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Entscheidungstext Bsw53984/00

Gericht

AUSL EGMR

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Geschäftszahl

Bsw53984/00

Entscheidungsdatum

30.03.2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer römisch II, Beschwerdesache Radio France gegen Frankreich, Urteil vom 30.3.2004, Bsw. 53984/00.

Spruch

Artikel 6, Absatz 2, EMRK, Artikel 7, Absatz eins, EMRK, Artikel 10, EMRK - Verurteilung wegen übler Nachrede und nulla poena sine lege.

Keine Verletzung von Artikel 6, Absatz eins, EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Artikel 7, Absatz eins, EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Artikel 10, EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die ErstBf. ist eine nationale Rundfunkanstalt mit Sitz in Paris. Der ZweitBf. ist der für die Programmgestaltung zuständige Direktor von Radio France, während der DrittBf. als Journalist für „France Info" (einem von der ErstBf. kontrollierten Radiosender) tätig ist. In ihrer Ausgabe vom 1.2.1997 veröffentlichte die Zeitschrift „Le Point" einen Artikel mit dem Titel „Vichy: Näheres zum Fall Papon."

(Auszug):

„'Man sollte dies schon einmal sagen dürfen – abseits von politischen Betrachtungen: Die Funktionäre von Vichy haben ein bemerkenswertes Beispiel einer effizienten Verwaltung geliefert, alles tüchtige und anständige Personen.' Dieses 1981 ausgestellte – gute – Führungszeugnis stammt nicht etwa von Maurice Papon, dem zur Zeit vor dem Geschworenengericht von Bordeaux der Prozess wegen Mittäterschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht wird. Es steht wortwörtlich so in der „Illusion von Glück", einem von Michel Junot, stellvertretender Bürgermeister von Paris von 1977 bis 1995, herausgegebenen Buch. Als Unterpräfekt von Pithiviers in den Jahren 1942 und 1952 versteht er ja sein Fach. In dieser Eigenschaft hat er die Aufrechterhaltung der Ordnung im örtlichen Internierungslager überwacht, wo tausende Juden vor ihrem Transport nach Auschwitz angehalten wurden. Im Unterschied namentlich von Maurice Papon hat er zu keiner Zeit die Festnahme, Internierung und Überstellung von Personen nach Drancy angeordnet. [...]"

Am 31.1.1997 verlas der DrittBf. folgende Erstmeldung auf „France Info":

„Laut dem Wochenjournal „Le Point" hat ein ehemaliger Vizebürgermeister von Paris die Deportation von tausend französischen und ausländischen Juden im Jahr 1942 überwacht. Der mittlerweile 80-jährige Michel Junot war damals Unterpräfekt von Pithiviers. Er hat einbekannt, einen Transportzug mit Juden nach Drancy organisiert zu haben. Nachdem ihm seine Bescheinigung als Kämpfer der Résistance von General de Gaulle mittels Dekret aberkannt wurde, hat er erneut in hohen Verwaltungspositionen Fuß fassen können. Zu seiner Verteidigung führt er – ebenso wie Maurice Papon – an, nichts vom Schicksal der deportierten Juden gewusst zu haben. Michel Junot merkt an, dass die Verbrechen dieser Zeit vom keuschen Mantel der Geschichte zugedeckt werden sollten."

Diese Nachricht wurde in mehr oder minder veränderter Form insgesamt 62 Mal verlesen – jeweils mit dem Zusatz, dass es sich hierbei um eine von „Le Point" veröffentlichte Information handle. Später enthielten einige der Nachrichten eine Berichtigung dahingehend, dass Michel Junot im Gegensatz zu Maurice Papon zu keiner Zeit die Festnahme und Internierung von Juden bzw. ihren Abtransport nach Drancy angeordnet habe. Am 1.2.1997 wurde den Hörern von „France Info" mitgeteilt, dass Michel Junot sich gegen die von „Le Point" vorgebrachten Anschuldigungen verwehrt habe.

