Gericht

OGH

Entscheidungsdatum

31.03.1998

Geschäftszahl

4Ob88/98i

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kodek als Vorsitzenden und durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Dr. Griß und Dr. Schenk sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Vogel als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Carina Maria S*****, infolge Revisionsrekurses des Vaters Thomas Richard S*****, vertreten durch Kaan, Cronenberg & Partner, Rechtsanwälte in Graz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 2. Februar 1998, GZ 2 R 34/98d-103, mit dem der Beschluß des Bezirksgerichtes für Zivilrechtssachen Graz vom 29. Dezember 1997, GZ 17 P 2850/95m-97, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die am 11. September 1994 geborene mj. Carina Maria S***** ist das eheliche Kind der Monika Maria S***** und des Thomas Richard S*****, die am 4. April 1994 in den Vereinigten Staaten von Amerika die Ehe geschlossen haben. Die Mutter ist österreichische Staatsbürgerin, der Vater ist Staatsbürger der USA, das Kind besitzt beide Staatsbürgerschaften. Der letzte gemeinsame Wohnsitz der Familie war in Michigan, USA, gelegen. Am 30. Oktober 1995 reiste die Mutter mit dem Kind ohne Einverständnis des Vaters nach Österreich, um hier (vorerst bei ihren Eltern) zu bleiben.

Die Mutter beantragte am 3. November 1995, ihr die Obsorge für das Kind zu übertragen (ON 1). Mit Schriftsatz vom 10. November 1995 stellte der Vater aufgrund des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung BGBl 1988/512 (im folgenden HKÜ) den Antrag, ihm das widerrechtlich verbrachte Kind zurückzugeben (ON 3).

Das Erstgericht trug der Mutter mit Beschluß vom 20. Dezember 1995, ON 14, auf, das Kind unverzüglich dem Vater zur Rückführung an den vormaligen Aufenthaltsort in Michigan zu übergeben. Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung mit Beschluß vom 19. Jänner 1996, ON

24. Der Oberste Gerichtshof wies den dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage mit Beschluß vom 27. Februar 1996, ON 29, zurück.

Auf Antrag des Vaters beschloß das Erstgericht am 8. Mai 1996, in Vollziehung des rechtskräftigen Beschlusses vom 20. Dezember 1995, ON 14, Zwangsmittel zur Anwendung zu bringen und das Kind der Mutter am 10. Mai 1996 abzunehmen. Die Abnahme scheiterte, weil das Kind nicht vorgefunden werden konnte.

Das Rekursgericht hob den Beschluß des Erstgerichtes insoweit auf, als die Abnahme des Kindes verfügt worden war, und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf (ON 49). Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Vaters gegen den Aufhebungsbeschluß nicht Folge (ON 57). Ausfolgungsbeschlüsse aufgrund des HKÜ seien nach innerstaatlichem Recht - allerdings mit den sich aus der Zielsetzung des Übereinkommens ergebenden Modifikationen - zu vollziehen. Der Zweck des Übereinkommens lasse eine Verweigerung der Kindesabnahme nur zu, wenn die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage gebracht würde. Das konkrete Kindeswohl habe auch noch im Vollstreckungsverfahren den Vorrang vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden. Im vorliegenden Fall sei zu prüfen, ob zu befürchten sei, daß das nun mehr als zwei Jahre alte Kind im Falle einer Rückführung zum Vater in die USA schweren psychischen Schaden nehmen werde.

Nach Verfahrensergänzung wies das Erstgericht den Antrag des Vaters, den Beschluß vom 20. Dezember 1995 in Vollzug zu setzen, ab. In Punkt 2 des Beschlusses behielt es eine Entscheidung über den Antrag der Mutter auf Übertragung der Obsorge bis zur Rechtskraft von Punkt 1 des Beschlusses vor (ON 75). Das Erstgericht stellte fest, daß die Mutter die Hauptbezugsperson für das Kind sei, während ihm der Vater durch die seit rund eineinhalb Jahre währende Trennung fremd sei. Würde das Kind dem Vater zurückgegeben und von ihm in die USA mitgenommen, so würde dies mit Sicherheit zu schweren psychischen Schäden des Kindes führen. Um eine ungestörte Entwicklung, insbesondere bis zum 6. Lebensjahr, zu gewährleisten, sei eine Kontinuität von Beziehungen zu einer Bezugsperson erforderlich.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei (ON 80); den dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters wies der Oberste Gerichtshof wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage zurück (ON 91).

