Männer und Frauen von Österreich! In den Tagen größter Bedrängnis durch Krieg und Kriegsfolgen richten wir an Euch alle unser Wort! Rafft Euch auf! Wirkt zusammen zu unser aller Befreiung! Helft mit, das vormalige, unabhängige Gemeinwesen der Republik Osterreich wieder aufzurichten! Nur im Rahmen eines geeinigten Staates und mit Hilfe einer geordneten Staatsregierung ist Rettung möglich. Der einzelne Staatsbürger wie die vereinzelte Gemeinde kann nicht Schutz und Rettung bringen; Ohne Wiederaufbau

Eures Staates gibt es kein Heil für Euch, für Eure Familien, für Euer Heim, für Eure Arbeits- und Betriebsstätten. Die Nazifaschisten haben zuerst alle staatlichen Behörden und Ämter mit ihren stellenhungrigen Parteigenossen besetzt, haben jetzt, in der Stunde der Not, ihre Posten feige im Stiche gelassen und damit Land und Volk dem Chaos preisgegeben. Die Stunde ist gekommen, wo Ihr selbst alle Eure öffentlichen Einrichtungen auf demokratischem Wege wieder aufbauen müßt, Eure Gemeinden, Eure autonomen Bezirks- und Landesverwaltungen und Euren gemeinsamen Staat! Viele Gemeinden, unter ihnen vor allem die Stadt Wien, haben mit diesem Werke bereits begonnen. Nunmehr haben sich ausnahmslos alle antifaschistischen Parteieinrichtungen, die Sozialdemokraten, die Sozialrevolutionäre, die Christlichsozialen, die Kommunistische Partei, der antifaschistische Teil des Landbundes, damit alle Klassen und Berufsstände, Arbeiter, Bauern und Bürger, zusammengefunden, um eine Provisorische Staatsregierung einzusetzen. Diese hat sich konstituiert und fordert nun von Euch allen, von jedem einzelnen, von Euren Gemeinden und Bezirken, von Euren sämtlichen öffentlichen Anstalten und Einrichtungen verständnisvolle Mitarbeit und treue Folgeleistung. Vergeßt nicht, daß diese ersten Schritte nur dadurch ermöglicht worden sind, daß die Rote Armee große Teile unseres Staatsgebietes vom Drucke der Hitlerarmee erlöst hat. Unsere Hauptstadt Wien sowie beträchtliche Teile von Niederösterreich und Steiermark sind zur Stunde von direkten Kriegsmaßnahmen frei und Herren ihrer selbst. Auf diesem Freiland ist es möglich geworden, eine Regierung zu bilden, die vorerst für das ganze Österreich handelt, nach Maßgabe der fortschreitenden Befriedung des Landes aus den hinzukommenden Gebieten Ergänzung oder Ersatz finden soll. Die Gesamtregierung ist aus Vertretern aller antifaschistischen Parteien zusammengesetzt, und auch jedes Staatsamt wird, wenn es auch unter Führung des Staatssekretärs einer Richtung steht, von Unterstaatssekretären der anderen Richtung mitverwaltet — Parteilichkeit, Einseitigkeit und Willkür in der Verwaltung ist damit ausgeschlossen. Ihr könnt Euch darum ohne Vorbehalt und ohne Besorgnis der neuen Staatsleitung anvertrauen. Tatkraft und Strenge müssen in der heutigen Lage unseres Landes herrschen, dabei aber ist durch die Zusammensetzung der Staatsregierung Unparteilichkeit und Gerechtigkeit verbürgt! Nur jene, welche aus Verachtung der Demokratie und der demokratischen Freiheiten ein Regime der Gewalttätigkeit, des Spitzeltums, der Verfolgung und Unterdrückung über unserem Volke aufgerichtet und erhalten, welche das Land in diesen abenteuerlichen Krieg gestürzt und es der Verwüstung preisgegeben haben und noch weiter preisgeben wollen, sollen auf keine Milde rechnen können. Sie werden nach demselben Ausnahmsrecht behandelt werden, das sie selbst den anderen aufgezwungen haben und jetzt auch für sich selbst für gut befinden sollen. Jene freilich, die nur aus Willensschwäche, infolge ihrer