In der Folge brachte Herr Junot eine Strafanzeige gegen die Bf. wegen übler Nachrede, begangen an einem ehemaligen öffentlichen Funktionsträger, ein. Mit Urteil vom 25.11.1997 wurden der Zweit- und DrittBf. vom Tribunal correctionnel de Paris als Beitrags- bzw. Bestimmungstäter für schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe in Höhe von jeweils FF 20.000,-- bzw. zur Leistung von Schadenersatz in Höhe von insgesamt FF 50.000,-- verurteilt. Der ErstBf. wurde im Wege der zivilrechtlichen Entschädigung aufgetragen, einen Monat nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils auf Radio France innerhalb eines Zeitraumes von 24 Stunden alle 30 Minuten eine Mitteilung an die Öffentlichkeit über den Inhalt des Urteilsspruchs zu verlesen. Begründend führte das Gericht aus, dass die Behauptung, Herr Junot hätte in seiner Eigenschaft als Unterpräfekt von Pithiviers eine persönliche und aktive Rolle bei der Judendeportation gespielt, in seine Ehre eingreife. Dem Einwand des DrittBf., im guten Glauben gehandelt zu haben, sei zu entgegnen, dass dieser, indem er die von „Le Point" verfasste Reportage als glaubwürdig und verlässlich einstufte, sich darauf beschränkt hätte, die darin vorgebrachten Anschuldigungen ungeprüft wiederzugeben. Was den ZweitBf. angehe, sei festzustellen, dass dieser für die Erstausstrahlung der Meldung nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Dies gelte jedoch nicht für die nachfolgenden Meldungen, da es sich hierbei um eine systematische Wiederholung eines Gesprächsthemas gehandelt habe, die als solche in den Anwendungsbereich von Artikel 93 -, 3, des Gesetzes über audiovisuelle Kommunikation vom 29.7.1982 Anmerkung, Danach ist für den Fall einer Übertretung des Gesetzes über die Freiheit der Presse vom 29.7.1881 mittels audiovisueller Kommunikationsmittel der Programmdirektor als Haupttäter zu bestrafen, wenn die inkriminierten Äußerungen vor ihrer Bekanntgabe an die Öffentlichkeit seiner vorherigen Genehmigung unterlagen.) falle.

Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Artikel 7, (1) EMRK (nulla poena sine lege) aufgrund der extensiven Auslegung nationaler Rechtsvorschriften. Sie behaupten ferner, dass Artikel 93 -, 3, des Gesetzes über audiovisuelle Kommunikation vom 29.7.1982 gegen die Unschuldsvermutung (Artikel 6, (2) EMRK) verstoße. Schließlich erachten sich die Bf. durch die von den Gerichten verhängten Sanktionen in ihrem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Artikel 10, EMRK verletzt.

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 7, (1) EMRK:

Die Bf. behaupten, dass die innerstaatlichen Gerichte die strafrechtliche Verantwortlichkeit des ZweitBf. zu Unrecht im Wege eines aus Artikel 93 -, 3, des Gesetzes über audiovisuelle Kommunikation vom 29.7.1982 gezogenen Analogieschlusses begründet hätten. Die Gerichte hätten die Wendung „für den Fall, dass die inkriminierten Äußerungen vor ihrer Bekanntgabe an die Öffentlichkeit der vorherigen Genehmigung durch den Programmdirektor unterlagen" in ihrem Fall zu extensiv interpretiert, da es sich bei der in Rede stehenden Radiomeldung um eine Direktausstrahlung gehandelt habe. Artikel 7, EMRK schließt keineswegs eine schrittweise Klarstellung der Regeln über die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Wege der richterlichen Auslegung von Fall zu Fall aus – vorausgesetzt, das Ergebnis steht mit dem Wesensgehalt des betreffenden Delikts in einem engen Zusammenhang und ist hinlänglich erkennbar und vorhersehbar. Die Annahme, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des DrittBf. nach Artikel 93 -, 3, des Gesetzes über audiovisuelle Kommunikation vom 29.7.1982 gegeben sei, ist im Zusammenhang mit dessen Aufgabe zu sehen, den Inhalt der Nachrichten, die über den Sender gehen, zu kontrollieren. Wenn nun eine solche Verantwortlichkeit nicht ins Spiel kommen kann, weil die fragliche Meldung vor ihrer Ausstrahlung der „vorherigen Genehmigung" durch den für die Programmgestaltung zuständigen Direktor unterzogen wurde, basiert dies auf der Annahme, dass jener in der Lage war, die Meldung zur Kenntnis zu nehmen und sie vor ihrer Ausstrahlung zu überprüfen.