Mit Beschluß vom 29. Dezember 1997 entzog das Erstgericht dem Vater die Obsorge und wies sie allein der Mutter zu (ON 97). Die Mutter sei die Hauptbezugsperson des Kindes. Weitere Bezugspersonen seien die mütterlichen Großeltern. Der Vater habe das Kind seit November 1995 zweimal besucht; zwischen Vater und Kind bestehe eine sprachliche Barriere, weil der Vater nicht deutsch und das Kind nicht englisch spreche. Das angerufene Gericht sei für die Obsorgeentscheidung sachlich zuständig, weil Artikel 16, HKÜ wegen der rechtskräftigen Abweisung der Invollzugsetzung des Rückgabebeschlusses nicht mehr anzuwenden sei. Die Obsorge sei der Mutter zuzuweisen, da das Kind in ihrem Haushalt wohne und von ihr betreut werde. Die Eltern lebten seit 31.10.1995 getrennt; ihre Ehe sei in den USA geschieden worden, in Österreich sei ein Scheidungsverfahren anhängig.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Gemäß Paragraph 9, Absatz eins, IPRG sei österreichisches Recht anzuwenden; es sei aber auch das Haager Minderjährigenschutzabkommen BGBl 1975/446 maßgebend, nach dem die Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen die Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht anzuwenden haben. Artikel 16, HKÜ stehe einer Entscheidung nicht entgegen. Da die Rückgabeanordnung nicht vollzogen werden könne, bestehe keine Rückgabeverpflichtung mehr, die eine Obsorgeentscheidung hindern könnte. Das Wohl des Kindes erfordere es, die Obsorge allein der Mutter zuzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung gerichtete Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig, weil Rechtsprechung zu Artikel 16, HKÜ fehlt; der Revisionsrekurs ist aber nicht berechtigt.

Der Vater verweist darauf, daß es derzeit nicht möglich sei, den Rückgabebeschluß in Vollzug zu setzen. Er meint aber, daß dies, wenn das Kind das 6. Lebensjahr erreicht haben werde, durchaus wieder möglich und denkbar sei. Die angefochtene Entscheidung stehe daher im Widerspruch zu Artikel 16, HKÜ.

Dazu hat der erkennende Senat erwogen:

Nach Artikel 16, HKÜ dürfen die Gerichte oder Verwaltungsbehörden des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen, wenn entschieden ist, daß das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben ist, oder wenn innerhalb angemessener Frist nach der Mitteilung kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt wird. Voraussetzung ist, daß den Gerichten oder Verwaltungsbehörden das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Sinn des Artikel 3, HKÜ mitgeteilt worden ist.

Artikel 16, HKÜ ist im Zusammenhang mit Artikel 17, HKÜ zu sehen. Nach Artikel 17, HKÜ ist der Umstand, daß eine Entscheidung über das Sorgerecht im ersuchten Staat ergangen oder dort anerkennbar ist, für sich genommen kein Grund, die Rückgabe eines Kindes nach Maßgabe des Übereinkommens abzulehnen; die Gerichte oder Verwaltungsbehörden des ersuchten Staates können jedoch bei der Anwendung des Übereinkommens die Entscheidungsgründe berücksichtigen. Artikel 16, HKÜ versucht, die damit geregelte Konfliktsituation bereits im Ansatz zu vermeiden, um die Durchsetzung des Rückgabebegehrens zu erleichtern. Die Bestimmung stellt ein Hindernis für die Einleitung eines Obsorgeverfahrens im Zufluchtsland auf: Solange die Rückgabe nicht abgelehnt oder innerhalb einer angemessenen Frist kein Antrag auf Rückgabe gestellt worden ist, nachdem die Entführung bereits angezeigt war, darf im Zufluchtsland nicht über die Obsorge entschieden werden (Jorzik, Das neue zivilrechtliche Kindesentführungsrecht 49).