wirtschaftlichen Lage, aus zwingenden öffentlichen Rücksichten wider innere Überzeugung und ohne an den Verbrechen der Fasenisten teilzuhaben, mitgegangen sind, sollen in die Gemeinschaft des Volkes zurückkehren und haben somit nichts zu befürchten. Ihr alle aber, die Ihr Vaterland und Freiheit liebt, nehmt teil an dem Wiederaufbau der Republik Österreich! Keine der drei beteiligten Weltmächte will anderes oder mehr als die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs, als die Befreiung von der Hitlertyrannei von außen und von dem Terror des Faschismus im Inneren. Keine will irgend eine Gebietsabtretung, keine einen Eingriff in die überlieferte innere staatsbürgerliche und wirtschaftliche Ordnung. Österreich soll sich innerhalb seiner Grenzen frei selbst regieren und selbst verwalten. Feierliche Erklärungen aller drei verbündeten Weltmächte verbürgen uns diese Selbstbestimmung, die Unverletzlichkeit des Eigentums, die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse, die staatsbürgerlichen Grundrechte und vor allem die Gleichheit vor dem Gesetze. Alle erdenklichen Zweifel behebt in diesem Punkte die Erklärung der Sowjetregierung über Österreich, die besagt, daß ihr Ziel nicht sei, die gesellschaftliche Ordnung Österreichs zu ändern. Nehme also jeder auf seinem Besitztum, in seiner Werkstatt, in seinem Büro unbesorgt die Arbeit wieder auf, damit das normale Wirtschaftsleben so bald als möglich wiederkehre'

Zur Verwirklichung dieser Bürgschaften werden die sogenannten Nürnberger Gesetze Hitlers, seine Rassengesetze, aber auch alle seine sonstigen Anordnungen, die den Grundsätzen unserer Verfassung von 1920 widersprechen, für alle Zeiten aufgehoben und die staatsbürgerlichen Grundrechte wieder in Kraft gesetzt werden. Zugleich mit diesen Aufgaben der Gesetzgebung wird die Staatsregierung ihre ganze Tatkraft für die Rettung unseres Volkes aus der wirtschaftlichen Drangsal, insbesondere vor der drohenden Hungersnot, sowie zur Behütung vor Seuchen einsetzen, Anbau und Ernte sicherzustellen suchen und neben einer bescheidenen Wehrmacht eine ausreichende Sicherheitspolizei zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung wie zur Sicherung aller Wohn-, Betriebs- und Arbeitsstätten einrichten. Alle diese Aufgaben können nur erledigt werden unter williger und wirksamer Mitwirkung des gesamten Volkes. Aber diese Mitwirkung wird oft, wo sie allein nicht ausreicht, den Beistand der Roten Armee erfordern. Das Kommando der Roten Armee hat schon heute der Staatsregierung bei Erfüllung dieser Pflichten bereitwillig ihre Unterstützung zugesagt, zunächst für jene Teile des Staatsgebietes, die von kämpfenden Truppen schon befreit und unter ruhiger und normaler Besetzung stehen werden. Es ist das gebieterische Interesse unseres Volkes, daß der längst verlorene Krieg beendet werde. Daher ist es unser aller Pflicht, mitzuhelfen, daß mit diesem Kriege Schluß gemacht werde. Darum fordert die Staatsregierung unter einem die österreichischen Soldaten, wo immer sie stehen, auf, wenn irgend möglich die Waffen niederzulegen, die reichsdeutschen Truppen aber, unsere Heimat in Ruhe und Ordnung zu verlassen. Unterstützt darum die Rote Armee in jeder Weise in ihrem Bestreben, den Waffengang abzukürzen und unserem Lande den frieden wiederzugeben. Die verzweifelte Katastrophenpolitik der Hitlerleute beabsichtigt, die ganze Nation mit sich in den Abgrund zu reißen, beabsichtigt den Wahnsinn ihres Unterfangens zugleich mit der Schmach ihrer Untaten, die noch in ferner Zukunft