Gericht

Verfassungsgerichtshof

Entscheidungsdatum

21.06.2004

Geschäftszahl

B1100/01

Sammlungsnummer

17228

Leitsatz

Keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit und des Rechts auf ein faires Verfahren durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt wegen beleidigender Ausdrucksweise

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

römisch eins. 1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt in Wien. Als Verteidiger des beschuldigten Betriebsleiters in einem anhängigen Verwaltungsstrafverfahren wegen §74 Lebensmittelgesetz (Verstoß gegen die Tiefkühl-Kennzeichnungsverordnung, im folgenden: TKKV) erstattete er an die Rechtshilfebehörde - unter Hinweis auf die bei der ersuchenden Behörde wegen der gleichen Beanstandung bereits anhängigen Verfahren - eine Stellungsnahme in der er unter anderem ausführte:

"Die TKKV ist nicht anwendbar, weil die Probe (entgegen dem 'Schummel-Versuch' der Anzeigegutachten) mit keinem Hinweis auf ihre Tiefkühleigenschaft abgegeben wird und daher nicht unter die Definition des §1 Abs1 Z1 TKKV fällt."

Nach Angabe des Beschwerdeführers wurde dieses Strafverfahren und wurden auch jene, auf die er verwiesen hatte, eingestellt.

1.2. Über Anzeige der Rechtshilfebehörde wurde wegen des Wortes "Schummel-Versuch" von der Rechtsanwaltskammer Wien (im Folgenden: RAK Wien) gegen den Beschwerdeführer ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Im Einleitungsbeschluss wurde ein Verstoß gegen §10 Abs2 Rechtsanwaltsordnung (im Folgenden: RAO) konstatiert aber auch, dass das Verschulden des Beschwerdeführers gering gewesen sei und keine bzw. unbedeutende Folgen nach sich gezogen habe, sodass nach §3 Disziplinarstatut (DSt) vorzugehen sei.

Über Beschwerde des Kammeranwaltes hob die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: OBDK) den Einstellungsbeschluß auf und fasste einen Einleitungsbeschluss. Der Beschwerdeführer hätte sich durch die Formulierung "Schummel-Versuch der Anzeigegutachten" einer unsachlichen "und/oder" beleidigenden Ausdrucksweise bedient und führte weiters aus, Unrichtigkeiten behördlicher Schriftstücke seien in angemessener Form geltend zu machen, die Unterstellung eines "Schummel-Versuches" sei eine unsachliche beleidigende Äußerung.

Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der RAK Wien vom 6. September 2000 wurde der Beschwerdeführer im Sinne des Einleitungsbeschlusses der Disziplinarvergehen der Berufspflichtverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes schuldig erkannt. Gemäß §16 DSt wurde er zur Strafe des schriftlichen Verweises sowie zur Tragung der Kosten des Disziplinarverfahrens verurteilt.

1.3. Der vom Beschwerdeführer dagegen erhobenen Berufung wurde von der OBDK nicht Folge gegeben; dies unter anderem aus folgenden Erwägungen:

"... Indem der Berufungswerber behauptet, das Erkenntnis vermeine, eine Sachverhaltsmitteilung an die Staatsanwaltschaft wegen Verdachts nach §302 StGB gegen den als Gutachter verantwortlich zeichnenden Direktor der Untersuchungsanstalt hätte den Berufs- und Standespflichten - sowie insbesondere den Mandanteninteressen - eher entsprochen, als der vorliegende Hinweis, übergeht er die Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis (S 4, letzter Absatz; Seite 5, 1. Absatz), es müsse vom Disziplinarbeschuldigten vielmehr erwartet werden, dass er in Wahrung seiner Aufgabe gemäß §9 RAO bei der Vertretung eines Mandanten allfällige Unrichtigkeiten behördlicher Schriftstücke in angemessener Form geltend macht. Es wäre dem Disziplinarbeschuldigten jederzeit offengestanden, den Vorwurf eines Amtsmissbrauchs zu erheben und entsprechende Verdachtsumstände anzuführen.

Die Rechtsansicht jedoch, die ihm zur Last gelegte Formulierung sei - als sprachüblich gelindest mögliche - weder berufs- noch standespflichtenwidrig, ist schlichtweg unrichtig. Wie der Disziplinarrat zutreffend erkannte, geht die dem Disziplinarbeschuldigten vorgeworfene Formulierung über die Befugnis nach §9 RAO hinaus. Sie stellt eine Herabsetzung und Diffamierung der Sachbearbeiter ... dar. Die nach der Wortwahl ungehörige, beleidigende und herabsetzende Schreibweise übersteigt die Grenzen des standesrechtlich Zulässigen.

...