Im vorliegenden Fall hat der Vater unverzüglich einen Rückgabeantrag gestellt, seinem Antrag wurde auch stattgegeben, der Vollzug des Rückgabebeschlusses jedoch abgelehnt, weil die Rückgabe dem konkreten Kindeswohl im Sinne von Artikel 13, Absatz eins, Litera b, HKÜ widersprochen hätte. Damit steht fest, daß das Ziel des Übereinkommens - in einem entformalisierten Schnellverfahren und unter weitgehender Ausblendung von Rechtsfragen allein die ursprünglichen tatsächlichen Verhältnisse wiederherzustellen (s Mansel, Neues internationales Sorgerecht, NJW 1990, 2176 mwN) - im vorliegenden Fall nicht erreicht werden kann. Somit besteht auch kein Grund mehr, Sachentscheidungen eines inländischen Gerichtes über die Obsorge zu verhindern, weil dies nur solange gerechtfertigt ist, als die Rückgabe des Kindes dadurch erleichtert werden kann. Artikel 16, HKÜ muß dahin ausgelegt werden, daß der Hinderungsgrund nicht nur dann wegfällt, wenn die Rückgabe des Kindes von vornherein abgelehnt wird, sondern auch dann, wenn dem Rückgabeantrag zwar stattgegeben, ein Vollzug dieses Beschlusses aber abgelehnt wird.

Auch in diesem Fall ist das Kind aufgrund des Übereinkommens nicht zurückzugeben. In einem solchen Fall bleiben die Obsorgeverhältnisse unverändert, solange keine neue Obsorgeregelung getroffen wird. Ob inländische Instanzen dafür international zuständig sind und welches Recht anwendbar ist, regelt nicht das HKÜ, sondern das Haager Minderjährigenschutzabkommen, andere Staatsverträge oder autonomes Recht (Böhmer/Siehr, Das gesamte Familienrecht3, 7.9 Rz 62f).

Nach Artikel eins, Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) BGBl 1975/446 sind grundsätzlich die Behörden des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Das MSA enthält keine besondere Regelung für Fälle eines unrechtmäßigen Aufenthaltswechsels, insbesondere in Form einer Kindesentführung durch einen Elternteil. Wo der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ist daher grundsätzlich auch in diesem Fall nach den Kriterien zu beurteilen, die für diesen Begriff in dem Abkommen allgemein gelten. Danach kann ein gewöhnlicher Aufenthalt auch gegen den Willen eines Sorgeberechtigten begründet werden, da es auf den tatsächlichen Daseinsmittelpunkt des Minderjährigen ankommt. Der entgegenstehende Wille des (anderen) Sorgeberechtigten wird sich aber rein tatsächlich dahin auswirken, daß der Aufenthalt des Minderjährigen in dem anderen Staat noch nicht als auf Dauer angelegt angesehen werden kann. Das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts darf jedoch nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt über einen längeren Zeitraum gewährt hat und das Kind sozial integriert ist (EFSlg 57.644 = EvBl 1988/120 mwN; s Jorzik aaO 152ff, die dafür eintritt, den Beginn des Integrationsprozesses erst mit Ablauf der Jahresfrist des Artikel 12, Absatz eins, HKÜ anzunehmen).