auf dem deutschen Namen lasten wird, unter den Ruinen des Reiches und den Leichen seiner Bürger zu begraben: In dieser Absicht schreien sie in die Welt, die Zusammenarbeit mit den besetzenden Mächten sei Verrat an der Nation, und sie bedrohen so jeden, der mittut, sich selbst und sein Volk aus der Katastrophe mit den geringsten Opfern herauszuführen, mit neuerlichen Untaten. Männer und Frauen Österreichs! Verachtet diese Drohungen! Suchet das Verständnis und die Hilfe der erreichbaren Befehlsstellen der Roten Armee! Arbeitet dort, wo die unmittelbaren Kriegshandlungen vorbeigezogen sind und der ruhigen Besetzung Platz gemacht haben, mit den Kommanden der Roten Armee zusammen — wir wissen, sie haben von ihrem Obersten Befehlshaber den Auftrag, nach Einstellung der Feindseligkeiten alle Bestrebungen der österreichischen Staatsregierung, das Land im Innern in geordnete Verhältnisse zurückzuführen und wirtschaftlich wieder aufzurichten, werktätig zu unterstützen. Nach außen hin aber wird die Provisorische Staatsregierung sich bemühen, durch ihre Maßnahmen das Vertrauen der drei Weltmächte wieder zu gewinnen, alle Bürgschaften für die künftige Erlösung des Landes von der Besetzung so rasch als möglich herbeizuschaffen und die Republik wieder in die Reihen der souveränen Staaten zurückzuführen. Sie wird sich bemühen, mit den zahlreichen Völkern, die Hitler mit Krieg überzogen hat, zu denen jedoch kein Österreicher jemals andere als Gefühle der Freundschaft gehegt hat, zu denen ein selbständiges Österreich niemals vorher in. feindselige Beziehungen geraten ist und in Hinkunft geraten wird, Friedens- und Freundschaftsverträge zu schließen, vor allem aber mit seinen unmittelbaren Nachbarn, mit denen das österreichische Volk — trotz aller politischen Wirren der Vergangenheit — im Austausch der Wirtschafts- und Kulturgüter durch lange Jahrhunderte zusammengearbeitet und zusammengelebt hat. Die wechselvollen, oft entzweienden Auseinandersetzungen früherer Geschichtsepochen liegen seit der Aufrichtung der Republik im Jahre 1918 nunmehr länger als ein Menschenalter zurück, gehören der Vergangenheit an und sollen der Vergessenheit verfallen. Der Freistaat Österreich will in ungetrübter Freundschaft mit den Völkern des Donauraumes sich selbst leben und mit sämtlichen Nachbarn in Friede und Freundschaft zusammenarbeiten zum Besten aller. Die Provisorische Regierung Österreichs begrüßt die Aufrichtung einer neuen politischen und wirtschaftlichen Weltordnung durch die drei führenden Weltmächte und alle ihre Ver-

bündeten. Möge es der Republik vergönnt sein, bald an der Gemeinschaft aller Staaten und Völker der Weh teilzuhaben und mit ihren bescheidenen Kräften und Mitteln mitzuarbeiten an den erhabenen Zielen, die diese Mächte sich gesetzt haben. Österreicher! Dies die Aufträge, die Eure Provisorische Regierung übernommen hat und durchführen will! Verzagt nicht! Fasset wieder Mut! Schließt Euch zusammen zur Wiederaufrichtung Eures freien Gemeinwesens und zum Wiederaufbau Eurer Wirtschaft! Vertagt allen Streit der Weltanschauungen, bis das große Werk gelungen ist! Und folgt in diesem Geiste willig Eurer Regierung! Es lebe das österreichische Volk, es lebe die Republik Österreich! Wien, den 27. April 1945.

Dr. Karl Renner ,. p. Dr. Adolf Schärf m. p. Ing. Leopold Figl m. p. Johann Koplenig m. p. Franz Honner m. p. Ernst Fischer m. p. Dr. Josef Gerö m. p. Dr. Georg Zimmermann m. p. Rudolf Buchinger m. p. Eduard Heinl m. p. Andreas Korp m. p. Johann Böhm m. p. Ing. Julius Raab m. p.