Da die inkriminierte Wortfolge in einer schriftlichen Eingabe - und demnach wohlüberlegt - ... gewählt wurde, ist der Verschuldensgrad des Berufungswerbers nicht als geringfügig zu beurteilen; die Voraussetzungen für die Anwendung des §3 DSt liegen daher nicht vor.

Der Disziplinarbeschuldigte wurde zur gesetzlichen Mindestunrechtsfolge verurteilt; eine Strafermässigung ist demnach ausgeschlossen, zumal dem Berufungswerber zu Unrecht die Begehung zweier Disziplinarvergehen nicht als erschwerend angelastet wurde."

2. Gegen diesen - als Erkenntnis bezeichneten - Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung auf ein faires Verfahren (Art6 EMRK) sowie insbesondere auf Freiheit der Meinungsäußerung (Art10 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

2.1. Im Recht auf ein faires Verfahren erachtet sich der Beschwerdeführer verletzt, da die OBDK die ihr obliegende Pflicht zur Wahrheitserforschung einseitig zu Lasten des Beschwerdeführers verletzt habe, indem sie - die im gesamten Verfahren unstreitige Falschbegutachtung objektiv unterstellend - nicht einmal den Versuch gemacht hätte, die Richtigkeit auch des subjektiven Vorwurfes durch Vernehmung des Anzeigegutachters auch nur ansatzweise zu überpüfen.

2.2. Zur Verletzung im Recht auf freie Meinungsäußerung führt der Beschwerdeführer kurz zusammengefaßt aus:

Vor dem Hintergrund seiner Berufserfahrung hätte er im vorliegenden Fall - wo der Verordnungsgeber die Kennzeichnungspflicht (sinnwidrigerweise; vergleiche zur "Problematik" der Regelung auf diesem Rechtsgebiet auch: Wukoschitz, WBl 1997, 500), nicht von der Eigenschaft des Produktes (als tiefgekühlt) abhängig gemacht habe, sondern von einem Hinweis darauf - durchaus guten Grund zur Annahme, die Anzeigegutachten hätten (nach den Vorverfahren nun auch hier) ganz bewußt den (objektiv unbestreitbaren) Fehler des Verordnungsgebers dadurch "gutmachen" wollen, dass sie den zu begutachtenden Sachverhalt um den von §1 Abs1 Z1 TKKV geforderten Hinweis auf die Tiefkühleigenschaft durch "TK" ergänzt hätten, obwohl kein solcher Hinweis auf dem Produkt angebracht gewesen sei.

Von der Richtigkeit dieser Annahme sei offenbar auch die belangte Behörde ausgegangen, indem sie die objektive Unrichtigkeit der Anzeigegutachten insoweit gar nicht in Zweifel gezogen aber zu deren subjektiven Gründen überhaupt keine Beweise aufgenommen habe.

Die inkriminierte Äußerung als Hinweis für die ersuchende Behörde, dass das Anzeigegutachten ungeachtet der Vorhalte der Verteidigung in den vorangegangenen Verfahren offenbar weiterhin "corriger la fortune" betreibe, sei jedenfalls weit weniger geeignet das Ansehen der Betroffenen sowie des Berufsstandes des Beschwerdeführers zu beeinträchtigen, als die von der Disziplinarbehörde (stattdessen als offenbar angemessen) nahegelegte Anzeige wegen Amtsmißbrauches (§302 StGB).

Als Klammerausdruck habe diese Formulierung offenkundig nur der Verstärkung der objektiven Tatsachenrüge dahin gedient, dass die Unrichtigkeit der Anzeigegutachten durchaus bewußt gewesen sein müsste, wollte man nicht davon ausgehen, dass der Anstalt die erforderliche Sachkenntnis überhaupt fehle, wozu kein Anlass bestehe.

Das Anliegen, dies über die objektive Unrichtigkeit hinaus offen zu legen und diese Praxis vielleicht damit ein für allemal abzustellen, sei aber durch §9 RAO gedeckt und rechtfertige keine Beschneidung der grundsätzlichen Meinungsfreiheit, welche gerade bei der Beurteilung einer Äußerung als strafbares Disziplinarvergehen besondere Zurückhaltung erfordere.

Unter diesen Umständen sei die inkriminierte Formulierung durchaus noch als zweckmäßig und daher zulässiges Verteidigungsmittel iSd RAO zu werten gewesen, weil Kritik auch an Behörden gerade in einer demokratischen Gesellschaft durchaus auch verletzen, ja sogar schockieren könne, ohne dass einer der im Art10 Abs2 EMRK genannten rechtfertigenden Zwecke deren Beschränkung notwendig mache.