Der GH ist der Ansicht, dass die von „France Info" gewählte Form der Ausstrahlung ein Mittelding zwischen Aufzeichnung und Direktübertragung darstellt: Einerseits war die in Frage stehende Meldung aufgezeichnet, andererseits wurde sie – gemäß dem üblichen Programmschema bei „France Info" – in regelmäßigen Abständen wiederholt, und zwar in Form einer Direktübertragung. In Ermangelung des Vorliegens einer „vorherigen Genehmigung" sprachen die Gerichte den ZweitBf. hinsichtlich der Erstmeldung von jeglicher Verantwortung frei, hingegen nahmen sie eine solche bezüglich der nachfolgenden Meldungen an, und zwar mit der Begründung, dass der ZweitBf. ab diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt hätte, den Inhalt der Meldung einer vorherigen Prüfung zu unterziehen. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass angesichts der Besonderheiten des bei „France Info" vorherrschenden Programmablaufs der Begriff „vorherige Genehmigung" mit dem Wesensgehalt des betreffenden Delikts in einem engen Zusammenhang stand und hinlänglich erkennbar und vorhersehbar war. Keine Verletzung von Artikel 7, (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 6, (2) EMRK:

Die Bf. behaupten, dass Artikel 93 -, 3, des Gesetzes über audiovisuelle Kommunikation vom 29.7.1982 eine unwiderlegbare Vermutung hinsichtlich der Haftung des Programmdirektors für die Ausstrahlung einer Meldung aufstelle. Eine solche ergäbe sich automatisch aus dessen Funktion – ohne dass diesem die Möglichkeit gegeben worden wäre, den Gegenbeweis anzutreten.

Die Artikel 29, bzw. Artikel 93 -, 3, des Gesetzes über die Freiheit der Presse vom 29.7.1881 bzw. des Gesetzes über audiovisuelle Kommunikation vom 29.7.1982 legen die strafrechtliche Verantwortung des Programmdirektors für den Fall eines diffamierenden Inhalts von Nachrichten unter der Voraussetzung fest, dass sie „vor ihrer Bekanntgabe an die Öffentlichkeit der vorherigen Genehmigung unterlagen". In einem solchen Fall wird der Programmdirektor automatisch als Urheber der diffamierenden Äußerung angesehen, ohne dass ein Vorsatz auf seiner Seite nachgewiesen werden müsste. Der GH ist der Ansicht, dass im vorliegenden Fall die Situation insofern komplex war, als die oben erwähnte Vermutung mit einer anderen in Zusammenhang gebracht wurde – nämlich dass die diffamierenden Äußerungen nicht im guten Glauben erfolgt wären. Letztere Vermutung ist nicht absolut, sondern sehr wohl widerlegbar. Wie auch die nationalen Gerichte hervorgehoben haben, wäre es somit an den Bf. gelegen, den guten Glauben des DrittBf. darzulegen. Unter Berücksichtigung dessen, was auf dem Spiel stand – nämlich die Notwendigkeit, die Medien von der Verbreitung von rufschädigenden Äußerungen im Wege einer Vorwegprüfung durch den Programmdirektor abzuhalten – bleibt die von Artikel 93 -, 3, des Gesetzes über audiovisuelle Kommunikation vom 29.7.1982 aufgestellte Vermutung innerhalb der „angemessenen Grenzen". Die Auslegung der fraglichen Bestimmung durch die Gerichte verstößt somit nicht gegen die Unschuldsvermutung. Keine Verletzung von Artikel 6, (2) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 10, EMRK:

