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Entscheidungstext Bsw13071/03

Gericht

AUSL EGMR

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Geschäftszahl

Bsw13071/03

Entscheidungsdatum

02.11.2006

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch eins, Beschwerdesache Standard Verlags GmbH gegen Österreich, Urteil vom 2.11.2006, Bsw. 13071/03.

Spruch

Artikel 10, EMRK, Paragraph 6, MedienG, Paragraph 111, StGB - Medienrechtliche Verurteilung wegen eines Zitats.

Verletzung von Artikel 10, EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Artikel 41, EMRK: € 8.000,– für materiellen Schaden, € 8.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist Medieninhaberin der Tageszeitung „Der Standard", in deren Ausgabe vom 1.3.2000 ein Artikel über das Strafverfahren gegen den ehemaligen Nationalratsabgeordneten der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) Peter Rosenstingl erschien.

In dem Beitrag ging es um die Frage, wieviel führende Funktionäre der FPÖ von den Machenschaften Peter Rosenstingls wussten, der im Verdacht stand, in betrügerischer Weise an der Pleite der Geflügelfirma seines Bruders beteiligt gewesen zu sein. Der Artikel bezog sich in erster Linie auf die Zeugenaussage von Ewald Stadler, der zur gegenständlichen Zeit Klubobmann der FPÖ im Nationalrat war. „Als solcher soll er bereits vor dem November 1997 gewusst haben, dass mit Krediten und Bürgschaften des Rings Freiheitlicher Wirtschaftstreibender (RFW) Rosenstingl-Hendln gemästet beziehungsweise Lieferanten abgespeist und Gläubiger angeworben wurden", so der Artikel wörtlich. Peter Rosenstingl behaupte jedenfalls, Stadler „alle Unterlagen übergeben" zu haben, woran sich dieser nicht erinnern könne. Der Artikel war mit einem Foto Ewald Stadlers illustriert.

Über das Strafverfahren gegen Peter Rosenstingl wurde in den Medien ausführlich berichtet. Rosenstingl wurde schließlich wegen Untreue und gewerbsmäßigen schweren Betrugs verurteilt.

Ewald Stadler strengte wegen der Behauptung, er habe bereits vor November 1997 von den Krediten und Garantien des Rings Freiheitlicher Wirtschaftstreibender für Rosenstingl gewusst, ein medienrechtliches Entschädigungsverfahren an. In der vom LG St. Pölten am 29.5.2001 durchgeführten Verhandlung entschlug sich der als Zeuge geladene Peter Rosenstingl der Aussage, um sich nicht selbst zu belasten. Einem Antrag der Bf. auf Einvernahme des Zeugen wurde nicht stattgegeben. Die Bf. wurde zur Zahlung einer Entschädigung von ATS 15.000,– (€ 1.090,–) an Herrn Stadler sowie zur Urteilsveröffentlichung verurteilt. Nach Ansicht des LG St. Pölten war die inkriminierte Textpassage dahingehend zu verstehen, dass Ewald Stadler bereits vor November 1997 von den betrügerischen Transaktionen gewusst hätte. Angesichts der im Strafverfahren gegen Rosenstingl erhobenen Beweise sei dies jedoch nicht erwiesen. Wie aus den Protokollen des Strafverfahrens hervorgehe, habe Rosen­stingl nicht behauptet, alle relevanten Dokumente an Stadler übergeben zu haben, sondern lediglich ausgesagt, einen anderen Politiker in Stadlers Büro getroffen und diesem einige Unterlagen übergeben zu haben. Die inkriminierte Behauptung begründe den objektiven Tatbestand der üblen Nachrede nach Paragraph 111, StGB. Auch wenn es sich um die Wiedergabe angeblicher Äußerungen Dritter handle, bleibe die Bf. dafür verantwortlich, da sie diese nicht neutral wiedergegeben habe, ohne sich mir ihrem Inhalt zu identifizieren. Außerdem sei das Zitat nicht korrekt, da weder Peter Rosenstingl behauptet hätte, Ewald Stadler alle relevanten Unterlagen übergeben zu haben noch gezeigt worden sei, dass dieser auf anderem Weg von den Transaktionen erfahren hätte. Die Bf. habe es somit verabsäumt, die Wahrheit der umstrittenen Aussagen zu beweisen.

Das OLG Wien wies die Berufung der Bf. am 18.9.2002 ab. Das OLG bestätigte auch, dass sich Peter Rosenstingl zu Recht der Aussage entschlagen habe.

Am 22.10.2002 erhob Ewald Stadler Klage nach Paragraph 78, UrhG und Paragraph 1330, ABGB. Er begehrte die Unterlassung der Veröffentlichung seines Fotos im Zusammenhang mit den inkriminierten Vorwürfen, Urteilsveröffentlichung und eine Entschädigung. Nachdem sich die Bf. in einem Teilvergleich dazu verpflichtet hatte, die Veröffentlichung des Fotos Stadlers zu unterlassen und den Vergleich zu veröffentlichen, wurde der Verfahrensgegenstand auf die Entschädigung eingeschränkt. Am 3.12.2001 wies das Handelsgericht den Entschädigungsanspruch ab.

