verantwortenden Ungleichbehandlung in vergleichbaren Fällen, hat dieser doch keinen Einfluss auf die (biologische) Fähigkeit von Frauen, natürlichen Nachkommen das Leben zu schenken. Hingegen ist der GH der Auffassung, dass die Situation der Bf. durchaus mit jener von Frauen vergleichbar ist, die in jüngerem Alter als sie stehen und unter den selben Umständen die Erlaubnis erhalten, ein Kind in Erwartung der Genehmigung der Adoption bei sich aufzunehmen. Die Bf. kann sich daher als Opfer einer unterschiedlichen Behandlung gegenüber Frauen in einer vergleichbaren Situation betrachten.

b. Bestand eine objektive bzw. angemessene Rechtfertigung für die Verweigerung der Erlaubnis?

Die Ablehnung des Antrags auf Inpflegenahme eines Adoptivkindes verfolgte das legitime Ziel des Schutzes von dessen Wohlergehen und Rechten. Zu prüfen bleibt, ob die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt war.

Im vorliegenden Fall haben die nationalen Behörden die erzieherischen Qualitäten bzw. die finanziellen Ressourcen der Bf. nicht in Frage gestellt. Allerdings sah das Bundesgericht den Altersunterschied zwischen ihr und dem zweiten Kind, der (abhängig vom Zeitpunkt der jeweiligen Antragsstellung) 46 bis 48 Jahre bzw. – für den Fall, es wäre zum Zeitpunkt der Adoption (wie von der Bf. in Aussicht gestellt) fünf Jahre alt gewesen – 45 Jahre betrug, als exzessiv bzw. dem Kindeswohl abträglich an.

Der GH hält fest, dass ein Recht auf Einzeladoption in den Mitgliedstaaten des Europarats weder einheitlich noch uneingeschränkt garantiert wird. Das Europäische Übereinkommen über die Adoption von Kindern vom 24.4.1967 sieht vor, dass die Rechtsordnungen die Adoption eines Kindes einer Person allein gestatten dürfen, hat also keinen verpflichtenden Charakter. Die revidierte Version vom 27.11.2008 verpflichtet die Vertragsstaaten, Einzeladoptionen zu genehmigen, sobald das Übereinkommen in Kraft getreten ist.

In den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten gibt es keine einheitlichen Regelungen sowohl, was die Altersgrenze von adoptionswilligen Personen als auch, was den Altersunterschied zwischen ihnen und dem Adoptivkind anlangt. Die Mehrzahl der Staaten hat ein Mindestalter festgelegt, das sich zwischen dem 18. und 3o. Lebensjahr bewegt. Im Übrigen beschwert sich die Bf. nicht über das im schweizerischen Recht für Einzeladoptionen vorgesehene Mindestalter von 35 Jahren.

Zum Höchstalter von Personen, die ein Kind adoptieren wollen, ist ebenfalls eine große Vielfalt in den von den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gewählten Lösungen festzustellen. Einzelne Staaten, wie etwa Griechenland und Portugal, setzten dieses erst mit 60 Jahren fest, jedoch erwächst daraus für die Schweiz keinerlei Verpflichtung, ein ähnliches Vorgehen zu wählen. Das Europäische Übereinkommen über die Adoption von Kindern legt weder in seiner ursprünglichen noch in seiner revidierten Version ein Höchstalter für adoptierende Erwachsene fest. Ähnliches gilt für den Altersunterschied zwischen Adoptierendem und Adoptierten. Die Schlussfolgerung des Bundesgerichts im Lichte seiner Rechtsprechung, der Altersunterschied im Ausmaß von 46 bis 48 Jahren sei exzessiv, verstößt daher als solche nicht gegen Artikel 14, EMRK. Wie bereits erwähnt, enthält besagtes Übereinkommen in dieser Richtung keine fixe Regel, während Artikel 9, der revidierten Version lediglich einen »geeigneten Altersunterschied« normiert.

Mit Rücksicht auf die fehlende Übereinstimmung der Konventionsstaaten in diesem speziellen Bereich verblieb den schweizerischen Behörden daher in dieser Angelegenheit ein weiter Ermessensspielraum und befanden sich sowohl die nationale Gesetzgebung als auch die im vorliegenden Fall getroffenen Entscheidungen der Behörden mit der von der Mehrheit der Mitgliedsstaaten des Europarats gewählten Lösung und mit völkerrechtlichen Grundsätzen in Einklang.

Der GH hält fest, dass der Staat darüber zu wachen hat, dass adoptionswillige Personen Adoptivkindern auf allen Ebenen die bestmöglichen Lebensbedingungen anbieten. Er erinnert an seine Rechtsprechung, wonach im Fall des Bestehens von Familienbanden dem Kindeswohl besondere Bedeutung zukommt, das die Interessen des Elternteils nach Lage des Falls übersteigen kann.

Im vorliegenden Fall kam die Bf. in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens, in dem ihre Argumente gewissenhaft geprüft wurden. Die Entscheidungen der Behörden waren wohlbegründet und basierten auf umfassenden Erhebungen seitens der kantonalen Behörden. Sie trugen nicht nur dem Wohl des zu adoptierenden, sondern auch jenem des bereits adoptierten Kindes Rechnung. Dem GH erscheint es besonders wichtig, dass das gesetzlich festgelegte Kriterium des Altersunterschieds zwischen Adoptierendem und Adoptierten nicht in abstrakter Weise gehandhabt, sondern vom Bundesgericht in flexibler – auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls abstellender – Weise angewendet wird.

Der GH erachtet das Argument der Behörden auch nicht für unvernünftig oder willkürlich, wonach die Inpflegenahme eines zweiten Kindes, mag es auch im selben Alter wie das erste stehen, für die Bf. eine zusätzliche Belastung dargestellt hätte. Dies gilt auch für die Auffassung des Bundesgerichts, wonach bei Familien mit mehreren Adoptivkindern die Probleme zahlreicher seien. Im Übrigen ist in derartigen Angelegenheiten ein Rückgriff auf behördliche Statistiken unerlässlich und manche Spekulation unvermeidlich.

Mit Rücksicht auf den Staaten in diesem Bereich verbleibenden – beträchtlichen – Ermessensspielraum und die Notwendigkeit des Schutzes des Kindeswohls war die Verweigerung der Genehmigung der Inpflegenahme eines zweiten Kindes nicht unverhältnismäßig. Die unterschiedliche Behandlung der Bf. war daher nicht diskriminierend iSv. Artikel 14, EMRK. Keine Verletzung von Artikel 14, EMRK in Verbindung mit Artikel 8, EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Fretté /F v. 26.2.2002.

E. B./F v. 22.1.2008 (GK), NL 2008, 10; ÖJZ 2008, 499.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.6.2010, Bsw. 25762/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 179) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_3/Schwizgebel.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM01003

Im RIS seit

19.10.2010

Zuletzt aktualisiert am

30.03.2017

Dokumentnummer

JJT_20100610_AUSL000_000BSW25762_0700000_000

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