Es besteht grundsätzliche Einigkeit, dass Diskussionen über das Verhalten hoher öffentlicher Funktionäre während der französischen Besetzung eine Frage des öffentlichen Interesses betreffen. Darüber hinaus erfolgten der von „Le Point" veröffentlichte Artikel und die darauf beruhende Kurzmeldung von „France Info" im Rahmen einer in der breiten Öffentlichkeit geführten Debatte über den gegen Maurice Papon geführten Prozess. Wie bereits erwähnt, stützte sich besagte Radiomeldung auf eine ausführliche und durch Dokumente belegte Reportage eines renommierten Wochenjournals. Die Tatsache alleine, dass sie unter Zitierung der Informationsquelle ausgestrahlt wurde, ist nicht geeignet, den guten Glauben des DrittBf. in Frage zu stellen. Die Nachricht enthielt allerdings eine Wendung, die nicht im Artikel von „Le Point" enthalten ist, nämlich das angebliche Eingeständnis von Michel Junot, „einen Transportzug mit Juden nach Drancy organisiert zu haben". Diese Aussage kann auch schwerlich unter dem Gesichtspunkt eines gewissen „Übertreibungsgehaltes" oder der „Provokation", wie sie journalistischen Meldungen teilweise zueigen ist, gesehen werden. Kurz gesagt handelte es sich bei besagter Meldung um eine nicht korrekte Wiedergabe des Artikels bzw. Interviews in „Le Point".

Was den übrigen Inhalt der Radiomeldung angeht, ist zu sagen, dass darin ein Zeitschriftenartikel im Umfang von sechs Seiten in einigen Sätzen unter Hervorhebung der hervorstechendsten Aspekte wiedergegeben wurde. Wenn auch die nachfolgenden Meldungen teilweise eine Berichtigung dahingehend erfuhren, dass Michel Junot sich gegen die von „Le Point" vorgebrachten Anschuldigungen verwehrt habe, ist dennoch unbestritten, dass die Erstversion mehrere Male in unveränderter Form ausgestrahlt wurde.

Angesichts des Ernstes der gegen Michel Junot vorgebrachten Anschuldigungen und der – schlussendlich verwirklichten – Absicht, die fragliche Meldung in vielfacher Form auszustrahlen, wäre der DrittBf. zu größtmöglicher Sorgfalt und Behutsamkeit bei deren Abfassung verpflichtet gewesen. Dies gilt umso mehr, als besagte Radiomeldung in ganz Frankreich ausgestrahlt wurde. Unter diesen Umständen kann den nationalen Gerichten nicht entgegen getreten werden, wenn sie darin eine Verletzung der Ehre und des guten Rufes erblickten, und die Bf. verurteilten. Was die Verhältnismäßigkeit der über die Bf. verhängten Sanktionen und Maßnahmen angeht, ist zu sagen, dass sich die über die Zweit- und DrittBf. verhängten Geldstrafen und Schadenersatzbeträge in einem durchaus moderaten Ausmaß bewegten. Was schließlich die Anordnung an die ErstBf. betrifft, kann die Verpflichtung, innerhalb eines Tages alle zwei Stunden Anmerkung, Die diesbezügliche Anordnung des Erstgerichts war vom Gericht zweiter Instanz abgemildert worden) einen Text von 118 Wörtern auf „France Info" zu verlesen, als angemessene Schadenswiedergutmachung angesehen werden, die überdies den Programmablauf nur unwesentlich beeinträchtigte. Die von den Gerichten verhängten Sanktionen und Maßnahmen waren somit nicht unverhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel und insofern in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Keine Verletzung von Artikel 10, EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kokkinakis/GR v. 25.5.1993, A/260-A (= NL 1993/4, 19 = ÖJZ 1994, 59):

Jersild/DK v. 29.9.1994, A/298 (= NL 1994, 294 = ÖJZ 1995, 227):

Tolstoy Miloslavsky/GB v. 13.7.1995, A/316-B (= NL 1995, 160):

Bladet Tromso & Stensaas/N v. 20.5.1999 (= NL 1999, 96 = EuGRZ 1999, 453 = ÖJZ 2000, 232):

Streletz ua./D v. 22.3.2001 (= NL 2001, 59 = EuGRZ 2001, 210 = ÖJZ

2002, 274):

Thoma/L v. 29.3.2001.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.3.2004, Bsw. 53984/00, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 76) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_2/Radio France_F.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Anmerkung

EGM00491 Bsw53984.00-U

Dokumentnummer

JJT_20040330_AUSL000_000BSW53984_0000000_000

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