Die dagegen erhobene Berufung wurde am 16.10.2003 vom OLG Wien abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Artikel 10, EMRK (hier: Recht auf freie Meinungsäußerung) und Artikel 6, Absatz eins, EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 10, EMRK:

Die Bf. bringt vor, die Entscheidungen der Gerichte in den beiden Verfahren begründeten einen ungerechtfertigten Eingriff in ihre Meinungsäußerungsfreiheit. Außerdem hätten die Gerichte die Verweigerung der Aussage durch Peter Rosenstingl zu Unrecht akzeptiert.

1. Zur Zulässigkeit:

Wenn ein Bf. in einem Verfahren einen Vergleich abschließt und damit auf weitere innerstaatliche Rechtsbehelfe verzichtet, kann er in der Regel im Hinblick auf den Gegenstand des Vergleichs nicht länger behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein. In dem Verfahren nach Paragraph 78, UrhG bzw. Paragraph 1330, ABGB schloss die Bf. einen Teilvergleich, in dem sie sich verpflichtete, die Veröffentlichung des Bildnisses von Ewald Stadler im Zusammenhang mit einem den inkriminierten Äußerungen entsprechenden Text zu unterlassen. Durch den Abschluss dieses Vergleichs akzeptierte die Bf. die Einschränkung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit und verzichtete bezüglich des Gegenstands ihrer nun beim GH erhobenen Beschwerde auf weitere Rechtsbehelfe.

Unter diesen Umständen kann die Bf. soweit das Zivilverfahren betroffen ist nicht behaupten, Opfer iSv. Artikel 34, EMRK zu sein. Dieser Teil der Beschwerde ist daher gemäß Artikel 35, Absatz 3, in Verbindung mit Absatz 4, EMRK als unvereinbar mit der Konvention ratione personae für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Soweit sich die Beschwerde auf das Verfahren nach dem Mediengesetz bezieht, ist sie weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. Entscheidung in der Sache:

Es ist unbestritten, dass die Verurteilung der Bf. in einem medienrechtlichen Verfahren zur Zahlung einer Entschädigung und zur Urteilsveröffentlichung einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt.

Außer Streit steht auch, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und einem legitimen Ziel diente, nämlich dem Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer.

Bei der Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs wird der GH die Stellung der Bf. und jene von Herrn Stadler sowie Charakter und Gegenstand des umstrittenen Artikels berücksichtigen. Die Bf. ist Medieninhaberin einer der führenden Tageszeitungen Österreichs. In diesem Zusammenhang erinnert der GH an die Aufgabe der Presse, Informationen und Meinungen über alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verbreiten. Herr Stadler ist ein allgemein bekannter Politiker, der damals Vorsitzender des Parlamentsklubs der FPÖ war. Nach ständiger Rechtsprechung des GH sind die Grenzen zulässiger Kritik in Bezug auf Politiker weiter als bei Privatpersonen.

Was Charakter und Gegenstand des umstrittenen Artikels betrifft, stellt der GH fest, dass es sich nicht um Gerichtsberichterstattung, sondern eher um eine politische Satire handelte. Er wollte nicht die Leser über das Strafverfahren gegen Peter Rosenstingl informieren, sondern die Frage aufwerfen und diskutieren, ob Herr Stadler oder andere führende Funktionäre der FPÖ über Rosenstingls Machenschaften mit Geldern des Rings Freiheitlicher Wirtschaftstreibender Bescheid wussten oder hätten wissen müssen. Indem er das Verhältnis zwischen einer politischen Partei und einer dieser nahe stehenden Organisation auf der einen und einer des gewerbsmäßigen Betrugs verdächtigen Person auf der anderen Seite behandelte, brachte er eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse zur Sprache. Er betraf damit einen Bereich, in dem Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit zurückhaltend angewendet werden müssen.