Nach Paragraph 110, Absatz eins, JN ist die inländische Gerichtsbarkeit für Obsorgeentscheidungen (ua dann) gegeben, wenn der Minderjährige österreichischer Staatsbürger ist oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Soweit ein minderjähriger österreichischer Staatsangehöriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, geht das MSA dem autonomen österreichischen Recht vor. In diesem Fall sind die österreichischen Gerichte aufgrund des MSA international zuständig. Hat der minderjährige österreichische Staatsbürger hingegen seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Nichtvertragsstaat, so ist das MSA gemäß seinem Artikel 13, Absatz eins, nicht anzuwenden und die internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte folgt aus Paragraph 110, Absatz eins, Ziffer eins, JN (SZ 60/212 = IPRE 2/164 = ÖA 1988, 51 mwN; s auch Mayr in Rechberger, ZPO Paragraph 110, JN Rz 8). In der Sache selbst ist nach Artikel 2, MSA - wie auch nach Paragraph 24, in Verbindung mit Paragraph 9, Absatz eins, IPRG - österreichisches Recht anzuwenden.

Die mj. Carina Maria S***** ist seit Ende Oktober 1995 mit ihrer Mutter in Österreich; der Beschluß, mit dem die Rückgabe abgelehnt wurde, ist mit Zustellung des Beschlusses des Obersten Gerichtshofs vom 9. September 1997, 4 Ob 205/97v, am 1. Oktober 1997 wirksam geworden. Im Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz (29. Dezember 1997; zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunktes für die Beurteilung der Frage, ob nach dem MSA die inländische Gerichtsbarkeit zu bejahen ist, s EFSlg 49.231) hatte die Minderjährige demnach ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich, so daß die inländische Gerichtsbarkeit nach dem MSA gegeben ist. Wäre dies nicht der Fall und wäre daher anzunehmen, daß das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch in den USA hat, so wären die inländischen Gerichte, weil die USA nicht zu den Vertragsstaaten des Abkommens gehören (s Schütz, Zwischenstaatliche Vereinbarungen, die für Familienrichter bedeutsam sein können, RZ 1995, 242), gemäß Paragraph 110, Absatz eins, Ziffer eins, JN international zuständig.

Die internationale Zuständigkeit der inländischen Gerichte für die Obsorgeregelung ist nicht dahin eingeschränkt, daß sie, wie der Vater meint, nur über die Obsorge bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres des Kindes entscheiden könnten. Der Vater stützt seine Auffassung darauf, daß der Vollzug des Rückgabebeschlusses mit der Begründung abgelehnt worden war, die traumatischen Folgen einer Trennung von der Hauptbezugsperson in den ersten sechs Lebensjahren schlössen eine Rückgabe aus. Damit ist die Rückgabe aber nicht bloß aufgeschoben worden:

Zweck des HKÜ ist es, die ursprünglichen tatsächlichen Verhältnisse wiederherzustellen, um zu gewährleisten, "daß das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird" (Artikel eins, HKÜ). Das Übereinkommen soll verhindern, daß für das Kind im Zufluchtsland eine Aufenthaltszuständigkeit begründet wird, die eine Abänderung der Obsorgeregelung im Herkunftsland ermöglicht. Dieser Zweck kann nicht mehr erreicht werden, wenn sich das Kind längere Zeit im Zufluchtsland aufhält und sozial integriert ist. In diesem Fall ist das Herkunftsland nicht mehr international zuständig, sondern die internationale Zuständigkeit ist auf das Zufluchtsland übergegangen. Das schließt den Vollzug eines wenn auch rechtskräftigen Rückgabebeschlusses aus; die Rückgabe des Kindes ist sinnlos, weil die Gerichte im Herkunftsland keine Obsorgeregelung treffen können, da sie ihre internationale Zuständigkeit verloren haben.

Die Vorinstanzen haben daher zu Recht die internationale Zuständigkeit für die Obsorgeregelung bejaht, die das Erstgericht getroffen hat. Diese Obsorgeregelung entspricht nach den derzeitigen Verhältnissen dem Wohl des Kindes. Auch wenn der Vater keine Mühen scheut, das Kind zu sehen, und durch die Umstände gehindert ist, das Kind öfter zu besuchen, vermag dies nichts daran zu ändern, daß das Kind bei der Mutter als seiner Hauptbezugsperson am besten aufgehoben ist.

Der Revisionsrekurs mußte erfolglos bleiben.