3. Die OBDK hat diesbezüglichen Akten vorgelegt und auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet.

römisch II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsvorschriften bringt die Beschwerde keine Normbedenken vor. Aus der Sicht des Beschwerdefalls sind beim Verfassungsgerichtshof auch keine solchen Bedenken entstanden.

Der Beschwerdeführer wurde daher nicht durch Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.

2. Im Recht auf ein faires Verfahren erachtet sich der Beschwerdeführer verletzt, da die OBDK die ihr obliegende Pflicht zur Wahrheitserforschung verletzt habe.

Artikel 6, Abs1 EMRK bestimmt, dass jedermann "Anspruch darauf

(hat), dass seine Sache ... innerhalb angemessener Frist gehört

wird, und zwar von einem ... Gericht, das über zivilrechtliche

Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat."

Die belangte Behörde bezweifelt nicht, dass die Gutachten sowohl in objektiver als auch in subjektiver Weise falsch waren, sodass es sich erübrigt hat, hierüber Beweise aufzunehmen. Hingegen wirft sie dem Beschwerdeführer vor, dass er mit der inkriminierten Äußerung eine Formulierung gewählt hat, die "über die Befugnisse nach §9 RAO hinaus" gehe.

Die Prämisse, von der der Beschwerdeführer ausgeht, erweist sich somit als unzutreffend; er wurde sohin nicht im Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

3. Nach Art13 Abs1 StGG hat jedermann das Recht durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist zwar nur innerhalb der gesetzlichen Schranken gewährleistet, doch darf auch ein solches Gesetz keinen Inhalt haben, der den Wesensgehalt des Grundrechtes einschränkt vergleiche VfSlg. 6166/1970, 10700/1985). Eine nähere Bestimmung dieses Wesensgehaltes findet sich in Art10 EMRK. Diese Bestimmung bekräftigt den Anspruch auf freie Meinungsäußerung und stelle klar, daß dieses Recht die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen einschließt, sieht aber im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor,

"wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten".

Gemäß Art10 Abs2 EMRK darf also die Freiheit der Meinungsäußerung nur aus den dort angeführten Gründen beschränkt werden (VfSlg. 10700/1985, 13612/1993).

3.1. Ein Bescheid, der in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung eingreift, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes unter anderem dann verfassungswidrig, wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz denkunmöglich angewandt wurde (VfSlg. 3762/1960, 6966/1970 und 6465/1971). Eine denkunmögliche Gesetzesanwendung liegt auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen - hier also: die besonderen Schranken des Art10 EMRK missachtenden Inhalt unterstellt (VfSlg. 10386/1985, 10700/1985, 12086/1989, 13922/1992, 13612/1993, 16558/2002).

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

3.2. Wenn die belangte Behörde bei der Auslegung der §1 DSt 1990 und §9 Abs1 RAO zum Ergebnis gelangt, dass die vom Beschwerdeführer im Rahmen seiner Äußerung im Verwaltungsstrafverfahren verwendete Formulierung "Schummel-Versuch der Anzeigegutachten" das Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes und der Berufspflichtverletzung verwirklicht hat, so kann ihr aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegengetreten werden.

Die belangte Behörde hat die inkriminierte Äußerung als ungehörig, beleidigend und herabsetzend bewertet. Es ist ihr dabei keinesfalls ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler vorzuwerfen. Es ist vertretbar, wenn die OBDK die Äußerung als geeignet ansieht, eine Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes der Rechtsanwälte zu bewirken und darin eine Verletzung der Berufspflicht erblickt.

Die belangte Behörde hat dabei dem Gesetz auch keinen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt. Der Verfassungsgerichtshof hegt keinen Zweifel daran, dass mit dem angefochtenen Bescheid eine der "Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung" vergleiche Art10 Abs2 EMRK) dienliche Einschränkung der Meinungsfreiheit vorgenommen wurde, die zu diesem Zweck auch als notwendig anzusehen ist.

Mit dem Einwand des Beschwerdeführers die inkriminierte Formulierung sei als sprachüblich gelindest mögliche weder berufsnoch standespflichtwidrig, hat sich die belangte Behörde in der Bescheidbegründung in vertretbarer Weise auseinandergesetzt.

3.3. Ob aber die OBDK hiebei das Gesetz (hier §1 DSt 1990 in Verbindung mit §9 RAO) und dessen Auslegung im Lichte der bestehenden Standesauffassung in jeder Hinsicht richtig gehandhabt hat, hat der Verfassungsgerichtshof - und zwar auch in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem eine Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art133 Z4 B-VG nicht in Betracht kommt - nicht zu prüfen vergleiche etwa VfSlg. 13419/1993, 14408/1996).

4. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer in sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde, angesichts der Unbedenklichkeit der angewandten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, dass er in seinem Recht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.

5. Die Beschwerde war daher abzuweisen.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.