Die österreichischen Gerichte werteten die umstrittene Äußerung als Tatsachenbehauptung, deren Wahrheit die Bf. nicht bewiesen habe. Ihrer Ansicht nach wurden in dem Artikel Vorwürfe gegen Herrn Stadler erhoben, indem angeblich von dritten Personen gemachte Aussagen wiedergegeben wurden, ohne diese Zitate in einer neutralen Weise zu präsentieren. Hinsichtlich der angeblich von Herrn Rosenstingl getätigten Aussage, alle Dokumente an Herrn Stadler übergeben zu haben, stellten die Gerichte fest, dass dieses Zitat nicht korrekt sei, da aus den Protokollen des Verfahrens gegen Peter Rosenstingl ersichtlich sei, dass er lediglich behauptet hätte, im Büro Ewald Stadlers gewisse Unterlagen an eine dritte Person übergeben zu haben. Dieser Ansatz der innerstaatlichen Gerichte vermag den GH nicht zu überzeugen, weil er den Charakter des Artikels als politische Satire und seine primäre Absicht, Zweifel am Unwissen der FPÖ über die Machenschaften von Herrn Rosenstingl aufzuwerfen, vernachlässigt. Was die angeblich von Herrn Rosenstingl gemachte Äußerung betrifft, stellt der GH fest, dass die innerstaatlichen Gerichte seine Verweigerung der Zeugenaussage wegen der Gefahr einer Selbstbelastung in dem gegen ihn anhängigen Strafverfahren akzeptierten. Die Anerkennung seiner Weigerung, als Zeuge auszusagen, diente dem Schutz seiner durch Artikel 6, Absatz eins und Absatz 2, EMRK garantierten Rechte. Problematisch scheint jedoch, dass die Gerichte ihre Feststellung über die fehlende Korrektheit des Zitats auf die Protokolle des Strafverfahrens gegen Herrn Rosenstingl stützten. Das Argument der Bf., die Protokolle wären kein verlässlicher Beweis, ist überzeugend, da die Frage, welche Dokumente er in Herrn Stadlers Büro übergeben hatte und ob er sie an diesen oder an eine dritte Person ausgehändigt hatte, im Strafverfahren keine zentrale Rolle spielte. Die innerstaatlichen Gerichte kritisierten insbesondere, dass die Zitate in dem Artikel nicht in neutraler Art und Weise präsentiert worden waren. Angesichts des Inhalts des Artikels als Ganzem erachtet der GH die Behauptung als berechtigt, er habe sich – zumindest zum Teil – den Inhalt der Zitate zu Eigen gemacht. Journalisten sind jedoch nicht verpflichtet, sich systematisch und förmlich vom Inhalt eines Zitats zu distanzieren, das andere beleidigen oder provozieren oder ihren guten Ruf schädigen könnte, da eine solche Verpflichtung mit der Aufgabe der Presse, Informationen über laufende Ereignisse, Meinungen und Ideen zu verbreiten, nicht zu vereinbaren wäre. Wie der GH bemerkt, wurde in dem Artikel auch Ewald Stadlers Version der Ereignisse Beachtung geschenkt, er habe erst im November 1997 von einem Kredit aus Geldern des Rings Freiheitlicher Wirtschaftstreibender erfahren, eine Erklärung verlangt und habe sich von der „Lügenvariante" Rosenstingls täuschen lassen. Schließlich warf der Artikel zwar Fragen und Behauptungen auf, beanspruchte aber nicht, dass irgendwelche Tatsachen tatsächlich bewiesen wären. Dies zeigt sich an der Formulierung der umstrittenen Äußerung, wonach Herr Stadler von den Machenschaften Rosenstingls „gewusst haben soll". Überdies wurde der Leser im letzten Absatz des Artikels in Form eines Zitats der vorsitzenden Richterin eingeladen, sich sein eigenes Bild darüber zu machen, ob die FPÖ über die Machenschaften Rosenstingls informiert war.

Unter Beachtung all dieser Elemente gelangt der GH zur Ansicht, dass es sich bei der umstrittenen Äußerung in ihrem Kontext um einen fairen Kommentar zu einer Angelegenheit des öffentlichen Interesses handelte. Sie ist daher als ein Werturteil und nicht als eine Tatsachenbehauptung anzusehen. Ihr wesentlicher Inhalt bestand darin, die Frage aufzuwerfen, ob Herr Stadler von den Machenschaften Rosenstingls wusste oder hätte wissen können. Dieses Werturteil war nicht exzessiv, da es eine gewisse faktische Grundlage in den Aussagen von Herrn Stadler selbst hatte.

Die von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe waren somit nicht ausreichend zur Rechtfertigung des Eingriffs. Da der Eingriff daher nicht iSv. Artikel 10, EMRK notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war, hat eine Verletzung von Artikel 10, EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, EMRK:

Die Bf. behauptet, die Gerichte hätten die Verweigerung der Aussage

durch Peter Rosen­stingl zu Unrecht akzeptiert.

Angesichts der unter Artikel 10, EMRK getroffenen Feststellungen erachtet es der GH nicht für notwendig zu prüfen, ob eine Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK vorliegt (4:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Rozakis, Richterin Tulkens und Richter Spielmann).

Entschädigung nach Artikel 41, EMRK:

€ 8.000,– für materiellen Schaden, € 8.000,– für Kosten und Auslagen

(einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986, A/103, EuGRZ 1986, 424.

Jersild/DK v. 23.9.1994, A/298, NL 1994, 294; ÖJZ 1995, 227. Jerusalem/A v. 27.2.2001, NL 2001, 52; ÖJZ 2001, 693. Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814. Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307; ÖJZ 2004, 512.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.11.2006, Bsw. 13071/03, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 286) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_6/Standard.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00681 Bsw13071.03-U

Dokumentnummer

JJT_20061102_AUSL000_000BSW13071_0300000_000

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